Sophienlust – Jubiläumsbox 5 – 6er Jubiläumsbox

Sophienlust
– Jubiläumsbox 5–

6er Jubiläumsbox

E-Book: 23-28

Juliane Wilders
Judith Parker
Patricia Vandenberg
Aliza Korten

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-014-1

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Flori, der Sohn der Zirkusprinzessin

... konnte Herzen aus Stein erweichen

Roman von Juliane Wilders

»Ist es noch weit, Mutti? Meine Füße sind ganz müde. Ich kann keinen Schritt mehr gehen.«

»Warte, ich trage dich, Flori. Es ist nicht mehr weit, vielleicht noch fünf Minuten. Dort hinter den Bäumen kannst du schon die Dächer von Sophienlust sehen.«

Eva de Collon blieb stehen und schenkte ihrem kleinen Sohn Florian ein zärtliches Lächeln.

Das Kind brauchte nicht zu ahnen, wie elend sie sich fühlte und dass ihr jeder Schritt zur Qual wurde.

Sie biss die Zähne zusammen, als sie Flori hochhob und das Gewicht des Kindes sie schier zu Boden drücken wollte.

Sie ging ein paar Schritte, dann sah sie die Kinder.

»Guten Tag«, sagten Dominik und Malu wie aus einem Munde, als sie die zierliche fremde Dame sahen. Benny, Malus Wolfsspitz, kam zutraulich heran und wedelte freundlich mit dem Schwanz.

»Ein Hund! Mutti, ein Hund«, rief Flori und zappelte, weil er vom Arm seiner Mutter wieder herabwollte.

»Guten Tag, Kinder. Ihr seid sicher von Sophienlust. Ist Frau von Schoenecker zu sprechen?«

»Mutti ist da, gnädige Frau. Ich bin Dominik von Wellentin. Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen so weiß aus.«

»Danke, jetzt geht es mir schon wieder besser«, lächelte Eva de Collon. »Du bist aber ein sehr aufmerksamer Junge. Deine Mutti ist gewiss sehr stolz auf dich.«

»Manchmal vielleicht«, gab Dominik geschmeichelt zu. »Doch ab und zu schimpft sie auch mit mir. Soll der Kleine auch zu uns kommen?«

Eva warf einen ängstlichen Blick auf Flori. Doch er beschäftigte sich mit Benny und achtete nicht auf das, was Dominik mit ihr sprach.

Sie nickte. »Deshalb kam ich her. Oh, wie wunderhübsch ist es hier. Gewiss seid ihr alle froh darüber, dass ihr hier aufwachsen dürft.«

»Ich kenne keinen schöneren Platz«, sagte Malu. »Tante Denise ist zu allen Kindern lieb. Man vergisst, dass man eigentlich zu niemandem mehr gehört.«

Ein Schatten lief über Eva de Collons junges Gesicht. Es zuckte um ihren feinen Mund, und sekundenlang zog sie die Augenbrauen zusammen. Ihr Blick ruhte schmerzlich auf Flori, der in seinem roten Kapuzenmäntelchen wie ein kleiner Wichtelmann wirkte.

»Ich sage Mutti, dass Sie sie sprechen möchten. Wie ist Ihr Name?«

»Eva de Collon«, antwortete die junge Frau.

Sie beugte sich zu Flori hinunter und zog ihn mit einer heftigen Bewegung an sich. Ihre Lippen bedeckten das kindliche Gesicht mit Küssen. Als sie Flori wieder freigab, waren ihre Augen schwer von Tränen.

Malu hatte sich abgewandt. Sie ahnte, dass dies ein Abschied für immer war. So ähnlich hatte ihr Vati sie auch angeschaut, als er sie nach Sophienlust gebracht hatte.

Dominik kam zurück. »Mutti erwartet Sie, Frau de Collon. Sollen wir uns um Flori kümmern?«

»Das wäre lieb von euch, Kinder.«

»Komm, Flori. Wir zeigen dir Ha­bakuk und unsere Ponys. Und die andern Kinder musst du auch kennenlernen.«

Flori wandte sich nicht einmal mehr um, als er zwischen Dominik und Malu wegging.

Ein schluchzender Laut entrang sich Evas Brust.

»Er ist ein Kind, liebe Frau de Collon«, erklang Denise von Schoeneckers Stimme hinter Eva. »Kommen Sie bitte und erzählen Sie mir, was Sie zu mir führt.«

So warm und herzlich, wie ihre Stimme geklungen hatte, war auch der Händedruck, mit dem Denise ihren Gast begrüßte. Bereits nach einem Blick in das ernste bleiche Gesicht der jungen Frau ahnte Denise, was dieses so sympathisch wirkende Menschenkind zu ihr getrieben hatte.

Im Vorbeigehen gab sie einem der Mädchen den Auftrag, eine Erfrischung zu bringen. Dann war sie Eva de Collon selbst behilflich, den feuchten Regenmantel abzulegen.

Eva sah auf das große Gemälde Sophie von Wellentins.

»Sie hat Ähnlichkeit mit Großmama«, dachte sie, bevor sie auf Denises Aufforderung hin Platz nahm.

»Vor vier Jahren habe ich Sie zum ersten Mal gesehen, Frau von Schoenecker«, begann sie zu berichten. »Doch Sie werden das nicht wissen. Damals gastierte ich mit einem Wanderzirkus hier in der Nähe. Sie und alle Ihre Kinder besuchten eine unserer Nachmittagsvorstellungen. Und ich hörte, was Sie für ein großherziger, gütiger Mensch sind. Da dachte ich, wenn ich einmal Hilfe bräuchte, gäbe es nur einen Menschen, der mir helfen würde. Und der sind Sie.«

Sie brach ab. Ein trockener Husten schüttelte sie. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder sprechen konnte. Doch Denise kam ihr zuvor. »Ich nehme an, dass Sie mir Ihren kleinen Sohn anvertrauen wollen, Frau de Collon.«

Eva nickte. In ihren Augen glänzte es feucht.

