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Zufall

Roman

von

Manfred Herfert

© 2016 Manfred Herfert

Autor: Manfred Herfert

Umschlaggestaltung, Illustration: Manfred Herfert

Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel GmbH

ISBN: 978-3-99057-362-4 (Paperback)

ISBN: 978-3-99057-364-8 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1

„Bravo gnädiges Fräulein, sie waren großartig“, begeisterte sich Grete, als Anna etwas müde wirkend ihre Garderobe betrat.

„Wie sie diesmal die Unschuldige gespielt haben, einfach perfekt.“

„Finden sie es war gut, Grete?“

„Ja doch, ich habe mich extra in den Zuschauerraum gesetzt, damit ich alles genau sehen kann.“

Mit einem nachdenklich wiegenden Kopf und zufrieden lächelnd setzte sich Anna vor ihren Schminktisch. Grete begann sie mit gekonnter Hand abzuschminken. Im Hintergrund des Spiegelbildes erblickte Anna einen riesigen Blumenstrauß. Während sie mit aufgerissenen Augen in den Spiegel starrte, sagte sie mit beinahe flüsternder Stimme.

„Von wem sind diese wunderschönen Rosen?“

„Sie sind schon dagestanden, als ich knapp vor ihnen in die Garderobe gekommen bin, gnädiges Fräulein.“

Anna sprang vor Aufregung halb abgeschminkt von ihrem Garderobentisch auf. Dabei schubste sie Grete so heftig, dass sich diese mit ihrer cremebeschmierten Hand ins Gesicht fuhr.

„Oh Verzeihung Grete, das tut mir aber leid, haben sie sich weh getan?“

„Nein, nein es ist nichts, ich habe nur Creme im Gesicht, jetzt sehen wir beinahe gleich verschmiert aus“, und beide lachten sehr herzlich.

Beruhigt über den harmlosen Ausgang ihres Missgeschicks wendete sich Anna voller Erwartung dem riesigen Rosenstrauß zu. Es waren wunderschöne, noch geschlossene dunkelrote Rosen. Sie fand zwischen den Blumen ein schlichtes Billet, faltete es zögernd auf und las halblaut die Zeilen:

Sehr geehrtes Fräulein Schneider

Ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Schönheit und bitte Sie, mir die Ehre zu geben, mit Ihnen morgen im Sacher zu dinieren. Meine Kutsche wird Sie um 13:00 vor Ihrem Hause abholen.

Graf Kunata Kottulinsky

Auf dem Billet war das Wappen Derer von Meran zu sehen. Anna stand wie versteinert da, ihr Blick war ständig auf das Wappen gerichtet. Dann senkte sich ihr Arm, der das Billet hielt, ganz langsam. Der Kopf richtete sich gerade und die Augen starrten ins Leere. Grete beobachtete angespannt diese langsamen Bewegungen, die sie von Anna im Allgemeinen nicht gewöhnt war. Voller Fürsorge, dass es vielleicht eine schlechte Nachricht sein könnte, fragte sie ganz vorsichtig:

„Ist etwas nicht in Ordnung, gnädiges Fräulein?“

Diese Worte, obwohl Anna sie nicht verstanden hatte, brachten wieder Bewegung in ihre starre Haltung. Während sie ganz langsam das Billet mit dem ausgestreckten Arm in Richtung Grete hob, fragte sie mit apathischem Ton:

„Grete, was hältst du davon?“

Grete überflog die Zeilen des Billets und ihre Augen wurden immer größer und am Ende jubelte sie begeistert:

„Sie haben es geschafft, endlich, jetzt meldet sich schon der Hochadel an.“

„Du meinst also ich soll die Einladung annehmen?“ fragte Anna etwas unsicher.

„Aber gnädiges Fräulein“, mit aufgerissenen, ungläubigen Augen sah Grete fragend zu Anna, „so eine Chance dürfen sie sich nicht entgehen lassen.“

Grete Hablich wusste wovon sie sprach. Anna Schneider war nicht die erste junge Hauptdarstellerin, der sie in ihrer Garderobe gedient hatte. Sie sah schon einige junge Damen von dieser Bühne zu großen Ehren aufsteigen. Immer wieder hat es mit Einladungen von Männern aus dem Hochadel begonnen.

