Buchinfo

Locker bleiben, keine Hektik – damit ist Finn bisher gut gefahren. Vor allem bei den Mädchen. Doch dann kommt Carla in die Klasse, und mit Carla ist alles anders. Finn versucht, bei ihr zu landen, aber was er auch versucht, sie bleibt unbeeindruckt. Selbst als er seine Gitarre auspackt, was sonst immer funktioniert! Finn ist ratlos. Da verrät ihm Carla ein Geheimnis. Und das mit dem Lockerbleiben ist plötzlich gar nicht mehr so einfach …

Humorvoll und berührend – eine etwas andere Liebesgeschichte

Autorenvita

Martin Gülich

© Christine Steinhart

Martin Gülich, geboren 1963, lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in Stuttgart. Seit seinem Jugendroman-Debüt »Vorsaison« (1999) sind neben zahlreichen Büchern für Erwachsene zuletzt bei Thienemann seine Jugendromane »Der Zufall kann mich mal« (2014) und »Entschuldigen ist nicht mein Ding« (2015) erschienen. Martin Gülichs Bücher wurden in neun Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Thaddäus-Troll-Preis, dem Reinhold-Schneider-Förderpreis der Stadt Freiburg und dem Heinrich-Heine-Stipendium der Stadt Lüneburg.

Titelseite

»O.K., KANN LOSGEHEN!«

Ich sag mal so: Das Leben ist eigentlich ganz o. k. Meistens jedenfalls. Und wenn es mal nicht o. k. ist, dann ist es fast immer besser als o. k. Gut also, oder richtig gut, manchmal auch richtigrichtig gut. Megagut sozusagen, auch wenn ich diesen ganzen Mega-Scheiß nicht besonders mag. Megagut, Mega-Teil, Mega-Game, Mega-Titten, Mega-Super-Shopping-Samstag. Mega-mega, alles Gelaber! Mega muss man tun, nicht quatschen. Weil wer mega nur quatscht, der hat eigentlich schon verloren.

Nur in der Schule ist es anders. Wer da am meisten labert, der bekommt auch die besten Noten, und wenn du nichts sagst, hast du schlechte Karten. Wobei, stimmt eigentlich gar nicht. Ich bin gar nicht so stumm und pass schon auch auf, und wenn ich mich melde und was sage, stimmt’s manchmal sogar. Aber eben nur manchmal, und öfter stimmt’s halt nicht, und deshalb hab ich auch keine guten Noten. Also eigentlich hab ich sogar richtig schlechte Noten, und wenn ich ehrlich bin, kommt jedes Schuljahr mindestens ein Fach dazu, in dem’s nicht mehr so richtig rundläuft. Zuletzt Bio, dabei war ich da früher mal ganz gut, aber eben, das war früher, und von früher kannst du dir nichts kaufen.

Trotzdem muss man ruhig bleiben. Goldene Regel! Nur keine Hektik, weil Hektik versaut einem alles. Den Spaß, die Laune, die ganze Stimmung eben. Und am Ende sogar die Mädchen, weil die Mädchen mit einem, der auf Hektik macht, nichts zu tun haben wollen. Muss man sich nur umsehen. Gerrit – hektisch – keine Mädchen. Luis – total hektisch – erst recht keine Mädchen. Tim – überhektisch – Svenja. Und Svenja ist, wie soll ich sagen, also jetzt nichts gegen sie, so als Mensch meine ich, aber Svenja, nein, dann lieber gar kein Mädchen.

Ruhig bleiben also! Außerdem ist das Schuljahr noch lang, und so einen Endspurt darf man auf keinen Fall zu früh anziehen. Sonst geht einem kurz vor dem Ziel die Puste aus, und statt Siegerehrung gibt’s eine Runde extra. Wobei ich mich, wie’s aussieht, in diesem Schuljahr gleich in vier Fächern beeilen muss. Da braucht es vielleicht doch so etwas wie einen Plan. Französisch: Fünf, glatt. Geschichte: Vier, gerade noch. Chemie: hoffnungslos! Und eben Bio – wobei ich da noch die besten Chancen sehe. Ich glaube, Frau Leibniz mag mich und lässt mich nicht so einfach über die Klinge springen. So dumm, sagt sie, dass man in Bio eine Fünf bekommt, kann man eigentlich gar nicht sein. Und dass sie ab jetzt jede Woche Extra-Übungsblätter ausgibt, um uns auf die Sprünge zu helfen. Also den Schlechten. Also mir!

