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Hans-Peter Duttle – ILLEGAL AM EVEREST | Mein steiniger Weg auf der Suche nach dem Glück – Geschrieben von Reto Winteler – WÖRTERSEH

 

Wörterseh wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 bis 2020 unterstützt und dankt herzlich dafür.

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2018 Wörterseh, Gockhausen

Lektorat: Jürg Fischer, Uster
Korrektorat: Brigitte Matern, Konstanz
Herstellerische Koordination und Gesamtverantwortung:
Andrea Leuthold, Zürich
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Holzkirchen
Fotos Umschlag: vorn Hans-Peter Duttle beim Abseilen nach dem Abbruch der Expedition; hinten Hans-Peter Duttle vor und nach der Expedition (alle Alpines Museum der Schweiz, Bern)
Fotos Bildteil: Privatarchiv und Alpines Museum der Schweiz, Bern
Bearbeitung aller Fotos: Michael C. Thumm, Blaubeuren
Layout und Satz: Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Print ISBN 978-3-03763-095-2
E-Book ISBN 978-3-03763-745-6

www.woerterseh.ch

 

Man weiß selten, was Glück ist,
aber man weiß meistens, was Glück war.

Françoise Sagan
1935–2004

 

Inhalt

Über die Autoren

Über das Buch

Einleitung

Beirut
1938–1944

Bern
1944–1946

La Paz
1946–1948

Lima
1948–1951

Basel
1951–1962

Zermatt–Kathmandu
1962

Nepal/Tibet – Everest
1962

  | Bildteil und Karten |

Maisprach, Baselland
1962–1964

Arviat (Eskimo Point), Kanada
1964–1965

10 Killiniq (Port Burwell), Kanada
1965–1966

11 Peru/Bolivien
1966–1967

12 Andermatt
1967–1969

13 Peru
1970–1973

14 Pangnirtung, Kanada
1974–1976

15 Avrona, Unterengadin
1976–1978

16 Nepal/Honduras
1978–1982

17 Bern
1982–2004

18 Rongbuk/Martha’s Vineyard
1998/2001

19 Gümligen
2004

Schlussbetrachtung

 

Über die Autoren

Hans-Peter Duttle
© Wörterseh

HANS-PETER DUTTLE kommt 1938 in Beirut zur Welt. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und die Geburt seines Bruders Rudi werfen einen langen Schatten auf sein zukünftiges Leben. Um der Realität zu entkommen, verschlingt der Schweizer Diplomatensohn die Berichte berühmter Abenteurer und Entdecker. Nach einem abgebrochenen Studium in der Schweiz bietet sich ihm die Gelegenheit, dem »oberflächlichen Leben des Westens« zu entfliehen: Zusammen mit drei Amerikanern begibt er sich 1962 auf eine illegale Besteigung des Mount Everest im verbotenen Tibet – für ihn ist es ein Aufbruch mit spirituellem Charakter. Die Expedition scheitert unter dramatischen Umständen.

Wieder daheim, findet sich Hans-Peter Duttle abermals nicht zurecht, und er wandert in den hohen Norden Kanadas aus, wo er drei erfüllte, glückliche Jahre bei den Inuit verbringt. Die Achtundsechziger-Unruhen erlebt er in Europa – er bildet in dieser Zeit als Offizier der Schweizer Armee in Andermatt Gebirgsinfanteristen aus. 1970 heiratet er. Auf dem peruanischen Altiplano kommt die erste, in der Arktis die zweite Tochter zur Welt. Zurück in der Schweiz, droht das bürgerliche Leben von neuem. Erst im Alter findet der ewig Suchende seinen Frieden – in Gümligen bei Bern.

Reto Winteler
© Moritz Hager

RETO WINTELER, geb. 1968, studierte Philosophie in Zürich. Nachdem er vom Wörterseh, für den er schon mehrmals als Lektor tätig war, das Angebot bekommen hatte, ein Buch über Hans-Peter Duttle zu schreiben, gab es ein erstes Treffen in Bern. Schon auf der Rückfahrt im Zug war für den Autor klar, dass er dieses Buch schreiben würde. Zum Bergsteigen hatte er zwar keinerlei Bezug, aber das einzelgängerische Wesen des Abenteurers schien ihm vertraut – und doch auch fremd und rätselhaft. Also reizvoll. Die folgenden Monate, in denen ihm Hans-Peter Duttle seine Geschichte erzählte und die beiden gemeinsam das Buch entstehen ließen, haben diesen ersten Eindruck bestätigt

und sein Leben bereichert.

Reto Winteler lebt in Wetzikon.

