Originaltitel: Aliide, Aliide © Hezekiel Henshaw

All rights reserved

 

 

 

© der deutschen Ausgabe: 2015, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Lektorat: Sonja Menner

Cover: Jürgen Schütz

Grafiken amCover:

Kinder © fotolia.com – Sylwia Nowik, / Wal © fotolia.com – Dejan Jovanovic

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-44-6

 

Printausgabe: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-48-9

 

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Mare Kandre

(1962–2005) begann ihre schriftstellerische Karriere im Alter von 22 Jahren. Ihr erster Roman erschien 1984, danach folgten in dichter Abfolge zehn weitere Werke, die die Aufmerksamkeit der schwedischen Literaturkritiker weckten, die sie als großes literarisches Talent priesen. Sie wurde mit mehreren schwedischen Literaturpreisen ausgezeichnet und ist heute weder aus den Bibliotheken noch aus der Schulliteratur wegzudenken. Die Maßstäbe, die Mare Kandre setzte, prägen ihre schriftstellerischen Erben bist heute. 2014 erschien im Septime Verlag der Roman »Der Teufel und Gott«, 2016 folgte der Roman »Aliide, Aliide«. im Frühjahrsprogramm 2017 schien der Roman »Bübins Kind«.

 

Klappentext

Schweden zur Zeit der Mondlandung. Aus einer paradiesischen Existenz in Übersee ist die achtjährige Aliide widerwillig in ihre Heimat zurückgekehrt. Mit herrlich schrägem Blick erkundet sie die geheimnisvolle, schmutzige Stadt, die einsamen Grundstücke, den herbstlichen Park und das alte Museum. Am liebsten ist sie mit der bewunderten K unterwegs, dem »Richtigen Mädchen«, das artig und adrett und somit Aliides Gegenpol in jeglicher Beziehung ist. Doch nachdem Aliide auf einem ihrer abendlichen Streifzüge von einer seltsamen Frau ein paar Münzen annimmt, gerät ihr Leben aus den Fugen. Schon wenige Tage danach klopft es an die Tür des Klassenzimmers.

 

»Und als das passierte, wusste sie sofort, ohne den geringsten Zweifel, dass die Stunde geschlagen hatte, dass jetzt Schluss war, und dass das hier nur der Anfang des Fürchterlichen war, das jetzt auf sie zukam.«

 

Aliide gerät in einen Sog aus Angst und Zwängen, Selbsthass und Aggression, denn eine schreckliche Erinnerung erwacht.

Im Spannungsfeld zwischen Schrecken und Komik, Realismus und Schauerromantik erzählt Mare Kandre hellhörig von den Abgründen der behüteten Kindheit und legt die Psyche eines aus der Bahn geworfenen Kindes offen.

 

Aliide ist eine der großen einsamen Heldinnen der Literaturgeschichte.

 

»Kandres Porträt eines Kindes, das so hart darum kämpft, die eigene Verletzlichkeit aushalten zu können, dass es die der anderen nicht erträgt, ist eine meisterhafte Gestaltung eines ewigen menschlichen Dilemmas.« Eva Ström, Sydsvenska Dagbladet 


»Im Vergleich zur Hölle des Kindes ist die von Dante ein ganz netter Ort. Die erwachsenen Verlorenen wissen, warum sie sich dort befinden. Ein Kind weiß nicht, warum es in seiner Hölle gelandet ist, Mare Kandre hingegen schon. Sie hat darüber ein wunderbares Buch geschrieben.« Rita Tornborg, Sydsvenska Dagbladet

 

Mare Kandre

Aliide, Aliide

Roman | Septime Verlag

 

Aus dem Schwedischen von Isabelle Wagner

 

 

 

 

 

 

 

 

Nein, nein, nein und nochmals nein; dreifach, vierfach und zehnfach nein, musste Aliide jetzt feststellen, wenn sie früh morgens, nur im Nachthemd und mit vom Schlaf noch geschwollenem Gesicht, allein draußen auf dem Balkon stand, sich über das Geländer beugte und über die öde Passage hinausspähte, die sich zwischen den beiden neu errichteten, noch nicht ganz fertiggestellten Hochhausreihen nach unten erstreckte –

Nein, nein und noch einmal nein; dieses Land hier, diese Stadt hier, wie man das auch nennen wollte, dieser ehrlich gesagt gottverlassene Teil der Welt hatte ihr nicht viel zu bieten im Vergleich zu der paradiesischen Existenz, die sie gerade hinter sich gelassen hatte und aus der sie gegen ihren Willen vertrieben worden war, an die sie manchmal, wenn das Heimweh ihrer übermächtig wurde, noch mit Trauer im Herzen zurückdachte –

Dort war alles üppiger gewesen, unendlich viel reicher und großartiger. Nimm zum Beispiel die Jahreszeiten! Jede von ihnen musste, aufgrund der Weitläufigkeit des Landes, unheimlich lang und kräftig sein, damit alle Teile des Landes, auch die allerdunkelsten und hügeligsten, auch die allerabgelegensten und unzugänglichsten, alle kleinen Käffer und obskuren Orte mit langen, unaussprechlichen Namen, ihren Anteil an Schnee, Sonne, Regen und Licht erhielten.

Die Entfernungen waren dort unglaublich, unüberblickbar, und es war außerdem ein offenes Land, und frei, bis in die großen Wälder hinein war es vollkommen frei! Und die Städte lagen weit auseinander, waren flach, noch nicht richtig fertig, sie rochen nach Papier, Wald, Sulfit und Hafergrütze, und die Straßen waren vorläufig noch sehr lehmig und breit –

Das war ein Land, in dem man atmen konnte, in dem man sich bewegen konnte, wie man wollte, in dem man vollkommen wahrhaftig und ohne Angst sein konnte, in dem man Drachen steigen lassen konnte, in dem man in die Kiesgrube gehen konnte, THE GRAVEL PIT, wo die Weidenröschen im Überfluss auf den Kieshaufen wuchsen und man nach Bären suchen konnte, den entsetzlichen Grizzlies.

Dort gab es alles, was man sich wünschen konnte, und mehr dazu –

Sand und Schnee und Bäume aus Stein in großen Wäldern, die auf einmal, am Beginn der Zeiten, aus irgendeinem unerfindlichen Grund einfach aufgehört hatten zu wachsen. Und im Sommer heiße Abende, an denen die Grillen, die sich in der fettglänzenden Vegetation versteckten, in den Hecken und im Gras, so beharrlich und leise sangen, dass es klang, als säße eine wunderliche Frau allein in der Dunkelheit, mit einem steinbesetzten Umhang, und bohrte mit großer Geduld, lächelnd, Löcher in einen nassen kleinen Stein.