»Ich muss es, Frau von Schoenecker, und kann nur hoffen, dass Sie mich nicht wegschicken, weil ich eine vom Zirkus bin. Mein Mann ist kurz nach Floris Geburt tödlich verunglückt. Und ich selbst …, ich habe nicht mehr lange zu leben. Ich bin unheilbar krank. Und ich möchte, dass Flori behütet und beschützt aufwächst.«

Wieder war sie zu erschöpft, um weiterreden zu können.

»Selbstverständlich werde ich mich Floris annehmen«, versprach Denise spontan. »Sind Sie denn wirklich sicher, dass es für Sie keine Hoffnung mehr gibt? Haben Sie alles versucht?«

»Alles«, murmelte Eva. »Um Floris willen habe ich so sehr gehofft, dass sich die Ärzte geirrt hätten. Ich weiß, wie bitter es ist, wenn ein Kind nicht genug Liebe bekommt. Und, bitte, versprechen Sie mir, dass Sie sich um Flori kümmern werden! Ich habe ihn schon heute gebracht, weil ich das selbst tun wollte. Ich weiß nicht, wie lange meine Kräfte noch ausreichen werden …«

Sie konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Lautlos weinte sie.

Denise stand auf und setzte sich neben Eva auf das damastbezogene Sofa. Mütterlich legte sie ihren Arm um die Schultern der jungen Frau.

»Gottes Wege sind für uns Menschen manchmal hart und unverständlich, liebe Frau de Collon. Und doch müssen wir uns mit seinen Entschlüssen abfinden. Ich verstehe, was jetzt in Ihnen vorgeht. Ich verspreche Ihnen, dass Flori bei mir die Heimat finden wird, die Sie ihm nicht mehr geben können, und dass wir ihn alle sehr lieb haben werden.«

Eva tupfte sich die Tränen von den Wangen. Doch ihr Blick blieb umflort.

»Ich danke Ihnen sehr, Frau von Schoenecker. Sie sind sehr gütig.«

Denise bemerkte, dass sich die Besucherin nur noch mühsam aufrecht hielt.

»Bleiben Sie doch bitte ein paar Tage bei uns, Frau de Collon. Wir haben genügend Platz. Die Ruhe hier würde Ihnen sicher guttun. Außerdem könnten Sie sich mit Flori beschäftigen.«

»Danke, Frau von Schoenecker. Ich weiß, dass es lieb gemeint ist. Doch es ginge über meine Kräfte. Ich habe schon Abschied genommen. Flori ist noch sehr jung. Er wird mich bald vergessen haben.«

Sie öffnete ihre Handtasche und nahm einen Scheck heraus und einen Brief. Beides schob sie Frau von Schoen­ecker hin.

»Bitte, nehmen Sie das für die Unkosten, die Ihnen durch Floris Anwesenheit hier entstehen. Und wenn ich nicht mehr bin, dann leiten Sie bitte diesen Brief weiter. Und jetzt möchte ich gehen.«

Denise erkannte, dass es sinnlos war, die junge Frau zurückhalten zu wollen. Jeder Mensch wusste selbst am besten, wie viel er sich zumuten konnte. Doch sie sah auch, dass Eva de Collon am Ende ihrer Kräfte war. Der Weg zur Bahnstation war sehr weit.

»Dann erlauben Sie mir wenigstens, dass ich Sie mit dem Wagen in die Stadt bringen lasse, Frau de Collon.«

Eva wollte den Kopf schütteln. Doch dann nickte sie. Sie fühlte sich sterbensmüde und wie ausgebrannt.

»Danke, ja. Wenn es Ihnen nicht allzu viel Mühe verursacht.«

»Überhaupt nicht.«

Denise hatte schon geläutet und gab den Auftrag, dass der Wagen vorfahren solle.

»Oh, fast hätte ich’s vergessen. Mehrere Pakete mit Floris Ausstattung sind hierher unterwegs. Ich konnte sie nicht tragen. Und nochmals tausend Dank. Solange ich dazu imstande bin, werde ich Ihnen schreiben. Leben Sie wohl, Frau von Schoenecker.«

»Leben Sie wohl«, flüsterte Denise.

Sie sah Eva nach, die rasch auf den Wagen zuging und einstieg. Sie sah sich nicht mehr um, sondern hielt den Kopf gesenkt, als der Wagen Sophienlust verließ.

Denise beschloss, sich sogleich um den kleinen Florian zu kümmern. Sie nahm sich den Regenumhang und ging durch den Park zum Pavillon hinüber, in dem die Kinder spielten.

*

Eva hielt die Augen geschlossen. Sie horchte in sich hinein, während der Wagen rasch über die Straße rollte. Erst als er vor dem Hotel stoppte, wurde sie sich ihrer Umgebung bewusst. Sie gab dem Fahrer ein reichliches Trinkgeld und stieg aus.

Der Hausdiener öffnete ihr die Tür.

Eva verlangte ihren Zimmerschlüssel und stieg langsam die Treppe zum ersten Stock hinauf.

Sie fühlte sich in einer unbeschreiblichen Stimmung und war froh, als sie jetzt die Tür des Hotelzimmers von innen verschließen konnte. Nur keinen mehr sehen müssen, endlich die Maske von Gleichmut fallen lassen dürfen, das war ihr Wunsch.

Sie zerrte den Regenmantel herunter und legte ihn achtlos auf einen Stuhl. Dann ging sie ans Fenster und zog die Vorhänge zu. Der graue Regentag würde ohnedies in kurzer Zeit von der Nacht aufgesogen werden.

Eva schaltete die Nachttischlampe an und entnahm ihrem Koffer ein dickes, in Leder gebundenes Buch. Es besaß ein kunstvoll verziertes Schloss. Den Schlüssel dazu trug Eva an einer langen goldenen Kette um den Hals. Sie zog ihn hervor und öffnete das Tagebuch.

Sie schlug es auf. Auf der ersten Seite standen ein paar Worte. Eva kannte sie längst auswendig. Und doch las sie sie immer wieder.

Meiner innigst geliebten Enkelin Eva, von ihrer Großmama Annabelle war dort von der Hand Annabelle von Brucks niedergeschrieben.