 

Über das Buch

»Undenkbar! Unmöglich! – Das hätte sich Hans-Peter Duttle vor seiner Abreise zum Himalaja garantiert anhören müssen. Hätte er damals, 1962, von seinen Plänen erzählt. Hat er aber nicht. Er brach ganz leise auf, um mit drei anderen Alpinisten heimlich den Everest via Tibet zu besteigen. Illegal, schlecht ausgerüstet, ohne Höhenträger, Satellitenfunk, Arzt. Nicht einmal eine höhentaugliche Sonnencreme hatten die vier dabei. Es war – wie Hans-Peter Duttle heute sagt – ein Himmelfahrtskommando. Einem Achttausender auf diese Weise beikommen zu wollen, war damals ein absolutes Novum. Heute nennt man es Alpinstil.«

Alexandra Rozkosny,
Chefredaktorin »Die Alpen«

 

Einleitung

Mein Leben war ein Leben auf der Flucht.

Wovor ich eigentlich davonlief, wusste ich selber nie genau – die Unzufriedenheit mit meinem eigenen Leben und meine Abscheu vor der Menschheit gaben sich da immer die Hand. Aber wohin ich wollte, das wusste ich genau: in abgelegenste, unberührte Gebiete, in denen es keine oder möglichst wenige Menschen gab, an die äußersten Ränder unserer zivilisierten Welt.

Im Jahr 1962 unternahm ich mit drei Amerikanern, die ich kurz zuvor in Zermatt kennen gelernt hatte, eine Besteigung des Mount Everest. Auch dieser Aufbruch in ein »gelobtes Land«, in das damals noch verbotene Tibet, war für mich im Grunde eine Flucht, verbunden mit der tiefen Hoffnung auf eine Art Erlösung, Erkenntnis, ja sogar Erleuchtung.

Zu viert, mit einem Minimum an Gepäck nahmen wir nach dem wochenlangen Anmarsch über die von den Chinesen bewachten Gletscher den Aufstieg über die Nordseite des Everest in Angriff. Der Plan war verwegen, ein wenig verrückt, aber er war unwiderstehlich. Unser Versuch ist gescheitert; jeder von uns hat für das Wagnis bezahlt, jeder auf seine Weise.

In »Die Alpen«, dem Publikationsorgan des Schweizer Alpen-Clubs (SAC), wurden uns von der damals höchsten Autorität in Sachen Himalaja, Professor Norman Dyhrenfurth, gehörig die Leviten gelesen. Die heftige Reaktion kam zwar nicht überraschend, aber wenn man nur knapp dem Tod entronnen ist, erhofft man sich natürlich eine andere Beurteilung des Erlebten. Nach Dyhrenfurths Richterspruch herrschte jedoch erst recht das große Schweigen.

Rund fünfzig Jahre später – die Sache schien inzwischen »verjährt« – brachte der SAC schließlich einen Bericht über unsere Expedition. Als mittlerweile einziges noch lebendes Mitglied unserer Gruppe gab ich Auskunft. Im Editorial jener Nummer wird mein Name in einem Atemzug mit Ueli Steck genannt: Beide hätten wir mit unseren Unternehmen viel Kritik einstecken müssen. Dieser Vergleich mit dem herausragenden Extrem-Alpinisten war mir unverständlich. Steck war ehrgeizig, entschlossen, kämpferisch und unglaublich mutig – das alles war und bin ich nicht. Abgesehen vom einzelgängerischen Typus, der sich nicht um die Meinungen anderer kümmert, haben wir beide wohl wenig gemein.

»An der Komfortzone rütteln«, lautete der Titel jenes Editorials. Das sei der inspirierende Sinn von solchen Expeditionen. Wir würden der auf ausgetretenen Pfaden wandelnden Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Die Interpretation unter dem modischen Titel scheint mir allzu prätentiös. Andererseits ging es mir in meinem Leben tatsächlich darum, die »Komfortzone« zu verlassen, nämlich dem ganzen oberflächlichen Lebensstil unserer westlichen Welt den Rücken zu kehren. Jener Welt, die ihre »Komfortzone« immer weiter ausdehnt, jenem Teil der Menschheit, der alles daransetzt, einen oft pervers anmutenden Wohlstand immer noch weiter zu steigern. Dass wir sehr entschlossen daran sind, in kürzester Zeit unser uraltes weltgeschichtliches Erbe zu zerstören und unsere eigene Zukunft aufs Spiel zu setzen, weiß heute im Grunde jedermann. Und das ist das ganz Unheimliche daran.

