Das Buch

Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer sind beste Freunde – von dem Tag an, als der kleine Jim in einem Paket auf der winzigen Insel Lummerland landet. Gemeinsam mit der Lokomotive Emma erleben sie die spannendsten Abenteuer mit Scheinriesen, Halbdrachen und vielen anderen außergewöhnlichen Wesen.

Weltweiter Bestseller – übersetzt in 25 Sprachen, über 5 Millionen verkaufte Bücher!

Der Autor

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© Caio Garrubba

Michael Ende (1929-1995) hat in einer nüchternen, seelenlosen Zeit die fast verloren gegangenen Reiche des Phantastischen und der Träume zurückgewonnen. Er zählt heute zu den bekanntesten deutschen Schriftstellern und war gleichzeitig einer der vielseitigsten Autoren. Neben Kinder- und Jugendbüchern schrieb er poetische Bilderbuchtexte und Bücher für Erwachsene, Theaterstücke und Gedichte. Viele seiner Bücher wurden verfilmt oder für Funk und Fernsehen bearbeitet. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche deutsche und internationale Preise. Seine Bücher wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt und haben eine Gesamtauflage von über 35 Millionen Exemplaren erreicht.

Mehr über Michael Ende: www.michaelende.de

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Viel Spaß beim Lesen!

Titelseite

ERSTES KAPITEL

in dem die Geschichte anfängt

Das Land, in dem Lukas der Lokomotivführer lebte, hieß Lummerland und war nur sehr klein.

Es war sogar ganz außerordentlich klein im Vergleich zu anderen Ländern wie zum Beispiel Deutschland oder Afrika oder China. Es war ungefähr doppelt so groß wie unsere Wohnung und bestand zum größten Teil aus einem Berg mit zwei Gipfeln, einem hohen und einem, der etwas niedriger war.

Um den Berg herum schlängelten sich verschiedene Wege mit kleinen Brücken und Durchfahrten. Außerdem gab es auch noch ein kurvenreiches Eisenbahngleis. Es lief durch fünf Tunnels, die kreuz und quer durch den Berg und seine beiden Gipfel führten.

Häuser gab es natürlich auch im Lummerland, und zwar ein ganz gewöhnliches und ein anderes mit einem Kaufladen drin. Dazu kam noch eine kleine Bahnstation, die am Fuße des Berges lag. Dort wohnte Lukas der Lokomotivführer. Und oben auf dem Berg zwischen den beiden Gipfeln stand ein Schloss.

Man sieht also, das Land war ziemlich voll. Es passte nicht mehr viel hinein.

Wichtig ist vielleicht noch, dass man sich sehr vorsehen musste die Landesgrenzen nicht zu überschreiten, weil man dann sofort nasse Füße bekam. Das Land war nämlich eine Insel.

Diese Insel lag mitten im weiten, endlosen Ozean und die großen und kleinen Wellen rauschten Tag und Nacht an den Landesgrenzen. Manchmal allerdings war das Meer auch still und glatt, sodass nachts der Mond und tags die Sonne sich darin spiegelten. Das war jedes Mal besonders schön und feierlich und Lukas der Lokomotivführer setzte sich dann immer an den Strand und freute sich. Warum die Insel übrigens Lummerland hieß und nicht irgendwie anders, wusste kein Mensch. Aber sicherlich wird das eines Tages erforscht werden.

Hier also lebte Lukas der Lokomotivführer mit seiner Lokomotive. Die Lokomotive hieß Emma und war eine sehr gute, wenn auch vielleicht etwas altmodische Tender-Lokomotive*. Vor allem war sie ein bisschen dick.

Jetzt könnte natürlich leicht jemand fragen: Wozu ist denn in einem so kleinen Land eine Lokomotive notwendig?

Nun, ein Lokomotivführer braucht eben eine Lokomotive, denn was sollte er sonst führen? Vielleicht einen Fahrstuhl? Aber dann wäre er ein Fahrstuhlführer. Und ein richtiger Lokomotivführer will Lokomotivführer sein und sonst gar nichts. Außerdem gab es auf Lummerland auch gar keinen Fahrstuhl.

Lukas der Lokomotivführer war ein kleiner, etwas rundlicher Mann, der sich nicht im Geringsten darum kümmerte, ob jemand eine Lokomotive notwendig fand oder nicht. Er trug eine Schirmmütze und einen Arbeitsanzug. Seine Augen waren so blau wie der Himmel über Lummerland bei Schönwetter. Aber sein Gesicht und seine Hände waren fast ganz schwarz von Öl und Ruß. Und obwohl er sich jeden Tag mit einer besonderen Lokomotivführerseife wusch, ging der Ruß doch nicht mehr ab. Er war ganz tief in die Haut eingedrungen, weil Lukas sich eben seit vielen Jahren jeden Tag bei seiner Arbeit wieder schwarz machen musste. Wenn er lachte – und das tat er oft –, sah man in seinem Mund prächtige weiße Zähne blitzen, mit denen er jede Nuss aufknacken konnte. Außerdem trug er im linken Ohrläppchen einen kleinen goldenen Ring und rauchte aus einer dicken Stummelpfeife.

Obwohl Lukas nicht besonders groß war, verfügte er doch über erstaunliche Körperkräfte. Zum Beispiel konnte er eine Eisenstange zu einer Schleife binden, wenn er wollte. Aber niemand wusste genau wie stark er war, weil er Ruhe und Frieden liebte und seine Kraft nie hatte beweisen müssen.

