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Charlie! Wir sind frei, frei, frei!«

Wie ein Kreisel wirbelt Anna um mich herum, schleudert ihre überdimensionale Lederflicken-Tasche in die Luft, und wirft sich mir so überschwänglich in die Arme, als hätten wir uns Jahre nicht gesehen. Ich drücke sie lachend an mich, doch als sie den Kreisel mit mir zusammen versucht, befreie ich mich schnell und hebe ihre Tasche auf.

»Anna …«

Ich schaue mich auf dem Vorplatz unseres Gymnasiums um, aber keiner scheint uns zu beachten.

»Was denn Anna? Wir haben es geschafft! Wir haben es verdammt noch mal geschafft! Und zwar mit allem Schnickschnack! Wir zählen zu den Besten! Und jetzt haben wir den ganzen Quatsch hinter uns und sind endlich frei! Nie wieder Borowskis Gespucke in Englisch, nie wieder Frau Arens’ hysterisches Gezeter in Mathe …«

»Anna! Nicht so laut.«

Aus der Aula fließt noch immer der Strom unserer ehemaligen Lehrer, mehr oder weniger stolzer Eltern und erleichterter Schüler. Einige wedeln mit ihren Abschlusszeugnissen, als wären es Fahnen, mit denen sie soeben erobertes Neuland markieren wollen.

Anna bricht in schallendes Gelächter aus, als sie merkt, dass mir ihr Auftritt als menschlicher Tornado mal wieder ein wenig peinlich ist, senkt dann aber ihre Stimme.

»Hach, Charlie, ich freue mich doch einfach nur so wahnsinnig! Ich könnte im Handstand bis nach Afrika rennen!«

»Und wie willst du übers Wasser kommen?«

»Also, ich – oh! Da kommt mein Bus!« Anna schnappt sich ihre Tasche und spurtet los. »Wir telefonieren!«, ruft sie mir noch über die Schulter zu.

Ich schaue meiner besten Freundin hinterher und muss bei ihrem Anblick unwillkürlich lächeln. Trotz der Zeugnisübergabe sieht ihr schulterlanges, blondiertes Wuschelhaar aus, als wäre sie gerade aus dem Bett gefallen, und dass sie ihre abgewetzte Lederjacke heute nicht zu Hause gelassen hat, wundert mich kein bisschen. Meine Eltern würden mich glatt enterben, wäre ich heute so erschienen – nicht, dass ich jemals so erscheine. Aber Anna schert es nicht die Bohne, was andere über sie denken und das finde ich ehrlich gesagt ziemlich mutig.

Während ihr Bus an mir vorbeifährt, winke ich Anna noch einmal zu. Sie antwortet mit einer Salve von Luftküssen.

Wow, denke ich plötzlich, das ist das letzte Mal, dass wir uns hier so verabschieden. Ab jetzt wird alles anders. Keine Schule mehr. Ich bin froh, dass Anna auch in Berlin studieren will. Allerdings wird sie erst einmal ein paar Monate unterwegs sein. Während ich schon in den Vorlesungen schwitze, wird sie mit dem Rucksack durch Europa reisen. Ich werde sie hier vermissen.

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Charlotte! Träumst du? Charlotte!?«

Eine vertraute Stimme unterbricht meine Gedanken und ich bemerke, dass der Bus mit Anna längst weg ist. Ich drehe mich zu meinem Vater um. Er steht einige Meter hinter mir, sein rechter Fuß tippelt eine Art Dreivierteltakt auf den Asphalt.

»Ich komm ja schon, Paps!«

Als ich ihn erreiche, legt er seinen Arm auf meine Schultern und gemeinsam gehen wir zu einer der Gruppen plaudernder Menschen, die sich vor dem Schulgebäude versammelt haben. Dort steht auch meine Mutter mit – oh, nein – Borowski.

»Herr Borowski hat uns gerade von deinem hervorragenden Englisch vorgeschwärmt!«, sagt mein Vater ein wenig zu laut.

Er kann kaum still stehen und scheint vor lauter Stolz gleich zu implodieren. Das ist niedlich, aber peinlich.

»Papa …«

»Nein, Charlotte, dein Vater hat recht. Du hast meine Erwartungen in der Abschlussprüfung bei Weitem übertroffen! Ich bin mir sicher, dass dir das Praktikum in London keine Schwierigkeiten machen wird … zumindest nicht, was deine Sprachkenntnisse betrifft«, sagt er und findet sich aus unerfindlichen Gründen dabei ziemlich komisch.

»Danke, ich bin auch sehr zuversichtlich.«

Ich bemühe mich diskret, die Spuren seiner feuchten Aussprache von meiner rechten Wange zu entfernen.

Indessen nutzt mein Vater das Stichwort. »Ja, dieses Praktikum ist eine hervorragende Chance für unsere Charlotte, einen tieferen Einblick in ihre zukünftige Arbeit zu bekommen …«

»Es tut mir leid, wenn ich euch unterbrechen muss, Helmut, aber ich bin wirklich der Meinung, dass wir uns auf den Weg machen sollten.«

Danke, Mama.

»Ja, du hast recht, Schatz. Entschuldigen Sie uns, Herr Borowski, wir haben alle noch einiges zu erledigen, bevor wir unsere Charlotte heute Abend ausgiebig feiern werden.«

»Charlotte! Ja, natürlich, dein 18. Geburtstag! Alles Gute dazu!«, spuckt es mir entgegen.

Zum Glück bin ich bereits anderthalb Schritte entfernt, sodass die kleinen feuchten Geschosse aus Borowskis Mund zu Boden fallen, ohne einen Treffer zu landen.

»Vielen Dank«, antworte ich höflich.

»So, ich fahre noch einmal kurz in die Firma. Ach, und Herr Borowski, Sie sind natürlich herzlichst zu unserem Gartenfest eingeladen. Bringen Sie Ihre Frau mit!«

Großartig, falls er wirklich heute Abend erscheint, werde ich ihn als Rasensprenger einsetzen.

Ich bin erleichtert, als meine Mutter und ich endlich in ihren Wagen einsteigen.

»Na, wie wär’s?«

Meine Mutter lässt die Autoschlüssel vor meinem Gesicht hin- und herbaumeln.

»Ha! Du hast recht, ich darf ja jetzt … aber, weißt du, ich glaube, ich genieße gerade lieber, wenn du fährst. Und ab morgen fahre ich!«

»Klar, Schatz, entspann dich, das wird noch ein langer Tag für dich. Und Charlotte – ich bin sehr stolz auf dich.«

Sie lehnt sich zu mir herüber, drückt mir einen Kuss auf die Wange, startet den Wagen und lässt ihn langsam vom Schulgelände rollen.