 
1 Beirut
1938–1944

Waren es glückliche Jahre, meine ersten Lebensjahre in Beirut? Sicher ist, dass sie die Weichen für ein Leben stellten, das mit einer großen Folgerichtigkeit verlief. Oft schien es mir, als ob es mich immer weiter abwärts, zumindest immer weiter ins Abseits führte. Doch jetzt, im Alter, kann ich sagen, dass ich mich nicht nur trotz, sondern auch wegen all der harten Zeiten glücklicher und gesünder fühle als je zuvor.

Kindheit in Beirut also.

Ich sehe mich auf meinem kleinen Dreirad sitzen; allein im Zimmer drehe ich meine Kreise. Es ist Abend. Gedämpfte Stimmen dringen an mein Ohr, das Klirren von Gläsern. Der große Leuchter im Salon wirft seinen Schein auf den Flur hinaus.

Vater empfängt wieder wichtige Gäste. Mutter wie immer an seiner Seite, die vollendete Gastgeberin. Und bald hat auch Rudi, mein kleiner Bruder, seinen glanzvollen Auftritt. Schon schlängelt er sich vergnügt zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurch. Die fremden Menschen beginnen zu lachen. Alle sind entzückt über den charmanten Schlingel. Im Handumdrehen hebt sich die Stimmung in der steifen Gesellschaft. Ein Kinderspiel. Rudi kann das.

Ich stoße mein Dreirad auf den Balkon. Ruhe. Die reine Luft vom nahen Meer. Über mir ein Sternenhimmel, wie man ihn sich schöner nicht denken kann. In seiner geheimnisvollen Weite kann ich mich verlieren. Hier ist mir wohl.

Weißt du, wie viel Sternlein stehen
an dem blauen Himmelszelt?
Weißt du, wie viel Wolken gehen
weithin über alle Welt?
Gott der Herr hat sie gezählet,
dass ihm auch nicht eines fehlet
an der ganzen großen Zahl.

Vater und Mutter sind vor dem Krieg, 1937, nach Beirut gekommen. Er als Schweizer Vizekonsul, sie als seine Gattin.

Ich vermute, ihre Ehe war unglücklich von Anfang an. Für meinen Vater war es bereits die zweite. Als er in Buenos Aires für das Eidgenössische Departement des Äußeren tätig war, heiratete er eine ältere Schweizerin. Nach einem Jahr wurde die Ehe geschieden. In der Schweiz im Urlaub, lernte er meine Mutter kennen. Schnell wurde geheiratet, schnell wurde sie schwanger. Kein Diplomat ohne Diplomatengattin.

Meine Mutter war abenteuer- und reiselustig, eine Individualistin, intellektuell interessiert, feinfühlig. Sie hätte gern studiert, erzählte sie mir später oft, ihre Lehrer hätten sich dafür eingesetzt, aber ihr Vater, ein konservativer Bauernsohn und Postbeamter, war dagegen. Seine Tochter sollte heiraten und einen Haushalt führen. Sie besuchte dann die Handelsschule und arbeitete als Sekretärin. Daneben spielte sie Klavier, ging reiten und war im Schachklub. In meinem Vater sah sie wohl vor allem die Chance auf ein spannenderes Leben. Für ihn, den Konsul Duttle, war diese Frau ein Glücksfall. Sie kam gut an bei den Menschen und erfüllte ihre repräsentativen Pflichten tadellos.

Mein Vater war ein autoritärer Mann, streng konservativ, ehrgeizig. Er ging auf in seinem Amt und liebte es, seine Macht zu demonstrieren. Die Rolle des Familienoberhauptes verkörperte er klassisch, typisch für die damalige Zeit. Vater wusste und sagte, wo es langging – Widerreden wurden nicht geduldet. Er war keine Autorität, die man um Rat fragen konnte, sondern eine, der man gehorchte. Für uns Kinder interessierte er sich wenig. Kinder gehörten einfach dazu. Keine Familie ohne Kinder. Kein Mann ohne Kind.

Auf einer Fotografie aus meiner frühen Kindheit ist die Familie Duttle noch zu dritt, ich stecke noch in Windeln. Vater und Mutter in Badekleidern am Strand. Vater hält mich, er greift mich kleinen Wurm mit einer Hand um die Mitte des Leibes. In seinem Schwimmanzug mit Trägern und mit seinem muskulösen Oberkörper sieht er für heutige Augen aus wie ein Ringer. Ein Ringer, der stolz seinen Pokal in die Kamera hält. Stolz machte ich meinen Vater allerdings nie. Schon äußerlich war er eine Autoritätsperson, mit der nicht zu scherzen war. Groß und breitschultrig, etwas Herbes und Derbes auch im Gesicht. Definitiv kein Feingeist, kein Intellektueller.

Meine Mutter steht zufrieden lächelnd neben Mann und Kind. Ich hätte sie gern mehr lachen sehen. Ich hätte sie gern mehr zum Lachen gebracht.