Dumm nur, dass nicht alle so wie Frau Leibniz ticken. Herr Seeger zum Beispiel. Kai-Uwe Seeger! Der wäre garantiert auch ein guter Gefängniswärter geworden. Also ein schlechter, einer der die Gefangenen quält und dem dabei vor lauter Freude der Sabber aus dem Mund läuft. Einer, der sich am Feierabend zu Hause noch ein paar Brutalofilme in den DVD-Player reinschiebt, um sich Anregungen für den nächsten Tag zu holen. Nazi halt, und wenn er keiner ist, dann nur, weil Nazis gerade nicht so beliebt sind. Vor allem nicht an Schulen. Da fliegst du raus, wenn du Nazi bist, vor allem als Lehrer, und deshalb ist Seeger lieber kein Nazi. Zumindest nicht offiziell, aber jede Wette, dass bei dem zu Hause alles voll mit Nazi-Scheiß ist. Hakenkreuz-Fahne, Hakenkreuz-Kaffeetasse, Hakenkreuz-Zahnbürste, Hakenkreuz-Bettwäsche, das ganze Sortiment. Und wenn nicht, dann macht das aus ihm auch keinen besseren Menschen.

O. k., wenn man Svenja oder Ann-Christin oder auch Lara fragt, klingt das mit Seeger vielleicht anders. Aber das sind halt auch Mädchen, und Seeger steht nun mal auf Mädchen. Mädchen, eine Note besser! Sagt er selbst, aber davon, dass er sie bevorzugt, will er natürlich nichts wissen. Mädchen sind eben fleißiger, sagt er, war schon immer so. Von mir aus, kann ja sogar sein, und wenn’s um fleißig geht, steh ich nun wirklich nicht in der ersten Reihe. Aber trotzdem: Seeger ist ein Arsch. Ein Arsch, der mich an den Arsch kriegen will, und wenn ich nicht aufpasse, schafft er das sogar. Französisch und Chemie. Allein seine Fächer sind ja schon Beweis genug, dass er nicht alle Tassen im Schrank hat.

Aber genug von Seeger. Seeger macht schlechte Laune, und schlechte Laune ist absolut nicht mein Ding. Schon gar nicht heute, wo ich mein erstes Date mit Elli hab. Elli ist in der Elf, also eine über mir, und dass ich ein Date mit einer aus der Elf habe, kommt jetzt auch nicht jeden Tag vor. Aus meiner Klasse oder aus der Neun, kein Problem, aber an eine aus der Elf ist echt nicht gut rankommen. Elf ist Oberklasse, Elite, da muss man sich schon was einfallen lassen. Wobei, eigentlich hab ich mir gar nichts einfallen lassen. Elli hat auf einmal in der Pause im Hof neben mir gestanden und gemeint, dass wir doch mal was zusammen machen können. So ganz unverbindlich. Ja, unverbindlich, hat sie wirklich gesagt, und machen auch, was vermutlich bedeutet, dass das gleich mal die große Knutscherei bei ihr im Zimmer gibt und vielleicht sogar mehr. Nur ohne miteinander gehen danach, unverbindlich halt, und unverbindlich ist mir eigentlich ganz recht.

Elli wohnt ein Stück weg von uns. Otto-Fikentscher-Weg, ohne Scheiß, und bei dem Straßennamen pack ich mal lieber die Kondome ein. Kondome und meine Gitarre. Ja, Gitarre, Mädchen stehen auf Gitarren. Also auf Jungs, die Gitarre spielen. Dabei ist eigentlich ziemlich egal, wie gut man spielt. Hauptsache, man tut es und bekommt drei, vier Songs einigermaßen unfallfrei über die Bühne. Und ob alle drei oder vier mit den gleichen drei oder vier Akkorden sind, ist schon wieder komplett egal. Und ehrlich, mehr kann ich auch nicht. Na ja, sagen wir fünf, C, D, G, A-moll und E-moll, aber damit kann man schon mal das halbe Pop-Programm durchspielen, und wo das nicht reicht, weil da noch irgendein F oder H drin ist, schummelt man einfach ein bisschen. Merkt keiner, zumindest, wenn man nicht ausgerechnet an ein Mädchen gerät, das selbst Gitarre spielt. Auch schon passiert. Pech gehabt. Ist nichts draus geworden.