Eva wandte die Seite um. Das nüchterne Hotelzimmer versank um sie herum …

*

Es war ein strahlender Frühlingstag. Eva erwachte davon, dass draußen ein Pferd wieherte. Richtig, sie war gestern Abend auf dem Bruckhof, der Großmama gehörte, angekommen. Eva sprang mit beiden Beinen aus dem Bett, nahm eilig den Morgenmantel um und lief ans Fenster.

»Großmama, guten Morgen«, rief sie hinunter. »Warte bitte auf mich. Ich möchte so gern mit dir ausreiten. Ich beeile mich.«

Annabelle von Bruck, die eben in den Sattel steigen wollte, sah lächelnd nach oben und winkte mit der Reitgerte.

»Ja, gut. Ich warte, Eva.«

Eva beeilte sich und schlüpfte in die Reitkleider. Ihr langes hellblondes Haar hielt sie mit einer Spange zusammen. Dann lief sie, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die geschwungene Treppe hinab, die in die Wohndiele des gemütlichen Landhauses führte.

Annabelle von Bruck stand mit Franz, dem alten Pferdepfleger, vor der Tür. Jetzt sah sie Eva entgegen.

Eva küsste ihre Großmutter auf die Wangen.

»Du wärst wirklich weggeritten, ohne mich zu wecken, Großmama?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Du weißt doch, dass ich sonst niemals zum Reiten komme.«

»Ich wollte dich ausschlafen lassen, Herzchen, das war alles. Franz bringt dir gleich Castor.«

Da kam Franz auch schon. Castor, ein  kohlschwarzer Hengst, der dem Pferd, das Annabelle von Bruck ritt, bis zum letzten Schwanzhaar glich, schnoberte zutraulich den Zucker von Evas flacher Hand.

Eva kraulte das Pferd mit der freien Hand zärtlich zwischen den Augen.

»Gut, dass Castor den winzigen weißen Fleck unter dem rechten Auge hat, sonst könnte man ihn nicht von Pollux unterscheiden. Siehst du, Großmama, wie er sich freut, dass ich wieder hier bin?«

»Du verstehst es, mit Tieren umzugehen, Eva. Komm, steig auf! Wir werden noch eine halbe Stunde auf der Reitbahn zubringen. Ich möchte sehen, ob du alles das behalten hast, was ich dich lehrte.«

»Das kann man doch gar nicht vergessen, Großmama. Wenn nur Papa anders wäre! Wenn er mir wenigstens erlaubte, ein Pferd zu halten. Er ist doch vermögend genug. Doch selbst wenn du mir eines schenken würdest oder wenn ich es mir aus dem Geld von Mamas Erbe selbst kaufen würde, dann brächte er es fertig, es wieder wegzugeben. Du hast mir versprochen, mir zu erzählen, warum er so ist. Ich bin schon siebzehn und fast erwachsen.«

»Lass dir nur Zeit, Eva! Du wirst schon alles erfahren. Wie geht es Werner?«

»Er ist in den Flitterwochen und maßlos verliebt in seine junge Frau. Änne ist wirklich großartig. Die beiden passen gut zusammen und verstehen sich prächtig. Wenn Papa nur etwas umgänglicher wäre! Änne bemüht sich so um ihn. Aber er stößt sie immer wieder mit seiner Kälte zurück. Kein Wunder, dass er so einsam ist.«

Annabelle von Bruck hörte ihrer Enkelin zu. Ihr feines Gesicht unter dem weißen Haar wirkte noch sehr jugendlich. Und ihrer aufrechten, geraden Haltung sah man es an, dass sie zeit ihres Lebens über Geist und Körper eine strenge Kontrolle ausgeübt hatte.

Es gab keinen Menschen auf der Welt, den Eva mehr liebte als ihre Großmama. Danach kam gleich ihr Bruder Werner, der fünf Jahre älter als sie war.

An ihre Mutter, die schon vor langer Zeit verstorben war, hatte sie nur eine schwache Erinnerung. Sie war eine ernste Frau gewesen, die wenig gesprochen hatte und wie ein Schatten durch die Räume der Bruckschen Villa gegeistert war. Vielleicht hatte Eva auch deshalb kein richtiges Bild mehr von ihr.

Doch vor ihrem Vater fürchtete sie sich. Er war streng und lieblos, duldete keinerlei Widerspruch und wollte von Großmama nichts wissen. Man durfte nicht einmal ihren Namen vor ihm nennen. Doch dass Werner und sie Großmama nicht besuchen durften, das hatte er nicht durchsetzen können.

Es war still in dem Wald, durch den sie ritten. Die Sonne zauberte goldene Arabesken auf den moosgrünen Boden, und plötzlich begann ganz in der Nähe ein Specht zu klopfen.

Die beiden Frauen, die alte und die junge, störten einander mit keinem Wort. Eine jede hing ihren eigenen Gedanken nach.

Erst als sie bei der Reitbahn ankamen, die der verstorbene Erwin von Bruck vor vielen Jahren für seine damals blutjunge Frau hatte anlegen lassen, ergriff Annabelle von Bruck das Wort.

»Ich werde das Tonband anstellen, Eva.«

Sie glitt behände wie eine Zwanzigjährige aus dem Sattel und ging auf das kleine Blockhaus zu, das am Rande der Reitbahn unter den tief hängenden Zweigen der alten Fichten stand.

Annabelle von Bruck hatte den Schlüssel zum Blockhaus immer bei sich. Hier hatte sie viele glückliche Stunden verlebt. Und das verwitterte Haus war ihr zu einer Art von Zufluchtsort geworden, seit Erwin sie verlassen hatte.

Eva war ein bisschen aufgeregt, wie immer, wenn sie vor Großmamas kritischen Augen bestehen musste. Sie klopfte Castors langen, seidig glänzenden Hals.

»Wir müssen uns große Mühe geben, Castor. Großmama soll nichts an uns zu tadeln haben.«

Das Pferd stellte die Ohren auf. Und dann ertönte der Zirkusmarsch.

Eva gab ein leises Kommando und ritt an. Bald vergaß sie, dass Großmama zuschaute. Sie fühlte sich mit dem Pferd wie verwachsen, und die Volten und Sprünge gelangen ihr genauso gut wie die übrige Dressur.

Als die Musik verstummte, hielt Eva das Pferd an. Sie lächelte glücklich, als sie Großmamas begeistertes Händeklatschen vernahm.