Wir wohnten in einem Villenquartier im Westen der Stadt. In einem oberen Stockwerk eines stattlichen Hauses, mit großem Balkon und Sicht aufs Meer. Eine standesgemäße Residenz war unabdingbar. Aber mein Vater war ganz besonders stolz auf seinen Besitz. Das gesamte Inventar musste penibel dokumentiert werden, jedes Stück der vornehmen Wohnungseinrichtung wurde einzeln fotografiert.

Zu unserem Haushalt gehörten auch mehrere Dienstmädchen aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen, Araberinnen, Armenierinnen, Türkinnen, Drusinnen. Vielleicht hat mein Vater sie ebenfalls inventarisiert. Ich erinnere mich besonders gern an sie. Genauer: an ihren Geruch. Den Duft ihrer Haut, ihrer Haare, ihrer Kleidung. Jede dieser Frauen trug ihre eigene Tracht. Sie rochen alle auf ihre Weise gut, vertraut, natürlich. Den Geruch von Menschen und Landschaften habe ich auch später immer stark empfunden – besonders bei naturverbundenen Menschen, den Inuit, den Indianern, den Völkern in Asien. Aber natürlich liebte ich diese Naturgerüche auch in der Schweiz. Ich erinnere mich an ein Bauernmädchen, das ich in den Winterferien auf einem Bauernhof kennen lernte. Ihr wundervoll nach Heu duftendes Haar machte mich glücklich (um nicht mehr zu sagen).

Beirut war damals schon ein wichtiges Handelszentrum mit stark westlichem Einschlag. Viele verschiedene Kulturen, Sprachen, Religionen, Mentalitäten lebten hier zusammen – oder getrennt.

Meine Mutter nahm mich öfters mit an jenen Ort, wo alle sich trafen und wo das Orientalische am stärksten zu spüren war: auf den Basar. Seltsam: Mitten im geschäftigen Treiben, unter dem Geschrei der feilschenden Händler stand ich gebannt vor einem großen Stück Fleisch, das unter der Sonne vor sich hin faulte. Ein Heer von kleinen, summenden Fliegen umwimmelte es.

Schon sehr früh merkte ich, dass die Welt außerhalb unseres Quartiers eine andere, keine heile war. Dass es zwei Sorten von Kindern gab. Jene wie ich, die in einem schönen Haus wohnten, mit schönen Spielsachen und schönen Kleidern. Die von ihren Eltern in den Kindergarten der Amerikanischen Schule gebracht und wieder abgeholt wurden. Und jene anderen, die auf der Straße lebten, die schmutzig waren und verlumpte Kleider trugen. Deren Väter nicht im feudalen Wagen, sondern mit einem Eselskarren unterwegs waren.

Es gab nicht nur viele verschiedene, es gab vor allem auch arme und reiche Menschen.

Offenbar hatte ich also großes Glück, als ich am 28. März 1938 im American University Hospital von Beirut als Sohn von Paul und Frieda Duttle-Bohner geboren wurde. Und trotzdem war ich kein glückliches Kind. Das Glückskind der Familie kam ein Jahr später zur Welt. Mit Rudi begann meine große Verzweiflung. Rudi war alles, was ich nicht war. Extravertiert, lebensfroh, ein Lausbub, der keck auf die Leute zuging, sie unterhielt und zum Lachen brachte. Mein kleiner Bruder machte mir vor, wie man sein musste, wenn man geliebt werden wollte.

Rudi brachte Sonne und Schatten in unsere Familie, Sonne für meine Eltern, Schatten für mich. Dieses Gefühl, gegen meinen Bruder nicht anzukommen, eine Art zweitrangiges, unzulängliches Kind zu sein, war so stark, dass es sich zu einer Grundgewissheit entwickelte. Einer tragischen Grundgewissheit, an der es absolut nichts zu rütteln gab. Von da an erscheint mir mein Leben als eine Reihe von Versuchen, vor dieser traurigen Gewissheit davonzulaufen.

Liebe Mama! Da sitzt du in unserem Zimmer und liest uns vor und singst mit uns – oft auch auf Englisch, denn du warst ehrgeizig und wolltest uns auf diese Weise einen Vorteil fürs spätere Leben verschaffen. »Mother Goose«, »Tales from Ebony«, aber auch die Märchen von Andersen und den Gebrüdern Grimm. Ich versank in diesen Geschichten, sie beschäftigten und beglückten mich.

