Buchinfo

Endlich Abi! Endlich raus aus dem Schwarzwaldmief! Marianne hat sich schon so lange darauf gefreut, in Heidelberg zu studieren. Es beginnen spannende Zeiten, die 68er-Jahre, in denen Marianne aktiv an den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen teilnimmt. Sie sammelt Erfahrungen in einer Kommune und lernt einen hoch angesehenen Professor kennen. Aber bei ihm tauchen, wie in ihrer Heimat im Schwarzwald, Schatten der Vergangenheit auf. Wird er, wird sie sich ihnen stellen?

Autorenvita

© privat

Inge Barth-Grözinger, Jahrgang 1950, wurde in Bad Wildbad im Schwarzwald geboren. Sie war lange Lehrerin für Deutsch und Geschichte und ist jetzt pensioniert.

Sturmfrühling

Gewidmet meinen Kindern Nina und Daniel Grözinger mit dem Wunsch, dass ihnen ein Leben aus einem Guss gelingen möge.

Die Linie, die Gut und Böse trennt, verläuft nicht zwischen Klassen und nicht zwischen Parteien, sondern quer durch jedes Menschenherz.

Diese Linie ist beweglich, sie schwankt im Laufe der Jahre. Selbst in einem vom Bösen besetzten Herzen hält sich ein Brückenkopf des Guten. Selbst im gütigsten Herzen – ein uneinnehmbarer Schlupfwinkel des Bösen.

(Archipel Gulag von Alexander Solschenizyn)

19. April 1967

Der Wind frischte auf und trieb den Fluss stärker vor sich her. Weiße Schaumkronen tanzten auf den grauen Wellen, die den bleifarbenen Himmel widerspiegelten. Die fahle Aprilsonne hatte sich hinter Wolkenbergen verborgen, die sich immer mehr auftürmten. Gleich würde es zu regnen anfangen. Eigentlich hätte sie jetzt den steilen Weg in die Stadt hinuntergehen müssen, denn sie hatte nur eine dünne Strickjacke an. Aber seltsam, sie saß wie festgewurzelt auf der Bank am Philosophenweg, als ob eine geheimnisvolle Macht sie an diesen Platz fesselte. Sie spürte auch die Kälte nicht, obwohl sie unter der Jacke eine kurzärmelige Bluse trug und – was selten genug vorkam – einen schwarz-weiß gemusterten Rock, ihren besten, und das einzige Paar dünne Strumpfhosen, das sie besaß.

Ich bin auch nicht besser als diese Oberschichtengänse, die aufgedonnert und herausgeputzt im Hörsaal sitzen, ganz vorne am Dozentenpult, um ihm ganz nahe zu sein, ihm, Professor Ludwig Felsmann, dem Halbgott der Heidelberger Germanisten. Warum ziehe ich eigentlich meine besten Sachen an, überlegte sich Marianne. Seit wann lasse ich mich von diesen Gänsen anstacheln? Dabei gehen sie mir doch auf die Nerven, mit ihrem aufgesetzten, albernen Getue. Studieren doch nur Germanistik, weil sie nichts Besseres zu tun haben. Im Übrigen zahlt der Herr Papa das Studium, weil er hofft, dass das Fräulein Tochter dort den passenden Ehemann findet. Am liebsten einen von diesen Verbindungsschnöseln, die sie abends bedienen musste. Viel zu viel Bier, dumme Sprüche und ab und zu einen Klaps auf den Po. Obwohl – das trauten sich die meisten nicht mehr, seit sie ihnen einmal mit scharfen Worten entgegengeschleudert hatte, dass sie sich das ein für alle Mal verbitte. Wie gut das getan hatte! Sie, Marianne Holzer aus Grunbach im Schwarzwald, hatte zurückgeschlagen, wenn auch nur mit Worten. Aber immerhin, was war sie denn? Ein Unterschichtenkind aus ärmlichen Verhältnissen, unehelich noch dazu und schlimmer noch … Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Sie wollte überhaupt nicht mehr daran denken, aber die Bilder waren da, festgefroren in ihrem Hirn und jederzeit konnten sie in ihr Bewusstsein schießen.

Unwillkürlich glitt ihre Hand in die alte braune Aktentasche, die noch aus ihrer Schulzeit stammte. Ja, er war noch da, der Brief, der heute Morgen auf dem großen Tisch in der Diele lag, wo Frau Winter, ihre Zimmerwirtin, die Post für ihre Mieter säuberlich sortiert hinlegte. Ein Brief von ihrer Mutter und Sieglinde, ihrer Schwester, oder vielmehr Halbschwester. Einer von den vielen, die immer das Gleiche enthielten: Klagen, Vorwürfe … Warum kommst du nicht heim? Lässt uns hier sitzen in diesem Dreckshaus, das bald zusammenfällt, und drüben, in Großvaters Schuppen … na, du weißt schon, auch damit lässt du uns allein.

Ja, damit ließ sie sie allein, mit diesem Geheimnis, das sie doch verband, enger als je zuvor. Allerdings hatte sie sich im Unterschied zu Mutter und Sieglinde vom Haus und vom Schuppen befreit. Aber die beiden waren an diesen Ort gekettet, den sie hassten und dem sie doch nicht entkommen konnten.

Mariannes Hand befühlte den Brief, er schien ihr außergewöhnlich dick. Nein, sie würde ihn jetzt nicht aufmachen. Heute Abend, im Bett, kurz vor dem Einschlafen, würde sie ihn lesen. Und dann würde hoffentlich schnell der Schlaf kommen und die Träume verscheuchen, die der Brief sicher aufwühlen würde. Jetzt wollte sie lieber an Schöneres denken, an etwas, das sie durch den Tag tragen würde.

Sie, Marianne Holzer, Studentin der Germanistik und Geschichte im vierten Semester an der Universität Heidelberg, saß in der Vorlesung bei Professor Felsmann. Was waren das für zwei interessante Stunden gewesen, was hatte sie jetzt schon alles gelernt! Und seine Begeisterung, sein rhetorisches Geschick hatten sie mitgerissen.

