Das Buch

 

Die kleine Hexe ist mit ihren 127 Jahren viel zu jung, um mit den großen Hexen in der Walpurgisnacht auf dem Blocksberg zu tanzen. Doch das ist ihr egal: Sie springt auf ihren Besen und feiert den Hexentanz mit. Dass sie dabei erwischt werden könnte, damit hat sie allerdings nicht gerechnet. Zur Strafe muss sie alle Zaubersprüche auswendig lernen und versprechen, eine gute Hexe zu werden. Aber wie soll sie das nur schaffen? Zum Glück hilft ihr der Rabe Abraxas, ihr bester Freund.

Die kleine Hexe hat Ärger

 

 

Es war einmal eine kleine Hexe, die war erst einhundertsiebenundzwanzig Jahre alt, und das ist ja für eine Hexe noch gar kein Alter.

Sie wohnte in einem Hexenhaus, das stand einsam im tiefen Wald. Weil es nur einer kleinen Hexe gehörte, war auch das Hexenhaus nicht besonders groß. Der kleinen Hexe genügte es aber, sie hätte sich gar kein schöneres Hexenhaus wünschen können. Es hatte ein wundervoll windschiefes Dach, einen krummen Schornstein und klapprige Fensterläden. Hinten hinaus war ein Backofen angebaut. Der durfte nun einmal nicht fehlen. Ein Hexenhaus ohne Backofen wäre kein richtiges Hexenhaus.

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Die kleine Hexe besaß einen Raben, der sprechen konnte. Das war der Rabe Abraxas. Er konnte nicht nur „Guten Morgen!“ und „Guten Abend!“ krächzen wie ein gewöhnlicher Rabe, der sprechen gelernt hat, sondern auch alles andere. Die kleine Hexe hielt große Stücke auf ihn, weil er ein ausnehmend weiser Rabe war, der ihr in allen Dingen die Meinung sagte und nie ein Blatt vor den Schnabel nahm.

Etwa sechs Stunden am Tag verbrachte die kleine Hexe damit, sich im Hexen zu üben. Das Hexen ist keine einfache Sache. Wer es im Hexen zu etwas bringen will, darf nicht faul sein. Er muss zuerst alle kleineren Hexenkunststücke lernen – und später die großen. Seite für Seite muss er das Hexenbuch durchstudieren und keine einzige Aufgabe darf er dabei überspringen.

Die kleine Hexe war erst auf Seite zweihundertdreizehn des Hexenbuches. Sie übte gerade das Regenmachen. Sie saß auf der Bank vor dem Backofen, hatte das Hexenbuch auf den Knien liegen und hexte. Der Rabe Abraxas saß neben ihr und war unzufrieden.

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„Du sollst einen Regen machen“, krächzte er vorwurfsvoll, „und was hext du? Beim ersten Mal lässt du es weiße Mäuse regnen, beim zweiten Mal Frösche, beim dritten Mal Tannenzapfen! Ich bin ja gespannt, ob du wenigstens jetzt einen richtigen Regen zustande bringst!“

Da versuchte die kleine Hexe zum vierten Mal, einen Regen zu machen. Sie ließ eine Wolke am Himmel aufsteigen, winkte sie näher und rief, als die Wolke genau über ihnen stand: „Regne!“

Die Wolke riss auf und es regnete – Buttermilch.

„Buttermilch!“, kreischte Abraxas. „Mir scheint, du bist vollständig übergeschnappt! Was willst du denn noch alles regnen lassen? Wäscheklammern vielleicht? Oder Schusternägel? Wenn es doch wenigstens Brotkrümel oder Rosinen wären!“

„Ich muss mich beim Hexen versprochen haben“, sagte die kleine Hexe. Früher war ihr auch schon dann und wann etwas danebengegangen. Aber gleich viermal hintereinander?