Dort gab es Berge, und in den Bergen gab es Höhlen, und in den Höhlen, ganz tief innen, wenn man den kleinen, verschlungenen unterirdischen Pfaden folgte, die bis ganz hinunter auf den Grund führten, wenn man dazu den Mut hatte, dann erreichte man schließlich die eigenartigen Tropfsteinformationen, die wie eine Menschengruppe, wie eine kleine verirrte Schar, wie eine Familie, ja, eine Familie, zwei kleine Kinder und zwei noch wehrlosere Erwachsene, dort standen und sich in einem eiskalten, feuchten Gang versteckten, vor der Welt verborgen, und die der Guide dann auch ganz brutal mit seiner furchtbaren Lampe anstrahlte, so dass sie damit, für einen kurzen Augenblick, in all ihrer Hilflosigkeit für einen sichtbar wurden, in der Tiefe des Berges.

Und eine ganz andere, viel reichere Sprache hatte es dort auch gegeben, Wörter, die sie schnell gelernt hatte und mit deren Hilfe es ihr ganz und gar geglückt war, die Vergangenheit aus ihrem Körper zu vertreiben, all die angstvollen Stimmungen, die sie früher beschwert hatten, aber die gleichzeitig unmöglich zu definieren oder zu beschreiben gewesen waren.

Wörter wie zum Beispiel –

CRISP.

Ein dünnes kleines Wort, das blitzschnell auf der Zunge wegschmolz, aber einen eindeutigen Minzgeschmack hinterließ, ein Wort, das eine dünne, dunkle, säuerliche Hülle besaß, aber innen ein bisschen kühl war, ein bisschen weiß.

Oder –

DANDELION.

Das einen, wenn man es aussprach, dennoch auf merkwürdige Weise nicht richtig verlassen wollte, sondern sich stattdessen wieder in den Körper zurückschraubte, hinaus in die Arme und Beine, wo es dann noch mehrere Tage nachklingen konnte.

Und andere Wörter, Wörter im Überfluss, total viele und komische, aber auch einfache Wörter. Und Wörter, die sich in einem entfalteten wie gewaltige, sehr detailreiche Bilder, die in sich selbst sowohl Klang als auch Tiefe, Schärfe und Duft besaßen.

Aber hier?

Ja, hier –

Was gab es dazu zu sagen? Die alte Sprache musste man also wieder in den Mund nehmen, und die war bei weitem nicht so durchlässig. Sie brach das Licht und die Gedanken nicht auf dieselbe Weise, so dass sich Farben und Lichtschein bildeten und einen erfüllten, stattdessen war jedes Wort matt und hart wie ein grauer gewöhnlicher Stein, und mit diesen Wörtern im Mund pflanzte sich die Schwere im restlichen Körper weiter fort, der sich deswegen wieder komisch anfühlte, schwer und plump.

Hier befand man sich nun ganz plötzlich in einer Stadt, die innen kalt und dreckig war, die eng war und aus lauter baufälligen, vorsintflutlichen alten Bruchbuden zu bestehen schien, aus dunklen Straßen und Plätzen, einsamen Grundstücken, Hausüberresten und dann natürlich auch den neu errichteten, noch ganz frischen Betonkomplexen, wo sie gerade eingezogen waren, diese verhasste Steinwüste, in der nichts wuchs. Und jetzt, wenn sie sich über das Balkongeländer lehnte und erst nach rechts sah, dann konnte sie auf dieser Seite, ganz hinten, die Kirche sehen, die mit ihren Zinnen und Türmen einen dringend notwendigen Kontrast zu dem sterilen Steinklotz hier darstellte.

Beugte sie sich dann noch weiter vor und drehte den Kopf und sah nach links, dann konnte sie am entgegengesetzten Ende, mit ein bisschen Glück, ein paar dichtbelaubte Baumkronen erkennen, Pflanzliches und Grünes. Denn auf dieser Seite lag der Park, und im Park waren die Teiche, drei an der Zahl, und dort gab es sumpfige Rasenflächen, ein Rhododendrongebüsch, verschlungene Fahrradwege und Pfade, und ein einsames altes Museum, das sich ganz oben auf einem nackten kleinen Berg befand.

Direkt unter den Bäumen, die sie jetzt gerade noch ausmachen konnte, lag auch das Altersheim –

Aus diesem Heim kam ab und zu ein kleiner alter Mann in einem elektrischen Rollstuhl angefahren, den er mit Hilfe eines kleinen Hebels bediente, der sich ganz vorne an der rechten Armstütze befand. Und mit diesem kleinen Alten hatte es etwas ganz Sonderbares auf sich, denn jedesmal, wenn man ihn sah, hatten sie aus irgendeinem Grund noch ein kleines Stück von seinem verdrehten alten Körper abgetrennt.

Als Aliide ihn zum ersten Mal sah, war er ganz intakt, nicht einmal ein Finger fehlte an ihm. Aber als er das nächste Mal auf der Bildfläche erschien, war der eine Fuß weg. Und dann ging das in raschem Tempo so weiter; ein Körperteil nach dem anderen verschwand, nach dem Fuß nahmen sie das Bein bis zum Knie ab, und kurz danach war das ganze rechte Bein fort. Dann verschwand plötzlich der linke Fuß, und bald hatte er überhaupt keine Beine mehr, und am Ende blieben nur der Rumpf, der Kopf und der rechte Arm und die Hand übrig, mit der er den Rollstuhl bediente. Aber er war trotz allem immer guter Laune, und seine Schirmmütze hatte er behalten dürfen!

Dann gab es hier auch, wenn sie weiterhin nach links schaute und sich dabei vorbeugte, eine Brücke, über die die Autos fuhren. Und auf der anderen Seite dieser Brücke lagen das Jiffy’s, der Kiosk und das Planschbecken. Dort befand sich auch ein Damenfriseur, und im Eingang neben dem Damenfriseur wohnte K.

Und in der Dunkelheit unter der Brücke stand eine gigantische Holzkiste, und in der waren all ihre Habseligkeiten vor nicht allzu langer Zeit mit dem Schiff über das Meer transportiert worden, hierher. Aber nun stand sie verlassen und leer, und es lag etwas so unbeschreiblich Beklemmendes über dieser großen, jetzt ganz leeren Umzugskiste, die Papa einst selbst zusammengebaut hatte, die aus frischem Holz gemacht war, aus langen, schmalen, rauen weißen Brettern, die von den Bäumen im alten Land stammten.

Und jedes Mal, wenn Aliide sie jetzt sah, jedes Mal, wenn sie zufällig in ihre Nähe kam, konnte sie nicht vermeiden festzustellen, wie grau und verdreckt diese mit der Zeit geworden war. Immer fleckiger, immer dunkler wurde sie, das einst so frische Holz war dabei, von Unkraut überwuchert zu werden, und irgendjemand hatte es auf der Außenseite mit unanständigen Symbolen und Wörtern vollgekritzelt, das einst so frische weiße Holz, und in der neuen Wohnung war nun all ihr Zeug in die verschiedenen Zimmer gestellt worden, die verhältnismäßig klein waren, aber trotzdem etwas Kühles und Verlassenes ausstrahlten.