Elli spielt Flöte. Weiß ich von Luis, und der weiß es von Krok, und Krok weiß es – keine Ahnung von wem. Querflöte, und nur klassisch, keine Gefahr würde ich mal sagen. Die Gitarre kommt jedenfalls mit, und wenn sie fragt, warum ich sie dabeihabe, sag ich einfach, dass ich gerade vom Unterricht komme. Stimmt natürlich nicht, und in Wahrheit habe ich in meinem ganzen Leben noch keine einzige Stunde gehabt. Wozu auch, für’s Mädchen-Beeindrucken braucht’s keinen Unterricht. Ein paar Clips auf YouTube, und man hat das drauf. Gut, ab und zu üben ist schon nicht schlecht, aber das mache ich immer erst kurz vor dem Date. Oder der Party. Oder der Klassenfahrt oder was sonst gerade ansteht. Dann hat man alles noch in den Fingern, und es klingt einigermaßen so, als ob man’s kann.

Ach ja, eines noch: nie von alleine anfangen. Goldene Regel! Muss immer ein anderer auf die Idee kommen. Sonst sieht’s nach Angeberei aus, und Angeberei ist was für Idioten. »He, Finn, spiel doch mal!« Oder: »Pack schon aus, Finn, wir wollen was hören!« So oder so ähnlich. Dann noch ein bisschen zieren und schließlich mit einem kurzen Seufzen gnädigst die Gitarre auspacken und erst mal stimmen. Auch wenn sie gar nicht verstimmt ist, immer stimmen! Sieht irgendwie professionell aus. Konzentriert gucken dabei, drei Akkorde spielen, kurz Stirn runzeln und noch mal stimmen.

»O. k., kann losgehen.«

Und ja, dann geht’s los!

* * *

Übrigens: Ich wohne bei Vicky. Vicky ist so alt wie meine Mutter und sieht auch genauso aus. Also genau so, wie meine Mutter aussehen würde, wenn sie noch am Leben wäre. Zwillingsschwestern, eineiig, auf Fotos kann man sie kaum auseinanderhalten. Vicky sagt, dass sie auch sonst genau gleich gewesen sind. Komplett, sagt sie, gleiche Ideen, gleiche Jungs, gleiche Lieblingseissorte, gleiche Träume. Von Anfang an und dass das bis zum Schluss so geblieben ist.

»Ein Mensch in zwei Körpern«, sagt Vicky, und dass es meine Mutter deshalb noch gibt, irgendwie jedenfalls, weil es sie, also Vicky, ja noch gibt, und dass Mam erst dann richtig tot sein wird, wenn auch sie einmal stirbt. »In hundert Jahren oder so«, sagt sie und lacht oder nimmt mich in den Arm, und obwohl wir beide wissen, dass das alles kompletter Schwachsinn ist, ist es mir doch ein Trost. Manchmal wenigstens.

Mein Vater hat einen Bruder. Sieht aber nicht so aus wie er oder so, wie er aussehen würde, wenn er noch am Leben wäre. Im Fotoalbum gibt’s jedenfalls keine Verwechslungsgefahr. Mochten sich auch nicht besonders, mein Vater und sein Bruder. Sagt Vicky, und dass sie sich eigentlich nie besucht haben und darüber noch nicht einmal unglücklich gewesen sind. Wohnt auch nicht in der Gegend, der Bruder, und mal abgesehen von den Geschenken, die er mir immer noch zu Weihnachten und meinem Geburtstag schickt, kenne ich ihn eigentlich überhaupt nicht. Tut auch nichts zur Sache, warum auch? Zur Sache tut nur, dass a) Mam und Dad tot sind und ich b) bei Vicky lebe. A) schlecht, b) gut, so viel in aller Kürze dazu. Später mehr! Aber jetzt muss ich zu Elli, und auch dazu gibt’s später mehr. Zumindest, wenn’s was zu erzählen gibt, aber das gibt’s ja eigentlich immer.