„Versprochen haben!“, krächzte der Rabe Abraxas. „Ich werde dir sagen, woran es liegt. Zerstreut bist du! Wenn man beim Hexen an alles mögliche andere denkt, muss man sich ja verhexen! Du solltest eben ein bisschen mehr bei der Sache sein!“

„Findest du?“, meinte die kleine Hexe. Dann klappte sie plötzlich das Hexenbuch zu. „Du hast recht!“, rief sie zornig. „Es stimmt, dass ich nicht bei der Sache bin. Und warum nicht?“ Sie blitzte den Raben an. „Weil ich Wut habe!“

„Wut?“, wiederholte der Rabe Abraxas. „Auf wen denn?“

„Es ärgert mich“, sagte die kleine Hexe, „dass heute Walpurgisnacht ist. Heute treffen sich alle Hexen zum Tanz auf dem Blocksberg.“

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„Na – und?“

„Und ich bin noch zu klein für den Hexentanz, sagen die großen Hexen. Sie wollen nicht, dass ich auch auf den Blocksberg reite und mittanze!“

Der Rabe versuchte die kleine Hexe zu trösten und sagte: „Sieh mal – mit einhundertsiebenundzwanzig Jahren kannst du noch nicht verlangen, dass dich die großen Hexen für voll nehmen. Wenn du erst älter bist, wird sich das alles geben.“

„Ach was!“, rief die kleine Hexe. „Ich will aber diesmal schon mit dabei sein! Verstehst du mich?“

„Was man nicht haben kann, soll man sich aus dem Kopf schlagen“, krächzte der Rabe. „Ändert sich etwas daran, wenn du zornig bist? Nimm doch Vernunft an! Was willst du denn machen?“

Da sagte die kleine Hexe: „Ich weiß, was ich mache. Ich reite heut Nacht auf den Blocksberg!“

Der Rabe erschrak.

„Auf den Blocksberg?! – Das haben dir doch die großen Hexen verboten! Sie wollen beim Hexentanz unter sich sein.“

„Pah!“, rief die kleine Hexe. „Verboten ist vieles. Aber wenn man sich nicht erwischen lässt …“

„Sie erwischen dich!“, prophezeite der Rabe.

„Ach, Unsinn!“, erwiderte sie. „Ich geselle mich erst zu den anderen Hexen, wenn sie schon mitten im Tanz sind – und ehe sie Schluss machen, reite ich wieder heim. In dem Trubel, der heute Nacht auf dem Blocksberg herrscht, wird das nicht weiter auffallen.“

Heia, Walpurgisnacht!

 

 

Die kleine Hexe ließ sich vom Raben Abraxas nicht Bange machen, sie ritt in der Nacht auf den Blocksberg.

Dort waren die großen Hexen schon alle versammelt. Sie tanzten mit fliegenden Haaren und flatternden Röcken rund um das Hexenfeuer. Es mochten wohl, alles in allem, fünf- oder sechshundert Hexen sein: Berghexen, Waldhexen, Sumpfhexen, Nebelhexen und Wetterhexen, Windhexen, Knusperhexen und Kräuterhexen. Sie wirbelten wild durcheinander und schwangen die Besen.

„Walpurgisnacht!“, sangen die Hexen, „heia, Walpurgisnacht!“ Zwischendurch meckerten, krähten und kreischten sie, ließen es donnern und schleuderten Blitze.

Die kleine Hexe mischte sich unbemerkt unter die Tanzenden. „Heia, Walpurgisnacht!“, sang sie aus voller Kehle. Sie wirbelte mit um das Hexenfeuer und dachte sich: Wenn mich Abraxas jetzt sehen könnte, würde er Augen machen wie eine Waldeule!

Sicherlich wäre auch weiterhin alles gut gegangen – nur hätte die kleine Hexe nicht ihrer Tante, der Wetterhexe Rumpumpel, über den Weg tanzen dürfen! Die Muhme Rumpumpel verstand keinen Spaß, sie war eingebildet und böse.

„Sieh da!“, rief sie, als ihr die kleine Hexe im Trubel begegnete, „welch eine Überraschung! Was suchst du hier? Antworte! Weißt du nicht, dass es für junge Dinger verboten ist, heute Nacht auf den Blocksberg zu kommen?“

„Verrat mich nicht!“, bat die kleine Hexe erschrocken.

Die Muhme Rumpumpel erwiderte: „Nichts da! Du freches Stück musst bestraft werden!“

Neugierig kamen die anderen Hexen herzu und umringten die beiden. Die Wetterhexe berichtete zornig; dann fragte sie, was mit der kleinen Hexe geschehen solle.