Im nächsten Semester, wenn ich die Zwischenprüfung gemacht habe, werde ich in sein Hauptseminar gehen, dachte sie. Wahrscheinlich ist es albern, dass ich dieses Getue, das alle um ihn veranstalten, mitmache, ziehe sogar meinen besten Rock an. Aber man sagt, er achte auf die Äußerlichkeiten, sei ein Ästhet und kein Kostverächter, aber was soll’s. Er ist wirklich brillant. Und was sein neues Buch verspricht, so hat er meine Erwartungen mehr als erfüllt. Sie zog einen dicken, in glänzendes Umschlagpapier gehüllten Band aus der Tasche. Das Wesen der Deutschen Romantik stand da in großen weißen Buchstaben auf dem Schutzumschlag, auf dem im Hintergrund ein Gemälde von Caspar David Friedrich abgebildet war: Der Wanderer über dem Nebelmeer. Das Trinkgeld der letzten Monate hatte sie gespart und letzte Woche in der Buchhandlung Ziehank triumphierend das Buch erstanden, ein »neues Standardwerk der Germanistik«, wie die Kritiker schrieben. Sie hatte sich auch nicht daran gestört, dass die Buchhändlerin kopfschüttelnd die vielen Münzen, die sie in kleinen Häufchen vor ihr hingezählt hatte, in die Kasse einordnete.

Ja, daran wollte sie denken, dass sie nun Teil einer neuen Welt war, auch wenn sie ihr vielfach noch fremd war. Wie hätte Großvater Gottfried es genannt? »Du fremdelst, Marianne, aber das brauchst du nicht. Musst keine Angst haben.« Als kleines Mädchen hatte sie sich vor fremden Menschen gefürchtet. War oft unter den Küchentisch geflüchtet, ihrem Schutzort. Großvater Gottfried hatte immer wieder versucht, ihr die Angst zu nehmen. Beim Gedanken an ihn, füllten sich Mariannes Augen mit Tränen. Vor einem halben Jahr war er gestorben, nur wenige Monate nach seiner Frau, der Alten, wie sie Marianne immer verächtlich genannt hatte. Es waren nicht ihre leiblichen Großeltern gewesen, aber die Alte hätte trotzdem freundlicher zu ihr sein können, so wie Großvater Gottfried, der sie doch geliebt hatte, trotz allem. »Fremdeln« – der Ausdruck passte, denn sie fand sich immer noch nicht zurecht in dieser neuen Welt, nach der sie sich doch so sehr gesehnt hatte. So vieles machte ihr Angst, die Selbstsicherheit der anderen Studenten, die Arroganz der Oberschichtengänse, das gespreizte Getue der Professoren. Aber heute, in der Vorlesung von Felsmann, hatte sie zum ersten Mal so etwas wie Vertrautheit gespürt. Sie gehörte doch hierher. Und es gab ja auch andere Studenten, die ängstlich und unsicher waren wie sie.

Nach der Vorlesung hatte sie einer angesprochen, Jürgen, wie er sich vorstellte, ein schmaler Mensch mit Kassenbrille und einem blühenden Pickel auf dem Kinn. Ob man sich nach der nächsten Vorlesung nicht austauschen könnte? Die Notizen vergleichen … der Felsmann sei ja furchtbar anspruchsvoll, exzellent, aber anspruchsvoll. Sie hatte zugesagt. Vielleicht war es nur plumpe Anmache, aber so sah er eigentlich nicht aus. Ein armes Würstchen, so wie sie. Aber sie durfte nicht mehr fremdeln, musste sich mehr zutrauen, schließlich kannte sie sich doch langsam aus in dem Laden. Sie legte das Felsmannbuch sorgfältig in die Tasche zurück. Die ersten Tropfen fielen, es waren nur wenige und sie fielen zaghaft auf die Erde, die Bank, ihr Gesicht. Aber sicher würde einer dieser Frühlingsplatzregen anfangen, die einen bis auf die Haut durchnässten.

Eilends rannte sie die steilen Stufen hinunter, bis sie unten an der Alten Brücke ankam. Wenn sie sich beeilte, war sie an der Hauptstraße, bevor der Regenguss einsetzte. Ob sie die Straßenbahn nehmen sollte? Aber sie hatte sich noch keine Monatskarte gekauft, da sie das Geld reute, im Sommersemester konnte man schließlich laufen.

Als sie am Uniplatz ankam, hielt gerade eine Straßenbahn und die Versuchung war zu übermächtig. Marianne sprang hinein und fuhr mit klopfendem Herzen und schlechtem Gewissen rumpelnd und schaukelnd bis zum Bismarckplatz.

Wie die anderen das nur machen, die sind immer so gelassen. Bei denen ist es geradezu Ehrensache, schwarzzufahren. Ich kann das nicht. Wenn jetzt ein Kontrolleur kommt …

Aber es ging alles gut und als sie schließlich vor der scheußlichen Wabenfassade des großen Kaufhauses ausstieg, hatte sogar der Regen nachgelassen. So konnte sie einigermaßen trocken bis zur Goethestraße kommen, wo sich ihr möbliertes Zimmerchen befand. Von Anfang an war ihr der Straßenname als gutes Zeichen erschienen, obwohl die Behausung mehr als dürftig war. Egal, Hauptsache, ein Dach über dem Kopf! Zudem erhielt das Quartier durch den Namen »Goethe« eine Art höhere Weihe.

Das Haus selbst war schön, erbaut um die Jahrhundertwende, wie so viele Häuser hier im Westen der Stadt. Roter Sandstein, Türmchen und Erker und in verwilderten Vorgärten blühten Flieder und Goldregen. Im zweiten Stock hatte Frau Winter ihre Wohnung an vier Studenten untervermietet. Sie selbst bewohnte mit ihrem Sohn zwei kleine Zimmer, die zum Park auf der anderen Seite hinaussahen.