 

 

 

 

 

 

Früh am Morgen konnte es vorkommen, dass der Wind aus den dunklen Gassen in der verfallenen, ein bisschen weiter unten gelegenen Siedlung ein paar Gerüche mitbrachte, und dass diese Gerüche – frischgebackenes Brot, Kaffee, Pisse – sich zwischen den neu errichteten, halbfertigen Betonhäusern zerstreuten, wo es ja vorläufig noch nach nichts anderem roch als nach Lehm, Sand, Kitt und Zement, wo noch eine ziemlich beklemmende todesähnliche und sterile Atmosphäre herrschte.

Keine Pflanzen, die diesen Namen verdient hätten, waren bisher gesetzt worden oder hatten in den Beeten Wurzel geschlagen, so dass jedes kleine Geräusch, der winzigste Kinderschrei, Seufzer oder tastende Schritt, ganz leicht vom Wind mitgetragen und in der Stille bis zur Unkenntlichkeit vergrößert wurde.

Es war natürlich ein schockartiges Erlebnis, morgens diese intensiven, beinahe übersinnlich starken Gerüche hier einzuatmen, in dieser ansonsten so kargen Umgebung, und außerdem; so unmittelbar nach dem Aufwachen, wenn die Innenseite des Körpers nach dem tiefen Schlaf noch irgendwie wund und zerfressen und hochempfindlich war, und das fleischige, fette Futter der Lungen und die Schleimhäute in Nase, Mund und Rachen doppelt so schnell und heftig auf den allerkleinsten Reiz reagierten.

Die Schule, die Aliide jetzt besuchte, war nicht weit entfernt und bestand zum einen aus einem dunklen, verwahrlosten, labyrinthischen Hauptgebäude aus dreckigem rotem Backstein und zum anderen aus einer flacheren, unscheinbareren, aber ebenso verwahrlosten Turnhalle, die direkt daneben lag. Diese beiden Gebäude waren von einem asphaltierten Hof umgeben, der an einer Seite auf einen steilen Abhang hinausging, an dem einst ein niedriges, inzwischen rostzerfressenes Eisengeländer angebracht worden war. Die Schule und der ganze Hof lagen im Schatten der Kirche, die so nah gelegen war, dass man ganz deutlich den Gesichtsausdruck der Figuren an den Fenstern erkennen konnte, wenn die Sonne schien.

Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte man sich um dieses Eisengeländer, das am Rande des Abhangs verlief, nie gekümmert. Es stand immer noch, aber es war inzwischen so schlimm von Rost und Zerfall und allerhand komischen Verätzungen in Mitleidenschaft gezogen, dass es an manchen Stellen zart und dünn geworden war wie ein Stückchen schwarze Spitze. Wenn eines der Kinder es auch nur gestreift oder angehaucht hätte, wäre es ohne Zweifel zerbröselt, hätte sich in sauren schwarzen Staub verwandelt, der dann vom Wind davongeweht worden und auf die Hausdächer niedergerieselt wäre.

Von dem Schulhof, der sehr hoch gelegen war, hatte man Aussicht über die Hausdächer, große Teile der Stadt und die Höfe, die engen, dunklen, sehr tiefen Gassen. Man hatte freie Sicht bis hinunter zum Hafen, wo die Kräne und Schiffe in einen Nebel gehüllt waren, dessen Dichte und Ausbreitung und Zusammensetzung von der Witterung abhängig war, davon, ob die Sonne zu sehen war oder nicht. Manchmal konzentrierte sich der Nebel nur auf das graue, eingeschlafene alte Wasser im Hafen, aber bei feuchter Witterung oder wenn Regen fiel, stieg er auf und breitete sich aus und durchdrang schließlich die ganze Stadt.

Unter überhaupt gar keinen Umständen durfte eines der Kinder auch nur in der Nähe dieses verwitterten, spitzenzarten Geländers stehen, beispielsweise in den Beeten unter den windschiefen kleinen Bäumen, die dort wuchsen.

Trotzdem mussten etliche von ihnen jede Pause von irgendeiner übereifrigen Lehrerin davongejagt werden, und die Androhung von Klassenbucheinträgen und Nachsitzen hatte überhaupt keine abschreckende Wirkung, unerbittlich, wie verhext, zog es sie zu dem Abgrund und dem verwitterten Geländer, wo sie mucksmäuschenstill unter den kahlen Ästen der windschiefen Bäume standen und hinunter in die Höfe und auf die Menschen starrten, die kamen und gingen, die sich dort bewegten.

Aber ansonsten machten die Kinder hier nicht viel Aufhebens von sich. Sie waren von einer verhältnismäßig scheuen, stillen Art, und im Winter liefen sie alle in kleinen, lustigen gestrickten Zipfelmützen herum, die nach Zigarettenrauch und Spinat rochen. Sie trugen alle abgelegte, geerbte Kleider und hatten einen ziemlich schrecklichen, unterernährten, ein wenig ausgehungerten Gesichtsausdruck und viel zu glänzende Augen, die sich aus ihren Höhlen pressten, wenn sie einen ansahen, so dass sich ihre sowieso schon sehr straffe Gesichtshaut bis zum Äußersten spannte, was die Blässe ihrer Wangen noch verstärkte.

Einige von ihnen waren genau wie Aliide selbst gerade in eines der neu errichteten Betonhäuser oben am Park eingezogen, aber die meisten von ihnen wohnten doch immer noch in der Gegend um den Hafen herum, in dem verfallenen, ganz dem Untergang geweihten Viertel, von dem große Teile bald voll und ganz dem Erdboden gleichgemacht sein würden, eine Erinnerung bloß, wo schon einzelne Häuser fehlten und die einsamen Grundstücke schon begonnen hatten sich auszubreiten −

Zu den Schülern in der Klasse, die Aliide gleich von Anfang an besonders heftig auf die Nerven gingen, gehörte dieser D, dessen Zähne so stark verfault waren, dass sie aussahen, als wären sie wie Zucker in seinem Mund geschmolzen. Alles, was jetzt noch davon übrig war, war ein widerwärtig stinkender Satz farinbrauner Stummel, und wenn man ihm zu nahe kam, während er sprach, strömte ein unbeschreiblich übler Geruch aus ihm heraus und man war gezwungen, sofort wegzuschauen und so diskret wie möglich mindestens drei Schritte zur Seite zu gehen oder sich die Hand vor die Nase zu halten.

Sobald diesem D eine Frage gestellt wurde, tat er immer so, als könne er sie beantworten, habe aber zufällig gerade die Antwort vergessen, und das, obwohl es in der Klasse allgemein bekannt war, dass er nie irgendetwas wusste, nie. Und der Grund, warum er Aliide so extrem nervte, war genau das, dass er das Antworten zu einem richtigen kleinen, unerträglich in die Länge gezogenen Ritual ausgebaut hatte, das so aussah, dass er eine geraume Zeit dasaß und auf seinem Stuhl schaukelte, an die Decke sah, die Stirn in tiefe Falten legte, grübelte und vor sich hin murmelte, bis die Lehrerin die Geduld verlor und die Frage weitergab. Und wenn D die Antwort zu hören bekam, leuchtete sein Gesicht jedes Mal auf, er warf sich über die Bank, schlug mit der Faust darauf und schrie −

NA KLAR! DAS WUSSTE ICH DOCH!