* * *

O. k., Tag vorbei, Bett, Licht aus. Nachmittag: durchwachsen! Hab mir auf dem Weg zu Elli den linken Daumen verstaucht. Und die Otto-Fikentscher-Kondome sind auch in der Tasche geblieben. Wobei, das mit den Kondomen ist mir sogar ganz recht. Mit einem Mädchen ins Bett, klar, feine Sache! Muss jetzt aber auch nicht sofort sein. Beim zweiten oder dritten Mal ist’s immer noch früh genug, und wenn’s noch länger dauert, auch o. k. Hauptsache, die Zeichen stehen auf go. Stehen sie aber nicht. Nicht bei Elli. Nicht nach dieser Mozart-Geschichte. Aber der Reihe nach!

Der Daumen. Blöde Sache, auch wenn man den Daumen jetzt nicht so super dringend braucht. Zumindest nicht fürs Gitarrespielen, und beim Küssen kommt man auch ganz gut ohne aus. Trotzdem peinlich. Gut, man könnte sagen, ich bin hängen geblieben, an einem Zaun. Klingt nicht schlimm, und ist auch nicht ganz falsch. Ist aber nur die halbe Geschichte. Die andere Hälfte ist die, dass es beim Pinkeln passiert ist. Vielleicht nicht die allerbeste Idee, so was direkt in der Siedlung zu erledigen. In einem Vorgarten. Hinter einer Tanne. Schon gar nicht, wenn da so ein Hundeschild am Gartentor hängt. Und zweimal nicht, wenn es diesen Hund tatsächlich gibt, und man so blöd ist, das Viech nicht zu sehen, obwohl es dick und fett auf der Garageneinfahrt liegt. Keine Einzelheiten, nur so viel: Sprint, Gartenzaun, Sprung, unsanfte Landung! Hat vermutlich nicht so irrsinnig elegant ausgesehen. Wenn’s denn jemand gesehen hat. Hat’s aber keiner. Keiner außer dem Hund, und der sagt’s zum Glück nicht weiter. Nichts von meiner heldenhaften Flucht und auch nicht, dass mein Pimmel noch aus dem Hosenladen rausgeguckt hat, als ich auf dem Gehweg gelandet bin. Samt Pissefleck ringsherum, weil das Pinkeln vor lauter Schreck einfach weitergegangen ist. Frische, warme Pisse, voll vorne drauf.

Wenigstens ist die Gitarre bei der ganzen Aktion heil geblieben. Hab ich zum Glück draußen auf dem Gehweg gelassen, und als ich aufgestanden und weiter bin, hab ich sie mir einfach vor den Bauch gehalten. Nicht gerade bequem, aber immer noch besser, als von allen als Hosenpisser angestarrt zu werden.

Hab ein paar Extrarunden um die Häuser gedreht, bis alles wieder trocken gewesen ist. Dann zu Elli. Geklingelt. Gewartet. So lange, dass ich schon geglaubt hab, sie ist gar nicht da. War sie aber doch. Ist garantiert so eine »Den-lass-ich-mal-zappeln«-Nummer gewesen, Mädchen machen so was. Jungs auch, manchmal wenigstens. Ich wenigstens! Alter Trick, aber immer noch gut. Erhöht die Spannung. Hat’s auch bei mir, also vor Ellis Tür, und als sie endlich aufgemacht hat, bin ich schon ein bisschen zappelig gewesen. Elli hat einen auf obercool gemacht, so von wegen, dass sie gar nicht mehr an unsere Verabredung gedacht hat, aber das ist einfach nur alter Trick/Teil 2. Zappeln lassen, überrascht tun, und als Nächstes behaupten, dass man eigentlich gerade gar keine Zeit hat.

»Hab eigentlich gerade gar keine Zeit für dich«, hat Elli auch prompt gesagt und ihre Stirn dazu in Falten gelegt, geradeso, als bräuchte ihr schwerwiegender Satz dringend noch eine schwerwiegende Untermalung.