Hans im Glück war mein großes Vorbild. Nicht im Sinne einer Erwachsenenmoral, als Vorbild für eine optimistische Weltsicht, die in allem nur das Positive sieht. Das war mir ganz unmöglich und auch nie erstrebenswert. Vorbildlich war für mich das schlichte Schicksal dieses Hans im Glück: Er verlor auf naive Weise sein ganzes Vermögen und kam völlig mittellos, aber glücklich jubelnd nach vielen Jahren zu seiner einsamen und armen Mutter zurück, die ihn mit großer Liebe an ihr Herz drückte.

Neben einer tiefen Trauer setzte sich in diesen Jahren auch eine ständige Angst in mir fest. Die Angst vor dem Krieg. Weshalb war sie so stark?

»Beirut im Krieg« steht unter einer Fotografie aus dem Jahr 1941. Sie zeigt einen kleinen Jungen in kurzen Latzhosen und weißen Schuhen. Jemand hat ihm einen Offizierssäbel in den Gurt gesteckt. Seine linke Hand umfasst den Lauf eines Gewehrs, das neben seinem linken Fuß auf dem Boden steht. Ratlos und verloren schaue ich in die Kamera.

Woher also kam diese große Angst vor dem Krieg? Beirut war nicht unmittelbar in Kriegshandlungen verwickelt. Aber Vater sprach ständig davon. Erst später habe ich mich über die damalige politische Situation informiert.

In Europa vergessen wir gern, dass sich dieser Weltkrieg wirklich auf der ganzen Welt abspielte. Die Regionen Syrien und Libanon, unter französischem Völkerbundsmandat, waren für Nazi-Deutschland strategisch wichtig. Von hier aus wollte man mit der Hilfe von Vichy-Frankreich die Briten aus dem Nahen Osten verdrängen. Im Jahr 1941 stand man tatsächlich auch in Beirut Gewehr bei Fuß. Im Juni begann der Syrisch-Libanesische Feldzug, die Alliierten drangen von Palästina und dem Irak aus gegen Syrien und den Libanon vor. Es gab heftige Gefechte, über die aber möglichst wenig publik werden sollte, weil hier unter anderen Briten gegen Franzosen und Franzosen gegen ihre eigenen Landsleute kämpften. Von Süden her stießen australische Truppen gegen Beirut vor und standen Anfang Juli wenige Kilometer vor der Stadt. Der Waffenstillstand und die Kapitulation von Vichy-Frankreich waren Rettung in letzter Minute.

Mein Vater hatte also schon Grund, besorgt vom Krieg zu sprechen. Er hatte auch allen Grund, sich über die Nazi-Gräuel zu empören. Aber es bestand kein Grund, es vor Frau und Kindern zu tun. Ich weiß nicht, wo überall, am Tisch oder im Bett durch die offene Zimmertür, aber ich hörte Dinge, die ich einfach nicht hätte hören dürfen.

Dazu gehörten auch die Erzählungen von Jakob Künzler. Er war Arzt, evangelischer Diakon und Missionar. In der Nähe von Beirut eröffnete er schließlich Heime und Ausbildungszentren für armenische Witwen und Waisen. Meine Eltern beschlossen, mich und Rudi von Künzler taufen zu lassen. Während des Ersten Weltkrieges hatte Künzler den Völkermord an den Armeniern erlebt. Unter Lebensgefahr versteckte und pflegte er Flüchtlinge und rettete zusammen mit seiner Frau Tausende vor dem Tod. Künzler war nur einen Tag bei uns und erzählte seine schaurig-traurige Geschichte. Von den »wandernden nackten Skeletten« und den langen Kolonnen von Waisen »im Lande des Blutes und der Tränen« (so taufte er sein Buch), die er in den Libanon geführt hatte. Ein Ärmel seines Hemdes hing seltsam schlaff herunter. »Bruder Jakob« fehlte ein Arm.

Für meine Mutter wurden die Kriegsjahre fern der Heimat immer weniger erträglich. Sie drängte darauf, Beirut zu verlassen, um in die Schweiz zurückzukehren. Das Gesuch meines Vaters wurde gutgeheißen, und es begannen die Vorbereitungen für die lange Reise.

 
2 Bern
1944–1946

Es ging also zurück in die Schweiz. Aber wir fuhren nicht »nach Hause«. Ich nicht. Ich musste eine vertraute Umgebung verlassen, um in ein neues, fremdes Land zu ziehen. Der Abschied war eine sehr langwierige und schmerzhafte Prozedur. Woche für Woche, Tag für Tag wurde ein anderes Stück der gewohnten Umgebung weggerissen. Plötzlich verschwanden auch unsere Spielsachen in den großen Kisten und Koffern. Meine Eltern waren nur noch mit dem Umzug beschäftigt. So ein Diplomatenhaushalt war riesig, und selbst meinem Vater dürfte in dieser Zeit der Gedanke gekommen sein, dass weniger Besitz das Leben auch leichter machen kann. Viele große Kisten wurden uns erst Monate oder Jahre später nachgeschickt. Aber es war immer noch eine beachtlich lange Reihe von Koffern, die schließlich vor dem Gepäckwagen unseres Zuges stand.