Und machte dazu eine lächerliche, etwas wichtigtuerische, eingebildete Grimasse. Und genau das ging Aliide wie gesagt immer auf die Nerven.

Um nicht von dem niedlichen Engelchen Terese zu sprechen, das immer in kleinen putzigen Tweedröckchen und passenden karierten Pullundern herumlief, zu denen es immer dieselben frisch gebügelten, blendend weißen Blusen trug –

Dicke Goldanhänger beschwerten Ts Ohren, die sich – rosa, schimmernd und innen noch feucht – scheinbar direkt aus ihrem Kopf herausgewickelt hatten.

Ganz komisches dichtes, pechschwarzes Haar hatte sie außerdem. Dieses Haar war kurz, und die Locken waren unbeweglich um ihren Kopf herum angeordnet, saßen fest um die Stirn, um die blassen Wangen, nicht eine Haarsträhne lag jemals falsch. Denn jede Locke war groß, fest, fett und perfekt gemeißelt, wie bei einer Statue, und sehr glänzend, unerhört glänzend, fast ein bisschen klebrig, als wäre sie in Schleim gehüllt oder direkt aus einer großen Tube herausgedrückt worden. Und manchmal, wenn T über ihre Bücher gebeugt saß, in einer Kaskade aus Licht, das durch die Fenster hereinfiel, wurden die dicken Locken in Aliides Fantasie zu einer Handvoll schwarzer Schnecken oder Egel, die wie toll an dem harten kleinen Kopf saugten, was in diesem Fall die Erklärung für Ts außergewöhnliche Blässe und ihren faden, anämischen Charakter sein konnte.

Sobald T auf eine Aufgabe stieß, mit der sie nicht klarkam, was oft, eigentlich fast immer, der Fall war, brach sie hemmungslos in Tränen aus, um auf diese denkbar einfältigste Art und Weise die Aufmerksamkeit und das Mitgefühl der Lehrerin und aller anderen auf sich zu ziehen. Das war so unerträglich billig und schlecht gemacht, dass Aliide es nicht aushielt, das mitanzusehen, sondern sich so fest es nur ging auf die Lippe beißen und aus dem Fenster schauen musste, um nicht kaputtzugehen.

Das Gesicht in den Händen vergraben, saß T auf ihrem Platz und heulte und schniefte und schluchzte, während die Lehrerin danebenstand und hilflos, zum hunderttausendsten Mal in Folge, ihre Schulter berührte und fragte, was mit ihr los sei. Und das reizte Aliide fast bis zum Wahnsinn, denn sie fand, dass T genauso gut wie alle anderen ihre Verzweiflung für sich behalten konnte, damit es den anderen erspart bliebe, einen Menschen mitten unter ihnen so zusammenbrechen zu sehen. Denn auch wenn es sich nur um das widerliche schauspielernde Engelchen Terese handelte, so war es dennoch widerwärtig, sich so etwas anschauen zu müssen.

Dann gab es natürlich andere, die nicht ganz so nervig oder solche gewieften Schleimer waren, beispielsweise diesen R −

Ein kleiner, schmächtiger, hellhäutiger Junge, dessen Gesicht von einer Menge oberflächlich liegender, blassblauer Adern durchzogen war, so als sei er noch nicht ganz fertig entwickelt, als hätte das Fleisch bei ihm noch nicht richtig fest werden können. Und in seinem linken Auge, in der Falte des Unterlids, wenn er die mit dem Finger nach unten zog, saß ein gräuliches Gerstenkorn, und in den Pausen lief er herum und zeigte es allen, die es sehen und sich gruseln wollten.

Und Suna −

Ein ganz kleines, stilles Mädchen mit einem Haarklecks so schwarz, dicht und schwer wie Teer. Und einer Art, die von großer Folgsamkeit, Sanftmut, großer Demut geprägt war, Eigenschaften, die nun nie aufhörten, Aliide heimlich zu faszinieren, wahrscheinlich genau deswegen, weil sie bei ihr selbst nicht besonders ausgeprägt waren. Gerade weil sie selbst nicht im Stande war, in ihren Sachen auf der Bank länger als zwei, höchstens drei Tage am Stück Ordnung zu halten, wenn überhaupt, und man von ihr auch nicht sagen konnte, dass sie besonders demütig oder sanft gewesen wäre. Und deswegen beneidete sie Suna eben um ihre Neigung −

Denn Sunas Bücher waren alle in das einfachste, glanzloseste, billigste Papier eingeschlagen, das es zu kaufen gab, und obwohl schon zwei Monate des ersten Halbjahres herum waren, waren die Umschläge an den Kanten kein bisschen abgenutzt. Auf den Seiten war nicht die geringste Spur von Fettflecken, Spritzern oder Schmierereien zu sehen, denn Suna nahm sie so vorsichtig und behutsam in die Hand, als seien sie ihr teuerster Besitz, und jede Seite blätterte sie äußerst langsam und sachte um und hielt dabei den Atem an, so als habe sie Angst, dass der Text und all die Bilder ansonsten zerbröseln und von der Seite geblasen würden wie eine eingetrocknete alte Ablagerung.

Und mit allem ging Suna so vorsichtig und zärtlich um.

Ob es jetzt bloß um den Bankdeckel ging, den Stuhl, die Schultasche, das Radiergummi, alles nahm sie in die Hand als sei es aus Gold, und Suna roch außerdem so eigenartig schmutzig und geheimnisvoll, eine Spur muffig und ranzig, aus dem Innern ihres Körpers heraus, wie ein kleines, warmes, vielleicht nicht vernachlässigtes, aber doch schmutziges Tier ungefähr. Und trotzdem, irgendwo ganz tief innen in alledem, ganz kristallklar und unfassbar sauber.

Ja, so als gäbe es trotz allem EINEN einzigen sauberen kleinen Teil an ihr, ein Organ, das einen so klaren, kristallartigen Duft absonderte, dass dieser ganz allein in der Lage war, all die dunkleren, dumpferen Gerüche, die ihren Körper umgaben, zu durchdringen.

In letzter Zeit saß Aliide oft da und betrachtete Suna heimlich. Und wenn sie an ihr vorbeiging, saugte Aliide diese sonderbaren Gerüche in sich auf und hielt den Atem an, ließ ihren Körper die Gerüche zerlegen, um besser verstehen zu können, wie sie eigentlich zusammengesetzt waren und worin diese Reinheit eigentlich bestand, um deren Geheimnis auf die Spur zu kommen, ohne dadurch jedoch letztlich so schrecklich viel klüger zu werden.

Suna behauptete außerdem sehr bestimmt, sie habe früher einmal, als ganz kleines Kind, in einem ganz anderen Land gelebt. In einem Bergdorf, wo sie ihre eigene kleine Ziege gehabt hatte, die sie jeden Morgen gemolken hatte. Aber es gab natürlich keinen Einzigen in der Klasse, der ihr das wirklich abnahm, denn sie wussten ja alle, dass man so – in Bergdörfern mit Ziegen, die man jeden Morgen molk – nur im neunzehnten Jahrhundert gelebt hatte, vor unendlich langer Zeit, so dass das, was sie erzählte, unmöglich stimmen konnte.

