Githeá

Githeá

Göttin der Erde

Lilyan C. Wood

Drachenmond Verlag

Für Emil


und für alle, die daran glauben, dass die Menschheit die Erde irgendwann wieder zu schätzen weiß

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Epilog

Danksagung

Prolog

Ich bin das Wasser, das sanft durch Gebirgsflüsse plätschert, in schillernden Tropfen vom Himmel fällt und sich in feinen Adern unter der Erde ausbreitet. Als Süßwasser fülle ich eure Seen, als Salz­wasser endlos erscheinende Meere. Ich bin die Flut, die sich über euch erhebt, die ganze Städte und Landstriche unter sich begräbt und von der Erdoberfläche tilgt. Als immerwährender Sog ziehe ich eure Schiffe in die Tiefe, aus der es kein Entkommen gibt.

Ich bin der Wind, der als sanfte Brise über das Land zieht, Laub am Boden tanzen lässt und mit den zarten Blütenblättern spielt. Die Luft, die eure Lungen füllt und euch am Leben erhält. Ich bin der Sturm, der über eure Köpfe hinwegfegt, Häuser mit sich reißt und Menschen in seinen Schlund zerrt.

Ich bin das Feuer, das euch an kalten Tagen Wärme schenkt und euch in der Dunkelheit sehen lässt. Lauernd schwele ich unter der Erdoberfläche, strecke meine Arme als Lava unter euren Füßen aus und umschmeichele den Erdkern. Ich bin die Flamme, die lichterloh brennt und euch mit Haut und Haar verschlingt, um nichts als Asche zu hinterlassen.

Ich bin die Erde, auf der ihr sicheren Schrittes wandelt, in deren Tiefen eure Nahrung wächst und die ihr bewundert, wenn sie sich zum Himmel emporstreckt, um als Gebirge auf euch herabzusehen. Ich bin das Erdbeben, das euch aus dem Gleichgewicht bringt und eure Städte verschluckt. Durch meine Kraft ziehen sich Risse über den Planeten, die eure Monumente zum Einstürzen bringen. Meine Lawinen hüllen euch in Dunkelheit.

Ihr liebt mich und gleichzeitig fürchtet ihr mich. Ihr braucht mich, ohne mich wirklich zu kennen. Ich bin alles, was eure Welt am Leben erhält. Manche nennen mich Mutter Erde oder Mutter Natur, andere sehen in mir die Elemente, doch ich bin so vieles mehr. Ich bin euer Schicksal. Eine Göttin, deren Gunst ihr im Laufe der Jahrhunderte verloren habt.

Ich bin Githeá, die Göttin der Erde.


Die Nacht ist über die Gebirgslandschaft hereingebrochen und hüllt die Gipfel in ihren dunklen Mantel. Einzig das Lagerfeuer zaubert rötliche Punkte auf die umliegenden Zelte und umschmeichelt die Gesichter der Kinder, die in einem Kreis um die Flammen sitzen und dem alten Mann mit dem zerzausten grauen Haar lauschen. Er erzählt von den Göttern – von meiner Familie.

»Leider haben viele Menschen vergessen, wem sie diesen Planeten und ihr Leben darauf zu verdanken haben. Die Götter geraten in Vergessenheit und die Menschheit weiß ihr Geschenk nicht mehr zu schätzen. Die Leute halten sich für allmächtig und richten diesen schönen Planeten zugrunde. Sie töten, quälen und zerstören. Nicht nur die Erde, auch andere Lebewesen – das Geschenk eines Gottes. Wer weiß, wie lange sich Githeá dieses Leid noch ansieht«, sagt der Alte, bevor er verstummt und in die Flammen starrt, die in der aufkommenden Brise erzittern.

In der Gestalt des Windes ziehe ich über das Zeltlager und fahre durch das Haar des Mannes, dessen Geschichte ich nicht das erste Mal lausche. Leise flüstere ich seinen Namen, bevor ich geräuschlos davonschwebe und mit den Zweigen und Blättern der umstehenden Bäume spiele. Seufzend gleite ich den nahe liegenden Berg empor und streichele das uralte schroffe Gestein, das mich willkommen heißt. Einem Reptil gleich schlängele ich mich am Gipfel um das goldene Kreuz, bevor ich mich an dessen Fuße sammele.

»Wie recht der Alte doch hat«, säusele ich, ehe sich der Wind verfestigt und meine Gestalt formt. Sogleich schmiegt sich das durchscheinende blaue Kleid an meinen Körper und meine elfenbeinfarbene Haut schimmert im Mondlicht. Während ich mich am Gipfelkreuz festhalte, betrachte ich die zeltende Gruppe am Lagerfeuer.

»Wenn doch bloß alle Menschen Vaters Geschenk zu schätzen wüssten«, murmele ich und beiße mir auf die Unterlippe. Ich verdränge die schlechten Gedanken und lasse meinen Blick über die Gebirgskette schweifen, die in der Dunkelheit der Nacht kaum zu erkennen ist. Meine Augen durchdringen die Finsternis und ich erkenne die Schönheit der Natur, die sich in weiten Teilen meines Planeten erstreckt. Teile, die noch nicht von Menschenhand zerstört wurden.

»Was soll ich nur mit euch Menschen machen?«, seufze ich und dränge die Bilder ihrer Gräueltaten nieder, die vor meinem inneren Auge lebendig zu werden drohen. Zu viel habe ich in den letzten Jahrhunderten mit ansehen müssen. Sobald ich an die Taten denke, die von Menschenhand vollbracht worden sind, beginnt der Zorn in mir zu brodeln.

Der Wind umschmeichelt mich tröstend und streicht mir über die erhitzte Haut, um mein Gemüt abzukühlen.

Unschlüssig richte ich meinen Blick gen Himmel, hinter dessen Weite ich meine Familie weiß. Die Mondsichel erregt meine Aufmerksamkeit und taucht mich in ihr silbriges Licht.

»Was würdest du tun, geliebte Schwester?«, richte ich meine Frage an den leuchtenden Himmelskörper. »Schütze ich meinen Planeten, indem ich die Menschen von seiner Oberfläche tilge, oder bewahre ich Vaters Geschenk und riskiere, die Erde Stück für Stück sterben zu sehen?« Würde ich die Menschheit tilgen, hätte das Tierreich eine Chance, sich zu erholen, und auch das Leben der Menschen würde von Neuem beginnen. Das Leben findet immer einen Weg.

Ich muss mich entscheiden.

Immer noch dringen die fröhlichen Stimmen der Kinder zu mir hinauf, während meine Gedanken keine Ruhe geben und mir Übelkeit bereiten. Tief atme ich durch, lehne mich mit dem Rücken gegen das Kreuz und schaue in den nachtschwarzen Himmel, an dessen Weite der Polarstern funkelt. Beinahe meine ich, das hämische Grinsen meines Onkels zu sehen, der sich über meine Zweifel amüsiert. Polaris würde nicht zögern, die Menschen zu unterwerfen, hätte Vater ihm die Erde anvertraut.