„Ich habe das schon bei der großen Eder, oder bei der Lohner, die jetzt beide an der Burg spielen, miterlebt.“

Mit diesen Worten wollte Grete die Zusage zu dieser Einladung noch fester unterstreichen.

„Aber was wird Herr Heller dazu sagen“, erwiderte Anna zaghaft. „Schließlich hat er mich an dieses Theater gebracht. Ich war schon einige Male mit ihm Essen und obwohl ich mich danach immer sofort verabschiedet habe, macht er sich bestimmt Hoffnungen.“

„Herr Heller, gnädiges Fräulein, ist ein sehr netter Mann. Doch er sieht in ihnen auch nur die schöne Frau, die sie ja nun einmal sind.“ Dabei umfasste Grete mit beiden Händen Annas Schultern.

Mit einem bewundernden Blick betrachtet sie Anna von oben bis unten:

„Aber im Theater kann er ihnen nicht mehr weiter helfen. Dass sie so schnell einen so hochgestellten Herrn kennen lernen, hat er sich natürlich nicht gedacht, denn sonst wären sie gar nicht hier, sondern in einem noch kleineren Theater.“

„Meinen sie wirklich?“

„Schauns, gnädiges Fräulein,"

„Sagen sie doch bitte Anna zu mir, ich komm mir immer so blöd vor, mit diesem gnädigen Fräulein."

„Vielen Dank, das ist aber sehr nett von ihnen.“

Langsam nahm Grete ihre Arme von Annas Schultern und sprach nun in einem merklich vertraulicheren Ton:

„Also schauns Anna. Der Herr Heller ist nicht der einzige, sogenannte Theatermäzen. Es gibt einige dieser Herren, die junge Damen am Theater fördern, um mit ihnen dann irgendwann ein Techtelmechtel anzufangen. Um den Herrn Heller brauchen sie sich wirklich nicht zu sorgen. Es wird ihn dieser unerwartete Verlust zwar etwas verärgern, aber er wird ihnen deshalb nicht böse sein.“

Nachdenklich setzte sich Anna wieder vor ihren Spiegel und Grete erzählte ihr, während sie die restliche Schminke entfernte, von Annas Vorgängerinnen und den Erlebnissen mit den wirklich hohen Herren.

„So liebe Anna. Jetzt sieht ihr schönes Gesicht wieder frisch und natürlich aus. Noch ein guter Rat zum Schluss. Es ist sehr wichtig, dass sie den Herrn Graf so lange wie möglich auf Distanz halten. Dadurch bekommen sie eher die Gelegenheit, noch weitere wichtige Bekanntschaften machen zu können. Denn auch ein Herr Graf will nur sie und nicht unbedingt ihren Erfolg. Aber um sich mit ihnen öfter vor den Leuten zeigen zu können, braucht er ihren Erfolg. Dieser Herr Graf ist schon jemand, der sie im Theater weiterbringen kann.“

Dann half Grete Anna in den Mantel und öffnete die Garderobentür. Auf dem Korridor drehte sich Anna ganz plötzlich um und sah Grete auffordernd ins Gesicht:

„Aber wenn ich auf der Bühne gut bin, kommt der Erfolg doch von selbst.“

„Dass sie sich da nur nicht täuschen, liebe Anna. Dieser Weg, den sie meinen, ist der wohl dornigste und auch der unsicherste.“

Dabei blickte Grete, mit erhobenem Zeigefinger, vielsagend in Annas wunderschöne blaue Augen. Diese Augen richteten sich jetzt nachdenklich nach oben, als Anna, mit einem

„bis morgen“, den Korridor entlang ging. Grete blickte ihr so lange nach bis sich die Ausgangstüre hinter Anna wieder geschlossen hatte. Dann sagte sie mit leiser und bewundernder Stimme: “Du bist doch eine wirkliche Schönheit, Anna.“

Anna Schneider war ein Kind vom Lande. Ihr Vater war Bahnhofsvorstand in Mürzzuschlag an der Semmeringbahn. Sie wuchs als Einzelkind auf. Ihre Kindheit verlief eher sorglos. Da sie ein besonders hübsches und liebes Mädchen war, hatten sie alle Leute in ihrer Umgebung gerne. In der Schule war sie ehrgeizig und hatte mit den Lehrern keine Probleme.