Aber sie hatten trotzdem Nachsicht mit ihr, und als sie einmal aus irgendeinem unbekannten Grund mehrere Tage am Stück nicht in der Schule gewesen war, fast eine ganze Woche lang nicht, erklärten Aliide und ein Mädchen namens L sich bereit, zu ihr nach Hause zu gehen und ihr die Hausaufgaben zu bringen, die sich während ihrer Abwesenheit angehäuft hatten.

Und obwohl es auf jede nur denkbare Art furchterregend und gruselig war, freute sich Aliide trotzdem darauf, auf dem feuchten, dunklen inneren Grund der Stadt herumlaufen zu dürfen, durch Straßen, die sie bis dahin nur ganz flüchtig vom Schulhof aus wahrgenommen hatte. Wo die Stadt ja am allerältesten sein musste, und wo, wenn man tief genug hineingekommen war, wahrscheinlich noch das allerälteste Haus stand. Das Haus, das ganz am Anfang gebaut worden war, mit dem alles begonnen hatte, das Haus, um das sich die Siedlung dann langsam, mit den Jahren, verdichtet, zusammengeballt hatte, so dass die Stadt in die Höhe und in die Breite gewachsen war wie ein gewaltiger, schmutziger, riechender, von Echos widerhallender Kristall, bis sie sich beinahe fertig ausgebildet über dem eingeschlafenen alten Wasser aufgetürmt hatte, qualmend, verraucht, im Begriff von ihren eigenen Ausdünstungen, Giften und Gasen zersetzt zu werden.

Um dorthin zu kommen, mussten L und Aliide erst die lange hölzerne Wendeltreppe hinter der Turnhalle hinuntergehen, so dass sie in den kleinen Park an Gittes Haus gelangten, unter die drei großen, staubigen, halbtoten Bäume, die ihre Schatten auf einen unbenutzten alten Sandkasten warfen −

Dort angekommen, ließen sie sich nicht eine einzige Sekunde lang aufhalten, sondern bogen sofort in die erstbeste dunkle Straße ein, denn sie spürten beide, dass, wenn sie jetzt auch nur das kleinste bisschen zögerten, aus ihrem Vorhaben überhaupt nie etwas werden würde. Dann würde stattdessen die Furcht überhandnehmen.

Und Aliide hatte einen kleinen Zettel mit Sunas Adresse und Nachnamen erhalten, den sie in ihre Tasche gesteckt hatte, während L ihrerseits eine Plastiktüte trug, die Sunas gesamte Bücher enthielt.

Die Straße, die sie entlanggingen, war plötzlich zerfressen und uneben. Das Licht verschwand. Die Hausfassaden verdunkelten die Sonne. Und in der Mitte, wo die Autos schwer mit ihrem Gewicht auf der Straße lasteten, war der Asphalt kurz davor aufzuplatzen, dort war er abgenutzt, an einigen Stellen klafften große, weit offene Löcher, in denen man die richtige feuchte, pechschwarze Erde sehen konnte. Und an den Bürgersteigen vorbei verliefen solche komischen schwarzen Streifen, die entstanden waren, als ein schwarzer, stinkender Saft, wie Blut von den Häusern, aus der seit Urzeiten versiegelten Erde gequollen war.

Und hier gingen sie nun, und sie glaubten richtig zu spüren, wie die ganze Straße irgendwie knirschte und knackte und sich unter ihren Füßen hob und senkte wie eine alte morsche Brücke.

Und die Hausfassaden, jetzt, wo sie Gelegenheit hatten, sich die einmal richtig anzuschauen, sahen tatsächlich auch aus, als sei irgendwann einmal ein Feuer über sie hinweggezogen und habe dicke Schichten von Ruß zurückgelassen, besonders um die Fensterrahmen und Türen herum.

Und hier! hier!

An genau dieser Stelle der Straße spürten sie, wie ungeheuer schwer die Stadt auf ihnen lastete, von allen Seiten. Denn sie trug ja tatsächlich, in jedem kleinen, versteckten Winkel, in jeder Ecke, MINDESTENS DREI MAL IHR EIGENES GEWICHT IN MENSCHENLEBEN, DIE UM JEDEN PREIS, SO VERGEUDET UND KÜMMERLICH SIE EINEM AUSSENSTEHENDEN AUCH ERSCHEINEN MOCHTEN, DENNOCH UNBEDINGT VOLLSTÄNDIG AUSGELEBT WERDEN MUSSTEN, GELEBT, GANZ UND GAR UND IN ALL IHREM SCHMERZ, GERADEWEGS BIS ZUM BITTEREN ENDE, MIT GROSSER LEIDENSCHAFT UND INTENSITÄT, SOGAR MIT ALL DEM ZERSTÖRERISCHEN, MIT DEM, WAS WEHTAT!

Und beide sahen sie vor ihrem inneren Auge, wie die Menschen hier eines Tages zu zahlreich sein würden, und das Leben, dass sie lebten, so unerlöst, dass ein einziges weiteres kleines Leben, das hinzukäme – etwas so vollkommen Unbedeutendes wie das traurige Leben eines einzigen kleinen Kindes, und ein einziges Wort der Wahrheit aus diesem von Angst versiegelten Kindermund – ausreichen würde, um die ganze Stadt in die Tiefe zu ziehen.

Ja, dreckig und qualmend würde sie plötzlich vom Land abbrechen und in die Tiefe stürzen, mit ihrem gesamten Inhalt aus Erwachsenen und Kindern, Tieren und Straßen, Vögeln in Käfigen, Lampen, Bildern, merkwürdigen Kästchen aus Muscheln, den drei Teichen im Park und schließlich dem Park selbst. Und mit einem ohrenbetäubenden Getöse, glühend und zischend, würde alles von den Wassermassen verschluckt und wäre für ewig fort! Es würde auf den Meeresgrund sinken, wo die Häuser noch eine Weile aus ihren Zimmern heraus leuchten würden, bis Wasser hineingesickert wäre und auch diese Lichter ausgelöscht hätte.

Und wenn sie daran dachten – ein Gedanke so groß und kompliziert wie ein ganzer Traum – wurden ihr Blicke gläsern und starr, ihr Gang steif, und es fühlte sich plötzlich so an, als ob das jeden Moment passieren könne, jede Sekunde –

So gelangten sie weiter und weiter in die Stadt hinein, immer tiefer, und um sie herum wurde es nach und nach sehr still: der Verkehr wurde spärlicher, so dass sie sich zum Schluss beide umdrehen und einen ängstlichen Blick in das Licht hinaus werfen mussten, das sie gerade hinter sich gelassen hatten, im Park, unter den Bäumen, wie um sich zu versichern, dass es ja da draußen noch eine Welt außer dieser gab, in die sie zurückkehren konnten.