»Du hast übrigens heute Morgen deine Notenblätter zu Hause vergessen. Ich habe sie dir mitgebracht.«

»Oh, danke.«

Mist, den Klavierunterricht habe ich völlig vergessen. Ich gehe ja gerne dorthin, aber jetzt, nach meiner Zeugnisübergabe und vor der Feier heute Abend würde ich lieber ein paar Stunden draußen verbringen. Vor drei Tagen war Sommeranfang und nach einem viel zu kalten Frühling gibt es gerade nichts Besseres als Sonne, Sonne, Sonne. Wenn ich könnte, würde ich mir mein Klavier jetzt über die Schulter werfen, mir irgendwo in der Sonne einen schönen Platz suchen und ein bisschen herumklimpern. Andere machen Yoga oder meditieren, um zu entspannen, ich komponiere und spiele am Klavier eigenes Zeug. Nichts Kompliziertes, ganz einfache Sachen.

Während meine Mutter den Wagen auf der Kastanienallee hinter einer Straßenbahn zum Stehen bringen muss, sehe ich den Menschen zu, wie sie vor den Cafés sitzen, plaudern, lachen und in der Sonne ihren Kaffee genießen. Kellner mit voll beladenen Tabletts bahnen sich geschickt ihren Weg durch Tische, Stühle und Gäste. Die Bürgersteige sind voll mit Leuten, die an den Schaufenstern der Boutiquen und Cafés vorbeischlendern. Zwei Frauen bleiben eingehakt vor einem der Schaufenster stehen. Eine von ihnen zeigt auf ein rot-blaues, kurzes Kleid. Es hat breite Blockstreifen, die quer verlaufen, und um die Taille wurde ein roter Gürtel gelegt. Ich erwische mich dabei, wie ich die beiden ein bisschen beneide. Stelle mir vor, das wären Anna und ich. Wir würden in den Laden gehen, das Kleid anprobieren und kaufen. Es würde super zu Annas schrägem Flohmarkt-Stil und ihren hellblonden Haaren passen. Obwohl ich mich eigentlich auch gerne mal in so was sehen würde. Was natürlich absurd ist. Erdbeerrot und Azurblau! Nein, das bin ich nicht. Aber irgendetwas gefällt mir daran …

»Das kann doch nicht wahr sein!«, brüllt meine Mutter mich an. Denke ich zumindest. Und fühle mich sogar ein bisschen ertappt. Doch dann sehe ich, dass sie ein anderes Auto meint, das uns, bei dem Versuch zu wenden, den Weg versperrt. Selbst eine Straßenbahn kommt nicht weiter und klingelt unentwegt ihr grelles Warnsignal. Fußgänger nutzen die Blockade, um schnell zwischen Autos und Tram über die Straße zu huschen. Eigentlich mag ich Hektik und Lärm nicht. Aber das hier ist anders. Das ist nicht einfach laut. Das ist lebendig! Und irgendwie ist mir genau jetzt danach, aus dem Auto zu springen und mir auch einen Weg durch das Chaos zu bahnen. Vielleicht erst noch schnell einen Latte im Café gegenüber besorgen und dann weiter, eilig und vergnügt. Was ich natürlich nicht mache. Aber in ungefähr vier Monaten wird es ganz oft ganz genau so sein. Eine Horde Ameisen trippelt durch meinen Bauch, wenn ich daran denke, dass ich bald in meiner eigenen Wohnung mit Anna selbst gemachten Latte trinken werde! Überall werden Modelle von Gebäuden herumstehen und Zeichnungen an den Wänden hängen. All das Zeug halt, das man in einem Architekturstudium so machen muss. Na ja, erst einmal muss die Uni mich annehmen. Aber ich bin schon zur Zugangsprüfung im Juli zugelassen. Und ehrlich gesagt auch ziemlich sicher, dass ich das schaffe. Ich frage mich nur, wo ich dann tatsächlich wohnen werde. Paps will mir eine Wohnung kaufen. Das ist bequemer als mieten, sagt er. Von mir aus. Es stehen nur noch drei in der engeren Auswahl. Eine davon in Zehlendorf, in der Nähe meiner Eltern. Also bitte. Das muss wirklich nicht sein. Dann noch eine in Charlottenburg. Das wäre praktisch, weil ich es zur Uni nicht weit hätte. Und die dritte ist im Prenzlauer Berg. Ganz nah bei Annas Wohnung. Ich muss meinen Vater unbedingt überzeugen, dass das die richtige ist.

»Na, endlich. Ich muss ehrlich sagen, dieser Stadtteil geht mir gehörig auf die Nerven. Hier scheint jeder zu machen, was er gerade will … so was von rücksichtslos. Charlotte? Hörst du mir zu?«

»Klar, Mama.«

Schließlich halten wir vor einem Altbau am Kollwitzplatz und ich stecke die Notenblätter in meine Tasche.

»Ich kann dich leider nicht abholen kommen, aber …«

»Kein Problem, ich nehme die Bahn.«

Gerade als ich die Autotür schließen will, hält meine Mutter mich auf. Natürlich hält sie mich auf. Seit vor zwei Jahren die Tochter aus der Nachbarvilla ziemlich brutal ausgeraubt worden ist, flippen meine Eltern völlig aus, wenn es um meine Sicherheit geht.

»Charlotte, nein! Natürlich fährst du nicht mit der Bahn. Weißt du eigentlich, was in Berliner U-Bahnen heutzutage los ist?«

»Hm … ich vermute, da sind Leute, die zur Arbeit fahren, und Leute, die einen Ausflug machen, und Leute, die zu einer Verabredung fahren, und …«

»Sei nicht albern, Schatz. Nein, ich habe Alexander Bescheid gegeben, er wird dich abholen. Und bitte, komm direkt nach Hause. Du wirst Zeit brauchen, dich für den Abend zurechtzumachen. So, ich muss weiter. Viel Spaß!«