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Nebenbei war er übrigens auch noch ein Künstler. Und zwar im Spucken. Er zielte so genau, dass er ein brennendes Streichholz auf dreieinhalb Meter Entfernung auslöschte. Aber das war noch nicht alles. Er konnte noch etwas, und das machte ihm auf der ganzen Welt so leicht keiner nach: Er konnte nämlich einen Looping spucken.

Jeden Tag fuhr Lukas viele Male über das geschlängelte Gleis durch die fünf Tunnels von einem Ende der Insel zum anderen und wieder zurück, ohne dass sich jemals etwas Nennenswertes ereignete. Emma schnaufte und pfiff vor Vergnügen. Und manchmal pfiff auch Lukas ein Liedchen vor sich hin und dann pfiffen sie zweistimmig, was sich sehr lustig anhörte. Besonders in den Tunnels, weil es da so schön hallte.

Außer Lukas und Emma gab es auf Lummerland noch ein paar Leute. Da war zum Beispiel der König, der über das Land regierte und in dem Schloss zwischen den beiden Gipfeln wohnte. Er hieß Alfons der Viertel-vor-Zwölfte, weil er um Viertel vor zwölf geboren worden war. Er war ein ziemlich guter Herrscher. Jedenfalls konnte niemand etwas Nachteiliges von ihm sagen, weil man eigentlich überhaupt nichts von ihm sagen konnte. Meistens saß er mit seiner Krone auf dem Kopf in einem Schlafrock aus rotem Samt und mit schottisch karierten Pantoffeln an den Füßen in seinem Schloss und telefonierte. Zu diesem Zweck hatte er ein großes, goldenes Telefon.

König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte hatte zwei Untertanen – wenn man einmal von Lukas absieht, der eigentlich kein Untertan war, sondern Lokomotivführer.

Der eine Untertan war ein Mann namens Herr Ärmel. Herr Ärmel ging meistens mit einem steifen Hut auf dem Kopf und einem zusammengeklappten Regenschirm unter dem Arm spazieren. Er wohnte in dem ganz gewöhnlichen Haus und hatte keinen bestimmten Beruf. Er ging nur spazieren und war eben da. Er war hauptsächlich Untertan und wurde regiert. Manchmal klappte er den Schirm auch auf, meistens wenn es regnete. Mehr ist von Herrn Ärmel nicht zu erzählen.

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Der andere Untertan war eine Frau, und zwar eine ganz besonders nette. Sie war rund und dick, wenn auch nicht ganz so dick wie Emma, die Lokomotive. Sie hatte rote Apfelbäckchen und hieß Frau Waas, mit zwei a. Wahrscheinlich war einer ihrer Vorfahren mal schwerhörig gewesen und da hatten ihn die Leute einfach so genannt, wie er immer gefragt hatte, wenn er etwas nicht verstand. Und dabei war es dann geblieben.

Frau Waas wohnte in dem Haus mit dem Kaufladen, wo man alles besorgen konnte, was man so braucht: Kaugummi, Zeitungen, Schuhbänder, Milch, Schuheinlagen, Butter, Spinat, Laubsägen, Zucker, Salz, Taschenlampenbatterien, Bleistiftspitzer, Portemonnaies in Form von kleinen Lederhosen, Liebesperlen, Reiseandenken, Alleskleber – kurz: alles.

Reiseandenken wurden allerdings fast nie gekauft, weil keine Reisenden nach Lummerland kamen. Nur Herr Ärmel kaufte hin und wieder eines, mehr aus Gefälligkeit und weil es so billig war, nicht weil er es wirklich brauchte. Außerdem schwatzte er gern ein bisschen mit Frau Waas.

Ach, übrigens, um es nicht zu vergessen: Den König konnte man nur an Feiertagen sehen, weil er die meiste Zeit regieren musste. Aber an Feiertagen trat er genau um Viertel vor zwölf ans Fenster und winkte freundlich mit der Hand. Dann jubelten seine Untertanen und warfen ihre Hüte in die Luft und Lukas ließ Emma fröhlich pfeifen. Nachher gab es für alle Vanilleeis und an besonders hohen Feiertagen Erdbeereis. Das Eis bestellte der König bei Frau Waas, die eine Meisterin im Eismachen war.

Es war ein friedliches Leben auf Lummerland, bis eines Tages – ja, und damit beginnt nun unsere eigentliche Geschichte.

* »Tender-Lokomotive« bedeutet, dass der Kohlentender nicht extra angehängt werden musste, sondern von vornherein fest angebaut war und gleich dazugehörte.

ZWEITES KAPITEL

in dem ein geheimnisvolles Paket ankommt

Eines schönen Tages legte das Postschiff am Strand von Lummerland an und der Briefträger sprang mit einem großen Paket unter dem Arm an Land.

»Wohnt hier eine gewisse Frau Malzaan oder so ähnlich?«, fragte er und machte ein ganz dienstliches Gesicht, was er sonst nie tat, wenn er die Post brachte.

Lukas schaute Emma an, Emma schaute die beiden Untertanen an, die beiden Untertanen schauten einander an und sogar der König schaute zum Fenster heraus, obwohl es weder ein Feiertag noch Viertel vor zwölf war.

»Lieber Herr Briefträger«, sagte der König ein wenig vorwurfsvoll, »seit Jahren bringen Sie uns nun die Post. Sie kennen mich und meine Untertanen genau und da fragen Sie plötzlich, ob hier eine Frau Malzaan oder so ähnlich wohnt!«

»Aber bitte, Majestät«, antwortete der Briefträger, »lesen Sie doch selbst, Majestät!«

Und er stieg schnell den Berg hinauf und reichte dem König das Paket durchs Fenster hinein.