Und es herrschte eine so verdichtete, sonderbare und furchterregende Atmosphäre, wo sie sich jetzt befanden. Auf dem Grund der Stadt nämlich, am allertiefsten unten, in ihren verfallenden Teilen, wo sie in jeder Hinsicht am schlimmsten und ältesten war, und wo nur die eigenartigsten, verlorensten, am meisten ausgestoßenen Existenzen jetzt ihr Zuhause hatten.

Zum Beispiel die Trunkenbolde. Oder die ausgemergelten, windhundartigen jungen Männer, die entweder ganz außen an den Straßenecken standen und vor sich hinstarrten oder zusammengesunken an den Hauswänden lagen, auf eine komische Weise betäubt, als ob sie schmölzen.

Um nicht von all den ausgemergelten, komisch angezogenen Frauen zu sprechen, die mit wackligem Gang in hochhackigen Schuhen die Straße entlangstolperten und dabei nach der Hauswand tasteten, die sich doch direkt neben ihnen befand, so als sei sie, eigentlich, gar nicht da, und Obszönitäten und unanständige Wörter vor sich hin stammelten.

Während sie gingen, hielten Aliide und L die Augen jetzt starr nach vorne gerichtet, denn um sie herum war die Stadt plötzlich wie ein Abgrund, bodenlos, labyrinthisch, mit ihren schmalen, verschlungenen Straßen und Gassen. Und mit diesen Hinterhöfen, die alle eng und dunkel waren wie schlecht beleuchtete unterirdische Schächte oder ganz tiefe, trockengelegte Brunnen. Und wenn sie zur Seite schielten, wurde ihnen ganz schwindlig, und sie sahen hier und da, in einem der Höfe, ein oder zwei Frauen, die entweder nur lässig dastanden und rauchten oder sich gegenseitig dabei halfen, einen kleinen Flurteppich auszupeitschen, den sie wie ein totes kleines Tier, einen Biber, über einen grotesk großen Metallständer gehängt hatten, aber das war auch alles –

Sie gingen dicht nebeneinander. Sie bewegten sich, zur Sicherheit, mit ganz knappen, kleinen spiegelbildlichen Bewegungen, L und Aliide, Aliide und L, die ein spindeldürres, kleines, blasses Ding war, mit strähnigem Haar, das ihr über die Ohren hing und leicht auf ihren Schultern aufkam, so als sei jede Strähne aus reinem Blei –

Ja, ein blasses kleines Mädchen, und hohläugig, als seien die riesigen Augen zu schwer für dieses Gesicht und versänken deswegen darin, so dass die Haut um sie herum einen Stich ins Blaugraue bekam. Ein Mädchen, dessen schneller kleiner Schatten nie richtig an irgendetwas hängenblieb, weil er nicht trocken genug war, sondern bloß blitzschnell über alle Wände und Gegenstände sauste, an denen sie vorbeikamen.

Sie wagten natürlich nicht, einen einzigen Menschen nach dem Weg zu Sunas Haus zu fragen. Was zur Folge hatte, dass sie völlig unnötig eine ganze Weile panisch umherirrten, bevor sie sich endlich vor Sunas Haustür befanden, Nummer 7, dem Eingang zu einem Haus, das von außen so dunkel, übel zugerichtet und düster aussah, dass es sehr gut dieses allererste, älteste, ursprüngliche Haus da in der Mitte der Stadt hätte gewesen sein können.

Ein ganz feiner, kleiner Regen hatte zu fallen begonnen und puderte nun ihre Gesichter –

Diese waren infolge der schnellen Druckveränderung schon ein kleines bisschen angeschwollen, und die feuchtigkeitssatte Luft öffnete ihre Augen nun weit für das Elend, das es um sie herum zu sehen gab.

Aus den Gärten hörten sie Kinderschreie, Rufe und Lachen in einer für Aliide und L vollkommen unverständlichen Sprache, die sie zuerst einmal erschreckte. Aber weil sie sich ja jetzt nicht gut umdrehen und wieder zurückgehen konnten, und weil sie die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen wollten, stiefelten sie ganz einfach direkt in den Eingang hinein und weiter hinaus in den Hof, wo es in dem dichten Regen von merkwürdigen kleinen versilberten Lichtreflexen flimmerte, ihnen aber trotzdem ziemlich dunkel vorkam –

Ein paar kleine Mädchen und ein bedeutend älterer Junge, alle mit gleichermaßen dunklen, versteinerten Gesichtern, spielten irgendein undurchschaubares Spiel neben den überfüllten Mülltonnen und einer Reihe Plumpsklos, die aussahen, als wären sie immer noch in Gebrauch.

Weder Aliide noch L kamen dazu, zu begreifen, worum es bei dem Spiel eigentlich ging, denn kaum waren sie hinzugetreten, hörten die Kinder auf zu spielen und wandten ihnen stattdessen ihre Gesichter zu, bohrten ihre Blicke so fest in Aliide und L, dass diese nicht einen einzigen weiteren Schritt machen konnten, weil die Kinder sie mit ihren Augen zurückhielten –

Und trotz des relativ großen Abstands und der dichter werdenden Regenfetzen hatte Aliide sofort bemerkt, dass der Junge eine eklige, ganz frische Wunde an der Oberlippe hatte, weit offen und säfzend, so als hätte er vielleicht im Schlaf, ohne es zu ahnen, ein großes Insekt auf seinem Gesicht sitzen gehabt, auf seinem Mund: ein ekliges Insekt, das gefressen und gefressen und ein großes Stück von seiner Lippe verschlungen hatte!

Es war schrecklich, daran zu denken, das anzuschauen, und Aliide schauderte, ein Schauder so tief, dass ihr dabei ein komischer saurer Geschmack in den Mund drängte. Und trotzdem konnte sie ihren Blick nicht von der Wunde losreißen, und je mehr sie starrte, desto heftigere Grimassen schnitt der Junge, und nun ballte er sogar die Fäuste, als täte es weh, wenn man die Wunde auch nur ansah, und am Ende sah er so gereizt und böse aus, dass er kurz davor schien, sich auf sie zu stürzen. L zupfte Aliide leicht an der Schulter, um sie zu wecken, und sie hielten es beide für gut, sich davonzumachen, sie schritten dicht nebeneinander langsam über den Hof, die kalten Blicke des Jungen und der Mädchen weiterhin im Rücken.

Der Regen fiel inzwischen dichter, härter, ohne dass es ihnen eigentlich aufgefallen war, und in dem engen kleinen Hof wurde es damit plötzlich auf einen Schlag dunkel und kalt –

L öffnete auf gut Glück die erstbeste morsche kleine Holztür im Haus gegenüber. Sie stiegen in ein dunkles Treppenhaus und begannen sofort, die Stufen hinaufzuklettern. Und auf jedem Stockwerk gingen sie von Tür zu Tür, blieben an jeder einen Moment stehen und verglichen den Namen auf dem Zettel, den Aliide in der Hand hielt, mit den Namen auf den Papierschnipseln, die mit Klebstreifen über den Briefschlitzen befestigt waren –

Aus jeder Wohnung kamen erstickte Rufe und Lachen; Frauen, die schrien; weinende Kinder; komische Geräusche; und hier und da ein paar Tropfen wunderlich verschlungener Musik, wie sie sie noch nie zuvor gehört hatten. Wenn sie stehenblieben und richtig zuhörten, wurden sie in sich selbst hineingesaugt, lösten sich beinahe auf, wussten plötzlich nicht mehr, wer sie waren, warum sie hier waren und zu wem sie wollten, und um dem Ganzen ein Ende zu machen, beeilten sie sich, Sunas Wohnung zu finden, rannten von Tür zu Tür und schüttelten hier und da den Kopf.