Die drei großen »Herrschaftsräume«, die an der Straßenseite lagen, waren durch eine dazwischengezogene papierdünne Wand unterteilt worden, um so vier Räume zu schaffen. Die Bewohner, allesamt Studenten, konnten so ohne Mühe am Alltag ihrer Mitbewohner teilhaben.

»Badezimmer gibt es keins«, hatte Frau Winter bei der Besichtigung resolut beschieden. »Sie waschen sich wie alle anderen auf dem Klo.« Dabei hatte sie Marianne mit ihren wasserblauen Augen kampfeslustig angeblitzt, als wollte sie so unterstreichen, dass es das Normalste auf der Welt sei, sich als Untermieter auf der Toilette zu waschen.

»Das geht schon in Ordnung«, hatte Marianne geflüstert. Für jemand wie sie, der im Häuschen in Grunbach aufgewachsen war, war das keine große Sache. Das Plumpsklo und der Spülstein in der Küche waren die einzigen sanitären Einrichtungen dort gewesen.

»Wenn Ihnen das Waschbecken zu klein ist, machen Sie es wie Ihre Mitbewohner, kaufen Sie sich eine Plastikschüssel, die können Sie mit aufs Zimmer nehmen. Aber keine Wasserflecken auf dem Boden, wenn ich bitten darf.« Frau Winter schien besänftigt, brachte sogar so etwas wie ein Lächeln zustande, indem sie die Mundwinkel leicht nach oben zog, fuhr sich prüfend über die wie aus Beton festgegossene Dauerwelle und zwängte dann ihre ausladende Figur an Marianne vorbei. »Schauen Sie sich noch um und sagen Sie mir dann, wie Sie sich entschieden haben.«

Was gab es da zu überlegen? Schaudernd erinnerte sich Marianne an die Tage vor Beginn des ersten Semesters, als sie Quartier in der Jugendherberge bezogen hatte. Endlose Schlangen am Zettelaushang in der Mensa, im Studentenwerk, verstohlen geflüsterte Geheimtipps, wo angeblich noch etwas frei wäre. Dann das endlose Treppensteigen, Geschiebe und Gedränge in den Fluren, nur um dann oben zu erfahren, das Zimmer sei bereits vergeben. Nein, sie war froh, bei Frau Winter untergekommen zu sein, und die war ja auch nicht »uneben«, wie Großvater Gottfried wohl sagen würde, obwohl Gertrud, eine ihrer Mitbewohnerinnen, behauptete, sie mache ihrem Namen alle Ehre. »Wenn der Winter kommt, wird’s kalt und ungemütlich, und wenn sie kommt, ebenso. Mieterhöhung oder Beschwerden: ›Machen Sie die Musik leiser … Sie haben das Licht heute Nacht bis halb zwei brennen lassen …‹«

Andererseits ließ sie einen in Ruhe, traktierte einen nicht mit Geschichten aus ihrer Jugend oder war über Gebühr neugierig, war sogar in Maßen höchst tolerant, was Besuch anbelangte, wenngleich eine Privatsphäre wegen der Hellhörigkeit praktisch nicht existierte. Herrenbesuch nach 22 Uhr war allerdings strikt verboten.

Marianne stieg die ausgetretenen Holzstufen hoch, sie knarrten in einem Takt, den sie schon zu kennen meinte, und es stellte sich gelegentlich sogar ein Gefühl des Nachhausekommens ein. Im dämmrigen Flur mit dem wuchtigen Tisch in der Mitte und der schweren geschnitzten Eichenvitrine rechts vom Eingang, war es ruhig. Auf diese Vitrine war Frau Winter mächtig stolz. »Macht was her«, pflegte sie oft zu sagen, »solche alten Erbstücke sind doch respektabel.« Die ganze Wohnung war vollgestopft mit diesen hölzernen Monstrositäten. Auch in Mariannes schmalem Zimmerchen befanden sich solche respektablen Scheußlichkeiten, ein uraltes knarrendes Bett mit einem kunstvoll verzierten Kopfteil und ein mächtiger Schrank, der fast die ganze Schmalseite des Zimmers einnahm. Das Ungetüm, verziert mit einem Fries von Blättern und undefinierbaren Früchten, hatte wenigstens den Vorteil, dass Marianne dort all ihre Habseligkeiten verstauen konnte. Denn außer einem mit Resopal beschichteten Küchentisch, der so gar nicht zu der restlichen Einrichtung passte, bot das Zimmer sonst nicht viel. Der Tisch diente abwechselnd als Schreibtisch und als Waschtisch, denn sie hatte sich tatsächlich eine Plastikschüssel gekauft, um sich ungestört von Kopf bis Fuß waschen zu können. Vollends grotesk wirkten die Apfelsinenkisten, die sie regelmäßig beim Supermarkt nahe dem Bismarckplatz ergatterte und in die Goethestraße schleppte. Sie dienten als Bücherregal und Stück für Stück wuchs der Stapel in die Höhe, angefüllt mit ihren Büchern, ihrem Schatz, selbst bezahlt mit dem gesparten Trinkgeld oder in Antiquariaten aufgestöbert. Und jetzt kam also der Felsmann dazu, das blau glänzende Prachtstück ihrer bescheidenen Sammlung.

Flüchtig dachte sie an die Bücher, die sie vor einigen Jahren auf dem Dachboden des Häuschens in Grunbach gefunden hatte, ihr erster Schatz. Sie hatten Walter Holzer gehört, dem Mann ihrer Mutter, der nicht ihr Vater war, wie sich herausgestellt hatte, und der im Krieg gefallen war. Walter, der Augapfel seiner Mutter, die den Schmerz seines Verlusts nie verwinden konnte. Sie hatte die Bücher, die Marianne sorgsam versteckt hatte, eines Tages entdeckt und zu Mariannes Entsetzen verbrannt. Das hatte ihren Hass auf ihre vermeintliche Großmutter, die Alte, so angefacht wie eine brennende Wunde, die nie heilte. So hatte sie es jedenfalls lange Zeit empfunden, jetzt aber dachte sie anders darüber. Sie hat es wahrscheinlich nicht ertragen, dass gerade sie, das Kuckuckskind, diese Bücher in Besitz genommen hatte, mehr noch, sie gelesen und wohl auch geliebt hatte, sie, das Kuckuckskind, und nicht Sieglinde, die geliebte leibliche Enkeltochter, die sich gar nichts daraus machte, höchstens in den Modejournalen ihrer Mutter las, der verhassten, oberflächlichen, leichtsinnigen Schwiegertochter.