Folgende Adresse stand auf dem Paket:

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Der König las die Adresse, dann zog er seine Brille hervor und las die Adresse zum zweiten Mal. Da sich aber dadurch nichts änderte, schüttelte er ratlos den Kopf und sprach zu seinen Untertanen: »Fürwahr, es ist mir einfach unerklärlich, aber hier steht es schwarz auf weiß.«

»Was denn?«, fragte Lukas.

Der König, der ganz verwirrt war, setzte von neuem seine Brille auf und sagte:

»Also hört, meine Untertanen, wie die Adresse lautet!«

Und er las sie vor, so gut es eben ging.

»Eine kuriose Adresse!«, meinte Herr Ärmel, als der König fertig gelesen hatte.

»Ja«, rief der Briefträger entrüstet, »man kann sie kaum entziffern, so viele Fehler sind darin. So etwas ist äußerst unangenehm für uns Postboten. Wenn man bloß wüsste, wer das geschrieben hat!«

Der König drehte das Paket um und suchte nach dem Absender.

»Hier steht nur eine große 13«, sagte er und blickte ratlos den Briefträger und seine Untertanen an.

»Sehr sonderbar!«, ließ sich wieder Herr Ärmel vernehmen.

»Nun denn«, sagte der König entschlossen, »sonderbar oder nicht, XUmmrLanT kann doch nur Lummerland heißen! Es bleibt uns also nichts anderes übrig, jemand von uns muss Frau Malzaan oder so ähnlich sein.«

Und befriedigt nahm er seine Brille wieder ab und tupfte sich mit seinem seidenen Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn.

»Ja, aber«, rief Frau Waas, »es gibt doch auf unserer ganzen Insel keine dritte Etage.«

»Das ist allerdings richtig«, sagte der König.

»Und eine alte Straße haben wir auch nicht«, meinte Herr Ärmel.

»Auch das ist leider richtig«, seufzte der König bekümmert.

»Und eine Nummer 133 haben wir schon gar nicht«, fügte Lukas hinzu und schob seine Schirmmütze ins Genick. »Ich müsste das doch wissen, denn schließlich komme ich ja ziemlich viel auf der Insel herum.«

»Eigenartig!«, murmelte der König und schüttelte versonnen den Kopf. Und alle Untertanen schüttelten die Köpfe und murmelten: »Eigenartig!«

»Es könnte ja auch einfach ein Irrtum sein«, meinte Lukas nach einer Weile. Aber der König antwortete:

»Vielleicht ist es ein Irrtum, vielleicht ist es aber auch kein Irrtum. Wenn es kein Irrtum ist, dann habe ich ja noch einen Untertanen! Einen Untertanen, von dem ich gar nichts weiß! Das ist sehr, sehr aufregend!«

Und er lief an sein Telefon und telefonierte vor Aufregung drei Stunden lang ohne Unterbrechung.

Inzwischen beschlossen die Untertanen und der Briefträger, die ganze Insel mit Lukas zusammen noch einmal gründlich abzusuchen. Sie stiegen auf die Lokomotive Emma und fuhren los und bei jeder Haltestelle pfiff Emma laut, die Passagiere stiegen ab und riefen nach allen Richtungen:

»Frau Maaaaaalzaaaaan! Hier ist ein Pakeeeeet für Sie!«

Aber niemand meldete sich.

»Na gut«, sagte der Briefträger endlich, »ich habe jetzt keine Zeit mehr weiterzusuchen, weil ich noch mehr Post austragen muss. Ich lasse Ihnen das Paket einfach mal da. Vielleicht finden Sie Frau Malzaan oder so ähnlich doch noch. Ich komme dann nächste Woche wieder vorbei und wenn sich niemand gemeldet hat, nehme ich das Paket wieder mit.«

Damit sprang er auf sein Postschiff und fuhr davon.

Was sollte nun mit dem Paket geschehen?

Die Untertanen und Lukas berieten lange hin und her. Dann erschien der König wieder am Fenster und sagte, er habe inzwischen nachgedacht und telefoniert und sei zu folgendem Entschluss gelangt: Frau Malzaan oder so ähnlich sei ohne Zweifel eine Frau. Die einzige Frau auf Lummerland aber sei, soweit ihm bekannt wäre, Frau Waas. Also wäre das Paket vielleicht für sie. Jedenfalls gäbe er ihr hiermit die königliche Erlaubnis das Paket zu öffnen, dann würde man ja wohl bald klarer sehen.

Die Untertanen fanden diese Anordnung des Königs weise und Frau Waas ging sofort ans Aufmachen.

Sie knüpfte die Schnur auf und faltete das Packpapier auseinander. Da wurde eine große Schachtel sichtbar, die rundherum Luftlöcher hatte wie eine Maikäferschachtel. Frau Waas öffnete die Schachtel und fand darin eine etwas kleinere Schachtel. Die war ebenfalls mit Luftlöchern versehen und gut gepolstert mit Stroh und Holzwolle. Offenbar war etwas Zerbrechliches darin, vielleicht Glas oder ein Radio. Aber wozu dann die Luftlöcher? Schnell hob Frau Waas den Deckel auf und fand darin – wieder eine Schachtel mit Luftlöchern, die war ungefähr so groß wie ein Schuhkarton. Frau Waas öffnete sie und da lag in der Schachtel – ein kleines schwarzes Baby! Es schaute alle Umstehenden mit großen glänzenden Augen an und schien ziemlich froh zu sein, dass es aus dem ungemütlichen Karton herauskam.

»Ein Baby!«, riefen alle überrascht. »Ein schwarzes Baby!«

»Das dürfte vermutlich ein kleiner Neger sein«, bemerkte Herr Ärmel und machte ein sehr gescheites Gesicht.

