WARUM UNS ESELSBRÜCKEN BEIM ERINNERN HELFEN

Wie viele populäre Bezeichnungen beruht auch die „Eselsbrücke“ auf einer falschen Annahme: Mitnichten (und erwiesenermaßen) sind Esel dumme Tiere und entsprechend als solche bezeichnete Menschen dumm; unter dem Lern- oder Intelligenzaspekt betrachtet müsste dieser Abschnitt eher „Huhnbrücke“ oder „Schafsbrücke“ überschrieben sein, da diese Tiere wohl eher diese „Auszeichnung“ verdienen. Der Grund für diese Ungereimtheit liegt wohl im jahrhundertelangen Widerwillen der Schulmeister, von ebenso drastischen wie schlichten und (nach heutigem Wissen unpädagogischen) Vorstellungen über das Lernen abzuweichen, denn ursprünglich bezeichnete das mittellateinische Bild des „pons asinorum“ (Brücke der Esel) mnemonische (gedächtnisstützende) Hilfsmittel der aristotelischen Logik (oder der Geometrie, wie auch gesagt wird). Das Bild vom „Esel auf einer Brücke“ könnte auch auf eine Schilderung Plinius’ des Älteren zurückgehen, der in seiner um 80 n. Chr. verfassten Naturgeschichte beschreibt, dass Esel nur schwer dazu zu bewegen sind, über Brücken zu gehen, wenn sie durch die Bodenbretter das Flusswasser sehen können. Dass infolgedessen die Esel störrisch waren – und sicherlich öfters aus gutem Grund –, hat dann möglicherweise als Beleg ihrer Dummheit gedient und die Brücke zu einem metaphorischen Hilfsmittel werden lassen.

Göttin der Erinnerung

Unstrittig bei der Eselsbrücke ist jedoch ihre mnemonische Funktion, benannt nach der Göttin der Erinnerung, Mnemosyne, bzw. nach ihrer Tochter, der Muse Mneme; Letztere ist eine der drei Musen (die beiden anderen sind Melete und Aoide), die es nach Plutarch gegeben hat. Meistens wird jedoch von neun Musen ausgegangen, und dabei beruft man sich auf Hesiod, den (neben Homer) zweiten großen griechischen Mythopoeten, der in seiner Entstehungsgeschichte der Welt (Theogonie, etwa 700 v. Chr.) die neun Musen als Töchter der Göttin Mnemosyne und des Zeus identifiziert; selbstverständlich gibt es eine Eselsbrücke für ihre neun Namen.

Wir Menschen vergessen …

Wir Menschen vergessen – und das ist gut so, denn nicht vergessen können wäre eine Qual. Es gibt allerdings Dinge, die wir vor dem Vergessen bewahren wollen, und dazu benötigen wir Gedächtnishilfen. Das Bedürfnis danach ist alt; schon in der Antike galt das Gedächtnis als Hort der Geschichte, als Teilhabe am Göttlichen und somit als Sitz der Weisheit, an die wir uns, so Plato, in unserer Erkenntnis nur erinnern. Als Vater der mnemonischen Techniken gilt der griechische Dichter Simonides (um 500 v. Chr.), der mithilfe der Verräumlichung zu außerordentlicher Gedächtnisleistung imstande war, und der römische Dichter Seneca (gestorben 65 n. Chr.) soll 2 000 Namen in der ihm vorgetragenen Reihenfolge wiederholt haben; auch Thomas von Aquin soll ein legendäres Gedächtnis besessen haben. Schon hier wird deutlich, dass geistige „Größe“ mit einem guten Gedächtnis in Verbindung zu stehen scheint. Ein gutes Gedächtnis ist immer ein gut trainiertes Gedächtnis, d. h., je häufiger Informationen verarbeitet werden (durch Aufnahme, Zuordnung, Speicherung, Abrufen/Erinnern), desto besser und effektiver werden diese Funktionen zur Verfügung stehen.