Die Wände im Treppenhaus waren in einem pistaziengrünen Farbton gestrichen.

Diese Farbe war ein bisschen körnig, wie verdorbene alte Kuchenglasur, und hatte vor langer Zeit begonnen abzublättern. Große Stücke fielen nun mit dem Luftzug auf sie herunter, wenn sie nur vorbeigingen, und es zeigte sich, dass die Wand unter der äußeren Farbschicht nackt, schwarz und angegriffen war.

Dann, endlich, ganz oben im Haus, standen sie vor Sunas Tür –

Auf einen kleinen weißen Zettel über dem Briefschlitz war mit feinsäuberlichen Buchstaben der Nachname geschrieben, in einer Schrift, die sie beide sofort als die Sunas wiedererkannten. Aus der Wohnung kam ein seltsames trockenes, raspelndes Geräusch, das sie nicht richtig einordnen konnten.

Sie klopften an, vorsichtig; ein Mal, zwei Mal, aber erst nach dem dritten Mal rief dort drin jemand etwas, ein Mann. Also öffneten sie die Tür und ihr Blick fiel in einen langen Flur, einen Korridor, erhellt von einer einzigen nackten Glühbirne, die an einem schwarzen Kabel von der Decke hing. Am hinteren Ende des Korridors stand ein dunkelhäutiger Mann über eine ausgehängte weiße Holztür gebeugt, an der er wie wahnsinnig herumhobelte –

Um seine großen nackten Füße herum war alles voll mit gelbweißen Spänen, die sich, wenn sie zu Boden fielen, erst langsam wanden wie sterbende kleine Larven, aber dann still liegenblieben.

Im Zimmer hinter ihm – dunkel, bis auf ein schwaches, schummriges Licht, das durch Fenster hereindrang, die sie noch nicht sehen konnten – entdeckten sie Suna selbst. Sie stand mit dem Rücken zur Wand, die Hände auf dem Rücken, und hatte, in dem Moment, in dem sie die Tür aufgemacht hatten, aufgesehen und ihnen einen schnellen, instinktiv erschrockenen Blick zugeworfen, der ihre ansonsten ziemlich schlaffen, weichen Gesichtszüge gestrafft hatte. Aber jetzt, einen Moment später, hatte sie den Blick wieder gesenkt und sah vor sich auf den Boden, so als schäme sie sich, als habe sie etwas Furchtbares getan und verbüße nun ihre Strafe. Aliide und L fanden das Ganze – Sunas Blick und das Zimmer; alles miteinander – höchst verwirrend, beunruhigend, kamen jedoch plötzlich auf andere Gedanken, als der Mann bei ihrem Anblick sofort den Hobel auf den Boden legte, die Tür an die Wand lehnte und lächelnd auf sie zukam –

Sie erschraken fast und wichen vor seinem Eifer zurück.

Das hier war ja nicht das, was sie erwartet hatten, absolut gar nicht; sie hatten sich bloß vorgestellt, Suna die Tüte mit den Büchern zu geben und dann so schnell wie möglich davonzulaufen. Aber jetzt, wo dieser Mann sie auf so überschwängliche Weise in Empfang nahm und dazu noch auf sie einredete, dunkel, aber froh, in einer rätselhaften, gutturalen Sprache und mit einem großen, breiten, beinahe erdrückenden Lächeln, wagten sie absolut nicht zu protestieren, aus Angst, er könne plötzlich einen Anfall bekommen, rasend werden, außer sich, ja, weiß Gott wozu er in der Lage wäre, wenn sie sich ihm widersetzten!

Und deswegen folgten sie ihm artig den Korridor entlang und in das Zimmer hinein, das ziemlich groß war, als sie es jetzt betraten, aber fast leer, auf eine Art klein und auf eine Art kahl, so gut wie unmöbliert, und da stand also Suna immer noch unbeweglich mitten unter ihnen, mit dem Rücken zur Wand und gesenktem Blick –

Der Mann sprach jetzt laut, unaufhörlich, und wies mit einer Hand auf zwei hohe, schmutzige Fenster auf der linken Schmalseite des Raumes. Und als Aliide und L nachschauten, stand dort, in der Dunkelheit zwischen den beiden Fenstern, ein zersessenes altes Sofa, und auf dem Sofa saß eine beleibte, vollständig unbewegliche, buddhaähnliche Frau, deren gesamtes Haar von einem stramm gebundenen, spiegelblanken roten Kopftuch bedeckt war. Und sie war umringt von, ja, fast zur Hälfte begraben unter einem Haufen rotznasiger, wimmernder Kleinkinder unterschiedlichen Alters, die alle an ihren Kleidern zerrten und sich an ihrem kräftigen Körper festhielten, so als ob sie befürchteten, sie könne jeden Augenblick in die Luft aufsteigen, und deswegen so gut es ging versuchten, sie mit ihrem Gewicht unten zu halten –

Das aufgequollene, glänzende Gesicht der Frau konnte man im Dunkeln zunächst kaum erkennen. Aber als Aliide und L sich nach einigen Minuten an das Dämmerlicht im Raum gewöhnt hatten, nahm es rasch immer schärfere Konturen an und war zuletzt in der Dunkelheit zwischen den Fenstern deutlich zu erkennen – bleich, geschwollen und müde lächelnd – wie eine glänzende, leere, an der Wand aufgehängte Metallmaske. Und Suna stand die ganze Zeit alleine da, schweigend, mitten unter ihnen, also hatte sie sich vielleicht wirklich irgendetwas Fürchterliches zu Schulden kommen lassen und musste dafür jetzt bestraft werden –

Hier standen sie nun auf alle Fälle, und das einzige Licht, das es in dem Zimmer gab, waren die vereinzelten Lichtstäubchen, die aus dem erhellten Flur hereingefallen waren, der Berg aus Sägespänen, der ein mattes Leuchten von sich gab, und ein kühles, bläuliches Schimmern, das trotz der dicken Schmutzschicht auf den Scheiben und des draußen dichter werdenden Regens durch die Fenster hereingedrungen war und nun die Gestalt der Frau umgab, ihr fettes, lächelndes Antlitz, wie eisblaue Tröpfchen, so als habe jemand auf die sie umgebende Dunkelheit gehaucht und diese so befeuchtet –

Aliide und L sahen sich vorsichtig um −

Und was sie da sahen war, dass die Ecken des Zimmers ganz dunkel waren, so als habe jemand in sie hineingepinkelt, und dass außerdem etwas Dunkles, stechend Riechendes begonnen hatte, aus den Wohnungen nebenan und darunter hereinzusickern, und dass die Tapete an einigen Stellen, zum Beispiel direkt unter der Decke, Blasen bekommen und sich zu lösen begonnen hatte, weil etwas unter sie gedrungen war und den Kleister zersetzt hatte. All das gab ihnen das Gefühl, dass dieses ganze Zimmer in der Tat auf eigenartige Weise dabei war, sich aufzulösen, in sich zusammenzusinken, dass es dabei war, sich um die Familie zu schließen –

Der Mann trieb sie vor sich her in die Küche, und da war es trocken und relativ sauber, aber in einer Ecke neben dem Gasherd lag ein Haufen Schmutzwäsche, der so hoch war, dass er bis an die Decke reichte.