»Schon klar«, hab ich geantwortet und mich umgedreht. Also nur ein bisschen, so, dass es ausgesehen hat, als ob ich wieder gehen will, und da hat Elli »Ne, ne, geht schon« gesagt und mit ihrem Kopf in den Flur gezeigt. Durchschaut, würde ich mal sagen, Punkt für mich. Dann: reingegangen, hoch auf ihr Zimmer, bisschen gequatscht, Gitarre ausgepackt, drei Lieder gespielt, geknutscht. Unverbindlich, klar, und so weit ist eigentlich alles ganz gut gelaufen. Aber dann ist der Nachmittag plötzlich abgeschmiert. Also komplett, weil Elli nämlich mitten in einem Zungenkuss die Idee gekommen ist, dass jetzt sie dran ist. Musik, Querflöte, Mozart. Weiß echt nicht, was sie sich davon versprochen hat. Problem 1: Querflöte. Problem 2: Mozart. Problem 3: Elli! Weil Elli kann nämlich gar nicht Querflöte spielen. Zumindest nicht Mozart. Schon klar, ich kenne mich da nicht aus. Also mit Mozart und auch nicht mit Querflöte, und vielleicht ist die Kombination von beidem echt der Hammer, schwerer noch als F-Dur. Aber wenn’s so ist, warum spielt man’s dann? Ich meine, wenn man’s nicht kann. Vor Publikum! Das Ganze hat geklungen wie eine Horde quietschender Ratten. Und am schlimmsten: Elli selbst hat’s gar nicht gemerkt. Im Gegenteil: Als sie fertig gewesen ist, hat sie mich erwartungsvoll angesehen, so von wegen Applaus und Jubelsprünge, und als da nichts gekommen ist, hat sie gleich noch ein Lied drangehängt. Wahrscheinlich auch Mozart, klang jedenfalls genauso rattenmäßig wie das erste, und als sie auch damit fertig gewesen ist, hab ich »Super«, gesagt, »noch einen Monat, und du kannst bei den Berliner Symphonikern vorspielen«. O. k., ist jetzt nicht so wahnsinnig nett gewesen, und wahnsinnig gut angekommen ist es auch nicht. Elli hat jedenfalls ihr Gesicht zu einem gequälten Grinsen verzogen und gesagt, dass sie ja auch erst seit zwei Jahren spielt, und da hab ich endgültig die Beherrschung verloren. Zwei Jahre? Zwei Jahre für diese Rattenmusik? Aber gut, vielleicht will sie ja auch gar nicht zu den Berliner Symphonikern, sondern nur die Jungs beeindrucken. Um sie ins Bett zu kriegen. So wie ich die Mädchen. Hat nicht geklappt, also bei mir. Und wahrscheinlich auch nicht bei den anderen. Weil wenn das Ellis Vorspiel ist, also nein, dann lieber nicht. Dann lieber kein Sex. Dann lieber Mönch.

Der Rest des Nachmittags: Schweigen. Oder so Small-Talk-Scheiß wie: »Und was ist dein Lieblingsfach?« – »Englisch.« – »Meins auch.« So lange, bis Elli gesagt hat, dass sie jetzt wirklich keine Zeit mehr hat. Hab nicht lang gefackelt und bin aufgestanden, und wahrscheinlich sind wir beide froh gewesen, dass unser Date endlich zu Ende gewesen ist.

»Übrigens«, hat sie an der Tür zu mir gesagt, »es heißt Berliner Philharmoniker, nicht Symphoniker. Nur so zur Info. Und dass ich da nicht hinkomme, ist mir auch klar.«

Punkt für Elli. Und somit ist der Nachmittag mit einem Unentschieden ausgegangen. Mit einem Unentschieden und einem verstauchten Daumen. Jetzt am Abend ist er jedenfalls ziemlich dick und ganz unten, also da, wo er anfängt, auch blau, und wenn ich an der Stelle draufdrücke – Scheiße, nein, das mache ich lieber nicht!

Vicky hat mir einen Verband machen wollen. Also bevor sie sich halb tot über meine Pinkelgeschichte gelacht hat. Danach hat sie nämlich vor lauter Tränen nichts mehr gesehen und gesagt, dass ich mir den Verband mal lieber selbst machen soll. Hab’s Vicky genau so erzählt, wie’s passiert ist: Tanne, Hund, Zaun, Gehweg. Vicky kann ich alles erzählen, und eigentlich ist sie der einzige Mensch, vor dem ich keine Geheimnisse habe. Also gut, eines schon, oder sie vor mir, ja, sie vor mir, aber das ist sozusagen außer der Reihe. Zu heftig, und eigentlich mag ich gar nicht drüber nachdenken. Und weil ich genau das tue, wenn ich drüber spreche, ist jetzt Schluss. Schluss damit. Schluss für heute.