Seufzend schließe ich die Autotür. Ich muss unbedingt mit meinen Eltern sprechen. Das geht so gar nicht mehr. Ich meine, ich bin jetzt 18! Soll ich etwa mit Bodyguard zur Uni gehen? Paps wäre von der Idee wahrscheinlich sogar ganz angetan. Selbst Alex tut manchmal so, als sei ich nicht seine Freundin, sondern seine kleine Schwester. Ich weiß ja, dass Paps ihn ordentlich bearbeitet hat, damit er auch bloß immer fein auf mich aufpasst. Langsam nervt das. Für einen Augenblick spüre ich den Impuls, Anna anzurufen und den Klavierunterricht sausen zu lassen. Immerhin wohnt Anna auf der Schönhauser Allee, zu Fuß höchstens zehn Minuten. Dort hat sie eine eigene Wohnung, seit sie 16 ist. Anna und ihre Mutter hatten, gelinde gesagt, etwas zu viel Stress. Aber dafür kann Anna ziemlich gut für sich selber sorgen. Ich suche zögernd in den Kontakten meines Handys Annas Nummer heraus, sehe zu dem bunt bepflanzten Balkon meiner Lehrerin hoch, dann wieder auf das Display. Schließlich drücke ich die rote Taste, stecke das Handy wieder in meine Tasche und mache mich auf den Weg zum Eingang des Altbaus. Dort angekommen, erlebe ich eine kleine Überraschung. Ich klingle und klingle und nichts passiert. Wie ein Lichtchen durch den Nebel kommt mir langsam, aber sicher die Stimme meiner Klavierlehrerin in den Sinn. Sie hat mir beim letzten Mal gesagt, sie wäre in den nächsten vier Wochen nicht in Berlin. Ha! Sofort krame ich das Handy wieder raus und rufe Alexander an. Er ist noch in der Uni und kann erst in zwanzig Minuten da sein. Also setze ich mich auf eine Bank und wähle Annas Nummer.

»Yep?«

»Hey, Anna, ich bin’s. Hör mal, ich bin gerade in der Nähe, bist du zu Hause?«

»Nee, leider nicht, bin noch unterwegs. Ich dachte, du sitzt schon zu Hause vorm Spiegel und flechtest dir Gänseblümchen ins Haar?«

»Ha, ha, zu komisch … Wenn du heute Abend vorbeikommen würdest, würdest du sehen, dass bei so was keiner Blümchen im Haar trägt. Bitte bitte, komm doch. Das wird gar nicht so schlimm, ich verspreche es!«

»Doch, das wird es.«

»Jaaa … du hast ja recht. Das wird ein echtes Small-Talk-Inferno. Selbst Verwandte, die ich noch nie gesehen habe, werden da sein, ganz zu Schweigen von Paps’ halber Firma samt Anhang … und du weißt ja, wie ich es liebe, im Mittelpunkt zu stehen.«

»Immer schön lächeln, Süße, du schaffst das schon. Und denk dran, am Wochenende feiern wir beide nach. Es bleibt doch dabei, oder?«

Ich muss plötzlich lang und ausgiebig gähnen.

»Ist das ein Ja oder ein Nein?«, scherzt Anna.

»Oh, sorry, natürlich ein Ja. Irgendwie schlafe ich im Moment wohl nicht genug.«

»Aha! Heißt das, dass du und Alex …?«

»Nein, nein, noch nicht … ich habe einfach nur seit Kurzem so einen beknackten Traum, von dem ich immer aufwache. Und das jede Nacht. Das nervt langsam.«

»Erzähl.«

Ich schildere Anna den Traum, den ich schon seit gut zwei Wochen immer wieder träume. Jedes Mal ist es dasselbe. Ich sehe einen Leoparden, der gemächlich durch eine karge Steppe schlendert. Manchmal stürzt er sich plötzlich auf ein anderes Tier und reißt es nach allen Regeln der Großkatzen-Kunst. Komischerweise macht mir das aber überhaupt nichts aus. Ich meine, sehe ich so etwas in einer Doku, schaue ich angeekelt weg. Aber in diesem Traum genieße ich es geradezu! Wenn sich seine Krallen im Fleisch anderer Tiere festhaken und er seine spitzen Zähne in dessen Hälse bohrt. So als würde ich jemandem dabei zusehen, wie er ein Himbeereis mit Sahne und Schokosauce verspeist – mein Lieblingseis! Bis hierhin ist dann immer noch alles in Ordnung. Doch dann passiert es. Plötzlich erscheinen aus dem Nichts zwei Personen, ich kann sie nicht erkennen, es ist, als hätte jemand ihre Gesichter gepixelt. Sie überwältigen gemeinsam den Leoparden, sperren ihn in einen viel zu engen Käfig, das Tier wird rasend und ich wache schreiend auf.

»Wow, Charlie, ich kann mir vorstellen, dass das nervt. Hast du dir schon mal überlegt, woher das kommt?«

»Na ja, keine Ahnung. Vielleicht einfach Abi-Stress …«

»Ja, und vielleicht auch einfach die Tatsache, dass du jetzt nicht mal richtig Ferien machen wirst. Willst du dieses Praktikum eigentlich wirklich machen? Ich meine, klar, London ist cool, aber du glaubst doch nicht, dass du davon viel mitbekommen wirst? Und überhaupt, auf die Uni vorbereiten, das macht doch keiner! Du hast ein Spitzen-Abi, das reicht doch wohl.«

»Ja, aber ich möchte halt einen guten Start haben. Und außerdem will ich so schnell wie möglich fertig werden, damit ich nicht zu alt bin, wenn ich abschließe, das ist heutzutage …«

»Och, Charlie, das ist doch Alexanders Reden. Was für ein Karriere-Wahnsinn. Tut mir leid, aber bist das wirklich du

»Na ja, ich mach das ja auch für Paps. Du glaubst nicht, wie sehr der sich wünscht, dass seine Firma in der Familie bleibt. Und dafür hat er ja nun mal nur mich.«

»Und was ist mit dir?«

»Wie meinst du das?«

»Na, so ganz alleine hier?«

Ich zucke zusammen, als ich eine Hand auf meinem Rücken spüre, doch dann bemerke ich, dass es Alexanders ist. Er setzt sich zu mir auf die Bank.

»Anna, Alex ist da. Lass uns morgen weitersprechen, okay?«

»Alles klar. Und lass dich nachher ordentlich feiern.«

Als ich das Handy zurück in meine Tasche fallen lasse, legt Alex seinen linken Arm auf meine Schultern und zieht mich näher zu sich heran. Wie auch immer er sie versteckt hatte, plötzlich hält er mir mit seiner rechten Hand eine rote Rose hin, gibt mir einen Kuss auf den Mund und flüstert in mein rechtes Ohr: »Happy birthday, mein Schatz.«

»Danke, die ist sehr schön.«

»Mein Geschenk gebe ich dir nachher auf der Feier.«

»Ach Quatsch, jetzt sind wir wenigstens unter uns, gib es mir doch jetzt schon …«

Alexander lacht.

»So neugierig? Du musst dich leider noch etwas gedulden.«

»Ha! Du hast noch gar keins!« Ich stupse ihm mit dem Ellbogen in die Seite.