Ein Cousin ihrer Mutter war in der Kunstszene in Wien tätig. Er war es auch der Anna geraten hatte die Schule für die Schauspielerei zu besuchen. Jedoch war das Geld im Hause Schneider nicht unbedingt im Überfluss vorhanden. Anna musste ihren Eltern versprechen, wegen des möglichen Stipendiums, einen sehr guten Schulabschluss zu schaffen. Sie arbeitete Tag und Nacht und gönnte sich kaum Zeit für Vergnügungen. Daher kam es auch, dass sie kaum Freunde hatte und schon gar keinen intimen Freund. Aber die Mühe hatte sich gelohnt. Anna bekam für jede der absolvierten Schulstufen eine finanzielle Unterstützung.

Onkel Kurt, so nannte sie den Cousin ihrer Mutter, kannte Herrn Heller. Dieser brachte Anna, nach Beendigung ihrer Ausbildung, an ein größeres Vorstadttheater in Wien. Anna fühlte sich ihrem Onkel dadurch sehr verpflichtet. Sie konnte nicht wissen, dass er in ihrem Leben noch eine viel wichtigere Rolle spielen wird.

Der Direktor des Vorstadttheaters konnte sich an dem bezaubernden Aussehen dieser jungen Dame kaum satt sehen. Anna bekam auch sehr bald größere Rollen. Der Herr Direktor wusste sehr wohl, dass er damit männliches Publikum aus der oberen Schicht anlockte.

Seit er die Anna Schneider in einer Hauptrolle hatte, fiel ihm ein vornehmer, junger Mann auf. Er kam zu jeder Vorstellung. Anfangs immer in Begleitung seines Freundes, von Lichtenstein. Dann immer öfter allein. Eines Abends sah ihn der Direktor am Hintereingang. Sofort ging er zu Grete. Von ihr erfuhr er, dass der junge Mann, Graf Kottulinsky ist. Da wusste er, bald würde er eine neue Schauspielerin brauchen.

So war es dann auch. Graf Kottulinsky brachte Anna ans Wiener Volkstheater.

2

Die knisternde Spannung hinter der Bühne des Volkstheaters war für alle Beteiligten spürbar. Alles rannte nervös hin und her. Der Regisseur nahm sichtlich erregt neben dem Assistent im Zuschauerraum, mit der Frage, Platz:

„Weißt du was von der Berger?“

„Wieso, soll ich was wissen?“

„Na ja, Hauptsache du sitzt da gemütlich auf deinem Hintern und ich kann mich abzappeln.“

In diesem Moment kam ein junger Mann ganz aufgelöst auf den Regisseur zu. Er beugt sich zu ihm hinunter und flüstert ihm, mit fuchtelnden Armen, etwas zu.

„Kruzitürken und das jetzt“ rief der Regisseur aufspringend. Der Assistent sah seinen Chef mit fragenden Augen an:

„Was ist denn los, weilst aufspringst wie ein aufgscheuchter Feldhas?“

Der Regisseur mit einer wegwerfenden Handbewegung:

„Ach die Berger. Die soll sich endlich ein warmes Nachthemd kaufen, für diese Seidenhemderln ist sie halt doch schon etwas zu alt.“

„Na und deshalb springst auf als ob dich eine Tarantel gstochen hätt?“

„Nein du Kasperl, Influenza hat sie und liegt mit Fieber im Bett.“

Der Assistent armeringend: „Und das jetzt, bei der Generalprobe.“

„Also ich muss schon sagen eine äußerst intelligente Bemerkung. Was glaubst denn warum ich sonst so aufgebracht bin. Nicht wegen dem Seidenhemderl und auch nicht wegen der Influenza. Von mir aus kann die Berger ein Dauerfieber im Seidenhemderl haben. Aber nicht dann, wenn ich sie unter Vertrag hab und jetzt bei der Generalprobe brauch.“

Der Assistent bemühte sich, ob seiner Beleibtheit, doch aufzustehen und sagte mit überzeugendem Ton:

„Aber wir müssen heute proben, weil morgen Premiere ist.“

„Bravo Joschi, du bist wirklich ein gscheiter Mensch.“ Beinah erschöpft von dieser Erkenntnis ließ sich der Regisseur, mit einem langen Seufzer, in seinen Sessel fallen. Dann fragte er mit leisem Ton:

„Wir müssen die... die Neue, wie heißt sie denn gleich?“

„Schneider, Anna Schneider“, antwortete der Assistent.