»NOTHING, TOTALLY NOTHING!«

Am Morgen aufgewacht mit einem Daumen, der ausgesehen hat, als hätte jemand zwei Stunden mit dem Gummihammer draufgeschlagen. Grün, blau und dicker als der Daumen von Luis, und der hat echt die fettesten Finger, die ich kenne. Vicky hat mich gleich nach dem Frühstück zum Arzt geschickt. Sie hat ein bisschen besorgt ausgesehen und ich, als ich beim Arzt angekommen bin, wahrscheinlich auch. Hat bei der Frau am Empfang aber keinen Eindruck gemacht. Sie hat ungefähr drei Millisekunden lang auf meinen Daumen gesehen und mich danach erst mal für zwei Stunden ins Wartezimmer gesetzt. Super Sache, vor allem, wenn der Akku vom Smartphone nur noch zwanzig Minuten hält und der Rest der zwei Stunden aus dem Fenster gucken und Gala lesen ist.

Als ich endlich dran gewesen bin, hat sich der Arzt meinen Daumen erst mal angesehen. So richtig gründlich, von allen Seiten, mit vollem Konzentrationsblick. Und natürlich hat er gleich mal wissen wollen, wie die Sache passiert ist.

»Schulsport«, hab ich gesagt, »gestern. Blöd aufgekommen beim Salto.«

Der Arzt hat kurz genickt und statt dem Daumen nun mich angesehen. Sein Blick ist immer noch konzentriert gewesen, aber gleichzeitig auch ein bisschen benebelt, so, als hätte er sich vor der Sprechstunde eine Kleinigkeit reingezogen. Machen Ärzte, hab ich mal gelesen, Ärzte und Lehrer. Also gerade die, die es einem am meisten austreiben wollen. Große Kifferbande!

»Gibt’s schon eine Unfallmeldung?«, hat mich der Arzt gefragt. »Brauchen wir!«

»Was, also ich meine«, hab ich gestottert, »was für eine …«

»Also nicht«, ist mir der Arzt ins Wort gefallen und hat in derselben Sekunde nach dem Telefon auf seinem Tisch gegriffen. »Welche Schule?«

Scheiße, aufgeflogen! Eine Minute beim Arzt und schon alles aufgeflogen.

»Sie können da nicht anrufen«, hab ich gesagt, »also die Sekretärin, die ist um die Zeit noch gar nicht da.«

Hat gar nicht so schlecht geklungen, und für einen kurzen Moment hab ich gedacht, ich komm aus der Nummer noch raus. Bin ich aber nicht, weil eigentlich jeder Idiot weiß, dass ein Schulsekretariat morgens besetzt ist. Immer! Und wenn das ein Idiot weiß, weiß es auch ein Arzt, und so viel, dass er das vergisst, kann er sich vor der Sprechstunde gar nicht reinziehen.

»Schule?«, hat er noch einmal gefragt, und da ist mir nichts anderes übrig geblieben, als meine Geschichte ein bisschen richtigzustellen. O. k., das mit dem offenen Hosenladen und dem Pissefleck hab ich weggelassen, aber gelacht hat er trotzdem. Nicht so wie Vicky, aber eben doch gelacht, und auf alle Fälle mehr, als ein Arzt das darf. Finde ich jedenfalls! Als er mit dem Lachen fertig gewesen ist, hat er mich zum Röntgen geschickt, und als ich damit fertig gewesen bin, mit einem fetten Verband nach Hause. Nach Hause oder in die Schule, so genau hat er das nicht gesagt, aber auf alle Fälle ist nichts ab gewesen. Also am Daumen.