Wie von einem schweren Boxschlag getroffen sinkt Alex in sich zusammen.

»Ahhh, das tut weh … Natürlich habe ich ein Geschenk! Etwas ganz Besonderes sogar … So gut solltest du mich doch kennen.«

Da hat er recht. Egal, um was es geht, Alexander ist genauer als ein Buchhalter und zuverlässiger als eine Funkuhr. Das war immer schon so und dabei kenne ich ihn wirklich lange. Seit meiner Kindheit. Oder eher seit meiner Geburt, denn als ich geboren wurde, war er zwei Jahre alt, und da unsere Eltern schon ewig befreundet sind, haben wir uns von Anfang an viel gesehen. Als ich klein war, war er wie Bruder und bester Freund in einem. An meinem 16. Geburtstag allerdings hat sich alles geändert. Denn da hat er mir seine Liebe gestanden. Ich weiß noch, dass ich damals etwas überrascht gewesen bin. An so was hatte ich bei ihm eigentlich nie gedacht, aber gleichzeitig überlegte ich: Wenn nicht er, wer dann? Alexander ist so intelligent und liebenswert. Außerdem sieht er unglaublich gut aus. Auf unserer Schule gab es damals kaum ein Mädchen, das nicht völlig ausgeflippt wäre, hätte er sie um ein Date gebeten. Hat er aber nicht. Und seitdem sind wir nun ein Paar und ich habe es nicht bereut. Wir passen perfekt zusammen und gestritten haben wir uns auch noch nie. Obwohl, das stimmt nicht, einmal war er ziemlich sauer auf mich. Vorletzten Winter. Ich wollte ihn überraschen und bin zur Uni-Bibliothek gefahren, um ihm ein Buch zu bringen, das er bei mir vergessen hatte. Ich wusste, dass er an dem Tag bis zur Schließzeit dort sein würde und fand ihn alleine an einem großen Tisch sitzend, vertieft in seine Notizen und Unterlagen.

Ich hielt ihm das Buch direkt unter seine Nase.

»Charlotte! Was machst du denn hier?«

Er sah kurz zum Fenster und dann wieder zu mir. Draußen war es bereits dunkel.

»Wie bist du hergekommen? Hat deine Mutter …?«

»Nö. Alleine.«

»Was meinst du mit alleine?«

»Na ja, ich bin erst in den Bus, dann in die S-Bahn, dann –«

Er baute sich mit verschränkten Armen vor mir auf und als ich seine Augen sah, wurde mir bewusst, dass ich diesen Blick von ihm noch nicht kannte. Alles in seinem Gesicht schien angespannt. Sein Mund war zusammengekniffen, genau wie seine Augen. Das sonst so klare Blau wirkte plötzlich wie das finstere Graublau einer aufgewühlten Ostsee.

»Charlotte, ich bitte dich! Die wissen, dass bei dir was zu holen ist … und selbst wenn die es nicht auf dein Geld abgesehen haben …«

»Was? Wer sind denn die?«

Die anderen Studenten schauten auf. Einer blickte zu uns herüber und legte den Zeigefinger auf seinen Mund.

Alexander aber senkte seine Stimme kein bisschen. »Mensch, Charlotte! Ich meine natürlich die, die kürzlich schon das Mädchen aus eurem Nachbarhaus überfallen haben … solche wie die!«

Er holte tief Luft. So außer sich hatte ich ihn noch nie erlebt, irgendwie gefiel mir das. Prompt musste ich lächeln.

»Das ist überhaupt nicht lustig! Los, wir gehen.«

Schweigend packte er seine Sachen zusammen, griff nach meiner Hand und zog mich aus der Bibliothek. Ich folgte ihm, ohne etwas zu sagen oder mich zu wehren. Ehrlich gesagt fand ich das aufregend. Ich stellte mir vor, er wäre Peter Parker, natürlich nachdem er sich in Spiderman verwandelt hat, und würde mich tatsächlich vor einer großen Gefahr bewahren. Einem grässlichen Mutanten-Alien oder so was. Er brachte mich zu seinem Auto, öffnete mir die Beifahrertür, ließ mich einsteigen und setzte sich selbst hinter das Lenkrad.

»Charlotte, das war wirklich ziemlich … unvorsichtig von dir.«

Spiderman starrte auf das Lenkrad, ich starrte Spiderman an. Am liebsten hätte ich ihn jetzt geküsst. Ich rutschte zu ihm herüber und strich mit einer Hand über seinen rechten Oberarm.

Nun sah auch er mich an. »Es tut mir leid, Charlotte. Ich wollte dich nicht so anfahren. Ich bin einfach nur besorgt um dich. Wenn dir etwas passieren würde … Außerdem habe ich deinen Eltern versprochen, auf dich aufzupassen. Sei mir bitte nicht böse.«

»Ich bin gar nicht böse auf dich, wirklich nicht. Ich meine, ihr könntet mir schon zutrauen, dass ich ganz gut auf mich selber aufpassen kann. Aber ich bin nicht sauer, ich … also, um ehrlich zu sein … ich fand das gerade eher aufregend …«

Meine Hand erreichte seinen Hals, ich sah ihn mit halb verschlossenen Augen an und rückte noch ein wenig näher.

Urplötzlich lachte er auf. »Aufregend? Du bist süß. Also ich mag es gar nicht, mich mit dir zu streiten. So, und jetzt bringe ich dich nach Hause. Ich muss nachher noch dringend an meiner Hausarbeit weiterschreiben.«

»Klar, Mr Parker«, seufzte ich.

»Was hast du gesagt, Schatz?«

»Ach, nichts. Alles gut.«

Meine Verführungskünste lassen sich auf jeden Fall noch ausbauen, dachte ich. Vielleicht weil ich vor Alexander noch keinen festen Freund gehabt habe. Das ein oder andere Mal kam es zu einem Kuss. Aber das war einfach nur peinlich. Dieses nervöse Gestammel und Gezappel. Das habe ich nie verstanden. Plötzlich wurden aus intelligenten, netten Jungs seltsame Idioten. Als Alexander und ich ein Paar wurden, war ich geradezu erleichtert. Wir waren uns ja schon völlig vertraut. Es gab also kein bedauernswertes Gezappel oder Gestammel und auch keine anderen befremdlichen Überraschungen. Ich glaube, ich mag keine Überraschungen. Das habe ich bestimmt von Paps.

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Als Alex mich zu Hause abgesetzt hat, ist meine Mutter schon völlig aus dem Häuschen. Sie rennt mir entgegen, drückt mich an sich, schiebt mich ein Stück von sich, ohne die Hände von meinen Schultern zu nehmen und lächelt mich an. Irgendwie schief.