„Ach ja, Schneider. Also, dann versuche sie so schnell wie möglich zu fin...“ In diesem Moment kam der Intendant auf die Bühne und rief dem Regisseur zu:

„Die Berger ist krank und liegt im Bett.“

„A geh, was net sagn“ fiel ihm der Regisseur ins Wort.

Der Intendant fährt mit fuchtelnden Armen fort.

„Ich habe schon jemand beauftragt, der das Frl. Schneider verständigen soll, dass sie spielen muss. Ich hoffe es wird nicht allzu lange dauern.“

Der Satz war noch nicht zu Ende gesprochen, da stand Anna schon auf der Bühne. Der Intendant konnte seine Überraschung nicht verbergen:

„Wohnen sie gleich um die Ecke, weil sie schon da sind, Frl. Schneider?“

„Nein, Herr Intendant, aber ich bin doch bei allen Proben anwesend. Schließlich bin ich für diese Rolle als Substitut engagiert.“

„Das ist sehr lobenswert, aber jetzt an die Arbeit.“

Mit diesen Worten verließ der Intendant die Bühne. Anna stand nun allein dort oben und blickte erwartungsvoll zum Regisseur hinunter. „Das hat ja bestens geklappt“ flüsterte dieser dem Assistent zu. Dann blickte er zu Anna hinauf:

„Na wunderbar Fräulein Schneider, jetzt möchte ich nur noch wissen, ob sie auch ihren Text können?“

„Ich denke schon, aber ich hatte noch bei keiner Probe die Gelegenheit, es zu beweisen.“

„Na, jetzt haben sie ja die Möglichkeit. Gehen sie bitte schnell in die Garderobe der Frau Berger und ziehen sie sich um. Wir beginnen, sobald sie fertig sind.“

Er richtete sich erleichtert in seinem Stuhl auf und flüsterte dem Assistent zu:

„Die ist ja viel zu schön, um gut Theater zu spielen, was meinst du?“

Der Assistent murmelte leise in seinen Bart:

„Sie kommt ja auch vom Kottulinsky.“

Anna beeilte sich um schnell in die Garderobe zu kommen. Dabei stieß sie mit einem jungen Mann zusammen, der eine Requisite trug. Diese wäre ihm beinahe aus der Hand gefallen, aber Anna hielt sie gleichzeitig mit dem jungen Mann im letzten Moment fest.

„Entschuldigung“ entfuhr es beiden. Aber als sie sahen, dass nichts passiert ist, lächelten sie einander kurz zu und Anna wollte schon wieder weiter. Franzl, so hieß der junge Mann, fragte jedoch geistesgegenwärtig:

„Ist ihnen auch nichts passiert, gnädiges Fräulein?“

„Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich war selber schuld, weil ich es sehr eilig habe.“

„Da bin ich aber froh. Stellen sie sich vor, was der Herr Schober, unser Requisiteur, mit mir gmacht hätt, wenn ich eine Schauspielerin angerempelt und sie noch dazu verletzt hätt.“

Anna lachte als sie sich wieder trennten. Ihr ist der junge Mann schon öfter begegnet. Dabei ist ihr immer wieder aufgefallen, dass er sie nicht so ansah wie die anderen Männer. Er blickte ihr nicht so bewundernd ins Gesicht, wie sie das von den meisten Männern gewöhnt ist. Sie konnte nicht wissen, dass genau dieses Phänomen, für ihr späteres Leben, von größter Bedeutung sein wird.

Anna war sehr aufgeregt, aber auch sehr glücklich. Jetzt konnte sie, in einer großen Rolle, auf einer großen Bühne, endlich beweisen, dass sie nicht nur den Text perfekt konnte, sondern auch alle Einzelheiten der Regieanweisungen wusste. War sie doch bei jeder Probe hinter der Bühne. Ihr Notizblock war gerammelt voll mit Aufzeichnungen, die der strenge Regisseur der Berger gegeben hatte. Damit sie sich all diese kleinen Bewegungen und Betonungen auch richtig einprägt, hat sie immer wieder zu Hause fleißig geübt.