Immer wenn sich Marianne daran erinnerte, überlegte sie, was den Menschen antrieb, welche Ängste, Sehnsüchte und Träume ihn leiteten und verfolgten. Und wer konnte darüber urteilen?

Aus diesen tiefsinnigen Gedanken wurde sie durch ein Klopfen an der Wand gerissen. Das war Gertrud, die Zimmernachbarin. Als Antwort klopfte sie wie üblich zurück und keine Minute später wurde die Türe aufgestoßen und ein kräftiges, hochgewachsenes Mädchen kam herein. Gertrud war die Tochter einer wohlhabenden Allgäuer Bauernfamilie, die Erste, die ein akademisches Studium absolvierte, und entsprechend stolz waren ihre Eltern. Wenn sie am Wochenende nicht nach Hause fuhr, traf pünktlich am Samstag ein Paket mit Käse, Wurst und selbst gebackenem Brot ein, das sie großzügig mit Marianne teilte. So verschieden die beiden Mädchen waren, sie mochten sich, mehr noch, sie respektierten sich, gerade weil sie so verschieden waren.

»Also Deutsch studieren, ich könnte das nie«, hatte Gertrud am Beginn ihrer Bekanntschaft immer wieder betont. »In Deutsch war ich immer grottenschlecht. Zu wenig Fantasie, hat es ständig geheißen und noch schlimmer war es, als ich mich mit der Literatur herumschlagen musste. Wie die dort gesprochen haben, ich meine die Leute in den Theaterstücken und den Romanen, also ich musste alles dreimal lesen, bis ich überhaupt etwas kapiert habe.«

»So ging’s mir mit der Biologie«, hatte Marianne dann geantwortet und sich schaudernd an Doppelhelix und Ähnliches in ihren Augen schwer verdauliches Zeugs erinnert, wie sie es nannte. »Sieht aus wie Strickmuster, hab ich immer gedacht.«

Gertrud hatte dann herausgefunden, dass sie trotz aller Abneigung gegen die Naturwissenschaften glänzende Noten gehabt hatte, und deshalb war Marianne in ihrer Achtung noch mehr gestiegen, vor allem als Marianne ihr im Laufe der Zeit einiges aus ihrer Familiengeschichte anvertraut hatte. Der bodenständigen Allgäuer Bauerntochter waren diese Geschichten wohl wie Erzählungen aus einer anderen Welt vorgekommen. Das armselige Häuschen am Berg, die leichtlebige Mutter mit dem Hunger nach Leben und sozialer Anerkennung, der unbekannte Vater, ein französischer Besatzungssoldat, von dem Marianne nicht einmal den Namen wusste … Nur ein zerdrücktes und vergilbtes Foto war das Einzige, was von ihm geblieben war. Und man konnte kaum etwas darauf erkennen, außer einem lachenden Mund, aber die Augen, die Augen konnte man überhaupt nicht mehr sehen. Aber von dem Geheimnis hatte Marianne ihr nichts erzählt und das sollte so bleiben. Undenkbar, es irgendjemandem zu erzählen.

Jetzt ließ sich Gertrud auf das altersschwache Bett fallen, das unter ihrem Gewicht bedenklich ächzte.

»Irgendwann kracht hier einmal alles zusammen«, bemerkte Gertrud lakonisch. »Nur Frau Winter wird wie der Fels in der Brandung inmitten der Trümmer stehen und neue Zettel in der Uni aushängen: Schöne Zimmer zu vermieten. Mietvergünstigung gegen einfache Reparaturen. Heute Mittag hat es übrigens einen riesen Spektakel gegeben.« Sie hielt inne und sah Marianne erwartungsvoll an.

Die tat ihr den Gefallen und fragte mit gespielter Neugierde zurück: »Was ist denn passiert? Hat einer seine Miete nicht bezahlt? Oder einen Kratzer auf die heiligen Möbel gemacht?«

»Viel schlimmer. Sato hat sich einen Spirituskocher gekauft und ins Zimmer geschmuggelt. Das deutsche Essen bekomme ihm nicht, er wolle so kochen, wie er es von daheim gewohnt sei. Leider hat er völlig vergessen, dass Essen Gerüche erzeugt, in diesem Falle sehr exotische, denn er hatte allerlei Gewürze eingekauft, dazu Fisch, um seinen Reis aufzumöblen. Ich hab erst gedacht, was kocht denn die Winter da. Oder ist es vielleicht der famose Sohn, der am Herd steht, obwohl er ja sonst keinen Finger rührt. Da ging der Spektakel auch gleich los. Die Winter hat es natürlich auch gerochen, auf dem Gang herumgeschnuppert und ist dann zielstrebig in Satos Zimmer marschiert. Ob er sie alle umbringen wolle, hat sie geschrien, Feuer in den Zimmern sei verboten, und dazu das Kochen und da noch so ein Zeugs. Und sie kündige ihm fristlos. Der Sato stand da und hat fast geheult. Gott sei Dank kam der Sohnemann und hat die Wogen geglättet. Hat von Heimweh gefaselt und Missverständnis, da hat er ja auch irgendwie recht gehabt, und dass der Sato ansonsten doch ein guter Mieter sei, der pünktlich seine Miete bezahle. Sie hat schließlich eingelenkt. Aber den Spirituskocher hat sie konfisziert.«