»Mein Kind … Meine erwachsene Tochter.«

Sie bekommt wässrige Augen, was mich ehrlich gesagt etwas erschreckt. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich meine Mutter jemals habe weinen sehen.

»Mama, was ist los? Ist das wegen der Feier? Machst du dir Sorgen, ob alles gut läuft? Das brauchst du nicht. Das Wetter ist doch perfekt! Kein Wölkchen! Moment mal … ich fasse es nicht, du hast ja Stressflecken am Hals. Sag mal, was ist denn los mit dir!?«

»Ach, Kind.«

Und wieder drückt sie mich an sich. Diesmal richtig fest. Ich versuche mich zu lösen, um sie mir noch einmal anzusehen, doch sie lässt mich nicht.

»Ma – ma. Ich er – sti – cke …«

Sie gibt mir schnell einen Kuss auf die Wange und eilt davon.

»Mama? …«

Ich frage mich, ob das wohl der Beginn der Wechseljahre sein könnte, und verlasse die Vorhalle über die Treppe, um in mein Zimmer zu gehen.

Dort nehme ich das Abendkleid, das mir Sofy, unser Hausmädchen, dorthin gehängt hat, vom Wandspiegel und betrachte mich von oben bis unten. Doch ich kann nichts erkennen. Abitur mit Bravour geschafft, volljährig, in wenigen Monaten Architekturstudentin.

Keine Veränderung. Na ja, was habe ich auch erwartet? Zwei Köpfe? Ich zwinkere dem einzigen Kopf im Spiegel zu, bevor mein Blick auf das Klavier fällt, das hinter mir im Erker unter dem Fenster steht. Am liebsten würde ich jetzt am Flügel in unserer Bibliothek spielen, sein Klang ist unglaublich, aber ich habe keine Lust, runterzugehen. Also hänge ich das Kleid zurück an den Wandspiegel, setze mich an mein Klavier und, ohne nachzudenken, beginne ich mit Big My Secret aus dem Film Das Piano. Während meine Finger über die Tasten wandern, werden sie schneller, erhöhen den Druck, sodass es immer lauter wird. Während ich spiele, schließe ich meine Augen und sehe in Gedanken eine der letzten Szenen des Films. Das Klavier am Grund des Ozeans liegend und über ihm schwebend, weil mit einem Tau verknüpft, Ada.

Ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal, warum mir dieses Bild so sehr gefällt. Vielleicht, weil ich beides liebe. Das Meer und den Klang eines Klaviers.

Ich brauche einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen. Ich schaue aus dem Fenster und sehe, dass die Sonne bereits über dem Waldstück steht, das zu unserem Grundstück gehört. Im Garten schwirren Leute herum, um letzte Vorkehrungen für die Feier zu treffen. Es wird an Tischdecken gezupft, die Beleuchtung getestet, die Blumendekoration überprüft. Musiker sitzen im Pavillon und stimmen ihre Instrumente. An der Bar, die extra aufgebaut worden ist, sehe ich meinen Vater, der etwas mit den Barkeepern und Kellnern zu besprechen hat. Höchste Zeit, mich für den Abend fertig zu machen.

Als ich aus dem Bad komme, nehme ich das Kleid aus der Schutzhülle und lege es auf mein Bett. Es gefällt mir. Ich habe es schon vor zwei Monaten extra für diesen Abend ausgesucht. Es ist schlicht, aber nicht langweilig. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Schmal geschnitten, aus lang fließender Seide, die champagnerfarben schimmert, mit zarten Stickereien am Dekolleté und an den Abschlüssen.

Ich suche in meinen CDs herum. Bevor es auf der Feier gleich förmlich wird, brauche ich jetzt dringend irgendwas Wildes … perfekt, eine von Annas Mix-CDs. Nr. 14. Ich drücke gerade auf Play, als es an meiner Tür klopft.

»Ja?«

Meine Mutter kommt herein. Sie sieht unglaublich aus.

»Schatz, der Hairstylist ist noch da. Wenn du willst, schicke ich ihn zu dir hoch. Und wie du siehst, ist er beim Make-up auch sehr geschickt.«

Sie schreitet lächelnd in die Mitte meines Zimmers und dreht sich einmal um 360 Grad.

Lachend klatsche ich in die Hände.

»Mama! Du siehst wirklich umwerfend aus! Papa wird auf die Knie gehen!«

Lachend wirft meine Mutter den Kopf in den Nacken. Dabei hält sie mit einer Hand die Blume, die sie sich ins Haar gesteckt hat.

»Danke, Schatz. Also? Soll ich Ricardo zu dir hochschicken?«

»Nö, ich komme schon zurecht. Wirklich.«

»Gut, wie du meinst … wahrscheinlich hast du recht, du bist so wunderschön, selbst wenn du bleiben würdest, wie du bist.«

»Genug Honig verteilt, Mama. Ich mache mich jetzt fertig.«

»Gut, aber lass dir nicht zu viel Zeit. Es geht bald los!«

Als sie schon fast aus der Tür ist, dreht sie sich noch einmal zu mir um.

»Übrigens, was für eine Musik hörst du da eigentlich schon wieder? Also, das was du vorhin selbst gespielt hast, hat mir wesentlich besser gefallen, wirklich.«

»Ach, Mama, ist doch nur Musik«, sage ich, um kurz darauf grinsend in das Hey-Ho, let’s go der Ramones einzustimmen.

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Während ich die Treppe zur Vorhalle hinuntergehe, klingelt es an der Tür. Sofy öffnet und ich sehe Alexander hereinkommen.

Als er mich auf der Treppe erblickt, bleibt er kurz stehen und sieht mich an.

»Charlotte! Du siehst … wunderschön aus!«

Er streckt mir seine Arme entgegen, während er zum Treppenabsatz vorkommt.

Ich muss unwillkürlich an Vom Winde verweht denken und unterdrücke ein Lachen, indem ich einmal tief Luft hole. Dann halte auch ich ihm meine Hände hin und als ich ihn erreiche, gibt er jeder einen Kuss.

»Danke, du siehst auch toll aus, Alex.«

Er hält mir seinen angewinkelten Arm hin, ich hake mich ein und wir gehen gemeinsam in den Garten, in dem sich mittlerweile schon einige der Gäste versammelt haben.