Seit Jahrhunderten lechzt mein Onkel nach meinem Planeten, dem Leben, das darauf entstanden ist, und der Macht, die mir innewohnt. Ihm geht es nicht darum, die Schönheit der Erde zu bewahren und seine schützende Hand über die Lebewesen zu halten. Nein, er will das Gefühl der Macht genießen und sich als allmächtiger Gott aufspielen. Ohne Zweifel würde er die Erde zugrunde richten und die verdorbenen Menschen zu seinen Gunsten nutzen. Wie kann er bloß dermaßen anders sein als Vater, der Güte und Liebe in sich trägt? Zwei Brüder – so unterschiedlich wie Tag und Nacht.

Ein letztes Mal betrachte ich das Zeltlager, in dem der alte Mann seine Schützlinge in ihr Nachtlager scheucht. Der Wind trägt die halbherzigen Widerworte der Kinder zu mir hinauf und ich muss schmunzeln. Gleichzeitig ahne ich, dass auch in diesen unschuldigen Lebewesen der Drang schlummert, die Erde zu zerstören. Auch wenn der alte Mann sein Bestes gibt, dies durch seine Lehren zu verhindern. Zu oft habe ich mit angesehen, wie unbedarfte Kinder zu gierigen Erwachsenen heranwuchsen, die ganze Wälder abholzten, in den Krieg zogen oder andere Lebewesen quälten. Zu oft wurde mein Herz gebrochen, wenn meine Hoffnung, die neue Generation würde diesen Planeten wieder zu schätzen wissen, enttäuscht wurde. Mit jeder Generation wurde es schlimmer. Der Drang, sich die Erde anzueignen, wuchs in den Menschen und der Respekt vor der Natur schwand. Plastik und anderer Müll bedeckt große Teile der Erde und erstickt das Leben bereits im Keim. Gift mischt sich unter die Elemente und verunreinigt das Wasser, das Menschen wie auch Tiere zum Überleben brauchen. Die Tierwelt wird mehr und mehr zurückgedrängt und ganze Arten wurden ausgerottet. Der Mensch stellt sich über alles und jeden. Dabei ahnt er nicht, dass er mit jedem verstrichenen Jahrhundert mehr von meiner Gunst verlor.

Frustriert seufze ich. All die Liebe, die ich einst für die Menschen empfunden habe, schwindet mit jedem Sonnenuntergang mehr und hinterlässt in meinem Herzen Enttäuschung und Wut. Jedoch kann ich die Menschheit, das Geschenk meines Vaters, nicht hassen, denn es fühlt sich an, als wären es meine Kinder. Doch auch eine Mutter muss Konsequenzen ziehen und ihre Schützlinge strafen.

Tief atme ich durch und straffe die Schultern, ehe ich beschließe, über die Erde zu wandeln und den Menschen eine Warnung zu hinterlassen. Eine Art Wachrütteln, dass ich dieses Verhalten nicht mehr toleriere. Kurz halte ich inne, bevor ich über meine eigene Naivität den Kopf schüttele. Dies tue ich bereits seit Jahrzehnten immer wieder und ich sollte mir endlich eingestehen, dass es die Menschen nicht wachgerüttelt hat. Es zeigt keine Wirkung und es wird Zeit, mein Urteil über das Schicksal der Menschen zu fällen. Stirbt die Erde, zerbreche ich an meinem Kummer.

Seit Wochen vertage ich die Entscheidung, weil es mir das Herz brechen wird, egal, welche Wahl ich treffe.

Mein Körper wird durchscheinend, bis die Konturen verschwimmen und ich mich in Luft verwandele, um mich dem Wind anzuschließen, der über die Bergkette hinwegfegt.

Rasch lasse ich die überwiegend unberührte Natur des Landes, das Norwegen genannt wird, hinter mir und überquere den Ozean. Je weiter ich mich entferne, desto heller färbt sich der Himmel und die Sonne erscheint am Firmament. Der Wind verformt sich und nimmt die Gestalt meines Körpers an, bevor ich mein Gesicht dem strahlendsten aller Planeten entgegenstrecke.

»Mutter«, hauche ich und spüre die wärmenden Strahlen auf meiner Haut, als würde Ílios mit ihren Fingern zärtlich über mich streichen. Ich drehe mich und betrachte das tiefblaue Wasser, über dessen Wellen ich hinwegfliege, ehe ich eine Hand ausstrecke und sie in das kalte Nass abtauchen lasse. Sofort kommen Fische in den schillerndsten Farben herbei und schwimmen mit mir um die Wette. Voller Liebe für diese Tiere lache ich und genieße unser Spiel, bis ich stocke und wutentbrannt den Müll entdecke, der auf den Wellen tanzt. Plastiktüten, Verpackungen, Flaschen und Metalldosen mischen sich unter die weiße Gischt und bedecken die Meeresoberfläche wie ein todbringender Teppich. Vor meinen Augen verfängt sich ein rötlich schimmernder Fisch in einer Plastiktüte und zappelt panisch bei dem Versuch, sich wieder daraus zu befreien. Rasch halte ich inne und ziehe die Tüte aus dem Wasser, um den armen Fisch aus seinem tödlichen Gefängnis zu retten. Das kleine Wesen bette ich auf meine Handfläche und lasse es sanft ins Salzwasser gleiten, wo es schnell das Weite sucht.

»Nicht nur die Landstriche vergiften sie mit ihrem Müll, auch die Meere müssen leiden«, presse ich mühsam hervor und balle die Fäuste, während ich über den Wellen schwebe und meinen Blick über die Massen an Plastik schweifen lasse. »Wieso tun sie der Natur das an? Was haben ihnen diese Lebewesen getan, die die Meere ihre Heimat nennen?« Ungläubig fahre ich mit dem Daumen über die weiße Plastik­tüte, auf der der Name einer großen Einkaufskette in den USA in blauen Buchstaben prangt. Ein Grollen dringt aus meiner Kehle, als ich die Tüte zerknülle. Unruhig beginnen die Wellen zu tanzen und schlagen höher, bis sie sich meterhoch auftürmen. Der Wind schwillt an und peitscht die Gischt über die tobenden Wellen. Rasch verziehen sich die Fische in tiefere Gefilde und ich halte erschrocken inne.

»Ich wollte euch nicht verjagen«, flüstere ich und versuche mich zu entspannen. Gleichzeitig kommt die See zur Ruh und der Wind legt sich.