„Heute ist mein großer Tag.“ Mit diesen Worten betrat sie die Garderobe der Frau Berger. Es war dies das erste Mal, dass sie in einer Hauptdarstellergarderobe im Volkstheater auf eine Vorstellung vorbereitet wurde. Die Frau Huber, die sie schminken und ihr behilflich sein sollte, war eine schon etwas betagte Frau. Sie redete ununterbrochen, vom Wetter, von der Frau Berger, von der schlechten Bezahlung usw. Anna war es nicht möglich sich auf ihren Auftritt zu konzentrieren. Sie bat Frau Huber doch ruhig zu sein, weil sie sich konzentrieren müsse. Aber die alte Dame kümmerte sich nicht darum und redete weiter. Anna schwor sich, wenn sie hier arbeiten muss, dann nur mit der Grete.

Bis auf einige Kleinigkeiten ist die Generalprobe für Anna sehr gut gelaufen. Der Regisseur war voll des Lobes für Anna und sagte zu ihr, noch auf der Bühne:

„Gratuliere Frl. Schneider, ich bin angenehm überrascht. Eine sehr passable Leistung.“

„Danke vielmals. Ihr Lob ist richtiger Balsam für mich.“

„ Ich denke sie spielen auch morgen bei der Prämiere.“

„Aber die Frau Berger, wenn sie morg...

„Egal wie es der Berger gehen mag. Besser kann sie es auch nicht. Außerdem sind sie in dem Kostüm viel schöner anzusehen, als die Berger.“

„Ich danke ihnen für ihr Vertrauen.“

„Danken sie ihrem Talent und ihrer Schönheit, denn beides haben sie im Übermaß. Also bis morgen Frl. Schneider.“

Anna war so benommen von diesem großen Lob, dass sie vergaß zu grüßen. Erst nach einigen Sekunden bemerkte sie ihre Nachlässigkeit. Sie blickte nach dem Regisseur. Der aber verschwand gerade hinter der Bühne. Mit einer winkenden Handbewegung flüsterte sie: „Auf Wiedersehen und nochmals vielen Dank.“

Anna versuchte das Gerede der Frau Huber nicht zu hören. Sie konzentrierte sich wie selten und ihre Hände waren feucht vor Aufregung. Sie hatte schon immer den Willen etwas zu leisten, wenn es darauf ankam. Und heute kam es darauf an. Sie wollte es der Welt zeigen.

Die Prämiere war ein voller Erfolg. Anna hatte unzählige Vorhänge. Das Publikum war begeistert. Endlich wieder ein junges Gesicht im Volkstheater. Es war nicht nur schön, sondern konnte auch noch ausgezeichnet spielen.

Am nächsten Tag bat der Intendant Anna in sein Büro.

„Frl. Schneider“, begann er mit fröhlich wirkender Stimme, „wir haben beschlossen, dass sie alle Aufführungen spielen.“

„Das ist ja wunderbar Herr Intendant. Aber was wird Frau Berger dazu sagen?“

„Das lassen sie nur meine Sorge sein. Ich möchte von ihnen nur wissen, ob sie das Angebot annehmen. Ein Nein kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.“

„Selbstverständlich will ich spielen. Aber ich hätte trotzdem eine große Bitte, quasi als Bedingung.“

„Nur heraus mit der Sprache mein Fräulein.“

„Die Frau Huber in der Garderobe ist für mich ein großes Problem. Sie redet und redet, man kann sich nicht konzentrieren und freundlich ist sie auch nicht.“

„Aber die Frau Huber ist schon seit Jahrzehnten bei uns. Haben sie eine bestimmte Garderobiere im Sinn?“

„Ja, aber die arbeitet nicht bei ihnen. Es ist die Grete Hablich. Sie war mir eine große Hilfe bei meinem vorigen Engagement und sie ist wie eine Freundin zu mir.“

„Na sie soll bei mir vorsprechen, dann sehen wir weiter.“

„Danke Herr Intendant.“

„Freuen sie sich nicht zu früh.“

„Oh, wenn sie Grete sehen, werden sie nicht zweifeln sie auch einzustellen.“

„Vorausgesetzt, sie verlangt keine Unsumme an Lohn.“

„Ich glaube das wird das kleinste Problem sein. Für Grete wäre es ein wunderbarer Aufstieg, in einem Theater wie diesem zu arbeiten.“

„Sie sind nicht nur eine gute Schauspielerin, sondern auch ein lieber Mensch. Das ehrt sie doppelt meine Liebe. So, jetzt muss ich aber wieder an meine Arbeit. Also sie kümmern sich um das Vorstellungsgespräch ihrer Frau Grete. Je früher sie kommt, desto eher können wir unseren Vertrag abschließen.“

Nachdem sich beide verabschiedet hatten, fuhr Anna sofort zu Grete ins Theater. Diese war, wie immer, in ihrer Garderobe und flickte an einem Kleid herum.