»Wirklich großartig, Herzchen. Du wärst bereits jetzt eine vollendete Zirkusreiterin.«

Eva stieg aus dem Sattel. Bevor sie die Decke holte, mit der Castor trockengerieben wurde, umarmte sie rasch Großmama und küsste sie.

»Das habe ich dir zu verdanken, Großmama. Vielleicht gehe ich wirklich eines Tages zum Zirkus. Du hast mir so viel davon erzählt. Alles sehe ich so deutlich vor mir, als hätte ich es selbst erlebt.«

Später gingen sie zu Fuß zum Bruckhof zurück. Die Pferde führten sie an den Zügeln hinter sich her.

»Entschuldigst du mich bitte, Großmama? Ich möchte mich duschen und umziehen. Und dann habe ich einen gewaltigen Frühstückshunger.«

Annabelle nickte. Sie blieb bei Franz stehen.

»Du hättest sie sehen sollen, Franz. Als ob die Zirkusprinzessin Annabelle noch einmal jung geworden wäre.«

»Man weiß nie, was kommt, Frau von Bruck. Vielleicht wird die junge Dame einmal genauso berühmt wie Sie es waren.«

»Ich weiß nicht, ob ich es ihr wünschen soll, Franz. Im Zirkus muss man hart sein. Hart gegen sich selbst und hart gegen andere. Ob Eva das je sein könnte?«

»Das kommt wohl auch immer auf die Umstände an, Frau von Bruck.«

*

Kurz danach saßen Eva und Annabelle in der behaglichen Erkerecke des Esszimmers beim Frühstück.

»Am liebsten würde ich für immer bei dir bleiben, Großmama. Aber das erlaubt Papa nie. Ich verstehe das nicht. Denn er kümmert sich doch überhaupt nicht um mich. Hier bei dir, da wüsste ich doch wenigstens, dass mich jemand lieb hat. War Papa schon immer so? Wie kommt es, dass du einen solchen Sohn hast? Wo du doch die Liebe und Güte in Person bist?«

Annabelle sah Eva nachdenklich an.

»Ich will’s dir erzählen, Herzchen. Früher, als dein Vater noch ein Kind war, hatte er mich genauso lieb, wie andere Kinder ihre Mütter auch lieb haben. Das änderte sich erst, als er sich zum ersten Mal verliebte. Annette von Golzheim war ein ebenso schönes wie hochmütiges Mädchen. Es gefiel ihr, dass dein Vater ihr den Hof machte, doch als er sie bat, seine Frau zu werden, lachte sie ihn spöttisch aus und erklärte ihm, dass sie niemals den Sohn einer Zirkusreiterin zum Mann nehmen würde. Das ist es, was mir dein Vater niemals verziehen hat. Anstatt zu begreifen, dass Annette seiner Liebe nicht würdig war und sie auch nicht erwiderte, schob er mir die Schuld daran, dass sie nichts von ihm wissen wollte, zu. Seine Liebe schlug in Hass um.«

»Das muss doch für dich grausam gewesen sein, Großmama.«

Annabelle nickte nachdenklich.

»Ja, das war es. Und ich versuchte die Mauer, die er um sich aufgebaut hatte, zu durchbrechen. Es gelang mir nicht. Und als er mich, kurz nachdem dein Großvater gestorben war, aus meinem Haus in der Stadt wies, da habe ich endgültig begriffen, dass es nie wieder eine Brücke zwischen uns geben wird.«

»Aber hat er Mama denn nicht geliebt? Dann wäre doch alles ganz von selbst wieder gut geworden.«

»Ich glaube kaum, dass er die unscheinbare Erika Blässner geliebt hat. Doch ihr Vater besaß das nächstgrößte Eisenwerk nach den Bruckschen Werken. Wahrscheinlich wollte dein Vater Annette von Golzheim, die sich mit einem hochadeligen Taugenichts vermählt hatte, beweisen, wie reich und mächtig er war, und ihr zeigen, was sie von sich gewiesen hatte, als sie seinen Antrag ablehnte.«

»Arme Mama. Dass so viele Menschen unglücklich werden mussten wegen dieser hochnäsigen Person.«

»Nicht ihretwegen, Eva. Sondern weil dein Vater nicht einsehen wollte, dass er ihr grollen musste und keinem andern. Damals hätte es mir bald das Herz gebrochen. Ich hatte nur dieses eine Kind. Und meine Ehe mit deinem Großvater war bis zum letzten Tag überaus glücklich.«

Eva streichelte Großmamas feine Hände.

»Das Schicksal hat es ein bisschen wiedergutgemacht. Denn wir beide, wir haben uns doch sehr lieb.«

»Ja, das haben wir, mein Herzchen. Es ist dumm, wenn man einen anderen Menschen wegen seines Herkommens verachtet. Schau, ich komme aus einer alten, angesehenen Artistenfamilie. Und als ich so alt war wie du, da war ich die beste Dressurreiterin in Deutschland. Es gab keine Frau, die mir meine Hohe Schule nachreiten konnte. Du weißt selbst, wie viele Stunden mühsamer und harter Arbeit dazugehören, bis man diese Kunst perfekt beherrscht. Es ist fast schon eine Verleumdung, von den Zirkusleuten zu sprechen, als ob sie bessere Landstreicher wären.«

»Rege dich nicht so auf, Großmama«, bat Eva. »Du weißt doch, der Arzt hat dir jede Aufregung verboten. Es ist nicht gut für dein Herz. Und ich brauche dich doch noch so lange.«

»Schon gut, Herzchen. Wir wollen nicht mehr über die Vergangenheit sprechen. Hat dein Vater irgendwelche beruflichen Pläne mit dir?«

»Ich würde gern Tiermedizin studieren. Das habe ich ihm auch gesagt. Doch er hat es mir abgeschlagen. Er hat böse gelacht und erklärt, dass es für ein Mädchen nichts Besseres gäbe, als möglichst schnell zu heiraten. Er lebt noch in einer anderen Welt. Heute ist es doch üblich, dass auch ein Mädchen einen Beruf ergreift. Und …«, sie sah vor sich hin, »ich möchte weg von ihm. Seit Werner verheiratet ist, fühle ich mich ziemlich verlassen, obwohl Werner und Änne mich immer wieder bitten, zu ihnen hinaufzukommen. Doch ich möchte sie nicht stören. Wenn man jung verheiratet ist, dann möchte man doch wohl am liebsten miteinander allein sein.«

Annabelle strich Eva über das schimmernde Haar.