Die wochenlange Zugreise selbst empfand ich als Abenteuer. Sie führte von Beirut über Aleppo, Istanbul, Sofia, Belgrad, Venedig in die Schweiz. Wir fuhren im Schlafabteil einer gehobenen Klasse. Ich genoss das Schlafen im oberen Kajütenbett, das Rütteln und den ständigen Geruch des Rauches, der von der Dampflokomotive in die Kabine strömte. Die Stimmung an den Bahnhöfen der fremden Länder war ernst. Für meine Eltern müssen es belastende Wochen gewesen sein. Vor allem meine Mutter schien oft bedrückt und verängstigt. An einem Bahnhof, ich glaube, es war in Belgrad, wurde sie auf eine besonders harte Probe gestellt.

Als wir uns schon im Abteil eingerichtet hatten, stieg Vater noch einmal aus, um Wasser zu besorgen. Er verschwand im Getümmel – und wollte nicht wieder auftauchen. Die Minuten vergingen, viel Zeit blieb nicht bis zur Abfahrt. Mutter schaute immer wieder besorgt zum Fenster hinaus, blieb aber beherrscht. Schon setzte sich der Zug in Bewegung …

Die Wiedersehensfreude war groß, als Vater Minuten später seinen Kopf in unser Abteil streckte. Es war ihm gelungen, auf den hintersten Wagen des fahrenden Zuges aufzuspringen. Wir fielen uns in die Arme, Vater und Mutter küssten sich innig. In einem meiner Märchen vielleicht. In der Realität zeigte man keine Gefühle, das gab es einfach nicht. Vater kam zurück, alle waren erleichtert, jede(r) für sich.

Endlich erreichten wir die Schweiz. In Bern sollte ein neues Leben beginnen. Aber die Hoffnung, dass auch ich endlich »aufblühen« würde, erfüllte sich nicht. Ich verharrte in meinem persönlichen Reduit.

Die Auswirkungen des Krieges auf unser Leben waren erträglich. Manchmal ertönten die Sirenen, dann mussten wir von der Straße weg und uns in irgendeinen Hausgang stellen. Nachts waren die Straßen dann stockfinster, wir hängten zur Verdunkelung Wolldecken über alle Fenster. Auch an die Rationierungsmarken erinnere ich mich und an die vielen Kutteln und anderen Innereien, die es zu essen gab. Der Teller musste stets leer gegessen werden, und als Höhepunkt wartete schließlich ein Löffel Lebertranöl: Für Rudi und mich war das jedes Mal eine Mutprobe mit ungewissem Ausgang.

Im Ganzen nahm das Leben seinen gewohnten Gang. Vater arbeitete und Mutter haushaltete – hier allerdings ohne Bedienstete. Ich sehe meine zierliche Mutter, wie sie in der Wohnung mühsam die schweren Orientteppiche aufrollt, um sie dann schwer atmend die Treppen hinunterzutragen und mit letzter Kraft im Hof über die Wäschestangen zu wuchten. Meine Mutter hasste die Hausarbeit. Das heißt, nicht eigentlich die Arbeit, die sie gewissenhaft erledigte, sondern die Tatsache, dass man – ihr Mann – ihr Aufgehen in dieser Rolle so selbstverständlich erwartete. Auch das Teppichklopfen galt als typische Haus- und damit Frauenarbeit – niemals hätte ein Mann seiner Frau diese schwere Arbeit abgenommen, das stand vollkommen unter seiner Würde. Den Teppichklopfer nahm ein Mann höchstens in die Hand, um seinen Nachwuchs zu bestrafen. Diese Erfahrung blieb mir allerdings erspart. Nie wurden wir Kinder körperlich gezüchtigt.

Am Sonntag gings im Sonntagskleid zum Tierpark Dählhölzli oder zur Allmend, wo die Hornusser spielten. Und im Schwimmbad Marzili an der Aare unten lehrte mich Vater schwimmen, mit einer Art Gürtel aus flachen Korken um den Bauch.

Einmal besuchten wir Buben mit Mutter auch eine Anstalt, in der man eine Badewanne mit warmem Wasser mieten konnte. Im Krieg war das offenbar ein Luxus. Ich frage mich, was sich mir so tief eingeprägt hat: dass meine Mutter zu Rudi und mir in die Wanne stieg, oder dass sie dabei ihre Unterwäsche anbehielt? Oder vielleicht auch, dass eine halb nackte Frau mit uns badete?