Marianne schmunzelte. Also war wieder einmal Rolf, der »Sohnemann«, der rettende Engel gewesen. Er konnte seine Mutter um den Finger wickeln, obwohl er so etwas wie eine »verkrachte Existenz« war, wie Gertrud es nannte. Er ging irgendwelchen unregelmäßigen Tätigkeiten nach, die wohl zurecht im Dunkeln blieben. Aber er sah geradezu unverschämt gut aus und hatte keinerlei Ähnlichkeit mit seiner Mutter, eine Tatsache, die Gertrud zu wilden Spekulationen über den unbekannten Herrn Winter veranlasste, von dem nie die Rede war und an den nichts in der Wohnung erinnerte. Vielleicht gab es auch gar keinen Herrn Winter und der Erzeuger von Rolf war ein ganz anderer gewesen. Jedenfalls sah der Sohn mit seinen pechschwarzen Haaren und den blitzenden braunen Augen nicht wie der Sprössling einer alten Heidelberger Familie aus. Allerdings wurde sein bestechendes Aussehen durch seinen breiten kurpfälzischen Dialekt und die Tatsache, dass er zu Hause meistens schmuddelige Feinrippunterhemden mit Brandlöchern trug, stark getrübt. Auf eine unbestimmte Art und Weise erinnerte er Marianne an Enzo und manchmal erschrak sie, wenn Rolf plötzlich im Halbdunkel des Flures vor ihr stand. Er mochte das wohl bemerken, denn immer wenn er sie sah, stahl sich ein selbstgefälliges Grinsen in sein Gesicht. Wenn du wüsstest, dachte Marianne dann jedes Mal.

»Aber jetzt erzähl mal, wie war denn deine tolle Vorlesung bei deinem tollen Professor?« Gertrud hatte das Interesse an Satos kulinarischem Abenteuer verloren. »Hast dich ja mächtig rausgeputzt. Fehlte gerade noch, dass du zum Friseur gegangen wärst.«

Marianne merkte zu ihrem Ärger, dass sie rot wurde. Unbewusst fuhr ihre rechte Hand hoch und betastete die halblangen, kastanienbraunen Locken, die sie mit einem braunen Haarreif gebändigt hatte. Ein Friseurbesuch würde wirklich nicht schaden. Sie sah so struppig aus, nicht so wie die Gänse, die nach dem neuesten Schrei frisiert waren, also halblanges, glattes, glänzendes Haar hatten.

»Keine Sorge. Siehst gut aus, bildhübsch, wie ich finde, auch ohne Friseur.« Gertruds rosiges, breitflächiges Gesicht strahlte, solche Scherze liebte sie. »Jetzt komm schon. Guck mich nicht so böse an. Bestimmt konnte er den Blick nicht von dir wenden, der Herr Professor.«

Wider Willen musste Marianne lachen. Gertrud meinte es nicht böse und sie kam sich jetzt wirklich albern vor.

»Ganz sicher. Gut zweihundert Studenten und die Gänschen, aufgeputzt wie die Pfingstochsen, zu seinen Füßen.«

»Schöne Metapher«, bemerkte Gertrud. »Siehst du, das habe ich mir noch gemerkt. Also sieht er gut aus, der Herr Professor?«

»Du denkst immer an das Nächstliegende, praktisch, wie die Allgäuer so sind«, schnappte Marianne zurück. Ja, er sah gut aus, das konnte man nicht bestreiten, trotz seiner fünfzig Jahre. Kaum graue Strähnen im braunen Haar, das er auf recht unkonventionelle Art ziemlich lang trug, zumindest für einen Professor. Eine Strähne fiel ihm immer in die Stirn, wenn er sich über sein Manuskript beugte. Und dann diese unnachahmliche Geste, wenn er das Haar zurückstrich mit seiner schmalen, feingliedrigen Hand.

Schluss jetzt, befahl sie sich. Wohin verirrst du dich? Klingt ja wie bei Courths-Mahler, darauf kommt es doch nicht an.

Sie musste wohl den letzten Satz laut gesprochen haben, denn unvermittelt sagte Gertrud: »Darauf kommt es wohl an. Oder warum, glaubst du, sitzen die Weiber da? Wegen ihres Interesses … worum geht es noch in der Vorlesung?«

»Um die deutsche Romantik«, antwortete Marianne.

»Also wegen ihres Interesses an der deutschen Romantik! Das glaubst du doch selber nicht. Du ja, das weiß ich. Was du nur immer mit deiner Romantik hast! Ich erinnere mich noch – zwölfte Klasse … Eichendorff … tödlich langweilig. Immerzu Mondenschein, Mägdelein und Mühlräder.« Gertrud lachte laut, als habe sie einen besonders guten Witz gemacht.

Marianne suchte nach einer Antwort. Gertrud hatte einen wunden Punkt getroffen. Warum diese Vorliebe für diese Epoche, ja, es war geradezu eine Faszination. Warum hatte sie sich auf diese Vorlesung gefreut, hatte es geradezu als Privileg empfunden, Professor Felsmann hören zu dürfen? Bestimmt nicht, weil er so gut aussah und berühmt war. Kam sogar im Fernsehen, hatten die Kommilitonen jedenfalls erzählt. Also deswegen nicht, nicht nur, korrigierte sie sich. Sie wollte ehrlich zu sich selbst sein. Aber es steckte mehr dahinter.

Vielleicht weil bei meinem Bücherschatz, den ich damals auf dem Dachboden gefunden habe, auch zwei schmale Bändchen mit Werken von Josef Eichendorff dabei waren, der Taugenichts und das Marmorbild. Oder weil Dr. Schwerdtfeger, mein Deutschlehrer auf dem Gymnasium, eine besondere Vorliebe für diese Epoche hatte. Durch ihn habe ich die Gedichte von Novalis und Brentano, die Märchen von Tieck und die Novellen von E. T. A. Hoffmann kennengelernt. Es muss wohl vor allem an Dr. Schwerdtfeger liegen, der mir die Tür zur Bildung aufgestoßen hat und dem ich so viel verdanke. Nicht zuletzt auch das kleine Zimmer in der Wohnung seiner betagten Tante, das ich kostenlos gegen Mithilfe im Haushalt bewohnen durfte, gleich nach der Katastrophe mit Enzo. Das war die Rettung gewesen, denn es wäre mir nicht mehr möglich gewesen, im Häuschen zu wohnen, zusammen mit Mutter, Sieglinde und der Alten, auch wenn Großvater Gottfried sehr traurig war damals. Und trotzdem – zusammengenommen lieferte das alles keine Erklärung.