Schuldbewusst stelle ich fest, dass ich mein Gemüt besser im Zaum halten sollte. Oder meinen Zorn zumindest auf diejenigen richten, die es verdient haben. Mein Körper verwandelt sich wieder in Luft und vereint sich mit dem Wind, der über die Wellen hinweg­saust. Dabei sammele ich den Müll und hebe ihn empor. Je weiter ich mich der Küste nähere, desto höher steige ich und nehme den angehäuften Müll mit mir. An einem belebten Strand Floridas räkeln sich die letzten Sonnenanbeter in der abendlichen Hitze. Über ihren Köpfen entlasse ich den Müll, der mitsamt kaltem Meerwasser auf die Menschen herabklatscht. Spitze Schreie erfüllen die Luft und ich verharre einen Moment über der Szenerie, um den wie aufgeschreckte Hühner umherlaufenden Leuten zuzusehen, wie sie sich den Abfall vom Körper streifen.

»Euer Müll gehört nicht in die Meere. Plastik ist Gift für die Lebewesen, die dort leben. Wie für euch auch«, sage ich zornig und meine Stimme dringt als Donner bis zu den Menschen hinunter. Angstvoll starren sie zum Himmel, der sich verdunkelt, nachdem sich Wolken vor die Sonne geschoben haben.

Diese respektlosen Geschöpfe, die einmal gut waren und zum Wohle der Erde gehandelt haben, wollen es einfach nicht lernen. Lange ist es her, dass ich mit diesen Lebewesen im Reinen gelebt habe. Was ist bloß aus ihnen geworden? Weshalb sind sie dermaßen verdorben?

Bei diesen Gedanken schüttele ich den Kopf und ziehe weiter in Richtung Landesinnere. Über einer großen Fabrik halte ich erneut inne und betrachte die zahlreichen hohen Schornsteine, aus deren Schlund dunkler Rauch quillt. Unaufhörlich verpesten die Ausdünstungen der Fabrik die Luft. Das Gelände ist riesig und ich erinnere mich, dass hier vor einigen Jahren noch ein Wald vielen Tieren Lebensraum geboten hat. Nun haben die Menschen nichts Besseres zu tun, als der Umwelt zu schaden. Mir ist bekannt, dass das Unternehmen den Fabrikmüll verbotenerweise im nahe gelegenen See entsorgt. Doch die Politiker schauen weg und ergötzen sich im Gegenzug an dem Geld, das ihnen zugesteckt wird.

»Die Menschen müssen begreifen, dass die Natur ihnen jeden Fehler früher oder später zurückzahlt«, beschließe ich. Mein Körper nimmt Form an. Mit einer erhobenen Hand vollführe ich rührende Bewegungen, während der Wind um mich herumwirbelt. Immer schneller bewege ich meinen Arm und beschwöre damit einen Sturm herauf, dessen spitzes Ende sich zum Boden hinabsenkt.

»Es wird Zeit, dass ich eurem Treiben ein Ende bereite«, wispere ich und schon zieht der Tornado los.

Die Schornsteine knicken ein, als wären sie Streichhölzer. Trümmerteile wirbeln über das Gelände und die ersten Menschen fliehen panisch, während sie entsetzt zum Himmel und dem unersättlichen Sturm sehen. Nachdem etwas im Inneren der Fabrik mit einem ohrenbetäubenden Knall explodiert ist, züngeln Flammen in die Höhe. Schreie dringen zu mir hinauf und dann entdecke ich die beiden Männer in ihren teuren Anzügen, die ich als skrupellose Geschäftsführer erkenne.

»Ihr entkommt mir nicht«, raune ich und denke an die unzähligen Fische, die leblos auf der schmierigen Wasseroberfläche des Sees getrieben sind. An die Waldtiere, die vom Wasser getrunken haben und elendig gestorben sind.

Ich habe kein Mitleid mit den Menschen, die in diesem Moment weit unter mir sterben. Es sind allesamt Mörder. Die zweite Hand erhoben, entsende ich einen weiteren Sturm, der sich auf die beiden Geschäftsführer zubewegt. Ihre vor Schreck erstarrten Gesichter, kurz bevor der Sturm sie erfasst und in die Höhe schleudert, schenken mir Genugtuung.

»Schadet ihr der Erde und ihren Bewohnern, schadet ihr mir. Und ich bin sehr nachtragend«, sage ich und betrachte die Körper der beiden Männer, die gegen die Trümmer eines Gebäudes prallen und leblos am Boden liegen bleiben. Erst als auf dem Fabrikgelände kein Stein mehr auf dem anderen steht, ziehe ich weiter.

Der Wind fegt über den Ozean. Über Teilen Asiens lasse ich Taifune über das Land ziehen, um den Smog zu schlucken, der die Luft vergiftet. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, wie ein Land, das zum Teil solch naturbelassene Gegenden aufweist und Menschen hervorbringt, die im Einklang mit der Natur leben, gleichzeitig auch solche Umweltverschmutzung praktizieren kann. Während der Starkregen auf die Erde niedergeht, wende ich mich Europa zu.

Über Polen halte ich erneut inne, als der Wind herzzerreißende Schreie zu mir emporträgt. Winseln und lang gezogene Rufe mischen sich darunter und in der Dunkelheit, die nur durch das silberne Licht des Mondes durchbrochen wird, entdecke ich eine Pelztierfarm. In der Gestalt einer Windböe gleite ich hinab und wandele mich, noch bevor ich den lehmigen Boden erreiche. Tränen schießen mir in die Augen angesichts der winzigen Käfige, in denen unterschiedliche Tierarten gefangen gehalten werden. Dicht drängen sich die Wesen aneinander und blutige und aufgeschürfte Gliedmaßen ragen zwischen den Gittern hervor. Die Geräusche, die in dieser Zucht herrschen und die Nacht erfüllen, brechen mir das Herz.

Wie können Menschen diesen Lebewesen solches Leid antun? Und wofür? Um reiche Frauen zu schmücken, die ohne Pelz niemals Kälte leiden müssten. Waren Pelze vor Tausenden von Jahren noch für das Überleben der Menschen wichtig, so sind sie heute nur noch Schmuck und rechtfertigen nicht das Leid und den qualvollen Tod so vieler Lebewesen. Mühelos durchbrechen meine Augen die Dunkel­heit und offenbaren mir das Ausmaß der Tierquälerei, sodass ich mich versteife.

Mit welchem Recht stellen sich Menschen über die Leben dieser Tiere? Wer sind sie, dass sie andere Lebewesen quälen dürfen? Jedem Wesen, egal wie groß oder klein, wird nur ein Leben zuteil. Und manche Menschen zerstören dieses eine Leben, als wäre es nichts wert.

Meine Wut breitet sich als unbändige Hitze in meinem Körper aus.

Was erdreisten sich manche Menschen, hallt es immer wieder in meinem Kopf. Mein Zorn richtet sich auf die Betreiber dieser Zucht, auf jeden einzelnen, der diesen Tieren Schaden zufügt, und auf die Menschen, die diese Tierquälerei durch den Kauf eines Pelzes unterstützen. Sollen sie sich nur einreden, die Tiere fänden hier ein gnädiges Ende. Diese Heuchelei schützt sie nicht vor dem Zorn der Erdgöttin!