„Hallo Grete.“

Annas Gesicht strahlte vor überschäumender Freude. Ihre Augen glänzten und die Wangen leuchteten in hellem Rot.

„Grüß Gott Anna, ja das ist aber eine Überraschung. Wie geht es ihnen? Aber ich glaub ich brauch gar nicht zu fragen, wenn ich sie so anseh. Richtig glücklich schauns aus, mit ihre roten Wangerln und die strahlenden Augen.“

„Danke Grete, es geht mir ausgezeichnet. Ich habe eine Hauptrolle bekommen und eine wunderbare Garderobiere.“

Bei dem letzten Wort senkte sich der Blick von Grete. Sie machte eine verlegene Bewegung in Richtung Kleid, um es wieder aufzunehmen. Anna bemerkte sehr wohl die Veränderung in Gretes Gesicht.

„Aber du kennst die Garderobefrau sehr gut, die mich im Volkstheater bedienen wird.“

„Wie heißt sie denn“, Gretes Augen wurden immer größer. Sie konnte sich nicht vorstellen jemanden dort zu kennen.

„Sie heißt Grete Hablich.“

„Grete Hablich?“

Einen Moment stand Grete wie versteinert da. Dann begriff sie langsam den Sinn dieser Worte und strahlte Anna mit einem ungläubigen Lächeln an.

„Grete Hablich, das bin ja ich. Sagen sie bloß Anna, sie wollen mich ans Volkstheater mitnehmen.“

„Ja Grete, ja. Du musst dich bitte so rasch wie möglich bei der Direktion vorstellen.“

Mit einem leisem „Dankeschön“ umarmte Grete Anna und gab ihr ein dickes Busserl auf die Wange.

„Oh entschuldigen sie meine Vertraulichkeit, liebe Anna. Aber mein Herz ist mit mir durchgegangen.“

„Ich freue mich ja auch, dass du so gerne mitgehst. Ich hoffe, wir werden eine schöne Zeit miteinander verbringen.“

„Das hoffe ich auch Fräulein Anna. Ich werde mich noch mehr für sie einsetzen, als ich es ohnedies schon getan habe.“

Wie sehr sich diese Worte erfüllen werden, konnte Anna jetzt noch nicht erahnen.

3

Anna hatte jetzt eine eigene Garderobe und Grete alle Hände voll zu tun. Mit Blumensträußen und Verehrer aus den besten Kreisen. Die Einen steckte sie in Vasen, die Anderen schob sie auf der Warteliste, mit viel Gespür und Umsicht, hin und her.

Anna hingegen eilte von einer Einladung zur anderen. Sie hatte mit dezenten Absagen mehr zu tun, als Einladungen anzunehmen. Man konnte nun mit ruhigem Gewissen sagen: Anna war berühmt. Zumindest bei der Wiener Oberschicht. Die noblen Herren umschwirrten sie, wie die Bienen einen blühenden Strauch im Frühling. Anna genoss dieses Leben. Sie fühlte sich auch tatsächlich wie ein Frühlingsstrauch und versprühte ihren Duft, so gut und so oft sie nur konnte.

Grete beobachtete dieses Kommen und Gehen der hohen Herren, etwas besorgt. Eines Tages nahm sie sich den Mut und sagte zu Anna, während diese vor dem Spiegel saß:

„Ich weiß nicht Anna, aber ich hab so das Gefühl, sie nehmen diese vielen Männerbekanntschaften ein bisschen auf die leichte Schulter.“

„Aber Grete, wo denkst du hin.“

Anna war leicht überrascht, wegen des Vorwurfs.