Sie merkte, dass Gertrud sie immer noch erwartungsvoll anblickte.

»Ich weiß es auch nicht so recht«, entgegnete Marianne kläglich. »Es geht ja nicht bloß um Mondenschein, Mägdelein und Mühlräder. Vielleicht ist es so, dass ich Antworten suche.«

»Antworten?«, fragte Gertrud erstaunt zurück. »Antworten suche ich auch in meiner Biologie. Antworten, die unsere Lebensqualität verbessern. Die Natur hält sie todsicher bereit. Aber was für Antworten suchst du denn um Himmels willen in dem alten Kram?«

Marianne zuckte mit den Schultern. »Ich … ich weiß nicht so genau. Wie das gute Leben gelingen soll …«

»Das gute Leben …«, wiederholte Gertrud. Es klang abschätzig. »Was soll denn das sein?«

»Ein Leben, das zu einem passt«, erwiderte Marianne trotzig. »Verstehst du das denn nicht? Das Leben, das zu einem passt, in dem man sich wohlfühlt, das man selber gestalten kann … Ich weiß nicht.« Sie schwieg hilflos. In ihr waren so viele Fragen, für die sie noch nicht einmal die richtigen Worte fand, um sie auszudrücken. Von den Antworten ganz zu schweigen.

»Und der alte Kram, wie du es nennst, ja, das kann dabei helfen. Wir reden hier nicht von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, so wichtig die sind, sondern von Einstellungen – uns und den anderen gegenüber. Von Entscheidungen, die wir treffen müssen und hoffentlich auch können. Die Menschen haben sich darüber zu allen Zeiten Gedanken gemacht. Die will ich kennenlernen, diese Gedanken, meine ich. Und die Romantiker interessieren mich eben ganz besonders, weil …« Marianne biss sich auf die Lippen.

Gertrud sah sie aufmunternd an. »Weil …?«

»Ja, weil …« Marianne zögerte. Wie hatte es der Professor vorher formuliert? »Weil sie Sinn für die Schönheit hatten, weil sie wollten, dass die Menschen die Schönheit erkennen, denn dadurch werden sie wahrhaftig frei. Jeder Mensch sollte ein ganz eigenes Individuum werden. Sie wollten eine Revolution – lache nicht, Gertrud – keine bei der man schießt oder bei der man Leute köpft, nein, es sollte eine Revolution der Lebensweise werden, Selbstbestimmung könnte man es wohl nennen. Felsmann hat vorhin einen Philosophen zitiert, ich weiß nicht mehr, wie er heißt, aber er hat davon gesprochen, dass man die bestehenden Verhältnisse »zum Tanzen« bringen muss. Ist das nicht ein schönes Bild?« Marianne hielt inne und sah Gertrud erwartungsvoll an. Aber die sagte nichts, saß nur da und nagte an ihrer Unterlippe. Marianne atmete tief ein. Es gab noch so viel zu sagen. Vielleicht fand sie nicht die richtigen Worte, aber sie wollte es versuchen.

»Noch etwas anderes fasziniert mich. Die Romantiker liebten auch das Geheimnisvolle, das Dunkle, das Unbekannte, das hinter den sichtbaren Dingen und den Menschen steckt. Nichts ist, wie es scheint, meist nur ein Gaukelspiel der Vernunft, die vorgibt, alles zu durchdringen. Ja, da schaust du, meine Diplombiologin in spe. Du hast vorhin von Eichendorff gesprochen, habt ihr auch den Taugenichts gelesen?«

Gertrud nickte stumm.

»Erinnerst du dich? Die vermeintliche Gräfin entpuppt sich als Nichte des Portiers, ein Graf ist in Wirklichkeit eine Gräfin und der Taugenichts wird fälschlicherweise für ein Mädchen gehalten. Deshalb liebten sie auch so die Nacht, die für das Geheimnisvolle, das Unheilvolle steht, die dunkle Seite. ›Geheimnisse, in Nacht verloren‹, hat der Professor gesagt.«

Marianne versank in Nachdenken. Wahrscheinlich ist es das, was mich anzieht. Ich habe ja auch ein Geheimnis, ein ganz schreckliches Geheimnis, und ich bin auch nicht die, die ich vorgebe zu sein. Sie fröstelte plötzlich. Es hat doch etwas Tröstliches, dass man den Menschen die Möglichkeit einräumt, Schuld auf sich zu laden und das Geheimnis zu wahren. Ja, das tröstet mich. Und dann war da noch etwas, was ihr so gefiel. Sie dachte an den verwilderten Garten in Grunbach mit den Kartoffeln und Kohlstrünken. Der Taugenichts hätte alles herausgerissen und Blumen gepflanzt. Diese Sehnsucht nach Schönheit hatte sie begleitet, seit sie denken konnte, die Sehnsucht, den Kämpfen des Alltags zu entfliehen. Aber wie konnte sie das Gertrud, ihrer praktischen Gertrud, die in so ganz anderen Verhältnissen aufgewachsen war, begreiflich machen? Marianne flüchtete sich in einen Scherz.