Unwillkürlich beginnt die Erde zu brodeln. Unter meinen nackten Fußsohlen nehmen die Vibrationen zu. Beide Arme ausgestreckt, schreite ich durch die Gänge, während die Schlösser aufspringen und die Tiere die Käfige aufstemmen. Füchse, Nerze und Hunde strömen – teilweise humpelnd – in die Freiheit. Viele streichen mir um die Beine, bevor sie im Schutz der Nacht verschwinden. Deutlich kann ich die Dankbarkeit der Wesen fühlen, die sich nicht gegen die Menschen wehren konnten und den Gräueltaten hilflos ausgesetzt waren.

Das Klappern der Gitter hallt über das Gelände der Zucht, zeitgleich beginnt die Erde kräftiger zu beben. Mehrere Männer rennen aus einem nahe gelegenen Gebäude und fluchen lautstark angesichts der leeren Käfige. Als ich mir sicher bin, dass sich kein Tier mehr auf dem Gelände befindet, lasse ich meiner Wut freien Lauf und entfessele meine Macht. Unter meinen Füßen bricht die Erde auf und ein Riss zieht sich krachend durch die Gänge. Während die Männer auf dem bebenden Untergrund den Halt verlieren und schreiend zu fliehen versuchen, erhebe ich mich in die Lüfte. Sie kriechen auf allen vieren und klammern sich Hilfe suchend aneinander. Es knackt unangenehm, als das Haus einzustürzen beginnt. Die ersten Männer können sich nicht mehr halten und rutschen in den metertiefen Schlund, der sich in der Erde aufgetan hat. Ihre Schreie klingen in meinen Ohren und ich lasse der Naturgewalt freien Lauf, ehe ich mich auf die Krone eines Laubbaumes zurückziehe. Von dort aus beobachte ich, wie auch die Käfige zwischen den Erdspalten zerquetscht und von der Tiefe verschluckt werden.

Tränen rinnen meine Wangen hinab und ich zucke zusammen, als sich plötzlich eine kalte Hand auf meine Schulter legt.

»Seit wann mischst du dich dermaßen in das Leben der Menschen ein?«, fragt eine wohlklingende Stimme.

»Fengári«, hauche ich, wende mich meiner Schwester zu und schlage die Augen nieder, als die Mondgöttin mir eine Träne wegwischt. Halt suchend ergreife ich ihre Hand und betrachte die weiße Haut, die silbern schimmert, als hätte sich Mondstaub darauf niedergelassen. Glatte weiße Haare reichen Fengári bis zur schmalen Taille und das silberne Kleid weht in der Brise, die über die Stätte des Grauens zieht. Ich sehe in die graublauen Augen, die mir die liebsten sind und mich in diesem Augenblick gründlich mustern.

»Geliebte Schwester, ich kann nicht mehr tatenlos zusehen, wie die Menschen meinen Planeten zugrunde richten und Tiere bestialisch quälen und abschlachten. Diese unschuldigen Lebewesen, die es nicht vermögen, sich gegen ihre Peiniger zu wehren, bedürfen meines Schutzes. Wenn nicht ich ihr Leid räche, wer dann?«, frage ich und rede mich bereits in Rage. »Die Menschen zerstören meinen Planeten. Sie richten sich gegenseitig und kennen keine Gnade. Uns Götter haben sie vergessen und viele benehmen sich, als würde die Erde ihnen gehören. Hast du je ein Tier gesehen, das sich dermaßen über einen Gott stellt? Es schmerzt, Menschen durch meine Hand sterben zu sehen. Sie sind Teil von Vaters Geschenk. Teil des Lebens, das meinem Planeten zuteilwurde. Dennoch muss ich ihnen Einhalt gebieten.« Es kostet mich ein hohes Maß an Selbstbeherrschung, meine Macht nicht erneut zu entfesseln. Die Wut hat sich in den letzten Jahrhunderten in mir aufgestaut. Die letzten Jahrzehnte übertrafen in ihrem Schrecken alles, was ich bisher gesehen habe. Ich befürchte, an meinen Gefühlen zu zerbrechen, wenn ich sie weiterhin zu unterdrücken versuche.

Fengári betrachtet mich voller Mitleid. »Kleine Schwester, ich habe dich noch nie dermaßen verzweifelt erlebt.«

»Es schmerzt, tagein, tagaus all das Leid zu sehen, das durch Menschenhand verursacht wird«, wispere ich und lasse die Erdbeben mit einer kaum wahrnehmbaren Handbewegung enden. »Die Menschen bereiten mir großen Kummer.«

»Wie fühlt sich das an? Schmerz und Kummer?«

Mir wird bewusst, dass meine Geschwister und auch meine Eltern kaum schlechte Gefühle kennen. In der Welt der Götter, fernab der Erde, herrschen Glück und Liebe. Mein Onkel Polaris ist der einzige Gott, in dem Missgunst und Machtgier schwelen. Diese abscheulichen Gefühle, die mich nun bedrücken, habe ich erst auf der Erde zu fühlen gelernt.

Tief atme ich durch, bevor ich antworte. »Es fühlt sich an, als würde dein Herz zerreißen. Jede Faser deines Seins schmerzt unaufhörlich, bis du dir wünschst, dass es endlich vorbei ist. Bis du dich danach sehnst, all die bedrückenden Gefühle und Gedanken würden endlich verstummen.«

»Das klingt nicht nach etwas, das erstrebenswert wäre«, folgert Fengári und legt ihre Hand tröstend an meine Wange. »Weshalb tust du dir das seit Jahrhunderten an?«

»Weil diese Entscheidung so schwerwiegend ist, geliebte Schwester. Tue ich das Richtige oder begehe ich in meinem Zorn womöglich einen Fehler? Soll ich den Menschen noch eine Chance geben, mir zu beweisen, dass sie ihren Lebensraum zu schätzen und zu schützen wissen?« Seufzend ergreife ich Fengáris Hand, um meine Finger mit den ihren zu verweben.