»Du bist ein so liebes, weichherziges Geschöpf. Hoffentlich kann ich noch lange für dich da sein, damit das Leben dir nicht allzu sehr wehtut!«

*

Als Eva das gelesen hatte, war es ihr, als hätte Großmama neben ihr gesprochen. Sie entsann sich genau der schwingenden Stimme. Damals hatten sie beide nicht gewusst, wie rasch sich alles ändern würde.

Was Flori jetzt wohl machte? Ob er sie sehr vermisste? Eva sah auf ihre Armbanduhr. Es war gleich halb acht. Gewiss würde er jetzt schon im Bett liegen. Sie sah ihn deutlich vor sich: Die Bäckchen rot und heiß vom Schlaf, das hellblonde Haar verwuschelt und die rechte Hand unter dem Kopf. So hatte er schon als Baby geschlafen.

Ein Schluchzen würgte sie. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, denn niemand konnte sie jetzt sehen.

Eine Träne, die über ihre Wange gerollt war, hatte einen feuchten Fleck auf der aufgeschlagenen Tagebuchseite hinterlassen und die Tinte aufgeweicht.

Es flimmerte vor Evas Augen, als sie nun weiterlas. Doch nur die Flucht in die Vergangenheit konnte ihr im Augenblick helfen, mit der Gegenwart fertig zu werden …

*

Die Tage waren viel zu rasch vergangen. Großmama hatte sie zu der kleinen Bahnstation gebracht.

»Komm recht bald wieder, Herzchen. Grüße Werner und Änne.«

»Danke, Großmama! Und vielen Dank noch einmal für alles!«

Sie umarmten sich liebevoll, dann stieg Eva in den Zug, der eben eingefahren war. Sie winkte zurück, solange sie Großmama sehen konnte.

Während der Fahrt in die Stadt dachte sie daran, was ihr Großmama erzählt hatte. Ganz tief in ihrem Herzen spürte sie so etwas wie Mitleid mit ihrem Vater. Sie war noch jung. Doch sie wusste, dass niemand über seinen Schatten springen konnte.

»Hallo, Evchen!«

Werner von Bruck, der sich hinter einem Zeitungsstand versteckt hatte, zupfte zärtlich an Evas langem Haar.

»Werner! Wie lieb, dass du mich abholst.«

Die Geschwister fielen sich um den Hals, dann nahm Werner Evas Koffer. Arm in Arm gingen die beiden zum Ausgang.

Sie glichen einander sehr. Sie hatten den gleichen Ausdruck in den blauen Augen und das gleiche, etwas verhaltene Lächeln. Ihre unglückliche Kindheit hatte in ihrem Wesen Spuren hinterlassen und sie einander nähergebracht.

»Wie geht es Änne? Hat sie erlaubt, dass du mich abholst?«

»Stell dir vor, Eva, Änne bekommt ein Baby. Wir waren heute beim Arzt. Kannst du dir denken, wie glücklich wir sind?«

»O ja, Werner. Dann erst seid ihr eine wirkliche Familie. Ist alles in Ordnung mit Änne? Sie muss sich schonen und darf sich nicht mehr so viel zumuten.«

»Das habe ich ihr auch schon gesagt. Aber sie hat mich glatt ausgelacht. Du kennst sie ja. Sie setzt ihren Kopf durch.«

»Ob ich wohl die Patentante eures Babys sein darf, Werner?«

»Wir haben schon darüber gesprochen, Änne und ich. Wir könnten uns keine liebere Patin wünschen.«

Sie waren bei Werners Wagen angelangt und stiegen ein.

Werner startete.

»Und Vater? Weiß er es schon?«

»Noch nicht. Es ist zurzeit mal wieder kein Auskommen mit ihm. Weißt du, wenn ich nicht daran denken würden, dass es schließlich mein Erbe ist, dann ginge ich lieber heute als morgen aus den Werken fort. Er kommandiert mich herum wie einen dummen Schuljungen. Nur weil ich ihn nicht blamieren will, lasse ich mich auf diese Weise abkanzeln.«

»Wir haben beide zu viel Angst vor Vater, Werner. Furcht erzeugt keine Liebe. Weißt du, ich wünsche mir oft, dass ich arm wäre, dafür aber in einer richtigen Familie aufwachsen dürfte; in einer Familie, in der man mit allem zum Vater kommen kann, wo man abends zusammensitzt und über viele Dinge redet, und wo man wüsste, dass man geliebt wird.«

»Eines Tages bist du auch erwachsen, Evchen. Ich werde schon aufpassen, dass du den richtigen Mann bekommst.«

»Ob Vater das zulässt?«, zweifelte Eva.

Das großte Gittertor vor der Garageneinfahrt war bereits geöffnet. Die altmodische Villa verschwand fast hinter den hohen Bäumen und war von der Straße aus nur zu einem kleinen Teil zu sehen.

Eva mochte das Haus nicht. Es wirkte genauso düster und abweisend wie der Vater. Seine dicken Mauern schienen jeden freundlichen Ton, der von außen eindringen wollte, zurückzuhalten.

Frau Siebert, die Wirtschafterin, war eine säuerliche Matrone. Als sie nach dem Tod von Werners und Evas Mutter in die Villa gekommen war, hatte sie im Stillen gehofft, hier einmal Hausherrin zu werden. Doch schon bald war sie dahintergekommen, dass Klaus von Bruck in ihr nicht mehr als einen dienstbaren Geist sah. So hatte sie ihre ehrgeizigen Wünsche zurückgestellt. Denn ihre Stellung war angenehm. Niemand redete ihr drein, und das Gehalt war angemessen. Doch da sie eine angeborene Neigung zum Intrigieren besaß, hatte sie sich angewöhnt, Herrn von Bruck gelegentlich das zuzutragen, was sie bei den Gesprächen ­zwischen den Geschwistern aufschnappte.