Da riefen die Nebelhexen: „Sie soll es büßen!“

Die Berghexen kreischten: „Zur Oberhexe mit ihr! Auf der Stelle zur Oberhexe!“

„Jawohl!“, schrien alle Hexen, „packt sie und schafft sie zur Oberhexe!“

 

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Der kleinen Hexe half weder Bitten noch Betteln. Die Muhme Rumpumpel nahm sie beim Kragen und schleifte sie vor die Oberhexe. Die hockte auf einem Thron, der aus Ofengabeln errichtet war. Stirnrunzelnd hörte sie der Wetterhexe zu. Dann donnerte sie die kleine Hexe an: „Du wagst es, in dieser Nacht auf den Blocksberg zu reiten, obwohl es für Hexen in deinem Alter verboten ist? Wie kommst du auf diesen verrückten Gedanken?“

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Angstschlotternd sagte die kleine Hexe: „Ich weiß nicht. Ich hatte auf einmal so große Lust dazu – und da bin ich halt auf den Besen gestiegen und hergeritten …“

„Dann wirst du gefälligst auch wieder nach Hause reiten!“, befahl ihr die Oberhexe. „Verschwind hier, und zwar schleunigst! Sonst müsste ich böse werden!“

Da merkte die kleine Hexe, dass mit der Oberhexe zu reden war. „Darf ich dann wenigstens nächstes Jahr mittanzen?“, fragte sie.

„Hm …“, überlegte die Oberhexe. „Das kann ich dir heute noch nicht versprechen. Wenn du bis dahin schon eine gute Hexe geworden bist, dann vielleicht. Ich werde am Tag vor der nächsten Walpurgisnacht einen Hexenrat einberufen, dann will ich dich prüfen. Die Prüfung wird aber nicht leicht sein.“

„Ich danke dir!“, sagte die kleine Hexe, „ich danke dir!“ Sie versprach, bis zum nächsten Jahr eine gute Hexe zu werden. Dann schwang sie sich auf den Besen und wollte nach Hause reiten.

Da aber sagte die Wetterhexe Rumpumpel zur Oberhexe: „Willst du das kleine, freche Ding nicht bestrafen?“

„Bestraf es!“, hetzten die anderen Wetterhexen.

„Bestraf es!“, riefen auch alle übrigen. „Ordnung muss sein! Wer zum Hexentanz reitet, obwohl es ihm nicht erlaubt ist, der muss einen Denkzettel kriegen!“

„Wir könnten die freche Kröte zur Strafe ein bisschen ins Feuer werfen“, meinte die Muhme Rumpumpel.

„Wie wäre es“, riet eine Knusperhexe, „wenn wir sie einige Wochen lang einsperren würden? Ich habe daheim einen Gänsestall, der steht leer …“

Eine Sumpfhexe sagte: „Da wüsste ich etwas Besseres! Gebt sie mir und ich stecke sie bis an den Hals in ein Schlammloch!“

„Nein“, widersprachen die Kräuterhexen, „wir sollten ihr ordentlich das Gesicht zerkratzen!“

„Das außerdem!“, fauchten die Windhexen. „Aber sie muss auch gehörig Schläge bekommen!“

„Mit Weidenruten!“, zischten die Berghexen.

„Nehmt doch den Besen dazu!“, riet die Muhme Rumpumpel.

Der kleinen Hexe wurde es angst und bange. Das konnte ja gut werden!

„Aufgepasst!“, sagte die Oberhexe, als alle anderen Hexen gesprochen hatten. „Wenn ihr verlangt, dass die kleine Hexe bestraft werden soll …“

„Wir verlangen es!“, lärmten die Hexen im Chor und am lautesten lärmte die Muhme Rumpumpel.

„… dann schlage ich vor“, rief die Oberhexe, „dass wir ihr einfach den Besen wegnehmen und sie zu Fuß auf den Heimweg schicken! Drei Tage und Nächte lang wird sie zu laufen haben, bis sie in ihren Wald kommt – das reicht.“

„Das reicht nicht!“, schrie die Wetterhexe Rumpumpel; aber die anderen meinten, das könne man hingehen lassen. Sie nahmen der kleinen Hexe den Besen weg, warfen ihn lachend ins Feuer und wünschten ihr eine gute Reise.

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