»Gewährst du ihnen diese Chance nicht bereits seit Langem? Seit wann trägst du diese Überlegung in deinem Herzen?«

Freudlos lache ich und lasse den Kopf sinken. »Seit Jahrzehnten. Seit ich begriffen habe, dass das Böse in den Menschen schwelt und niemals enden wird. Dass die Menschen mit jeder weiteren Generation gieriger werden und meinen Planeten als ihr Eigentum betrachten. Seit die Menschen sich rücksichtslos über jegliche Lebewesen und die Natur gestellt haben.«

»Dann folge deinem Herzen und rette deinen Planeten«, rät sie mir und streicht mit dem Daumen sanft über meinen Handrücken. »Die Menschen sind nichts gegen uns Götter. Sie sollten sich bemühen, unsere Gunst zu erhalten, doch sie tun es nicht. Indem sie deinen Planeten und das Leben darauf vernichten, haben sie das Recht auf ihre Existenz verwirkt. Die Zeit ist gekommen, dass die Erdgöttin ihr Urteil fällt und es vollstreckt. Die Natur muss zurückschlagen.«

Stumm sehe ich meiner Schwester in die Augen, während die Worte in meinem Kopf nachhallen. War ich all die Jahrzehnte zu nachgiebig mit den Menschen gewesen? Habe ich gezögert, obwohl es an der Zeit war, zu handeln? Liebe ich die Menschen womöglich zu sehr, um sie schonungslos den Naturgewalten auszusetzen und von der Erde zu tilgen?

»Du musst nicht alles Leben vernichten. Strafe die Menschen, doch schütze die Tierwelt, die diesen Planeten zu schätzen weiß. Dein Urteil kann deren Rettung bedeuten«, mahnt Fengári und haucht mir einen Kuss auf die Wange.

Die Lippen der Mondgöttin hinterlassen Kälte auf meiner erhitzten Haut. Kalt wie der Mond selbst.

»Ich werde über deine Worte nachdenken und mich bei Sonnenaufgang entscheiden«, beschließe ich und bemerke, wie mich ein Gefühl der Erleichterung durchflutet. Zu lange habe ich die Entscheidung vor mir hergeschoben, sodass die Menschen die Erde weiterhin zugrunde richten konnten. Die Naturkatastrophen, die ich seit Jahren vermehrt über die Menschheit bringe, waren erst der Anfang. Meine Geduld ist aufgebraucht.

Zum Abschied drückt Fengári mich an sich, ehe sie sich in samt schimmernden Mondstaub wandelt, der zum dunklen Nachthimmel und der silbernen Sichel emporschwebt. »Egal, wie du dich entscheidest, ich stehe dir bei«, flüstert die Nacht mit ihrer Stimme.

Nur ungern habe ich meine Schwester gehen lassen. Die Mondgöttin strahlt eine angenehme Distanz zu den Menschen aus, wohingegen ich zu sehr involviert bin, um die Taten der Menschheit objektiv betrachten zu können. Meine Gefühle für diese Geschöpfe beeinflussen mich. Sowohl die positiven als auch die negativen. Fengári ist erfüllt von der Liebe zu ihrer Familie und ihrem Planeten. Auch wenn sie sich noch so viel Mühe gibt, nie könnte sie nachvollziehen, wie es mich innerlich zerreißt, wenn ich über die Erde wandele und das Leid mit ansehen muss.

Unvermittelt schaue ich zu den Sternen und der Mondsichel, die bereits nicht mehr hoch oben am Himmel steht. Nur noch wenige Stunden und hier wird die Sonne aufgehen. Meine Bedenkzeit rinnt mir durch die Finger wie feinkörniger Sand.

Kapitel Eins

Großvater, sieh nur, hier liegt ein Mädchen«, rief eine Stimme. »Und sie ist nackig.«

»Rede doch keinen Unfug, Gustav! Woher soll hier oben denn ein nacktes Mädchen kommen?«, entgegnete in der Ferne die raue Stimme eines Mannes.

Schritte näherten sich und knirschten auf unebenem Boden. Etwas kitzelte die junge Frau im Gesicht und allmählich färbte sich die Dunkelheit in schillernde, leuchtende Farben. Ihr war kalt und sie spürte eine Gänsehaut am ganzen Körper. Zaghaft öffnete sie die Augen und betrachtete die Sonne, die knapp über dem Gipfel eines Berges hervorlugte. Dann bemerkte sie, dass sie auf felsigem Boden lag und kleine Steine in ihre Haut drückten. Sie stemmte sich auf die Ellbogen und nahm das Gesicht eines kleinen blonden Jungen wahr, der vor ihr hockte. Neugierig musterte er aus braunen Augen ihr Gesicht, während er in einer Hand einen Grashalm auf und ab wippen ließ.

Erst jetzt realisierte sie, dass sie keine Kleidung trug und die Worte des Jungen ergaben endlich einen Sinn. Sie war nackt! Erschrocken zog sie die Beine an und bedeckte ihre Brüste mit ihren Armen. Doch der Junge sah ihr weiterhin mit unschuldigem Blick ins Gesicht und schien sich nicht an ihrer Blöße zu stören, sodass sie sich entspannte.

»Guten Morgen«, sagte er und grinste breit.

»Guten … guten Morgen«, entgegnete sie und strich sich durch die rotbraunen, leicht gelockten Haare, die voller Knoten waren. Ihr Kopf fühlte sich schwer an und es gelang ihr nicht, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Sie starrte weiterhin den Jungen an und entdeckte eine Schürfwunde an seinem rechten Knie. Ihr Gegenüber bemerkte ihren Blick und strich über die Kruste.

»Gestern Nacht bin ich hingefallen, weil ich dringend aufs Klo musste. Mein Fuß ist an einer der Schnüre hängen geblieben und ich bin mit dem Knie aufgeschlagen.«

»Hm«, murmelte sie und richtete sich weiter auf, bis sie mit dem Rücken an einer Eberesche lehnte, die ihr Schatten spendete. Ihre Nacktheit störte sie plötzlich nicht mehr, da der Junge nicht mehr darauf einging. Als wäre es vollkommen normal, einer unbekleideten Frau gegenüberzusitzen.

»Mein Name ist Gustav und wie heißt du?«

Sie setzte zum Sprechen an, nur um den Mund langsam wieder zu schließen, weil sie nicht wusste, wie die Antwort lautete. Verwirrt horchte sie in sich hinein, doch lediglich Stille antwortete ihr. Da war nichts. Kein Name, kein Wissen. Wer war sie? Wo war sie hier überhaupt? Und weshalb war sie nackt? Sie massierte sich die Schläfe und dachte angestrengt nach. In ihrem Kopf schwoll ein Summen an, das ihr durch Mark und Bein ging und sie zusammenzucken ließ.

»Ich weiß es nicht«, hauchte sie entsetzt und starrte den Jungen namens Gustav erschrocken an.

»Bei allen Göttern«, erklang eine fassungslose Stimme, bevor sich ein alter Mann mit wirrem grauem Haar näherte. »Ja, ist das möglich?« Er trug Wanderkleidung und hatte sich einen großen Rucksack auf den Rücken geschnallt, den er jetzt auf dem Boden abstellte, ehe er daraus ein Kleidungsstück hervorkramte. Mit ungläubiger Miene trat er auf die beiden zu und ließ sich neben Gustav im spärlichen Gras nieder, während er ihr Gesicht fixierte. »Du solltest dir etwas überziehen«, riet er ihr und bot ihr ein kariertes Hemd an, das sie dankbar nickend entgegennahm. »Wer bist du denn?«, fragte er und wandte sich ab, als sie sich das Hemd aus weichem Flanellstoff überstreifte und es zuknöpfte. Es war ihr viel zu groß, sodass es ihre Blöße bedeckte. Der Mann drehte sich wieder zu ihr um und seufzte scheinbar erleichtert.