Änne hatte das Geräusch des Wagens gehört. Sie kam eilig die Treppe herunter.

»Gib auf dich acht, Änne«, rief Eva. »Bedenke doch nur, was passieren könnte, wenn du stolpern würdest.«

»Du hast dasselbe Hasenherz wie Werner«, lachte Änne. »Mir passiert nichts. Der Arzt hat mir ausdrücklich gesagt, dass ich mich viel bewegen soll. Umso leichter ist die Entbindung dann. Und ihr braucht weniger zu zittern.«

Änne von Bruck war nicht ausgesprochen schön. Doch sie wirkte sympathisch. Ihre braunen Augen verrieten eine wache Intelligenz. Sie war schlagfertig, herzlich und jederzeit zu einem Scherz aufgelegt. Eva liebte ihre Schwägerin sehr. Sie bewunderte sie, weil sie ihrem Schwiegervater furchtlos gegenübertrat.

»Erzähle mir, wie geht es Großmama?«, forderte Änne Eva auf. »Ist sie gesund?«

»Es geht ihr gut«, berichtete Eva. »Es waren wundervolle Tage mit ihr. Sie lässt euch lieb grüßen und bittet euch, doch bald mal zu ihr zu kommen. Wie wird sie sich freuen, wenn sie hört, dass sie Urgroßmutter wird.«

»Dabei sieht sie noch so jung aus, dass man ihr kaum die Großmutter zutraut«, meinte Werner. »Erzähl mal, hast du was Neues gelernt?«

Werner und Änne kannten das Geheimnis, das Annabelle und ihre Enkelin miteinander hatten. Sie wussten auch, dass Klaus von Bruck bestimmt einen Weg finden würde, Annabelle und Eva auseinanderzubringen, wenn er ahnte, dass seine Tochter heimlich die Künste des Zirkusreitens erlernt hatte.

»Großmama hat gesagt, ich bin perfekt, ich könnte jederzeit in einem Zirkus auftreten«, berichtete Eva mit leuchtenden Augen. »Und manchmal denke ich, dass ich ganz gern zum Zirkus ginge, wenn …«

Sie unterbrach sich erschrocken, als sie ein Geräusch hörte. Auch Werner und Änne sahen auf die Eingangstür. Doch da war nichts zu sehen. Sie atmeten alle drei auf, als sie feststellten, dass Klaus von Bruck nicht dort stand. Sie sahen jedoch auch nicht, dass Frau Siebert lautlos die Tür hinter sich zuzog, die von der Halle zu den Wirtschaftsräumen führte.

»Wann kommt Vater nach Hause?«

»Das weiß ich nicht. Er hat Geschäftsbesuch.« Werners Stimme klang verdrossen. Und sowohl Änne als auch Eva ahnten, was in ihm vorging.

»Hab Geduld, Werner«, bat Änne. »Eines Tages wird er dir die Leitung der Fabrik anvertrauen müssen. Denk an unser Kind! Es hat ein Anrecht auf das Erbe. Wir können uns abkapseln, denn wir haben uns.«

»Ja, Änne, du hast recht. Ich bin Gott alle Tage dafür dankbar, dass ich dich gefunden habe.«

Eva war aufgestanden und an das große Blumenfenster getreten. Sie war nicht eifersüchtig, trotzdem tat es ihr weh, mitansehen zu müssen, wie sehr die beiden Menschen ineinander aufgingen. Ihre eigene Einsamkeit wurde ihr dabei doppelt bewusst. Aber sie musste durchhalten. Für Großmama war ja alles noch viel, viel schlimmer gewesen.

*

Am nächsten Tag saß Eva in ihrem Zimmer und lernte für das Vorabitur. Sie war eine gute Schülerin und sicher, dass sie das Abitur glänzend bestehen würde. Das hatte sie ebenfalls von Großmama gelernt. Wenn man sich auf seine Aufgaben sehr konzentrierte, dann fand man auch die Bestätigung, dass man etwas konnte.

Sie sah auf, als die Tür ihres Zimmers aufgerissen wurde. Ihr Vater stand auf der Schwelle.

Seine grauen Augen sahen kalt auf seine Tochter. Sein Gesicht war gerötet, und über der Nasenwurzel stand eine kleine steile Falte. Sein ohnehin schmaler Mund war zu einem Strich zusammengepresst.

»Papa«, stammelte Eva und überlegte fieberhaft, was sie angestellt haben konnte. Schon von jeher hatten Werner und sie sich gefürchtet, wenn der Vater so aussah, so entstellt, als sei er nicht mehr Herr seiner Sinne.

Unwillkürlich hatte sie sich erhoben. Sie stand vor dem kleinen Schreibtisch, der mit Heften und Büchern bedeckt war.

Klaus von Bruck trat drohend auf seine Tochter zu.

»Die Flausen werde ich dir schon austreiben«, schrie er unbeherrscht. Noch ehe Eva begriff, was er vorhatte, landete seine Hand mit einem harten Schlag auf ihrer Wange. Sie taumelte gegen den Schreibtisch. Die Furcht in ihr wich dem Gefühl tiefer Demütigung, und wie eine Flamme züngelte Hass in ihr auf.

»Meine Tochter geht nicht zum Zirkus«, schrie Bruck weiter. »Du kommst morgen in ein strenges Internat. Dort bleibst du, bis ich dir einen Mann ausgesucht habe. Ich lasse mich von dir nicht zum Gespött machen. Das hat meine Mutter schon ausreichend getan.«

Evas blaue Augen wurden schwarz vor Empörung. Sie hielt die Hand gegen die schmerzende Wange gepresst und fühlte klebrige Feuchtigkeit an ihren Fingern. Der schwere Wappenring des Vaters hatte die zarte Haut aufgerissen.

»Das hast du selbst getan, Vater«, erwiderte sie. »Zum Gespött hat dich dieses herzlose Mädchen gemacht. Es ist eine Schande, dass sich ein Sohn seiner Mutter schämen kann. Doch das, was du Großmama angetan hast, hat dich nicht freier gemacht. Eher noch elender und unglücklicher. Du hast einen Stein an der Stelle, wo andere Menschen ein Herz haben.«

Klaus von Bruck sah seine Tochter entsetzt an. So hatte noch niemand mit ihm gesprochen. Was fiel Eva ein? Er hob wieder die Hand.