»Nur verstaucht«, hat der Arzt gesagt und dann noch, dass ich das nächste Mal beim Pinkeln besser aufpassen soll. »Am besten immer auf der Toilette, da ist es am sichersten.«

Haha, sehr witzig, danke, dass du noch ein bisschen drauf rumreitest, Kiffer-Doc! Hab dich echt nicht um Rat gefragt, und was das Pinkeln angeht, brauch ich gleich zweimal keinen. Weil das Problem ist ja nicht das Pinkeln, sondern der Hund gewesen, und wenn ich dir eins wünsche, Kiffer-Doc, dann dass du auch mal ein kleines Wettrennen mit so einer Bestie hast, und wenn dich das nur einen verstauchten Daumen kostet, dann hast du aber verdammtes Glück gehabt.

Um elf bin ich zurück in der Schule gewesen, und natürlich haben alle gleich wissen wollen, was passiert ist.

»Dumme Sache«, hab ich gesagt, und wenigstens bis dahin hat alles gestimmt. Aber dann hab ich ihnen echt einen vom Pferd erzählt. Von einem Mädchen auf dem Fahrrad, das fast unter einen Lkw gekommen wäre. Zebrastreifen. Nicht aufgepasst, das Mädchen, nicht aufgepasst, der Lkw, null gebremst, voll drauf auf den Zebrastreifen, und nur, weil ich im letzten Moment todesmutig auf die Straße bin und das Mädchen zurückgerissen hab, hat es kein Unglück gegeben.

»Keine Ahnung«, hab ich gesagt, »wie das mit dem Daumen genau passiert ist. Wir lagen halt zusammen auf dem Boden, aber was soll’s, Hauptsache, das Mädchen lebt.«

Klar haben alle meinen Verband anschauen wollen und Lara sogar anfassen. »Ganz vorsichtig«, hat sie gesagt, und wirklich, sie ist so vorsichtig gewesen, dass ich durch den Verband überhaupt nichts gespürt hab. Trotzdem bin ich zusammengezuckt und hab sogar kurz geschrien, und auch das haben mir alle abgekauft.

O. k., bisschen scheiße bin ich mir anschließend schon vorgekommen. Ich meine, da sitzt man mit verstauchtem Pinkel-Daumen an seinem Platz, und alle ringsherum denken, man ist der große Held. So eine Art Superman, der sich vor nichts fürchtet, noch nicht einmal vor dem Tod, was so ziemlich überhaupt nicht stimmt. Weil wenn ich vor irgendwas Angst habe, dann vor dem Tod. Ist ja auch kein Wunder, egal wie lange das her ist. Also das mit Mam und Dad, erst er, dann sie, und kein halbes Jahr dazwischen. Das steckt fest in einem. Mit Widerhaken. Das kriegst du nicht wieder los, kein bisschen kriegst du das wieder los.

»Weißt du was«, hat Lara nach der Stunde gesagt, »eigentlich müsste man dich für irgend so einen Mut-Preis vorschlagen, so was gibt’s«, und da bin ich vorsichtshalber gleich mal ein bisschen zurückgerudert. So von wegen, dass der Laster schon noch ein Stück entfernt gewesen ist, und dass sich das Mädchen ja vielleicht auch ohne mich noch hätte retten können. So in letzter Sekunde, gut möglich, ja, in allerletzter Sekunde, aber Lara hat mir gar nicht zugehört.

»Wär doch cool«, hat sie noch einen draufgesetzt, »wenn einer von uns beim Bundespräsidenten so eine Medaille umgehängt bekommt. Wie heißen die noch mal?«

»Eisernes Kreuz«, hat Krok gesagt, aber Krok hat’s nicht so mit Medaillen und mit Geschichte gleich zweimal nicht, und als Ann-Christin gesagt hat, dass das Eiserne Kreuz Kriegsscheiß ist und mir der Bundespräsident so was bestimmt nicht umhängt, da hat Krok mit den Schultern gezuckt und so halb-debil dazu gelächelt, wie immer, wenn er irgendwelchen Blödsinn auskotzt.

Na ja, egal, jedenfalls wollte sich Lara gleich mal für den Nachmittag mit mir verabreden, damit ich ihr alles noch mal ganz genau und in allen Einzelheiten erzählen kann.

»Da gibt’s keine Einzelheiten«, hab ich gesagt, »was soll’s denn da für Einzelheiten geben?«, aber Lara hat nicht lockergelassen.

»Na, zum Beispiel, wo das war und wie das Mädchen heißt. Weil dann könnte man es ja suchen und ein Foto von euch machen. Für die Zeitung.«