»Sie weiß es nicht«, antwortete Gustav schnell an ihrer Stelle und zuckte mit den Schultern.

»Du weißt nicht, wer du bist?«, hakte der Mann nach und betrachtete sie gründlich. »Dann weißt du auch nicht, weshalb du unbekleidet hier gelegen hast?« Seine buschigen grauen Augenbrauen zogen sich angestrengt zusammen und tiefe Falten bildeten sich auf seiner sonnengegerbten Haut.

Stumm schüttelte sie den Kopf und versuchte erneut in ihren Erinnerungen zu kramen, aber da war nichts, als wären sie völlig ausgelöscht.

»Hast du etwa dein Gedächtnis verloren?«, fragte der Mann.

Hilflos zuckte sie mit den Schultern und schloss die Augen, um die Tränen zurückzudrängen, während sie versuchte, sich zu erinnern. Das Summen nahm wieder zu, doch sie konzentrierte sich weiterhin, auch wenn ihr der Kopf schmerzte. Leise drang eine Stimme wie hinter einer dicken Mauer zu ihr vor. Sie konnte sie nicht richtig verstehen. Ihre Lippen formten immer wieder ein Wort, in dem vergeblichen Versuch, die Stimme zu erfassen.

»Ich kann mich nicht an meinen Namen erinnern«, flüsterte sie irgendwann und gab auf. Hilfe suchend sah sie zwischen Gustav und dem Mann hin und her.

»Heißt du vielleicht Merle?«, fragte der Junge, doch sie schüttelte den Kopf.

Der Name klang nicht vertraut.

»Simone?«, schlug nun auch der Mann einen Namen vor, der jedoch nicht passte.

Betrübt ließ sie den Kopf hängen, während sie mit aller Macht gegen die Tränen ankämpfte.

»Hm«, grübelte der Mann, während Gustav freudig gluckste.

»Ich hab’s. Du siehst aus wie eine Tarja«, sagte er.

»Wie sieht denn eine Tarja deiner Meinung nach aus?«, fragte der Mann und sah den Jungen belustigt an.

»Na, so wie sie«, entgegnete er breit grinsend und zeigte auf sie.

Der Klang des Namens gefiel ihr. Je mehr sie ihn in Gedanken wiederholte, desto vertrauter war er ihr. Sie hob den Kopf und lächelte zaghaft. »Ja, das muss es sein. Tarja«, flüsterte sie den Namen und fasste nach den Händen des Jungen, um sie dankbar zu drücken. Nun wusste sie zumindest ihren Vornamen.

»Ein Mädchen mit Gedächtnisverlust finden wir hier oben zum ersten Mal. Und dann auch noch nackt«, murmelte der Mann und schien sich zu besinnen, da sie ihn unsicher anblinzelte. »Ich heiße übrigens Haakon. Gustav ist mein Enkel und wir haben diese Nacht mit den Pfadfindern im Gebirge übernachtet. Hier kommen normaler­weise nur Wanderer hinauf und Menschen, die nach Ruhe oder einer Eingebung suchen. Dem Ort wird nachgesagt, er sei mystisch und es würden göttliche Kräfte walten. Nicht weit von diesem Plateau steht deshalb ein Tempel.«

Neugierig schaute sich Tarja um. Zu allen Seiten ragten Felsen empor und auf einem Gipfel entdeckte sie ein goldenes Kreuz. Bei diesem Anblick lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinab. Obwohl die warmen Sonnenstrahlen ihren Körper erreichten, fror sie plötzlich in dem dünnen Hemd. Unwillkürlich rieb sie sich die Oberarme und genoss die entstehende Wärme.

»Wir sollten uns auf den Weg hinab ins Tal machen und dir passende Kleidung besorgen«, schlug Haakon vor.

»Sie hat doch gar keine Schuhe an, Großvater«, wandte Gustav ein.

»Ersatzschuhe habe ich leider keine dabei. Wird es so gehen, Tarja?«, fragte Haakon und betrachtete sie besorgt.

Tarja nickte, denn ihr blieb nichts anderes übrig. Nachdenklich fuhr sie sich mit der Hand über die weiche Fußsohle. Lange konnte sie auf diesem Boden nicht barfuß gelaufen sein.

Kinderstimmen erschollen und dann kamen mehrere Jungen und Mädchen hinter einer Biegung hervor. Sie lachten und unterhielten sich angeregt, bis sie Tarja entdeckten und mit überraschten Gesichtern stehen blieben, bevor sie aufgeregt auf die drei zurannten.

»Haakon, wer ist das?«, fragte ein blondes Mädchen und bestaunte Tarja. »Wieso hat sie keine Hose und Schuhe an?«

Haakon räusperte sich und stemmte sich hoch. »Das ist Tarja und wir werden sie mit ins Tal nehmen, Kinder. Ihre Hose und Schuhe wurden ihr gestohlen«, flunkerte er und tat Tarjas überraschten Blick mit einer Handbewegung ab. »Habt ihr hier oben beim Spielen vielleicht Kleider gefunden?«

Die Kinder schüttelten die Köpfe, woraufhin der alte Mann Tarja die Hand entgegenstreckte und ihr half, aufzustehen. Gleichzeitig sprang Gustav auf die Beine und wich ihr nicht von der Seite, als fühlte er sich für sie verantwortlich.

Prüfend strich sich Tarja das Hemd glatt und stellte erleichtert fest, dass es ihr bis über die Knie reichte. »Ich danke euch, dass ihr mich mitnehmt«, sagte sie zu dem alten Mann, der daraufhin abwinkte.

»Du hast dein Gedächtnis verloren und somit keine Ahnung, woher du kommst oder wie du hier in die Berge gelangt bist. Sicherlich hast du Hunger und Durst. Wir wohnen zwar nur in einem kleinen Bergdorf, aber in Granvin gibt es eine Polizeiinspektion. Der Kommissar ist ein guter Bekannter und kann uns bestimmt weiterhelfen. Womöglich wirst du bereits vermisst und deine Eltern suchen dich überall. Aus deinem Norwegisch höre ich keinen Dialekt heraus, daher ist es leider schwer zu sagen, aus welcher Gegend du stammen könntest.«

»Hoffentlich sucht jemand nach mir«, sagte Tarja. Sie konnte sich partout an nichts erinnern. Es bereitete ihr Angst, nichts über sich zu wissen, und sie fühlte sich verloren. Zu wem gehörte sie und weshalb hatte sie hier mutterseelenallein und nackt gelegen? Sie konnte von Glück reden, dass Haakon mit seinen Pfadfindern in den Bergen übernachtet und sie gefunden hatte.