»Vielleicht denke ich Unsinn und du denkst, ich spinne. Du würdest den Mond mit ganz anderen Augen sehen, würdest wahrscheinlich überlegen, woraus seine Oberfläche besteht und ob man Spuren organischen Lebens dort finden kann.«

Gertrud lächelte. »So fantasielos bin ich nun auch wieder nicht. Und ich habe dich ganz gut verstanden, denke ich. Aber ich bin nun einmal jemand, der an das Nützliche und Vernünftige glaubt. Den Taugenichts habe ich immer für einen faulen Tunichtgut gehalten. Anstatt seinem Vater zu helfen, marschiert er einfach los, ohne einen Groschen in der Tasche. Aber jetzt, nach deiner Rede, habe ich erst kapiert, worum es da geht. Du wirst einmal eine gute Lehrerin, Marianne. Halte mich auf dem Laufenden, was dein Professor so erzählt. Vielleicht werde ich doch noch eine Literaturliebhaberin.« Sie lachte herzhaft ihr tiefes, kehliges Lachen, das Marianne so an ihr mochte. Dann erhob sie sich mit Schwung vom Bett. »So, jetzt muss ich wieder zu meiner vernünftigen Wissenschaft. Ach, übrigens …« Im Hinausgehen drehte sie sich noch einmal um. »Noch etwas ganz anderes. Der alte Adenauer ist heute gestorben, kam vorhin im Radio. Komisch, irgendwie dachte ich, der sei unsterblich. Hat uns doch das ganze Leben lang begleitet.« Dann schloss sie sanft die Tür.

Marianne saß eine Weile reglos da und starrte die Tür an. Sie war erleichtert, dass Gertrud so reagiert hatte. Nichts mehr von Spinnereien und wirrem Kram. Sie setzte sich schließlich auf den Stuhl am Schreib-Wasch-Esstisch und begann, ihre Tasche auszupacken. Da war der Brief aus Grunbach, den sie endlich lesen musste. Und da war das Buch aus der Unibibliothek, das sie gleich nach der Vorlesung geholt hatte: Sophie Brentano-Mereau: Gedichte. Der Name sagte ihr nichts, der Professor hatte ihn am Schluss der Vorlesung erwähnt. In der nächsten Stunde wolle man sich besonders mit ihr beschäftigen. Diese Gedichte wollte sie ganz am Schluss heute Abend lesen, kurz vor dem Einschlafen, vielleicht konnten sie die bösen Träume vertreiben, die sich unweigerlich einstellen würden, wenn sie den Brief gelesen hatte. Die Grunbacher Gespenster mussten unbedingt vertrieben werden, diese Gespenster, die sich in der Nacht auf sie legten und ihr die Luft abschnürten.

Ungeschickt riss sie das Kuvert auf und zerrte zwei eng beschriebene Briefbögen heraus. Was gab es so viel zu schreiben? Sicher wieder die üblichen Klagen. Und am Schluss, in ihrer krakeligen Handschrift, Sieglindes üblicher Gruß: Wann kommst du? Kannst uns doch nicht immer alleine lassen. Erzähle von dir, was du so machst.

Marianne schloss für einen Moment die Augen, sie stellte sich vor, wie die beiden in der Küche am Tisch saßen, den Tisch mit der bunten Wachstuchtischdecke, kariert oder geblümt. Sie sah die Mama und Sieglinde vor sich, von grotesker Ähnlichkeit mit ihren blond gefärbten Haaren, die sie seltsam aufgetürmt trugen. »Toupiert« nannten sie es, aus Paris käme diese Art des Frisierens, speziell kreiert für die persische Kaiserin Farah Diba, an deren Schicksal beide Frauen regen Anteil nahmen. Jede Woche kauften Sieglinde und die Mama nicht nur die neuesten Modejournale, sondern jetzt auch bunte Blättchen, die über das Leben der Reichen und Schönen berichteten, kümmerlicher Ersatz für das eigene ungelebte Leben, das im Dämmer der begrabenen Hoffnungen versank.

Du hast es gut, schrieb Sieglinde in jedem Brief, bist einfach weg. Und wir hocken hier.

Marianne seufzte und zwang sich, Mutter kraus verschlungene Buchstaben zu entziffern. Der Anfang war wie immer – Klagen und Sorgen: … Durch das Dach regnet es an einer Stelle herein. Und ich weiß nicht, woher ich das Geld nehmen soll.

Das war eine mehr oder weniger unverhüllte Anspielung auf das Leinentäschchen mit der bestickten Madonna und den Geldscheinen, die sich darin befanden. Es hatte einmal Enzo gehört, und nun gehörte es ihr. Dann aber schrieb die Mutter etwas Merkwürdiges. Marianne las den Abschnitt zweimal, weil sie zuerst glaubte, sie habe etwas nicht richtig verstanden. Aber nein, da stand es, schwarz auf weiß, ein Irrtum war unmöglich.

Und jetzt das Wichtigste! Die Sache macht Sieglinde und mir große Sorgen und Du bist ja schließlich auch betroffen, deshalb wollte ich es Dir gleich schreiben.

Die »Sache« war der Besuch einer »komischen Frau«, wie die Mutter schrieb.

Noch jung, sieht ganz gut aus, wenn man den dunklen Typ mag. Sie hat kohlrabenschwarze Haare und ganz dunkle, fast schwarze Augen, vor denen man sich fürchten kann. Sagt, sie hieße Maria und käme aus dem gleichen Dorf wie Enzo. Ja, Du hast richtig gelesen, diese Maria kennt Enzo und sie sucht ihn. Er hat wohl gelegentlich geschrieben und daher hatte sie seine letzte Adresse. Sie meint, sie seien verlobt, aber er hat doch nie etwas von einer Verlobten erzählt, oder? Andererseits hat Enzo nur das erzählt, was er wollte. Jedenfalls hat mich beinahe der Schlag getroffen und Sieglinde heult die ganze Zeit. Wir haben ihr gesagt, er sei eines Tages weg gewesen und wir hätten keine Ahnung, wohin er gegangen ist. Und warum sie jetzt nach so vielen Jahren kommt. Da hat sie nur mit dem Kopf geschüttelt. Sie will wiederkommen, hat sie gesagt. Wir sollen versuchen, uns zu erinnern, ob er nicht doch etwas gesagt hat, wohin er gehen will. Sie habe doch so viele Briefe geschrieben, ob wir die nicht bekommen hätten? Wir haben doch nichts bekommen! Wir hatten ja keine Ahnung! Sie arbeitet ausgerechnet beim Tournier, in der Kantine, wenn sie dort herumtratscht! Du weißt doch, wie die Leute sind. Es hat ja dummes Gerede gegeben, als Enzo so plötzlich verschwunden ist. Wenn diese Maria nun alles wieder aufrührt? Was sollen wir nun tun, Marianne?