»Fürwahr«, sprach der König und setzte seine Brille auf, »das ist erstaunlich, sehr erstaunlich!«

Und er nahm seine Brille wieder ab.

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Lukas hatte bis jetzt noch nichts gesagt, aber seine Miene hatte sich zusehends verdüstert.

»So eine Gemeinheit ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen!«, polterte er nun los. »So ein kleines Kerlchen in einen Karton zu packen! Was da alles hätte passieren können, wenn wir nicht aufgemacht hätten! Na, wenn ich den Burschen, der das gemacht hat, jemals erwische, der bekommt von mir eine Tracht Prügel, an die er sich sein Lebtag erinnern wird, so wahr ich Lukas der Lokomotivführer bin!«

Als das Baby hörte wie Lukas vor sich hin grollte, begann es zu weinen. Es war ja noch viel zu klein, um irgendetwas zu verstehen, und glaubte, es würde ausgeschimpft. Außerdem war es auch erschrocken vor dem großen schwarzen Gesicht von Lukas, denn es wusste ja noch nicht, dass es selber auch ein schwarzes Gesicht hatte.

Frau Waas nahm das Kind schnell auf den Arm und tröstete es. Und Lukas stand dabei und machte ein ganz bekümmertes Gesicht, weil er doch das Baby gar nicht hatte erschrecken wollen.

Frau Waas war unbeschreiblich glücklich, denn sie hatte sich schon immer ein Kind gewünscht, für das sie abends kleine Jacken und Hosen nähen konnte. Sie schneiderte nämlich für ihr Leben gern. Und dass das Baby schwarz war, fand sie ganz besonders nett, weil das zu rosa Stoff so hübsch aussah und Rosa war ihre Lieblingsfarbe.

»Wie soll es denn heißen?«, fragte der König plötzlich. »Das Kind muss doch einen Namen haben.«

Das war richtig, also begannen alle angestrengt zu überlegen. Endlich sagte Lukas:

»Ich würde es Jim nennen, denn es wird ein Junge werden.«

Dann wandte er sich zu dem Baby und sagte mit einer ganz vorsichtigen Stimme, um es nicht wieder zu erschrecken:

»Na, Jim, wollen wir Freunde sein?«

Da streckte das Baby seine kleine schwarze Hand mit den rosa Handballen nach ihm aus und Lukas ergriff sie behutsam mit seiner großen schwarzen Hand und sagte:

»Hallo, Jim!«

Und Jim lachte.

Von diesem Tag an waren sie Freunde.

Eine Woche später kam der Briefträger wieder. Frau Waas ging zum Ufer und rief ihm schon von weitem zu, er solle ruhig weiterfahren und gar nicht erst an Land kommen. Es sei alles in bester Ordnung. Das Paket sei für sie gewesen. Der Name auf der Adresse wäre nur so unleserlich geschrieben gewesen.

Während sie das sagte, klopfte ihr das Herz bis zum Hals, weil es ja geschwindelt war. Aber sie hatte so große Angst, dass der Briefträger ihr das Kind wieder wegnehmen würde. Und sie wollte Jim auf keinen Fall mehr hergeben, so gern hatte sie ihn jetzt schon.

Der Postbote rief aber nur: »Na, dann ist ja alles gut. Guten Morgen, Frau Waas!«, und fuhr wieder davon.

Frau Waas atmete auf, lief schnell in ihr Haus mit dem Kaufladen und tanzte mit Jim auf dem Arm in der Stube herum. Aber auf einmal musste sie daran denken, dass Jim in Wirklichkeit eben doch nicht ihr gehörte und sie vielleicht etwas ziemlich Schlimmes angestellt hatte. Und dieser Gedanke machte sie sehr traurig.

Auch später, als Jim schon größer war, kam es zuweilen vor, dass Frau Waas plötzlich ernst wurde, die Hände in den Schoß legte und Jim kummervoll ansah. Dann ging ihr durch den Kopf, wer wohl die wirkliche Mutter von Jim sein mochte …

»Ich werde ihm wohl bald einmal die Wahrheit sagen müssen«, seufzte sie, wenn sie dem König oder Herrn Ärmel oder Lukas ihr Herz ausschüttete. Dann nickten die anderen meistens ernst und fanden auch, dass sie es tun sollte. Aber Frau Waas schob es immer wieder hinaus.

Freilich ahnte sie da noch nicht, dass der Tag nicht mehr fern war, an dem Jim alles erfahren würde, allerdings nicht von Frau Waas, sondern auf eine ganz andere und sehr seltsame Art.

Nun hatte Lummerland also einen König, einen Lokomotivführer, eine Lokomotive und zweieinviertel Untertanen, denn Jim war natürlich vorläufig viel zu klein, um schon als ganzer Untertan gerechnet zu werden.

Aber im Lauf der Jahre wuchs er heran und wurde ein richtiger Junge, der Streiche machte, Herrn Ärmel ärgerte und sich nicht besonders gerne waschen mochte – eben wie alle kleinen Buben. Das Waschen fand er besonders überflüssig, weil er ja sowieso schwarz war und man gar nicht sehen konnte, ob sein Hals sauber war oder nicht. Aber Frau Waas ließ das nicht gelten und Jim sah es schließlich auch ein.

Frau Waas war sehr stolz auf ihn, obgleich sie sich beständig wegen irgendetwas Sorgen um ihn machte – eben wie alle Mütter. Sie machte sich auch dann Sorgen, wenn eigentlich gar kein Grund dazu da war. Oder nur ein ganz kleiner Grund, wie zum Beispiel der, dass Jim die Zahnpasta lieber aufaß, statt sich damit die Zähne zu putzen. Er fand nämlich, dass sie gut schmeckte.