»Ihr bringt mich also zu dieser Polizeiinspektion?«, fragte sie sicherheitshalber nach.

»Natürlich.« Er kramte erneut in seinem Rucksack und zog einen Müsliriegel und eine Trinkflasche hervor, die er ihr reichte. »Du solltest dich etwas stärken, denn wir werden eine gute Stunde für den Abstieg benötigen. Vielleicht sogar etwas mehr, da du barfuß unterwegs bist.«

Gierig trank Tarja von dem kühlen Wasser und gab die Flasche zurück, bevor sie die Verpackung des Riegels aufriss. Ihr Magen zog sich zusammen und knurrte leise.

»Den Müll musst du aber wieder mitnehmen«, erklärte Gustav und nahm ihr die Plastikverpackung ab, um sie in seinem eigenen Rucksack zu verstauen. »Die Umwelt mag kein Plastik und wir wollen unsere Berge sauber halten.« Nach Zustimmung heischend schaute er zu seinem Großvater, der stolz grinste und nickte.

Tarja freute sich über die Einstellung des Jungen, während sie in den Müsliriegel biss und genüsslich kaute. Es war nicht selbstverständlich, dass Kinder die Natur achteten, so viel wusste sie noch. Glücklicherweise war also nicht all ihr Wissen verloren gegangen.

»Lasst uns gehen. Eure Eltern warten in einer Stunde bereits am Parkplatz auf euch.« Gestenreich scheuchte Haakon die Kinder vorwärts, die zum Wanderpfad rannten und geordnet in einer Zweierreihe losmarschierten. »Wirst du den Weg wirklich schaffen?«, richtete er sich wieder an Tarja.

»Ich muss es schaffen, schließlich kann mich niemand von euch huckepack bis zum Dorf hinabtragen«, scherzte sie.

Haakon fiel in Tarjas Lachen ein und die beiden folgten den Kindern. Gustav flankierte Tarja, damit ihr nichts geschah.

»Ich passe auf dich auf. Mach dir also keine Sorgen«, versprach er ihr und sah stoisch nach vorne auf den Weg, was sie zum Schmunzeln brachte.

Was für ein tapferer kleiner Kerl, dachte sie.

In Gesellschaft dieser Truppe fühlte sich Tarja sicher und in ihr wuchs die Hoffnung, in Granvin zu erfahren, wer sie war und wie sie in die Berge gelangt war. War sie aus eigener Kraft den Pfad hinaufgestiegen oder war sie womöglich entführt worden? Hatte sie ihren Entführern entwischen können und war dann unter der Esche zusammengebrochen? Was, wenn diese Leute noch immer nach ihr suchten und ihr irgendwo auflauerten? Haakon und die Kinder wären wegen ihr in Gefahr. Panisch sah sie sich um, doch sie entdeckte nichts Auffälliges. Es war ratsam, aufmerksam zu bleiben, bis sie weit genug von diesem Ort entfernt und in Sicherheit war.

Womöglich ging auch lediglich ihre Fantasie mit ihr durch und es gab eine harmlose und völlig normale Erklärung für all das. Sie musste sich nur den Kopf angestoßen haben, was oft schon ausreichte, um eine kurzzeitige Amnesie auszulösen. Aber weshalb war sie dann nackt gewesen und ihre Kleidung, Schuhe und eine Tasche mit ihren Personalien nicht auffindbar? Das passte alles nicht zusammen. Irgendeine Erklärung für ihre Situation musste es geben und Tarja gab die Hoffnung auf eine harmlose Variante nicht auf.

Die Kinder vor ihr stimmten ein fröhliches Lied an und lenkten sie damit für kurze Zeit von ihrer Suche nach einer Erklärung ab. Sie betrachtete die Umgebung, die von Felsen, Büschen und Bäumen geprägt war. Hier war es traumhaft ruhig und würde sie sich nicht in dieser Situation befinden, hätte sie an diesem Ort verweilen wollen. Die unberührte Natur wärmte ihr Herz.

Rasch ließen sie die Gipfel hinter sich und folgten dem immer steiler abfallenden Pfad. Unter ihnen befanden sich Wälder und in der Ferne entdeckte sie Wasser, das sich über weite Teile erstreckte. Sicherlich war es einer der vielen Fjorde, die Norwegens Landschaft bestimmten. Das im Sonnenlicht glitzernde Meerwasser erfüllte sie mit Freude und sie vermutete, ein sehr naturverbundener Mensch zu sein.

Der unebene und steinige Untergrund machte ihren Fußsohlen jedoch zu schaffen. Spitze Steinchen bohrten sich in ihre Haut, weshalb sie regelmäßig die Luft anhielt, um nicht jammern zu müssen. Ihr Blick glitt immer wieder zu Haakon, der neben ihr lief und sie wiederholt musterte. Schnell drehte er sich weg, wenn sie seine Blicke bemerkte. Er runzelte die Stirn, wenn er sie betrachtete, als würde ihn etwas beschäftigen. Womöglich dachte er genauso verzweifelt über ihre Identität nach wie sie selbst.

Es bedrückte sie, dass sie sich an nichts erinnern konnte, was sie persönlich betraf. All ihre Erinnerungen an ihre Person waren ausgelöscht.


»Weißt du denn, wie alt du bist?«, fragte Haakon, nachdem sie eine Weile marschiert waren und ordentlich an Höhenmetern verloren hatten.

Angestrengt dachte Tarja nach. Erneut streikten ihre Erinnerungen und es war, als würde sie in einer leeren Kiste kramen, um nach etwas zu suchen, das sich dort befinden müsste. Enttäuscht schüttelte sie den Kopf.

»Schade, das wäre ein weiterer Anhaltspunkt gewesen. Vielleicht könntest du siebzehn oder achtzehn sein, denn du siehst noch nicht alt aus«, überlegte Haakon.

»Dann bist du fast genauso alt wie mein Bruder«, erklärte Gustav stolz. »Frederick ist nämlich schon zwanzig. Gehst du noch zur Schule? Mein Bruder studiert schon. Ich will auch mal studieren, wenn ich groß bin«, plapperte der Junge vor sich hin.

»Frederick studiert Medizin in Bergen. Er ist ein guter Junge, hilft mir in seinen Semesterferien mit den Schafen«, erzählte Haakon und wirkte dabei, als wäre er in Gedanken. Sein Mund verzog sich und er wirkte mit einem Mal unendlich traurig. Etwas musste ihn bedrücken.

»Ihr habt Schafe?«, fragte Tarja nach, um den alten Mann abzulenken. Sie wollte ihm nicht zu nahe treten und nach den Gründen seines Stimmungswechsels fragen.