Marianne starrte auf die eng beschriebenen Bögen, als könne sie nur durch die Kraft ihrer Gedanken das Geschriebene auslöschen. Wie hatte sie nur glauben können, dass alles glattgehen würde? Aber es war doch nun schon einige Jahre her. Trotzdem, ein Mensch verschwindet und keiner fragt nach ihm. Gut, er war ein Hallodri, ein Spieler gewesen, der sich mit höchst zweifelhaften Leuten eingelassen hatte. Das mochte vielleicht für die Grunbacher genügen. Aber in Italien hatte er doch auch Leute gekannt, Verwandte gehabt, jemanden, der ihn liebte, obwohl er nie davon gesprochen hatte. Hatte immer so getan, als sei er allein auf der Welt. Aber Enzo konnte man nicht trauen. Wie konnten sie nur so naiv sein?

Fahrig nahm sie einen weißen Bogen und einen Stift aus der Schublade. Sie musste gleich antworten, beruhigen: Nur nichts Unüberlegtes machen. Sich nicht auf Gespräche einlassen … Wir wissen nichts, absolut nichts. Er ist einfach weg. Aber sie bemerkte, dass ihre Hand zitterte, sie konnte gar nicht richtig schreiben. Sie wusste nicht, wie lange sie so saß, aber die Dunkelheit hatte in der Zwischenzeit die Silhouetten der Möbel ganz verschluckt und nur die Lampe auf dem Tisch verbreitete ein tröstliches, kreisförmiges Licht.

Morgen, versuchte sich Marianne zu beruhigen, morgen schreibe ich. Ich muss mir genau überlegen, was ich ihnen schreibe, vielleicht fahre ich sogar nach Grunbach, am nächsten oder übernächsten Wochenende. Ich muss sie beruhigen und mich auch. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, sonst bricht unser Leben in Stücke. Nein, ich fürchte mich nicht vor dem Gespenst von Enzo und auch nicht vor dieser Person aus Fleisch und Blut, dieser Maria. Was kann sie uns schon anhaben?

»Schuld«, wisperte plötzlich ein Stimmchen, »du hast Schuld auf dich geladen.«

Oh, sie kannte dieses Stimmchen, das beinahe allgegenwärtig schien. Es fing plötzlich an zu flüstern, an jedem Ort, zu jeder Zeit. Und sie konnte es nicht unterdrücken, konnte es nur mühsam beschwichtigen. Ich bin nicht schuld an seinem Tod, sagte sie sich. Wem hätte ich etwas sagen sollen? Hätte ich meine Mutter und meine Schwester ins Elend stoßen dürfen? Schuldig habe ich mich aber gemacht, als ich das Geld genommen habe, Enzos Geld, verpackt in ein Leinensäckchen mit einer aufgestickten Madonna. Vielleicht hat sogar diese Maria die Tasche bestickt. Egal, sie weiß nichts, sie kann uns nichts anhaben. Und die himmlische Maria hat immer noch dicke Backen, wie Enzo oft gesagt hat, ist noch ganz voll. Ich habe ja kaum etwas von dem Geld angerührt. Und was ich herausgenommen habe, habe ich fein säuberlich aufgeschrieben. In den drei Jahren bei Tante Erika habe ich kaum etwas gebraucht, durfte ja dort umsonst wohnen und essen. Eigentlich verrückt, dass ich mich mit dem Geld so schwer tue. Enzo hat mich gemocht, wollte sogar mit mir weggehen, nur mit mir. Wer sollte also Anspruch erheben? »Vielleicht diese Maria«, flüsterte das Stimmchen, »vielleicht gibt es noch andere Menschen in Italien, die mehr Anrecht darauf haben als du.

»Aufhören«, flüsterte Marianne, »aufhören!« Ich will ja gar nichts von diesem … diesem Blutgeld. Es ist mein Notgroschen, er gibt mir Sicherheit auf meinem Weg.

Sie faltete den Brief zusammen und steckte ihn in einen dickleibigen Band über die historische Laufverschiebung. Morgen wollte sie den Brief zerreißen, wie die anderen auch, und in den Neckar werfen. Keine Spuren hinterlassen, das musste sie Mutter und Sieglinde noch einmal einschärfen.

Später, als sie im Bett lag, betrachtete sie die fleckige Zimmerdecke. Sie war müde, aber es war ihr unmöglich einzuschlafen. Auf dem wackeligen Nachttisch lag das Buch mit den Gedichten von Sophie Mereau, aber sie konnte jetzt nicht darin lesen. Es schien ihr, als beflecke sie das Buch, wenn sie es in die Hand nehmen würde. Zu viel Schmutz klebte daran, der Schmutz der Lüge und … Blut. Sie erinnerte sich jäh an ihr Zimmer in Grunbach, wo die schrägen Wände mit einer alten Tapete bedeckt waren, auf denen Blumenmedaillons aufgedruckt waren. Die Blumen waren ausgebleicht und schienen zu verlaufen, als seien sie in Auflösung begriffen. Sieht aus wie tanzende Kobolde, hatte sie damals gedacht, wenn sie mit halbgeschlossenen Augen kurz vor dem Einschlafen plötzlich meinte, einen besonderen Zauber darin zu entdecken. Die Fantasie des Kindes hatte Wunderbares darin gesehen, hatte dem schäbigen Zimmer eine Schönheit zugesprochen, die nicht existierte. Das war schon immer in mir drin, dachte sie, der Glaube an die Kraft der Fantasie. Das hätte Gertrud bestimmt nicht verstanden und sie, Marianne, hielt sich selbst gelegentlich für überspannt. Muss aufpassen, dass ich nicht zu viel rede, muss in Zukunft meine Zunge hüten. Alles könnte jetzt gefährlich werden.