Als sie dann wieder hinaus in das Zimmer traten, wurde es eigenartig still –

Sie hatten jetzt wohl alles gesehen, was es zu sehen gab. Da war zwar außerdem noch eine weiße, kleine, morsche Holztür auf der rechten Schmalseite, aber die zu öffnen machte Sunas Papa keine Anstalten. Und jetzt hörte man nicht mehr viel mehr als vereinzelte Rufe und Gemurmel und Gestöhne aus den Wohnungen unter ihnen, und der Regen, der auf die Fensterscheiben prasselte, machte die Atmosphäre im Raum mit jeder Sekunde dichter und fiebriger; das ganze Haus knarrte und knackte wie ein großes Schiff, das sich losgerissen hat und nun weit draußen im Meer umhertreibt, im Sturm, kurz davor, auseinanderzubrechen, kurz davor, mit Mann und Maus unterzugehen, und mit all diesen Kindern, und all den Frauen! Und aus der Tiefe des Hauses stieg ab und zu wieder diese wunderliche Musik, die sie auf dem Weg nach oben gehört hatten, die nichts anderem glich und einen von innen her auflöste, wenn man zuließ, dass sie einen in Besitz nahm –

Der Mann und die Frau lächelten immer noch genauso gewichtig, genauso unbeirrt, und hatten die ganze Zeit ihre Aufmerksamkeit nur auf Aliide und L gerichtet. Aber die kleinen Kinder auf dem Sofa hatten, aus irgendeinem Grund, als ahnten sie etwas, plötzlich den Körper der Frau losgelassen und waren stattdessen auf die Sofaecken geklettert. Mucksmäuschenstill, mit offenen Mündern, sabbernd, mit großen, ganz reglosen pechschwarzen Augen betrachteten sie Aliide und L, denen dadurch noch unheimlicher zumute wurde. Jetzt wollten sie wirklich nur noch verschwinden, sich so schnell wie möglich davonmachen, abhauen! aber sie konnten sich nicht vom Fleck rühren, und plötzlich – schläfrig, wie in Trance, wie in einem Traum, wie in einem letzten verzweifelten Versuch, diese beiden fremden Kinder hierzubehalten – hob die dicke Frau ihren Arm und warf einen kleinen Schnuller in Sunas Richtung. Blitzschnell, ohne eine Miene zu verziehen, beugte sich Suna zur Seite und vermied es so, getroffen zu werden. Der Schnuller knallte hinter ihr an die Wand, flog in hohem Bogen durch den Raum und landete schließlich direkt vor den nackten Füßen des Mannes –

Danach wurde es für einen Moment merkwürdig still. Dann bückte sich der Mann, hob mit breitem Lächeln den Schnuller auf und warf ihn nach Suna, die es dieses Mal für richtig hielt wegzulaufen, und dann ging das mehrere Minuten lang, eine ganze Ewigkeit, so weiter –

Die Mama und der Papa warfen abwechselnd mit Gegenständen nach Suna, die mit gesenktem Blick und einem seltsam verschlossenen, beinahe würdevollen Gesichtsausdruck im Zimmer herumlief, immer im Kreis herum, ohne entkommen zu können, während die beiden Erwachsenen von Zeit zu Zeit ein einschmeichelndes Lachen von sich gaben und das Ganze als kleinen Scherz, als Spiel, zu betrachten schienen; eine kleine Aufführung zu Ehren des Besuchs.

Ab und zu warfen sie denn auch kleine zufriedene Blicke in Richtung Aliide und L, die, ohne zu wagen sich auch nur zu rühren, neben der ausgehängten Tür standen und wie verhext diesem beklemmenden Spektakel zusahen –

Erst nach einer geraumen Weile, als die Eltern und sogar die Kleinen ihre Anwesenheit ganz vergessen zu haben schienen, wagte L es, sich zu bücken und vorsichtig die Plastiktüte auf dem Boden abzulegen.

Dann schlichen sie sich rückwärts hinaus in den Flur, öffneten die Wohnungstür und rannten davon, hinaus aus diesem allerältesten, allerverfallensten Haus, von dem sie jetzt fürchteten, dass es jede Sekunde über ihnen zusammenbrechen würde, denn als sie angerannt kamen, rauschte die vertrocknete, verdorbene Malerfarbe in großen Fetzen von den Wänden.

Und als sie hinaus in den Hof kamen, war der zum Glück ganz leer, die feindselig starrenden Kinder, der fette kleine Junge mit der säfzenden Wunde an der Oberlippe, alle waren sie verschwunden, und der Regen hatte glücklicherweise nachgelassen.

Und so überließen sie, beide zutiefst beklommen, diese armen kleinen Menschen ihrem Schicksal –

Die arme, rennende Suna, die stillen Kleinen auf dem Sofa und die beiden lachenden Eltern, allesamt Gefangene ganz oben in einem verfallenen Haus, in einem ärmlichen kleinen Zimmer voll sonderbarer zitternder, blaugrauer Schatten, die der Regen verursachte, als er in immer reißenderen Strömen über die schmutzigen Fensterscheiben rauschte.

 

 

 

 

 

 

Aber K, mit der Aliide im Moment am meisten spielte, obwohl sie noch nicht einmal in dieselbe Schule gingen und obwohl K ein ganzes Jahr älter war, die war vielleicht ein Richtiges Mädchen!

Ein Richtiges Mädchen. Mit allem, was dazugehörte. Und das ergab sich bei ihr auch noch ganz von selbst! Das war absolut nicht, wie in Aliides Fall, etwas Erzwungenes, Gekünsteltes, Lächerliches, etwas, das zu ihrer wahren Natur im Widerspruch stand oder das Ergebnis von massenweise blödsinnigen Vorsätzen oder fixen Ideen war, die plötzlich von ihr Besitz ergreifen konnten, so dass sie an manchen Tagen auf den Gedanken kam, sie müsse sich von jetzt an und für alle Zeiten so benehmen und so aussehen wie ein Richtiges Mädchen, ohne dass ihr das jemals gelang –

Die Leichtigkeit hingegen, mit der sich K in ihre Rolle hineinfand, weckte in letzter Zeit, obwohl sie eigentlich alles mädchenhafte Benehmen völlig bemitleidenswert fand, Aliides Neid –