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Der Abend verläuft entspannter und angenehmer, als ich erwartet hatte. Klar, ich rede die ganze Zeit, werde von einem Gast zum nächsten geschoben, und eigentlich mag ich keinen Small Talk, vor allem nicht in diesen Mengen, aber mir gefällt die Atmosphäre. Meine Mutter hat sich in der Organisation und Auswahl aller Details selbst übertroffen. Ich fühle mich wohl und bin beschwingt von Champagner und lauer Sommerluft. Alexander weicht mir kaum von der Seite, ist aufmerksamer denn je. Was mich ein wenig wundert, denn normalerweise lässt er sich solche Gelegenheiten nicht entgehen, um mit den Geschäftspartnern unserer Eltern zu fachsimpeln, Kontakte zu knüpfen oder zu vertiefen. Ich frage mich gerade, ob ich mir zur Feier des Tages ein weiteres Glas Champagner gönnen soll, als plötzlich die Musik verstummt. Ich höre das rhythmische Klingen eines Glases.

»Liebe Gäste, liebe Familie!«

Auf der Bühne, die im Pavillon für die Musiker aufgebaut worden ist, entdecke ich meinen Vater. Er strahlt über das ganze Gesicht und hält seinen Champagner hoch erhoben wie eine Fackel. Ich glaube, er ist auch nicht mehr ganz nüchtern.

»Heute freue ich mich wirklich außerordentlich, euch hier alle versammelt zu sehen, denn heute ist ein ganz besonderer Tag für Hiltrud und mich. Und natürlich vor allem für unsere liebe Charlotte …«

Während mein Vater sich in einer Aneinanderreihung meiner liebenswürdigsten Eigenschaften und – noch viel schlimmer – lustiger Anekdoten meiner Kindheit ergießt, schlendert ein Kellner vorbei. Schnell schnappe ich mir ein weiteres Glas Champagner. Gott, ist das peinlich, denke ich, alle starren abwechselnd mich und meinen Vater an, glucksen und freuen sich, dass ich als Kleinkind angeblich mal das Katzenklo der Nachbarn ausprobiert haben soll. Ich taste nach seinem Arm, um mich an Alex festzuhalten, doch er ist urplötzlich verschwunden. Ich schaue mich um, kann ihn aber nirgends entdecken. Mist. Schade, dass Anna nicht hier ist.

»… und nun, liebe Gäste, möchte ich euch um einen weiteren Augenblick eurer geschätzten Aufmerksamkeit bitten – aber nicht für mich!«

Mein Vater winkt jemandem zu, der nun offenbar auf die Bühne kommen soll. Jäh ändert sich die gesamte Beleuchtung, die des Gartens wird gedimmt und um die Bühne leuchten hunderte kleiner funkelnder Lämpchen auf, sodass der gesamte Pavillon an eine riesige Kristallkugel erinnert. Die Musiker beginnen mit einer leichten, zarten Melodie.

Wunderschön, denke ich, wiege mich zu der Musik hin und her und nippe an meinem Champagner. Doch was ist das? Fast spucke ich den Champagner wieder aus, als ich sehe, wer nun die Bühne betritt. Alexander!

Ich verschlucke mich fürchterlich, huste wie ein alter Kater bis mir irgendjemand lachend auf den Rücken klopft. Ich glaube, es ist Tante Barbett.

Alle scheinen mich anzusehen, ich spüre ein Glühen in meinen Wangen, was mich so sehr ärgert, dass mein Gesicht von Zartrosa zu Kirschrot wechselt.

Alexander geht zum Mikrofon und räuspert sich geräuschvoll. Ein heiteres Murmeln geht durch die Reihen der Gäste.

»Liebe Charlotte, ich weiß, du möchtest jetzt am liebsten auf der Stelle in euer Haus rennen …«

Gelächter um mich herum. Er hat recht. Was soll das alles überhaupt? Ich bin 18 geworden, na und? Er weiß ganz genau, dass ich nicht gerne im Mittelpunkt stehe.

»… doch ich bitte dich, lass dich darauf ein, für einen kurzen Augenblick im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. So, wie du der Mittelpunkt meines Geschehens bist …«

Ein Rauschen ertönt in meinen Ohren, ich sehe mich um, um die Ursache auszumachen und stelle fest, dass es nur in meinem Kopf ist. Ich bemühe mich Alexanders Worten zu folgen, aber das Rauschen vervielfältigt sich noch, mir wird schwindelig und fast instinktiv leere ich mein Glas in einem Schluck. Gut, ich kann wieder hören, wenn auch weniger deutlich als vorher.

»… und deshalb möchte ich dich, meine geliebte Charlotte, jetzt bitten, diesen Heiratsantrag anzunehmen und meine Frau zu werden. … Komm zu mir, mein Schatz! Ich habe hier etwas für dich.«

Er hält etwas hoch in die Luft, ich kann es nicht wirklich erkennen. Es ist so klein, dass es zwischen Zeigefinger und Daumen passt und schimmert ein wenig im Licht … verdammt! Das muss ein Verlobungsring sein!

Das Rauschen ist wieder da, wird lauter und lauter. Ich sehe Alexander strahlend und erwartungsvoll auf der Bühne stehen, in der einen Hand den Ring, die andere in meine Richtung gestreckt. Alle starren mich an. Natürlich starren mich alle an. Wahrscheinlich ist es ganz still, aber ich kann eh nichts hören, nur Rauschen. Als würde ich in den Niagarafällen eine Dusche nehmen. Außerdem bin ich irgendwie gelähmt, kann mich weder bewegen, noch etwas sagen. Das Einzige, das ich vor meinen Augen noch erkennen kann, ist Alex. Sein Mund lächelt nach wie vor, doch seine Augen spiegeln diesen viel zu langen Augenblick. Der Arm, den er mir entgegenstreckt, senkt sich langsam. Verdammt, was mache ich hier eigentlich?

Geradezu schlagartig löst sich meine Lähmung, mein Glas gleitet mir aus der Hand, fällt zu Boden. Dieses entsetzliche Rauschen in meinem Kopf wird ersetzt durch das nervöse Murmeln der Gäste. Was noch viel schlimmer ist als das Rauschen.

Ich drehe mich zu allen Seiten, schaue umher, ohne zu wissen, wonach ich überhaupt suche. Ich sehe meinen Vater, wie er sich langsam einen Weg durch die Anwesenden bahnt und auf mich zukommt. Seinen Blick kenne ich nicht, er erschreckt mich. Seine Augen sind weit aufgerissen. Er sieht aus, als wäre er gerade einer ganzen Armee von Poltergeistern begegnet. Auch er hat einen Arm nach mir ausgestreckt.

Lauf!, brüllt es in meinem Kopf. Und ich renne los.

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Als ich aus den Blickwinkeln aller verschwunden bin, reiße ich mir meine hochhackigen Schuhe von den Füßen, schmeiße sie in einen Rosenstrauch und spurte, so schnell es geht, Richtung Tor.