Andererseits macht Jim sich natürlich auch oft sehr nützlich. Zum Beispiel bediente er im Kaufladen, wenn der König oder Lukas oder Herr Ärmel etwas kaufen wollten und Frau Waas gerade keine Zeit hatte.

Jims bester Freund war und blieb Lukas der Lokomotivführer. Sie verstanden sich ohne viele Worte, schon allein deshalb, weil Lukas ja ebenfalls fast ganz schwarz war. Oft fuhr Jim auf der Emma mit und Lukas zeigte und erklärte ihm alles. Manchmal durfte Jim unter Lukas’ Aufsicht sogar schon ein Stück weit selbst fahren.

Jims größter Wunsch war es nämlich, später auch Lokomotivführer zu werden, weil dieser Beruf so gut zu seiner Haut passte. Aber dazu brauchte er erst einmal eine eigene Lokomotive. Und Lokomotiven sind bekanntlich ziemlich schwer zu bekommen, besonders in Lummerland.

So, jetzt wissen wir eigentlich alles Wichtige über Jim und es bleibt nur noch zu erzählen, wie er zu seinem Nachnamen kam. Das war so:

Jim hatte immer ein Loch in seiner Hose und ausgerechnet immer an genau der gleichen Stelle. Frau Waas hatte es schon hundertmal geflickt, aber es war jedes Mal nach ein paar Stunden wieder da. Dabei gab Jim sich wirklich die allergrößte Mühe vorsichtig zu sein. Aber wenn er nur rasch einmal auf einen Baum klettern musste oder von dem hohen Gipfel herunterrutschte – ratsch –, schon war das Loch wieder da.

Schließlich fand Frau Waas die Lösung, indem sie einfach die Ränder des Loches einsäumte und einen großen Knopf zum Zuknöpfen drannähte. Jetzt konnte man das Loch, statt es zu reißen, einfach aufknöpfen, dann war es da. Und statt es zu flicken, brauchte man es nur wieder zuzuknöpfen. Von diesem Tag an wurde Jim von allen Leuten auf der Insel nur noch Jim Knopf genannt.

DRITTES KAPITEL

in dem beinahe ein trauriger Entschluss gefasst wird, mit dem Jim nicht einverstanden ist

Die Jahre vergingen und Jim Knopf war nun schon fast ein halber Untertan. In einem anderen Land hätte er sicher bereits auf einer Schulbank sitzen müssen, um lesen, schreiben und rechnen zu lernen, aber in Lummerland gab es keine Schule. Und weil es keine Schule gab, fiel es einfach niemandem ein, dass der Junge alt genug war, um lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Jim selbst machte sich natürlich darüber keine Gedanken und lebte fröhlich in den Tag hinein.

Jeden Monat einmal wurde er von Frau Waas gemessen. Er musste sich barfuß an den Türpfosten der kleinen Küche stellen und Frau Waas kontrollierte mit einem Buch, das sie ihm auf den Kopf legte, wie viel er wieder gewachsen war. Dann machte sie einen Bleistiftstrich an den Türpfosten und jedes Mal war der Strich ein kleines Stückchen höher.

Frau Waas freute sich sehr über Jims Größerwerden. Aber jemand andrer machte sich schwere Sorgen darüber: der König, der das Land regieren musste und der die Verantwortung für das Wohl seiner Untertanen trug.

Eines Abends rief er Lukas den Lokomotivführer zu sich in seinen Palast zwischen den beiden Gipfeln. Lukas trat ein, nahm seine Mütze ab und seine Pfeife aus dem Mund und sagte höflich:

»Guten Abend, Herr König!«

»Guten Abend, mein lieber Lukas der Lokomotivführer«, erwiderte der König, der neben seinem goldenen Telefon saß, und wies mit der Hand auf einen leeren Stuhl, »bitte, nimm doch Platz!«

Lukas setzte sich hin.

»Nun denn«, begann der König und räusperte sich ein paar Mal, »fürwahr lieber Lukas, ich weiß nicht recht, wie ich es dir sagen soll. Aber ich hoffe, dass du es trotzdem verstehen wirst.«

Lukas antwortete nichts. Das bedrückte Aussehen des Königs hatte ihn stutzig gemacht.

Der König räusperte sich noch einmal, blickte Lukas mit ratlosen und bekümmerten Augen an und begann von Neuem:

»Du warst doch immer ein verständiger Mann, Lukas.«

»Worum dreht sich’s denn?«, fragte Lukas vorsichtig.

Der König nahm seine Krone ab, hauchte darauf und putzte sie mit dem Ärmel seines Schlafrockes blank. Er tat das, um Zeit zu gewinnen, denn er war sichtlich verwirrt. Dann setzte er die Krone mit einem entschlossenen Ruck wieder auf seinen Kopf, räusperte sich noch einmal und sagte:

»Mein lieber Lukas, ich habe lange nachgedacht, aber endlich bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass es nicht anders geht. Wir müssen es tun.«

»Was müssen wir tun, Majestät?«, fragte Lukas.