Im Winter schlittelten wir beim Bärengraben. Dort trafen wir manchmal uniformierte amerikanische US-Soldaten, die uns sinnigerweise »life savers« (jene Bonbons in Form eines Rettungsrings) und Kaugummis in allen Farben schenkten. Nach dem Krieg verbrachten diese in Europa stationierten Soldaten gern ihren Urlaub in der Schweiz. Damals mochte ich sie noch, sie, die uns »von den Nazis befreiten«.

Während des Krieges fühlte ich mich nicht unmittelbar bedroht. Gequält haben mich aber weiterhin die Kriegserzählungen meines Vaters. Die Horrorberichte über die Konzentrationslager – er ahnte wohl nicht, dass ich zuhörte, manchmal vom Bett aus.

Ich begann die Menschen zu hassen, die zu solchen Grausamkeiten fähig waren. Die Welt sollte doch ganz anders sein! Man musste doch sorgsam umgehen mit allen Kreaturen, allen Dingen. So wie die Goldmarie bei Frau Holle, die das Leiden versteht und das Brot vor dem Verbrennen und den Apfelbaum von der Last seiner Äpfel erlöst.

Meine Mutter erzählte mir später immer wieder eine Begebenheit am Berner Viktoriarain, an die auch ich mich sehr gut erinnern kann: Ein Gärtner sägte hoch oben an einem Baum einen dicken Ast ab. Ich war etwa sechsjährig und fragte meine Mutter entsetzt: »Tut das dem Baum nicht weh, wenn man ihm seinen Arm abschneidet?« Das Leiden dieses Baumes beschäftigte mich, ich stellte mir seine Schmerzen vor. Jedes Mal bei meinem Vorbeigehen schien er seine Stummel flehend zum Himmel zu heben.

Nachts hatte ich oft Angstträume: Die Sterne am Himmel begannen sich unheimlich zu bewegen, der Mond drohte auf die Erde zu stürzen. Unheimliche helle Flugzeuge flogen herum. Glücklicherweise erwachte ich jeweils und war erleichtert. Auch drohte ich manchmal im Wasser zu ertrinken und stellte noch im Traum erleichtert fest, dass ich unter Wasser weiteratmen konnte.

Vor dem Einschlafen setzte sich Mutter oft zu Rudi und mir ans Bett und sang Schlaflieder. An manchen Abenden musizierten meine Eltern zusammen: Vater spielte Geige, Mutter Klavier. Sie spielten Klassik, und ich hörte vom Bett aus zu. Welch eine Wohltat war das!

Nach einer kurzen Zeit im Kindergarten fällten meine Eltern eine für mich verheerende Entscheidung: Ein Jahr verfrüht wurde ich in die Schule geschickt. Damit war ich völlig überfordert. Der Schulbericht nach dem ersten Schuljahr zeugt davon. Meine schulischen Leistungen und Noten waren zwar gut (»Im Berndeutsch große Fortschritte. Guter Rechner, sehr guter Leser. Schöne Zeichnungen«). Meine Überforderung schlug sich jedoch unter der Rubrik »Betragen/Verhalten« nieder: »Leider ist H.-P. im Betragen ein Sorgenkind. Konstante Unruhe. Spielen mit allerlei Dingen, Schwatzen. Er gehorcht nicht mit allen andern, sondern muss immer aufgerufen sein. Eigenartigerweise kann er trotz allem mit einem Ohr zuhören. Sehr ehrlich gibt er seine Dummheiten zu. Kurze Besserung jeweils nach den Ferien.« Schwer integrierbar. Ein »ausgeprägter Wille, ja Eigenwille« wurde mir von Frau Müller ebenfalls attestiert. Der ist mir geblieben.

Auch zu Hause wurde ich nun bockig und rebellierte gegen alle Versuche, aus mir ein sozialeres Wesen zu machen. Und gegen jenes beklemmende Gefühl, die Nummer zwei, ein Verlierer zu sein. Meine Mutter machte sich meinetwegen immer größere Sorgen.

Mein Vater hielt sich zurück. Die stille und strenge Autorität im Hintergrund. Er hatte mich wohl damals schon aufgegeben. Auch ihm gab meine Eigenart zu denken. Besorgt war er jedoch vor allem, dass ich nicht seiner Art entsprach.

Zum Glück willigte er ein, mich nach einer schulpsychologischen Abklärung zunächst in eine Beobachtungsklasse wechseln zu lassen. Diese Kleinklasse tat mir gut, und das lag vor allem an meiner neuen Lehrerin. Fräulein Mäder war eine Bauerntochter aus Frutigen, warm, herzlich, mütterlich.