»Ja, schlag mich nur, Vater. Doch du schlägst immer nur dich selbst. Mit allem, was du in deinem Leben getan hast, hast du nur dich selbst bestraft. Dafür bist du heute einsam. Alle fürchten dich, niemand liebt dich.«

Klaus von Bruck wandte sich ohne ein weiteres Wort um und verließ das Zimmer. Eva hörte, wie er den Schlüssel draußen zweimal herumdrehte.

Vor Erniedrigung kamen ihr die Tränen. Nein, sie konnte nicht länger hierbleiben. Diese Ohrfeige verzieh sie ihrem Vater niemals. Auch nicht, dass er sie wie ein Kind in ihrem Zimmer einsperrte. Sie ließ sich nicht in ein Internat bringen und schon gar nicht mit einem Mann verheiraten, den ihr Vater ihr aussuchen würde. Sie musste fort. Doch jetzt war es noch zu früh. Erst wenn die Nacht gekommen war, konnte sie fliehen.

Sie trat vor den Spiegel. Ihre Wange war geschwollen, und wo der Ring des Vaters sie getroffen hatte, bildete sich eine verkrustete Beule.

Untätig saß sie vor ihren Schulbüchern. Zum Glück hatte sie ihren Pass in ihrem Zimmer und ein bisschen Geld. Doch das würde nicht weit reichen. Großmama … Eva war sicher, dass Großmama ihr helfen würde.

Es war ein Unglück, dass Änne und Werner heute nicht da waren. Sie waren zu Ännes Eltern gefahren und würden frühestens morgen zurückkommen. So lange durfte sie nicht warten.

Die Zeit wurde ihr lang. Endlich kam die Nacht und hüllte alles in Dunkelheit. Eva hatte behutsam das Fenster geöffnet. Sie rüttelte vorsichtig an dem Spalier, an dem sich Kletterrosen rankten. Sie hoffte, dass das brüchige Holz ihr Gewicht aushalten würde.

Endlich wurde im Hause alles dunkel und still. Nicht einmal etwas zu essen hatte man ihr gebracht.

Eva hing sich die Schultertasche um und zog den dunklen Trenchcoat über. Dann stieg sie leise auf die oberste Sprosse des Spaliers. Sie hielt sich fest. Doch eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis sie endlich den weichen Rasen unter ihren Füßen spürte. Ein Glück, dass das Fenster ihres Zimmers zum Garten hinausging.

Sie huschte im Schatten der Sträucher den Weg zum Tor entlang. Die Straße war still. Kein Schritt war zu hören. Ungesehen kletterte Eva über das Tor. Sie rannte, bis sie ein großes Stück von der Bruckschen Villa entfernt war.

Um diese Zeit ging kein Zug mehr. Sie würde sich ein Taxi nehmen. Großmama würde die Fahrt bezahlen, denn das Geld, das sie selbst besaß, würde dafür nicht ausreichen.

*

Annabelle von Bruck pflegte immer erst sehr spät zu Bett zu gehen. Sie war alt und brauchte nicht mehr viel Schlaf.

Wenn das große Landhaus ruhig war und alle bereits ihre Lagerstätten aufgesucht hatten, dann holte sie gern ihre Fotoalben hervor und besah sich die längst vergilbten Bilder aus ihrer Glanzzeit beim Zirkus, ihrem Leben mit Erwin. Dann fühlte sie sich nicht mehr gar so allein. All die Lieben, die längst tot waren, kehrten dann in ihr stilles Zimmer ein.

Sie hob den Kopf, als sie draußen ein Geräusch wahrnahm. Und dann ertönte die Glocke.

Annabelle hatte ein ungutes Gefühl. So spät bekam sie niemals Besuch. Sie legte das Fotoalbum auf den Tisch und ging zur Haustür.

»Eva, du?«

»Ja, Großmama. Ich erzähle dir gleich alles. Bitte bezahle das Taxi. Ich hatte nicht so viel Geld.«

Wie ein Häufchen Elend hockte Eva auf dem Ohrenbackensessel, als Annabelle von Bruck ins Zimmer zurückkehrte.

Und dann brach alles aus ihr heraus.

»Ich hasse ihn«, rief sie wild. »Niemals gehe ich wieder zu ihm zurück. Lieber sterbe ich. Wirst du mir helfen, Großmama? Ich …, ich möchte zum Zirkus. Du hast doch selbst gesagt, dass ich etwas kann.«

»Ja, du kannst auch etwas, Kind. Aber so rasch wirst du nichts finden. Es lässt sich nichts übers Knie brechen. Am besten bleibst du vorläufig bei mir.«

Eva schüttelte entschlossen den Kopf.

»Er nimmt bestimmt an, dass ich zu dir geflüchtet bin. Ich möchte dich nicht da hineinziehen. Außerdem würde er sicher nicht davor zurückschrecken, uns das Leben schwer zu machen. Ich bitte dich nur darum, dass du mir ein bisschen Geld und einige Ratschläge gibst, Großmama. Das wirst du doch tun?«

Annabelle sah ihre geliebte Enkelin bewegt an. Sie hatte Angst, dass das sensible Kind, allein und ganz auf sich gestellt, der Härte des Artistenlebens nicht gewachsen war. Aber es blieb ihr wohl keine andere Möglichkeit.

»Was sagt denn Werner dazu?«

»Er ist nicht da. Änne und er sind zu Ännes Eltern gefahren. Er könnte mir ja auch nicht helfen.«

Annabelle dachte daran, dass in der nächsten Ortschaft ein Wanderzirkus gastierte. Sie hatte sich eine Vorstellung angesehen und dabei einen alten Bekannten von früher getroffen. Er war der Besitzer des Unternehmens. Bestimmt würde er eine Könnerin wie Eva mit offenen Armen aufnehmen.

Es war nur ein Zufall, dass dieser Zirkus gerade gastierte, und doch erschien es ihr jetzt wie eine Fügung des Himmels.