»Habe ich das nicht eben gesagt?«, murmelte der König enttäuscht. »Ich dachte, ich hätte es eben gesagt.«

»Nein«, antwortete Lukas, »Sie haben nur gesagt, dass wir etwas tun müssen.«

Der König blickte versonnen vor sich hin. Nach einer Weile schüttelte er verwundert den Kopf und sagte:

»Seltsam, ich hätte wetten können, dass ich eben gesagt habe, wir müssten die alte Emma abschaffen.«

Lukas dachte, er hätte nicht recht gehört, darum fragte er:

»Was müssen wir Emma?«

»Abschaffen«, antwortete der König und nickte ernst. »Es muss natürlich nicht sofort sein, aber doch so bald wie möglich. Ich weiß wohl, es ist für uns alle ein schwerer Entschluss, uns von Emma zu trennen. Aber wir müssen es tun.«

»Niemals, Majestät!«, sagte Lukas entschlossen. »Und außerdem: wieso überhaupt?«

»Sieh mal«, meinte der König begütigend, »Lummerland ist ein kleines Land; ein ganz außerordentlich kleines Land sogar im Vergleich zu anderen Ländern wie Deutschland oder Afrika oder China. Für einen König, eine Lokomotive, einen Lokomotivführer und zwei Untertanen reicht es gerade. Aber wenn nun noch ein Untertan dazukommt …«

»Es ist aber doch nur ein halber!«, warf Lukas ein.

»O gewiss, gewiss«, gab der König kummervoll zu, »aber wie lange noch? Er wird von Tag zu Tag größer. Ich muss an die Zukunft unseres Landes denken, dafür bin ich der König. Es wird gar nicht mehr lange dauern, dann ist Jim Knopf ein ganzer Untertan. Und dann will er sich doch ein eigenes Haus bauen. Nun sage mir bitte, wo sollen wir noch ein Haus hinstellen? Es ist doch überhaupt kein Platz mehr da, weil jede freie Stelle voller Gleise ist. Wir müssen uns einschränken. Es hilft nichts.«

»Verflixt!«, brummte Lukas und kratzte sich hinter dem Ohr.

»Siehst du«, fuhr der König eifrig fort, »unser Land leidet jetzt einfach an Überbevölkerung. Fast alle Länder der Welt leiden daran, aber Lummerland besonders. Ich mache mir schreckliche Sorgen. Was sollen wir tun?«

»Ja, ich weiß es auch nicht«, sagte Lukas.

»Entweder müssen wir Emma, die Lokomotive, abschaffen oder einer von uns muss auswandern, sobald Jim Knopf ein ganzer Untertan ist. Du bist doch Jims Freund, lieber Lukas. Willst du, dass der Junge von Lummerland weggehen muss, sobald er groß geworden ist?«

»Nein«, sagte Lukas traurig, »das sehe ich schon ein.«

Und nach einer kleinen Weile fügte er hinzu: »Aber von Emma kann ich mich auch nicht trennen. Was ist denn ein Lokomotivführer ohne Lokomotive?«

»Nun denn«, meinte der König, »denke einmal darüber nach. Ich weiß, dass du ein vernünftiger Mann bist. Du hast ja noch etwas Zeit dich zu entscheiden. Aber ein Entschluss muss gefasst werden.« Und er gab Lukas die Hand, zum Zeichen, dass die Audienz beendet war.

Lukas erhob sich, setzte seine Mütze auf und verließ mit gesenktem Kopf den Palast. Der König sank seufzend in seinen Sessel zurück und wischte sich mit seinem seidenen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Das Gespräch hatte ihn sehr angegriffen.

Lukas ging langsam zu seiner kleinen Station hinunter, wo Emma, die Lokomotive, stand und auf ihn wartete. Er klopfte ihr den dicken Leib und gab ihr etwas Öl, weil sie das besonders gerne mochte. Dann setzte er sich an die Landesgrenze und stützte den Kopf in die Hände. Es war einer von den Abenden, an denen das Meer glatt und still dalag. Die untergehende Sonne spiegelte sich im endlosen Ozean und baute mit ihrem Licht eine goldene glitzernde Straße vom Horizont bis vor die Füße des Lokomotivführers.

Lukas schaute auf diese Straße, die in weite Fernen führte, in unbekannte Länder und Erdteile, niemand konnte sagen, wohin. Er sah zu, wie die Sonne langsam unterging und wie die Straße aus Licht immer schmaler und schmaler wurde und zuletzt verschwunden war.

Er nickte traurig und sagte leise: »Gut. Wir werden gehen. Alle beide.«

Ein leichter Wind wehte vom Meer herüber und es wurde ein wenig kühl. Lukas erhob sich, ging zu Emma und betrachtete sie lange. Emma merkte wohl, dass irgendetwas geschehen war.

Lokomotiven haben zwar keinen großen Verstand – deshalb brauchen sie ja auch immer einen Führer –, aber sie haben ein sehr empfindsames Gemüt. Und als Lukas nun leise und traurig »Meine gute alte Emma!«, murmelte, da wurde ihr so weh zumut, dass sie aufhörte zu schnaufen und den Atem anhielt.

»Emma«, sagte Lukas leise und mit einer ganz unbekannten Stimme, »ich kann mich nicht von dir trennen. Nein, wir beide bleiben zusammen. Wo es auch immer sein mag, auf der Erde oder im Himmel – falls wir da überhaupt hinkommen.«

Emma begriff zwar nichts von dem, was Lukas sagte. Aber sie hatte ihn sehr lieb und sie konnte es einfach nicht aushalten, ihn so traurig zu sehen. Sie fing herzzerbrechend zu heulen an.