„Ich kann mit den Herren machen was ich will. Die essen mir alle aus der Hand. Kunata Kottulinsky ist über beide Ohren in mich verliebt. Er und sein Freund, der Lichtenstein, die zwei lesen mir jeden Wunsch von den Lippen ab und tun alles für mich. Ich brauch nur mit dem Finger zu schnippen und schon könnte ich an jedem Finger 10 Herren haben.“

Anna schnippte, während sie das sagte mit ihrem Finger und lachte dabei schelmisch.

„Na, na, sie sind zwar eine wunderschöne Frau Anna, aber die Männer lassen sich auch nur bis zu einem bestimmten Punkt an der Nase herumführen. Schön langsam würde ich mich für einen Mann entscheiden. Es wird Zeit, dass sie etwas ruhiger werden und sich mehr auf das Theaterspielen konzentrieren.“

„Ich genieße es so umschwärmt zu sein. Es ist wunderbar von den Männern geliebt zu werden.“

Anna breitete beide Arme aus, als wollte sie jemanden umarmen.

„Ich möchte dieses Gefühl noch lange genießen.“

„Es ist nicht gut, wenn sie so denken, liebste Anna. Außerdem spricht man schon mit vorgehaltener Hand über ihre Männergeschichten.“

„Was soll das heißen Grete?“

Dabei drehte sich Anna mit einer Geste der Entrüstung zu der hinter ihr stehenden Grete und sah sie fragend an.

„Die Leute machen sich halt ihre Gedanken. Was würden sie sich denken, wenn sie den Kottulinsky jeden Tag mit einer anderen Dame sehen?“

„Deshalb soll ich mich für einen einzigen Mann entscheiden? Nur weil die Leute reden. Niemals, die sollen reden was sie wollen, mir ist das egal.“

Grete erledigte ihre Arbeit in der Garderobe. Bedrückt, ob der Einstellung von Anna, ging sie auf den Korridor. Hier sah sie Franzl, beim Putzen eines Beleuchtungskörpers. Grete benötigte jetzt eine Ablenkung und wollte sich daher mit Franzl unterhalten.

„Hallo Franzl, wie geht’s?“

Franzl erschrak und während er sich sehr rasch Grete zuwandte, blieb er mit seinem Hemdärmel an der Lampe hängen. An seinem Ärmel klaffte jetzt ein großes Loch.

„Ach du Mist, “ kam es über seine Lippen, dann jedoch sehr freundlich:

„Servus Grete, mir geht’s gut, bis auf einen verletzten Hemdärmel.“ Er lächelte über seine eigenen Worte.

„Na, lass mich deine Hemdwunde untersuchen. So schlimm ist es nicht. Wenn die Anna gegangen ist, komm in meine Garderobe. Dort kann ich die Wunde bestens mit Nadel und Zwirn versorgen.“ Beide lachten und plauderten noch bis Anna gegangen war.

In der Garderobe zog Franzl sein Hemd aus. Grete kam beim Anblick von Franzls Oberkörper ins Schwärmen:

„Mein Gott, so ein schönes Mannsbild, wie du eins bist. Da sollte man noch einmal jung sein. Du tätst schaun wie ich dir den Kopf verdrehen würd.“

„Aber Grete hör auf sonst werd ich noch rot.“

„Na, na, nicht so schüchtern junger Mann.“

Grete versuchte während des Gesprächs den Zwirn in das Nadelöhr einzufädeln. Es gelang ihr jedoch nicht.

„Ach bitte Franzl, fädel mir bitte den Zwirn ein, ich seh schon so schlecht.“ Franzl nahm Nadel und Faden und sagte dann verlegen:

„Ich hab das noch nie geschafft und werde es auch jetzt nicht können.“

„Du bist noch jung und gesund. Das kann für dich doch kein Problem sein.“

Aber es war eines.

Grete konnte nicht wissen, dass Franzl seit seiner Geburt an einem Sehfehler leidet. Franzl weiß es auch nicht. Denn für ihn ist es normal, dass das Blickfeld unter seiner horizontalen Augenachse gegenüber dem darüber befindlichen Blickfeld, um zirka 1,5 cm nach links verschoben ist. Damit haben alle senkrechten Linien genau an dem Punkt einen Knick, auf den seine Augen gerichtet sind. Der Linienteil oberhalb der Augenachse, steht um 1,5cm rechts, gegenüber dem Linienteil, der sich unter der Augenachse befindet.