Man stelle sich vor, dieses gemütvolle Mädchen führt mich am ersten Schultag in die Mitte der Klasse und sagt in ihrem breiten Berner Dialekt: »So, Hans-Peter, das ist schön, dass du zu uns kommst, machs dir bequem und sei willkommen.« Dazu streichelt sie mir sanft über den Kopf. Da war ich weg, im Himmel. Leider war ich da nur kurz.

Aber die Zeit in jener kleinen Holzbaracke bei Fräulein Mäder war wirklich ein Segen. Ich atmete auf (wenn ich nicht gerade dabei war, mit dem Messer möglichst sorgfältig einen Tintenfleck vom Papier zu kratzen: War das eine Plage!). Auch Fräulein Mäder konnte streng sein und forderte uns – aber eben: liebevoll. Wir sogenannten Beobachtungsschüler waren in zwei Klassen unterteilt. Ich war in der oberen zweiten, als die Lehrerin eines Tages den Erstklässlern ein wunderbares Märchen erzählte, eine ganze Stunde lang. Sie erzählte so schön und spannend, dass ich ihrer Geschichte schon nach wenigen Sätzen verfallen war. Während ich also vollständig abtauchte in die Traumwelt, die sich da plötzlich auftat, vergaß ich ganz die Rechenaufgaben, die ich in dieser Zeit hätte erledigen sollen. Als Fräulein Mäder die Aufgaben am Ende der Stunde kontrollieren wollte, hatte ich rein gar nichts vorzuweisen! – Sie lächelte und verzieh mir.

Fräulein Mäder war Anthroposophin. Sie schickte mich in die Eurythmie und empfahl meiner Mutter, mich auch bei den Wölfli (den Jung-Pfadfindern) mitmachen zu lassen. Da ging ich fortan jeden Samstag hin und war in einer Gruppe mit Mani Matter. Ich genoss jede Aktivität in der Natur, in den weiten Wäldern roch es geheimnisvoll, und in meiner Fantasie suchte ich nach den Zwergen und Waldgeistern, die sich hinter den Bäumen verstecken mussten.

Zu Hause verlor ich mich in spannenden Kinderbüchern. Auch beim Markensammeln konnte ich alles um mich herum vergessen, auch diese Marken erzählten von fernen, geheimnisvollen Welten. Mein Vater unterstützte mich in diesem Hobby, weil er selber ein leidenschaftlicher Sammler war. Wenigstens einmal hatten wir etwas gemeinsam.

Es muss im Jahr 1945 gewesen sein. Nachdem an jenem Maitag, ich war gerade auf dem Schulweg, plötzlich die Glocken geläutet hatten: als endlich der Krieg zu Ende war. Kurz darauf wurde Rudi und mir eröffnet, dass eine neue Reise bevorstand. Wir würden nach Bolivien, Südamerika, auswandern. Ich freute mich auf ein neues Abenteuer. Wegzugehen lockte mich immer.

Zu den Reisevorbereitungen gehörte für meinen Bruder und mich eine Reihe von Zwangsimpfungen. »Der Herr Doktor wird dafür sorgen, dass ihr nicht krank werdet am neuen Ort.« Aber niemand erzählte uns von der riesigen Spritze aus Glas mit der dicken, langen Nadel, von einem Herrn Doktor, der diese Waffe vor unseren Augen präparieren würde, langsam, schweigsam, um sie uns dann unvermittelt in Oberarm, Gesäß oder Rücken zu stoßen. Es tat furchtbar weh.

Ich will die unantastbaren Autoritäten von damals nicht generell verdächtigen. Aber an solchen Orten ließ sich die gemeine Lust, andere Menschen in Angst zu versetzen und ihnen beim Leiden zuzuschauen, tatsächlich noch viel ungenierter ausleben als heute. Fortan mied ich Ärzte und Krankenhäuser, wo ich nur konnte; jedes Mal wurde mir übel, sobald mir jener typische Geruch, wohl von Karbol, in die Nase stach.

Auch mein Bruder hatte solche Panik vor der Spritze, dass er bei unserem letzten Termin, so schnell er nur konnte, vor dem brutalen Kerl im weißen Kittel auf die Straße und davonrannte, während ich wie paralysiert auf meinem Stuhl festklebte.

Ich bewunderte dich, Rudi, und war überzeugt, dass deine Flucht das einzig Richtige war. Später allerdings wünschte ich, du wärst damals neben mir sitzen geblieben.

Im Sommer 1946 war es dann so weit. Wir machten uns auf den langen Weg nach Südamerika.