Ich renne an dem Geburtstagsgeschenk meiner Eltern vorbei, einem Auto, doch die Schlüssel liegen natürlich im Haus. Ich höre, wie jemand meinen Namen ruft, aber das macht mich nur noch schneller. Ich öffne das Tor, renne nach rechts Richtung Kreuzung und habe Glück. Ein freies Taxi fährt gerade vorbei, ich winke wild mit beiden Armen und lasse mich kurz darauf auf die Rückbank fallen. Einen Moment lang kann ich den Taxifahrer nur keuchend durch den Rückspiegel anstarren. Doch dann sehe ich neben seinen Augen im Spiegel, wie jemand aus dem Eingang unseres Grundstücks auf den Bürgersteig tritt.

»Prenzlauer Berg! Schönhauser Allee. Schnell, bitte!«

Ohne ein Wort beschleunigt er filmreif den Wagen und ich werde tief in die Polster gedrückt. Ich fummle gerade an dem Gurt herum, um mich anzuschnallen, als mir mit Schrecken etwas einfällt.

»Ähm, ich habe überhaupt kein Geld.«

Froh mich angeschnallt zu haben, werde ich prompt aus dem Sitzpolster nach vorne gerissen. Das Taxi steht wieder.

»Wie, Sie ham keen Jeld!?«

Der Taxifahrer dreht sich zu mir um, mustert mich von oben bis unten. Sein Blick bleibt an meinen nackten Füßen hängen. Ich schiebe meine Füße unter den Vordersitz und verschränke die Arme vor meiner Brust.

»Na, dann mal schönen Abend noch, Frolleinchen. Raus hier!«

Frolleinchen? Was zum …? Egal, ich muss hier weg.

Widerwillig löse ich das Armband von meinem Handgelenk und halte es ihm hin.

»Was ist hiermit? Reicht das?«

Eigentlich müsste ich dafür auch bis nach Paris fahren können. Ich habe es vor zwei Jahren von meinen Eltern zum Geburtstag bekommen.

Bevor er mir antwortet, mustert er das Schmuckstück einen Moment.

»Jeht klar.«

Er startet den Wagen wieder und ich lasse mich erleichtert in den Sitz sinken.

Vor Annas Haus angekommen, renne ich über den Bürgersteig zum Eingang und klingle Sturm. Mein Herz poltert einen wilden Rhythmus. Sei da, sei bitte, bitte da! Das Summen des Türöffners ertönt und augenblicklich schießen mir Tränen in die Augen.

Ich renne die Treppen hoch, nehme zwei auf einmal, stolpere, weiter, weiter, bis ich atemlos den vierten Stock des Altbaus erreiche. Die Wohnungstür ist geöffnet, aber Anna ist schon wieder in ihre Wohnung zurück. Atemlos taumle ich hinein, suche Anna und finde sie in ihrer Küche. Sie steht an der Espresso-Maschine, mit dem Rücken zu mir.

»Anna.«

Sie zuckt zusammen, dreht sich blitzartig um und verstreut dabei eine Ladung Kaffee auf dem Küchenboden.

»Charlie! Was zum …«

Ich stürze mich ihr schluchzend in die Arme, fast fallen wir zusammen um. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.

»Charlie, Schätzchen, was ist los, was ist passiert?!«

Sie drückt mich fest an sich und führt mich dann in ihr Wohnzimmer.

»Warte kurz.«

Sie setzt mich auf dem Sofa ab, verschwindet und kommt mit einem Tablett wieder. Tee, Kekse und Taschentücher. Sie stellt alles auf einen kleinen Tisch, der vor dem Sofa steht und verschwindet ein weiteres Mal.

Ich lege mich auf das Sofa, halte mich an einem dicken bunten Kissen fest und konzentriere mich auf meine Atmung. Anna kommt zurück, zieht mir ein Paar lange weiche Socken über die Füße und legt mir die Patchwork-Decke über, die ihre Großmutter vor Ewigkeiten für sie genäht hat. Erst jetzt bemerke ich, dass ich am ganzen Leib wie verrückt zittere. Um sich setzen zu können, hebt Anna meinen Oberkörper sanft an, legt sich ein Kissen auf den Schoß und meinen Kopf auf das Kissen.

»Leg los.«

Sie reicht mir ein Taschentuch, ich hole noch einmal tief Luft und erzähle alles. Vom ersten Glas Champagner bis zu meiner Flucht im Taxi.

»… Anna, was habe ich getan? Was ist los mit mir?!«

Ich richte mich auf und schaue sie an. »Ich weiß wirklich nicht, was da mit mir los war! Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, weil da ein anderer war. Wirklich! In meinem Kopf! Ein einziger Gedanke, der immer lauter und lauter wurde, als würde mich jemand anschreien. Alles, was ich gehört habe, war ›Lauf, lauf, lauf!‹«

Jetzt heule ich richtig los. »Anna … was … was ist los mit mir? Werde ich jetzt verrückt?! Ich … ich –«

Doch kein weiteres Wort will mir gelingen, ich schluchze, weine, heule Rotz und Wasser. Anna zieht mich zu sich herüber, streicht ruhig und regelmäßig mit Taschentüchern über mein Gesicht, entfernt Rotz und Wasser und wiegt mich dabei sanft in ihren Armen.

»Meine Süße, ist in Ordnung, ich bin bei dir … alles wird gut, ich verspreche es dir …«

Lange sitzen wir so auf ihrem Sofa. Alles, was ich höre, ist der beruhigende Rhythmus ihres Herzschlags und in regelmäßigen Abständen das Poltern und Rumpeln der Trams, die vor Annas Haus ihre festgelegten Bahnen ziehen.

Plötzlich fährt mir der Schreck durch die Glieder, ich richte mich schlagartig auf.

»Anna! Meine Eltern, Alexander, sie wissen nicht, wo ich bin, sie werden sich fürchterliche Sorgen machen! Wie spät ist es!? Ich muss sie anrufen! Ich muss zurück!«

Anna legt mir ihre Hände auf die Schultern und sieht mich gelassen, aber ernst an. Der Klang ihrer Stimme ist ungewohnt bestimmt.

»Charlie. Eins nach dem anderen. Du fährst jetzt nicht zurück. Du bleibst hier bei mir und schläfst dich aus. Ruf deine Eltern kurz an, sag ihnen, dass du bei mir bist und ihr morgen in Ruhe sprechen könnt … und deine Eltern sollen dann Alexander Bescheid geben.«

Anna reicht mir ihr Telefon, meine Hände zittern, ich zögere kurz, bevor ich die Nummer meiner Eltern eingebe.