»Ich werde dir helfen«, versprach sie. »Aber jetzt musst du zuerst einmal schlafen. Hast du Hunger?«

Eva nickte. Sie hatte seit Mittag nichts mehr gegessen. Und sie musste doch stark sein.

Annabelle wartete, bis die Enkelin eingeschlafen war. Dann ging sie auf den Dachboden.

Dort waren in einer Ecke in einer Reisetruhe noch ihre Kostüme. Damals, als sie sie getragen hatte, war sie ebenso zierlich gewesen wie Eva. Sie packte alles in einen Koffer.

Viel zu unruhig, um schlafen zu können, erwartete sie den Tag in ihrem Lehnsessel. Sie weckte Eva sehr zeitig, denn es war möglich, dass man ihr Verschwinden schon bemerkt hatte.

Sie frühstückten in Eile, und Eva barg den großen Geldbetrag, den Großmama ihr schenkte, sorgsam in ihrer Handtasche.

»Du weißt, dass ich immer für dich da bin, Kind. Wenn du mich brauchst, dann schreibe mir. Und … ich habe mir gedacht, dass du dich nicht ganz so allein fühlen wirst, wenn du Castor mitnehmen kannst.«

Eva stiegen die Tränen in die Augen. Sie umarmte ihre Großmutter herzlich.

»Ich danke dir, Großmama, ich danke dir sehr! Was würde ich wohl ohne dich angefangen haben? Bleib gesund, Großmama! Wenn ich volljährig bin, dann komme ich zurück. Dann kann er mir nichts mehr anhaben.«

Annabelle küsste ihre Enkelin und strich ihr über das leuchtende Haar.

»Bleib stark, mein Herzchen! Gib auf dich acht und verzage nicht, auch wenn du vielleicht manchmal glaubst, dass es nicht weitergeht! Ich weiß, dass es solche Stunden gibt.«

»Schlimmer als mit Papa kann es gewiss nicht sein. Ich bitte dich nur, verrate nicht, dass ich bei dir war, Großmama. Und Dank für alles.«

Noch eine Umarmung, ein Kuss, dann stieg Eva in Großmamas altertümliches Auto. Franz war schon vor geraumer Zeit mit Castor vorausgeritten.

*

Enrico Baldissini, der sich selbst den größten Clown der Welt nannte, hatte Annabelle hoch und heilig versprochen, Eva wie seinen Augapfel zu behüten, als Annabelle ihn wegen der Enkelin angerufen hatte.

Nun wartete er gespannt auf die ›junge Annabelle‹, wie er Eva schon jetzt bei sich nannte. Es entzückte ihn, dass Annabelle ihrer Enkelin ein eigenes Pferd mitgegeben hatte. Denn die Pferde, die er besaß, waren schon zu alt und zu müde und wurden für zu viele andere Hilfsleistungen gebraucht, als dass sie noch wirklich in der Manege hätten glänzen können.

»Ich sage dir, Elsa«, vertraute er seiner Frau an, die vom vielen Sitzen hinter der Kasse und etlichen Kindern gehörig in die Breite gegangen war, »mit dieser jungen Ragazza wird der Zirkus Baldissini wieder Aufschwung nehmen.«

»Du schwärmst immer gleich, Enrico«, rügte seine Frau ihn. »Warte erst mal ab, was die Kleine überhaupt kann.«

»Da kommt Francesco«, schrie Baldissini aufgeregt. »Mama mia, welch ein Pferd! Schau es dir nur an! Hast du je ein glänzenderes Schwarz gesehen? Und die anmutige Haltung, der stolze Gang! Wir werden noch weltberühmt.«

Er lief Pferd und Reiter entgegen. Als wenig später der Wagen mit Eva eintraf, konnte er sich kaum beruhigen.

»Elsa, Elsa! Sieh nur, die belissima Bionda! Wir werden eine größere Kasse anschaffen müssen. Und ein neues Zelt kaufen. Benvenuti, Evabella!«

Er streckte Eva beide Hände entgegen und drückte sie so fest, dass es wehtat.

»Du bist grob, Enrico. Das arme Kind wird Angst vor dir haben«, rügte ihn Elsa, die Eva auch auf den ersten Blick in ihr Herz geschlossen hatte. »Willkommen bei uns, mein Kind! Wir werden dich in unsere Familie aufnehmen. Du bist ja noch blutjung, man muss auf dich aufpassen.«

Sie zog Eva an sich und drückte sie an ihren breiten Busen.

Eva wusste nicht, wie ihr geschah. So viel Herzlichkeit hatte ihr bisher nur Großmama entgegengebracht. Sie hatte den Zirkusdirektor und seine Frau sofort gern.

Da der Zirkus noch an diesem Morgen weiterzog, vollzog sich der Abschied von Franz rasch.

»Grüß Großmama und bitte sie, auch Werner und Änne von mir adieu zu sagen. Nun kann ich doch nicht bei ihrem ersten Kind Patin sein.«

Sekundenlang kam der Schmerz darüber in Eva hoch. Doch sie unterdrückte ihn. Es gab keinen anderen Weg, und sie hätte kein besseres neues Zuhause finden können als bei der warmherzigen Familie Baldissini, wenn auch der Wagen, den sie für sich allein bewohnen durfte, klein und nicht mehr neu war. Sie brauchte sich vor niemandem mehr zu fürchten.

Eva ahnte nicht, dass Großmama Enrico Baldissini einen beachtlichen Geldbetrag gegeben hatte, damit er möglichst viele Kilometer zwischen den nächsten Vorführungsort des Wanderzirkus und der Stadt, aus der Eva vor ihrem Vater geflohen war, legte.

Sie fuhren mit der Eisenbahn ungefähr zweihundert Kilometer weit, bis Baldissini meinte, dass man in dieser kleinen Stadt das Zelt aufbauen solle.

Alle mussten beim Aufbau mithelfen, auch Eva. Doch die Arbeit machte ihr Spaß, obwohl sie Schweiß und Schwielen kostete. Wie viel Anstrengung notwendig war, um ein bisschen Flitterglanz hervorzuzaubern, begriff man erst, wenn man wusste, wie hart die Zirkusleute arbeiten mussten.