»Großvater hat sogar ganz viele, denn er züchtet sie.« Fröhlich auf und ab hüpfend war Gustav dem alten Mann zuvorgekommen. »Man kann mit ihnen kuscheln und ihre Wolle ist ganz flauschig«, schwärmte er und ergriff Tarjas Hand. Seine kleinen Finger waren warm und schmiegten sich in ihre Handfläche.

Für den Jungen schien es selbstverständlich, ihre Nähe zu suchen und so ließ sie ihn gewähren. Seine Wärme in ihrer Handfläche zu spüren, fühlte sich gut an. Sie bemerkte das Schmunzeln auf Haakons Lippen, während er die beiden betrachtete.

»Seit Jahrzehnten betreibe ich eine Schafzucht in den Bergen. Wir wohnen in einem Dorf, nicht weit entfernt von hier. Dort verbringen die Schafe den Winter im Stall, wenn das Wetter in den Bergen zu hart wird. Man verdient nicht die Welt, aber es reicht, um uns dreien ein angenehmes Leben zu ermöglichen«, sprach Haakon und zuckte mit den Schultern.

Es schien für ihn das Normalste der Welt, mit Tarja über solch private Themen zu sprechen und sie war über diese Offenheit ihr gegenüber erstaunt. Immerhin war sie für ihn eine Fremde, so wie sie es auch für sich selbst war. Doch sie kam sich nicht so vor. Sie fühlte sich von der kleinen Gruppe aufgenommen und das gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Wäre es nicht so, wäre sie in Anbetracht ihres Gedächtnisverlustes bestimmt bereits panisch geworden.

»Euch dreien?«, hakte sie nach und bemerkte zu spät, dass dies eine zu persönliche Frage sein könnte.

Haakon schluckte schwer, bevor er antwortete. »Gustav, Frederick und ich.«

»Meine Eltern sind bei einem Autounfall gestorben. Deshalb leben wir bei Großvater«, schaltete sich Gustav ein und schaute traurig auf seine Schuhe.

»Vor drei Jahren sind mein Sohn und seine Frau verunglückt. Gustav war damals noch sehr klein.« Haakon wuschelte dem Jungen durch die Haare und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln.

Es war nicht zu übersehen, dass es ihn schmerzte, über den Verlust zu sprechen. Sofort fühlte sich Tarja schlecht, nachgefragt und damit alte Wunden aufgerissen zu haben. Gleichzeitig taten ihr Gustav und Haakon leid. Sie empfand Mitleid mit der kleinen Familie, die solch einen Verlust erleiden musste. Seine Eltern oder sein Kind zu verlieren, war ohne Frage schrecklich.

»Das tut mir sehr leid«, wisperte sie und schaute nachdenklich in den Himmel. Wegen der Sonne musste sie sich die Augen mit der freien Hand abschirmen. Besaß sie noch Eltern? Sie wünschte sich sehnlichst, sich zu erinnern.

»Das Leben geht seinen eigenen Weg. Dem einen ist es vorher­bestimmt, lange auf dieser Erde zu wandeln, und andere müssen diese Welt früh verlassen. Was wir Menschen uns wünschen, spielt dabei keine Rolle. Welchen Schmerz wir in unserem Herzen tragen, interessiert das Leben nicht.« Auch wenn er den Eindruck vermitteln wollte, sich mit dem Lauf der Dinge abgefunden zu haben, so war die Verbitterung in seinen Worten nicht zu überhören.

»Deine Worte stecken voller Leid und Schmerz«, entgegnete sie leise.

»In meinem Alter hat man schon viele kommen und gehen sehen. Geliebte Menschen sind fort. Jeder Tod hinterlässt eine Kerbe in meinem Herzen. Und mit jeder Kerbe verliert man den Glauben an die Vorstellung, das Leben sei gerecht. Doch Frederick und Gustav sind noch so jung. Ihre Herzen sollten nicht bereits zwei solch große Kerben haben.« Haakon verzog missmutig das Gesicht, bevor er sich von Tarja abwandte und mit großen Schritten an die Spitze der Wande­rtruppe eilte.

Während Tarja ihm nachsah, dachte sie über seine Worte nach. Es lenkte sie von ihrer eigenen Situation ab. Zu ihrer Verwunderung fühlte sie eine tiefe Verbundenheit mit diesem Mann.

»Manchmal ist er so traurig«, erklärte Gustav nach einer Weile der Stille, in der lediglich die Schritte der Kinder auf dem felsigen Untergrund und gelegentliches Gemurmel zu hören gewesen war. »Die meiste Zeit ist er fröhlich und erzählt Geschichten über Götter und die Erde. Aber wenn er an Mama und Papa denkt, dann wird er ganz anders. Ich glaube, er denkt, dass er an dem Unfall schuld ist.« In Tarjas Hand wurden seine Finger unruhig, bis er sie zurückzog. »Er denkt immer, ich würde es nicht merken, weil ich noch so klein bin. Aber ich habe ihn belauscht, als er mit sich selbst geredet hat.«

»Er hat mich sich selbst geredet?«

»Wenn er richtig traurig ist, trinkt er dieses Zeug, das so eklig riecht, wenn ich im Bett bin. Dann spricht er immer mit sich selbst. Einmal habe ich mich wieder runtergeschlichen und mich auf die Treppe gesetzt. Er schimpft mit sich selbst, bis er weint. Großvater hat immer wieder gesagt, dass er Mama und Papa hätte retten können. Aber Frederick meint, dass man die Zeit nicht zurückdrehen kann und dass Großvater den Unfall nicht hätte verhindern können.« Unsicher knetete Gustav seine kleinen Hände. »Ich erinnere mich nicht mehr gut an Mama und Papa. Aber ich vermisse sie so sehr. Frederick und Großvater vermissen sie noch mehr, glaube ich.«

Tarja wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte. Zu gerne wollte sie den Jungen trösten, doch sie wusste nicht wie. Worte konnten den Schmerz nicht lindern. Sie brachten Gustavs Eltern nicht zurück. So nahm sie seine Hand wieder in ihre und drückte sie sachte. Gustav drehte ihr das Gesicht zu und sie schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln. Er erwiderte es zaghaft, bevor er wieder geradeaus schaute und sich auf den Weg konzentrierte.

In Tarja tobten die verschiedensten Gefühle. Mitgefühl für diese Familie, aber auch Dankbarkeit, dass sie sich ihrer angenommen hatten. Angst und Ungewissheit aufgrund ihrer eigenen Situation und der Tatsache, dass sie nichts über sich wusste. Sie fühlte sich wie ein Buch, dessen Inhalt ausgelöscht und dessen Seiten plötzlich unbeschrieben waren. Und doch blätterte sie immer wieder darin, auf der Suche nach der kleinsten Information, nach wenigstens einem Wort, das darin geschrieben stand.