Die für die Behaltensleistung (Speicherung) des Gedächtnisses entscheidende Transformierung der Informationen findet zwischen dem Arbeitsgedächtnis – einer Art „Arbeitsspeicher“ (wie das RAM des PC), in dem eingehende Informationen verarbeitet, geordnet und codiert werden – und dem Langzeitgedächtnis statt, in dem der Informationszufluss gespeichert wird und durch (semantische) Vertiefung, Verfestigung bzw. Sicherung und durch Abruf/Erinnerung reproduziert werden kann; dabei unterscheidet man das deklarative/explizite Gedächtnis (wiederum unterschieden in episodisches und semantisches Gedächtnis), in dem ge- bzw. bewusste Inhalte (Wissen/Fakten, Ereignisse, Erlebnisse) gespeichert sind, vom prozeduralen/impliziten Gedächtnis, das Informationen über Fertigkeiten, Abläufe, Erwartungen und ihre (nicht bewussten) Aktivierungspfade (wie z. B. Aufmerksamkeitssteigerung beim Lesen dieser Zeilen) gespeichert hat. Die Transformierung der Informationen hängt überwiegend von drei Faktoren ab – Aufmerksamkeit, Bedeutsamkeit der Information, Kompatibilität der Information.

Diese Trennungen sind aber rein begrifflich – unser Gedächtnis ist ein Bereich des gesamten Systems „Gehirn“, und verschiedene andere Bereiche tragen zur Gedächtnisleistung durch ihre unterschiedlich codierten Inhalte bei – z. B. Formen, Farben, Bezeichnungen, Geräusche, Gefühle, Kontexte. Deshalb gilt: Je mehr Bereiche des Gehirns zu einer Erinnerung beitragen (durch „Assoziationen“), desto schneller und leichter wird diese abrufbar sein.

Gedächtnishilfe

Damit sind wir bei der Eselsbrücke, „aide-mémoire“, „memory aid“, mnemonische oder Gedächtnishilfe angekommen. Wie in dieser Sammlung zu sehen sein wird, existieren Eselsbrücken in unterschiedlichen Formen – als Reim (z. T. holprig), z. B.

„1949 – die Bundesrepublik, die rührt sich“; als Analogien oder Ähnlichkeiten, z. B. „Eine Geige hat der Fiedler“ (für E, G, H, D, F, die Noten auf den Linien des Notenblatts); als Akronym, z. B. Yuppie („young urban professional“, der/die junge in der Stadt lebende Berufstätige) oder Dinks („double income, no kids“, die kinderlosen Doppelverdiener); als Aufzählungen oder Reihen, z. B. „Mit, nach, bei, seit, von, zu, aus sind im dritten Fall zu Haus“ (eine Dativregel); als (mehr oder wenig witzig formulierte) Regeln, z. B. „Semmel biss der Kater“ (für Lateinisch semel, bis, ter, quater = ein-, zwei-, drei-, viermal).

Grundsätzlich sind Verständnis der Sache und Konzentration die besten Voraussetzungen gegen das Vergessen. Für alle Gedächtnishilfen gilt: Erlaubt ist, was nützt. Wer Namen schnell vergisst, kann diese mit Gesichtern verbinden oder die Namen verulken; Letzteres ist nicht ohne Risiko, denn manchmal, so fand Dr. S. Freud heraus, spielt unser Unterbewusstsein uns den Streich und „legt“ uns den (unbedingt zu vermeidenden) Ulknamen auf die Zunge, mit dem wir dann die Person anreden – eine peinliche Situation. Zahlen kann man sich besser merken, wenn man sie in Gruppen zusammenfasst oder sie visualisiert, d. h. mit einem Bild assoziert (z. B. 1 für Schornstein, 2 für Schwan, 3 für Dreirad usw.); für die Kreiszahl π (3,1415926535) allerdings gibt es einen Spruch, in dem die Buchstabenanzahl der Worte hilft: „Ist’s doch, ojerum, schwierig zu wissen, wofür sie steht.“

Die wohl bekanntesten Eselsbrücken beziehen sich auf Grammatik und Rechtschreibung. Da beide einstigen Grundfesten bürgerlicher Bildung unter dem Ansturm von E-Mails, Blogs und Facebook mit ihren je eigenen Diktionen ins Wanken geraten sind, muten uns diese Merksprüche heute etwas antiquiert an, wie Tafelkreide, Ärmelschoner, Pausenbrote und die „Pons“-Heftchen, mit denen man im Lateinunterricht so herrlich schummeln konnte.

Wissen und Sprache verändern sich sehr schnell. Instrumentelles Wissen erneuert sich in 15 Jahren komplett, der sprachliche Wandel kommt da nicht nach; umso wichtiger und schöner ist es, sich zu erinnern.