„Siehst du Grete, ich hab dir gleich gesagt, ich werd´s nicht können.“

Franzl versuchte immer wieder vergebens den Faden, mit großer Geduld, in das Nadelöhr zu schieben. Grete traute ihren Augen nicht. Franzl hielt die Nadel ganz ruhig nach oben. Mit dem Faden, den er ebenfalls sehr ruhig führte, zielte er langsam am Nadelöhr vorbei. Grete konnte das nicht begreifen und sagte mit einer lachenden Stimme:

„Du bist ja viel zu weit links, du musst ...“

„Das hab ich schon 100mal gehört“, rief Franzl. Seine Stimme klang beinahe hysterisch.

„Aber Franzl“ wich Grete erschreckt zurück und sah ihn mit fragenden Augen an. So erregt hatte sie ihn noch nie gesehen.

Er aber blickte, mit bebenden Lippen, auf den Boden. Dann sprang er auf, packte sein Hemd und stürmte aus der Garderobe.

Grete rief ihm hinterher er möge doch zurückkommen, sie wolle versuchen den Faden auch ohne Brille einzufädeln. Doch Franzl hörte nicht mehr was ihm Grete nachrief. Er rannte so schnell er konnte aus dem Theater und nach Hause.

4

Franz Brunner ist in einem Waisenhaus in Wien aufgewachsen. Seit er denken konnte war es für ihn normal, dass er immer wieder beim Fassen von Gegenständen nicht richtig zupacken konnte, weil er eben ein kleines Stück danebengriff. Er lernte mit der Zeit damit umzugehen, aber hin und wieder passierte ihm doch noch ein kleines Missgeschick.

In der Kindheit wurde er deshalb sehr oft von seinen Freunden verspottet. Es überkam ihn dann immer ein Gefühl der Unsicherheit. Wütend auf sich und die Welt, zog er sich daraufhin zurück und wollte in dieser traurigen Stimmung allein sein. Auch als Erwachsener tat er es noch manchmal, wenn ihm so ein peinlicher Zwischenfall wie mit Grete passiert ist.

Der Direktor des Waisenhauses schätzte Franzl sehr, weil er ein artiger und sehr fleißiger Bub war. Egal welchen Auftrag man Franzl gab, er erledigte ihn sofort und verlässlich.

Eines Tages durften die Jugendlichen eine Vorstellung im Theater besuchen. Franzl war begeistert und seine Augen leuchteten beim Nachhauseweg. Dem Direktor fiel Franzls fröhliches Verhalten auf:

„Na Franzl, hat dir die Vorstellung gefallen?“

„Ja Herr Direktor. Das ganze Drumherum.“

„Was meinst du mit Drumherum?“

„Na die schönen Luster, der große Vorhang, die Sachen die auf der Bühne zu sehen waren. So große Säbel und bunte Uniformen.“

„Und das Stück hat dir nicht gefallen?“

„Ich weiß nicht. Mich haben die anderen Sachen auf der Bühne mehr interessiert, als das Spielen.“

„Würde es dir Freude machen, mit diesen Sachen zu arbeiten, Franzl?“

„Ja Herr Direktor. Das würd mir schon gefallen. Aber wie kommt man da hinein, in dieses große Theater. Ich kenne ja Niemanden.“

„Mein Schwager Kurt, hat Beziehungen in den Künstlerkreisen. Ich werde einmal mit ihm reden.“

Franzl konnte sich nicht so recht vorstellen, was er in dem Theater arbeiten sollte. Seine Gedanken kreisten ab nun immer um das Theater, bis er eines Tages als Gehilfe des Requisiteurs, im Volkstheater einen Arbeitsplatz bekommen hat.

Er hatte das Hemd, welches Grete flicken wollte, noch immer fest umklammert, als er seine kleine Kellerwohnung betrat. Verzweifelt und mit Tränen in den Augen setzte er sich seufzend auf einen Stuhl. So saß er nun, in sich zusammengekauert da und grübelte wieder einmal erfolglos nach. Woran scheitert er beim Einfädeln eines Zwirns? Obwohl er das Nadelöhr und den Zwirn ganz klar und deutlich gesehen hat. Wie so oft, wischte er diese Gedanken wieder weg und stellte sich zu seiner Staffelei. Der Requisiteur hatte sie ihm geborgt, weil sie im Theater zurzeit nicht gebraucht wurde.