Mir läuft ein warmer Schauer über den Rücken, als ich die Stimme meine Mutter höre.

»Ja, bitte, hier Wolf?«

»Mama, ich bin’s.«

Stille. Dann kann ich hören, wie sie aufatmet.

»Charlotte. Kind.«

»Mama, es tut mir so leid … ich –«

»Charlotte, beruhige dich, alles wird gut. Sag mir einfach, wo du bist, dann hole ich dich ab.«

»Ich bin bei Anna. Und – und ehrlich gesagt, möchte ich jetzt einfach nur hier schlafen. Wir …«

Ich schaue zu Anna herüber, sie nickt mir aufmunternd zu.

»Wir können morgen über alles reden. Okay, Mama? Morgen komme ich zurück. Ich rufe dich nach dem Frühstück an und dann kannst du mich abholen. Ja?«

Wieder Stille, dann ein tiefer Seufzer. »Gut, Charlotte. Schlaf dich aus. Wir reden morgen. Ich hole dich dann ab.«

Während des Gesprächs hat Anna das Sofa in ein sehr einladend aussehendes Bett verwandelt. Auf die Bettdecke hat sie mir eines ihrer Nachthemden gelegt. Eigentlich ist es gar kein Nachthemd, sondern ein überdimensionales Ramones-T-Shirt.

Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange. »Ruh dich gut aus, Süße. Und weck mich, falls was ist, okay?«

»Ja, okay, gute Nacht. Und … danke.«

Ich fühle mich erschöpfter denn je, ziehe mich um und schlafe ein, kaum dass ich mich hingelegt habe.

Es ist noch immer dunkel, als ich von meinem eigenen Schrei geweckt werde. Der ewig gleiche nervige Traum. Ich schleppe mich und mein Bettzeug in Annas Schlafzimmer und lege mich leise neben sie. Mit ihrem gleichmäßigen Atem neben mir, finde auch ich endlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

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Geweckt werde ich von den Sonnenstrahlen, die ihren Weg durch die Ritzen der roten Vorhänge direkt auf mein Gesicht finden. Ich blinzle. Viel zu hell.

Ich drehe mich auf die andere Seite und öffne die Augen – Anna ist nicht da. Ich will gerade aufstehen, um nach ihr zu sehen, da höre ich Geräusche aus der Küche. Gekrame, Gerumpel, das Klingen von Geschirr und das angestrengte Brummen der Espresso-Maschine. Ich lasse mich in die Kissen zurückfallen.

Für einen Moment ist es ganz still, bis plötzlich der Klang einer Gitarre aus dem Wohnzimmer herüberweht. Anna hat eine CD eingelegt. Nach ein paar Takten erkenne ich die sanfte Stimme von Françoise Hardy. Herrlich, denke ich, gähne lang und geräuschvoll, strecke mich ausgiebig und fühle mich hervorragend. Für drei Sekunden. Dann rammt mir die Erinnerung an den Vorabend einen heftigen Schlag mitten in die Magengrube. Reflexartig ziehe ich die Beine eng an meinen Oberkörper, umschlinge sie mit meinen Armen, drücke mein Kinn an die Knie und stöhne auf.

»Ohhh herrjeeee, was mache ich denn jetzt … ohhhhhohohoooo … Annaaaa …«

Trotz der Musik scheint sie mich gehört zu haben. Vielleicht ist es auch nur gutes Timing, denn Anna erscheint mit einem voll beladenen Tablett in der Schlafzimmertür.

»Na, Süße, hast du gut geschlafen?«

»Ohohohohooooo …«

»Schluss mit dem Geheule, Charlie, jetzt wird gefrühstückt und danach überlegen wir, was zu tun ist.«

Sie wirft ihre Bettdecke auf eine große alte Holztruhe, die an der gegenüberliegenden Wand steht, und schiebt das Tablett in die Mitte des Bettes.

Langsam löse ich mich aus meiner embryonalen Haltung und beäuge das Tablett. Toast, Rührei, Orangensaft, verschiedene Käse, merkwürdig aussehende kleine Dinger, vielleicht Würstchen, Milchkaffee mit reichlich aufgeschäumter Milch und eine schmale Vase, in der eine pinke Gerbera steht.

»Das ist so lieb von dir. Wirklich. Aber ich habe überhaupt keinen Appetit.« Ich seufze tief. »Überhaupt keinen.«

»Na gut, kann ich verstehen. Aber trink wenigstens den Kaffee.«

Ich schütte einen Haufen Zucker auf den Milchschaumberg und schaue ihm zu, wie er langsam in den Kaffee sinkt. Dabei denke ich an Alexander. Wie es ihm jetzt wohl geht? Miserabel, klar. Wie sonst. Wird er mich verstehen, wenn ich ihm erkläre, dass – ja, was denn überhaupt? Was zum Kuckuck war los mit mir? Er liebt mich und ich …

»Charlie, sprich doch einfach mit mir. Bevor dein Kopf noch implodiert.«

Anna lächelt sanft, das klare Grün ihrer Augen beruhigt mich. Sie setzt sich neben mich und legt mir einen Arm um die Schulter.

»Ach, Anna. Es ist alles so furchtbar, ich habe ihn einfach stehen lassen … ich meine, er wird sich jetzt grässlich fühlen. Wegen mir! Und dabei hätte ich doch einfach nur Ja sagen müssen!«

»Jetzt mal langsam, Charlie! Was heißt denn hier ›einfach nur Ja sagen‹? Offensichtlich wolltest du nicht ›einfach Ja sagen‹. Und soll ich dir mal sagen, was ich denke?«

»Was denn?«

»Du hast das einzig Richtige getan.«

Entsetzt schaue ich sie an, befreie mich aus ihrem Arm und springe auf.

»Das einzig Richtige?! Soll das ein Witz sein!? Ich habe meinen Freund wie einen Idioten vor allen Leuten stehen lassen, und du hättest mal meinen Vater sehen müssen, ich meine, seinen Blick und dann meine Mutter! Ihre Stimme gestern am Telefon. Ich habe sie alle furchtbar verletzt! Und ich muss das jetzt irgendwie wiedergutmachen! Ich rufe jetzt auf der Stelle Alexander an – nein, erst meine Mutter und dann …«

»Charlotte! Beruhig dich, setz dich und hör mir zu!«

Es ist lange her, dass Anna mich Charlotte genannt hat. Sie zieht mich auf das Bett und sieht strenger aus als Frau Arens in ihren schlimmsten Momenten.

dein irgendjemandwillst