Lukas gelang es nur mühsam, sie zu beruhigen. »Es ist wegen Jim Knopf, verstehst du?«, sagte er begütigend. »Er wird bald ein ganzer Untertan sein und dann ist hier für einen von uns kein Platz mehr. Und weil ein Untertan für ein Land wichtiger ist als eine dicke alte Lokomotive, hat der König entschieden, dass du wegmusst. Aber wenn du wegmusst, dann gehe ich mit, das ist doch klar. Was soll ich denn ohne dich anfangen?«

Emma holte tief Luft und wollte eben wieder losheulen, als plötzlich eine helle Stimme fragte:

»Was is’ los?«

Es war Jim Knopf, der auf Lukas gewartet hatte und dabei schließlich im Kohlentender eingeschlafen war. Als Lukas angefangen hatte mit Emma zu reden, war er aufgewacht und hatte ohne es zu wollen, alles mit angehört.

»Hallo, Jim!«, rief Lukas überrascht. »Das war eigentlich nicht für dich bestimmt. Aber meinetwegen, warum sollst du’s nicht wissen? Ja, Emma und ich, wir beide gehen weg. Für immer. Es muss wohl sein.«

»Wegen mir?«, fragte Jim erschrocken.

»Wenn man es bei Licht betrachtet«, sagte Lukas, »dann hat der König nicht so Unrecht. Lummerland ist einfach zu klein für uns alle.«

»Und wann wollt ihr fort?«, stammelte Jim.

»Am besten ist es, den Abschied nicht lange hinauszuziehen, wenn es schon einmal sein muss«, antwortete Lukas ernst. »Ich denke, wir fahren gleich heute Nacht.«

Jim überlegte eine Weile. Dann sagte er plötzlich entschlossen: »Ich fahr mit.«

»Aber Jim!«, rief Lukas. »Das geht auf gar keinen Fall. Was würde Frau Waas dazu sagen? Sie würde es niemals erlauben.«

»Am besten fragen wir sie erst gar nicht«, entgegnete Jim bestimmt. »Ich werd ihr einen Brief auf den Küchentisch legen, in dem ich ihr alles erkläre. Wenn sie weiß, dass ich mit dir gefahren bin, dann wird sie sich schon keine zu großen Sorgen machen.«

»Das glaub ich aber doch«, sagte Lukas und machte ein bedenkliches Gesicht. »Außerdem kannst du doch gar nicht schreiben.«

»Ich werd eben einen Brief zeichnen«, erklärte Jim.

Aber Lukas schüttelte ernst den Kopf. »Nein, mein Junge, ich kann dich nicht mitnehmen. Es ist sehr nett von dir und ich würde es auch gerne tun. Aber es geht nicht. Du bist schließlich noch ein ziemlich kleiner Junge und du würdest uns nur …«

Er hielt inne, weil Jim ihm plötzlich sein Gesicht zuwandte, und dieses Gesicht war sehr entschlossen und sehr unglücklich.

»Lukas«, sagte Jim leise, »warum redest du solche Sachen? Du würdest schon sehen, wie gut ihr mich gebrauchen könntet.«

»Na ja«, antwortete Lukas ein wenig verlegen, »natürlich, du bist ja ein brauchbarer kleiner Bursche und in manchen Lagen ist es sogar von Vorteil, wenn man klein ist. Das ist schon richtig …«

Er zündete seine Pfeife an und paffte eine Weile schweigend vor sich hin. Er war schon nahe daran, zuzustimmen; aber er wollte den Jungen prüfen. Darum begann er wieder:

»Denk doch mal nach, Jim! Emma soll ja gerade weg, damit du in Zukunft genügend Platz hast. Wenn du jetzt gehst, dann könnte Emma ja ruhig bleiben. Und ich auch.«

»Nein«, sagte Jim mit trotzigem Gesicht, »ich werd doch meinen besten Freund nicht verlassen. Entweder wir bleiben alle drei hier oder wir gehen alle drei weg. Hier bleiben können wir nicht. Dann gehn wir eben – alle drei.«

Lukas lächelte. »Das ist wirklich nett von dir, alter Jim«, sagte er und legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. »Ich fürchte nur, das wird dem König gar nicht recht sein. So hat er sich das sicher nicht vorgestellt.«

»Das is’ mir gleich«, erklärte Jim. »Ich fahr jedenfalls mit dir.«

Lukas überlegte wieder eine ganze Weile und hüllte sich in den Rauch seiner Pfeife. Das tat er immer, wenn er gerührt war. Er wollte nicht, dass jemand es sehen sollte, aber Jim kannte ihn.

»Gut!«, kam schließlich Lukas’ Stimme aus der Rauchwolke. »Ich erwarte dich also um Mitternacht hier.«

»In Ordnung«, antwortete Jim.

Sie gaben sich die Hand und Jim war schon im Weggehen, als Lukas ihn noch einmal zurückrief.

»Jim Knopf«, sagte Lukas und es klang beinahe feierlich, »du bist wirklich der feinste kleine Kerl, den ich in meinem Leben gesehen habe.«

Damit drehte er sich um und ging schnell davon. Jim schaute ihm gedankenvoll nach, dann lief auch er nach Hause. Lukas’ Worte klangen noch in seinem Ohr und zugleich musste er an Frau Waas denken, die immer so gut und lieb zu ihm gewesen war. Und ihm war ganz glücklich und elend zugleich zumut.

VIERTES KAPITEL

in welchem ein höchst sonderbares Schiff in See sticht und Lukas erkennt, dass er sich auf Jim Knopf verlassen kann

Das Abendessen war vorüber. Jim gähnte, als sei er schrecklich müde und sagte, er wolle gleich ins Bett gehen. Darüber war Frau Waas einigermaßen erstaunt. Für gewöhnlich hatte sie nämlich ziemliche Mühe, Jim zum Schlafengehen zu überreden, aber sie dachte, er würde vielleicht langsam vernünftig. Als er schon im Bett war, kam sie noch einmal zu ihm, wie jeden Abend, deckte ihn gut zu, gab ihm einen Gutenachtkuss und verließ seine Kammer, nachdem sie das Licht gelöscht hatte. Dann ging sie in die Küche zurück, um noch eine Weile an einem neuen Pullover für den Jungen zu stricken.

Jim lag in seinem Bett und wartete. Der Mond schien zum Fenster hinein. Es war sehr still. Nur das Meer rauschte friedlich an den Landesgrenzen und ab und zu war von der Küche herüber leise das Klappern der Stricknadeln zu hören.

Jim musste plötzlich daran denken, dass er den Pullover, an dem Frau Waas da arbeitete, niemals tragen würde und was sie wohl täte, wenn sie das wüsste …

Und als er das überlegt hatte, wurde es ihm so furchtbar wehmütig ums Herz, dass er am liebsten geweint hätte oder in die Küche gelaufen wäre, um Frau Waas alles zu erzählen. Doch dann dachte er wieder an die Worte, die Lukas ihm zum Abschied gesagt hatte, und da wusste er, dass er schweigen musste. Aber es war schwer, beinahe zu schwer für jemanden, der erst ein halber Untertan war. Und dazu kam noch etwas, womit Jim nicht gerechnet hatte: die Müdigkeit. Er war noch nie so lange aufgeblieben und nun konnte er die Augen kaum offen halten. Wenn er wenigstens hin und her gehen oder irgendetwas hätte spielen können! Aber da lag er im warmen Bett und dauernd fielen ihm die Augen zu. Er musste sich immerzu vorstellen, wie wundervoll es wäre, wenn er jetzt einfach einschlafen dürfte. Er rieb sich die Augen und kniff sich in die Arme, um wach zu bleiben. Er kämpfte gegen den Schlaf. Aber plötzlich war er doch eingeschlummert.

Ihm war, als stünde er an der Landesgrenze und weit draußen auf dem nächtlichen Meer fuhr die Lokomotive Emma. Sie rollte über die Wellen, als ob Wasser etwas Festes wäre. Und im Führerhaus, vom Feuerschein beleuchtet, sah Jim seinen Freund Lukas, der mit einem großen roten Taschentuch winkte und rief:

»Warum bist du nicht gekommen? – Leb wohl, Jim! – Leb wohl, Jim! – Leb wohl, Jim!«

Seine Stimme klang fremd und hallte durch die Nacht. Und jetzt fing es plötzlich zu blitzen und zu donnern an und ein peitschender, eiskalter Wind wehte vom Meer her. Und im Sausen des Windes ertönte noch einmal Lukas’ Stimme:

»Warum bist du nicht gekommen? – Leb wohl! – Leb wohl, Jim!«

Die Lokomotive wurde immer kleiner und kleiner. Noch ein letztes Mal war sie im grellen Schein eines Blitzes sichtbar, dann verschwand sie fern am dunklen Horizont.

Jim bemühte sich verzweifelt über das Wasser hinterherzulaufen, aber seine Beine waren am Boden wie festgewachsen. Und von der Anstrengung sie loszureißen, erwachte er und fuhr erschrocken in die Höhe.

Die Kammer war hell vom Mond erleuchtet. Wie spät mochte es sein? War Frau Waas schon schlafen gegangen? War Mitternacht am Ende schon vorüber und der Traum Wirklichkeit?

In diesem Augenblick schlug die Turmuhr auf dem königlichen Palast zwölf Mal.

Jim fuhr aus dem Bett, schlüpfte in seine Kleider und wollte aus dem Fenster klettern – da fiel ihm der Brief ein. Den Brief an Frau Waas musste er unbedingt noch zeichnen, sonst würde sie sich schrecklichen Kummer machen. Und das sollte sie doch nicht. Mit zitternden Händen riss Jim ein Blatt aus seinem Heft und malte Folgendes darauf:

S.027

Das hieß: Ich bin mit Lukas dem Lokomotivführer auf Emma weggefahren.

Und dann zeichnete er noch schnell darunter:

S.027

Das hieß: Mach dir keinen Kummer, sondern sei unbesorgt.

Und zuletzt zeichnete er noch ganz schnell dies hier:

S.028

Das sollte heißen: Es küsst dich dein Jim.

Dann legte er das Blatt auf sein Kopfkissen und stieg schnell und leise zum Fenster hinaus.

Als er am verabredeten Ort ankam, war Emma, die Lokomotive, nicht mehr da. Auch Lukas war nirgends zu erblicken. Schnell lief Jim zur Landesgrenze hinunter. Da sah er Emma, die bereits im Wasser schwamm. Rittlings auf ihr saß Lukas der Lokomotivführer. Er hisste gerade ein Segel, dessen Mast er am Führerhäuschen befestigt hatte.

»Lukas!«, rief Jim atemlos. »Warte doch, Lukas! Ich bin doch da!«

Lukas drehte sich erstaunt um und ein freudiges Lächeln glitt über sein breites Gesicht.

»Weiß Gott!«, sagte er. »Das ist Jim Knopf. Ich dachte schon, du wolltest lieber nicht mitkommen. Es hat schon vor einer ganzen Weile zwölf geschlagen.«

»Ich weiß schon«, antwortete Jim. Er watete hinüber, ergriff Lukas’ Hand und schwang sich auf Emma hinauf. »Ich hatte nämlich den Brief vergessen, verstehst du? Darum musste ich noch mal zurück.«

»Und ich fürchtete schon, du hättest verschlafen«, sagte Lukas und stieß dicke Rauchwolken aus seiner Pfeife.