Khouan und Pagana hatten kaum eines der Worte glauben können, die ich ihnen anvertraut hatte. Ich hatte bei meiner Flucht aus dem Sommerreich begonnen, hatte ihnen von meiner Reise über den Kontinent berichtet, von meiner Gefangennahme, von Naesh, die mich ausgebildet hatte, gemeinsam mit Sazel, von Estre, die mich zuerst gehasst und dann respektiert hatte, und auch von Azaldir, einem Bären von einem Krieger. Zuallerletzt hatte ich ihnen von einem Mann erzählt, dessen Wille den Winter rufen konnte. Einem Mann mit den Schwingen eines Raben und einem Blick aus flüssigem Silber.
Einem Mann, an den ich mein Herz verloren hatte.
Sein Name war Grau, und er war der Winterkönig.
»Er hat kapituliert?« Khouans Miene verriet seinen Unglauben. Gerade hatte ich ihnen von Suras Kampf gegen Grau erzählt. Hatte erklärt, dass Grau meinen Bruder am Leben gelassen hatte, obwohl er ihn binnen einer einzigen Sekunde das Herz mit einem Eiszapfen hätte durchbohren können, wenn er es nur gewollt hätte.
Ich schüttelte den Kopf. »Er hat Sura triumphieren lassen. Doch jeder mit Augen im Kopf hat gesehen, was für eine Farce das war.« Zorn füllte meinen Mund mit Säure. Grimmig schluckte ich sie hinunter. »Aber all das war nur ein Trick meines Vaters gewesen, um Grau niederzuringen und ihn gefangen nehmen zu lassen.«
»Er war der Gefangene, zu dem du wolltest?« Khouan schien entsetzt. Ich hatte ihm damals nicht verraten, wen ich im Gefängnis gesucht hatte. Er hatte wie auch viele andere geglaubt, dass der Winterkönig im Sicherheitstrakt für Schwerverbrecher untergebracht worden war. Tatsächlich hatte man ihn in das tiefste Loch gesteckt, das es im Kerker zu finden gab. Tief genug, damit man seine Schreie nicht hörte, wenn er gefoltert wurde.
Ich nickte ernst.
»Himmel, ich hatte ja keine Ahnung.« Khouan sah betroffen auf seine Hände hinab. »Ich kann nicht glauben, dass dieser Mann alles andere ist als ein kaltes Scheusal.«
»Grau ist ein gerechter, vernünftiger König. Sein Volk verehrt ihn. Im Gegensatz zu meinem Vater liebt er die Nähe zu seinen Leuten – er speist mit ihnen, kämpft Seite an Seite mit seinen Kriegern und lässt sich sogar dazu herab, lächerliche Kartenspiele mit ihnen zu spielen.« Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus, während ich über ihn sprach. »Er ist ein Mensch, ein Mann wie du, Khouan. Kein entfremdetes Wesen. Keine gnadenlose Bestie ohne Gefühle.«
»Er wollte dich nicht benutzen, um dem Sommerreich zu schaden?« Paganas Stimme klang zaghaft. »Verstehe mich bitte nicht falsch.«
»Nein, er hat mir geholfen. Hätte er mich nicht geschult, meine Magie zu entfesseln und zu kontrollieren, wäre ich heute vielleicht nicht mehr hier.« Mit gerunzelter Stirn blickte ich hinab auf meine Hände. »Ich trage so viel Kraft in mir, dass sie bereits aus mir herausquoll. Grau und seine Elite halfen mir dabei, sie zu beherrschen. Also bat ich, bei ihnen bleiben zu dürfen. Sie kümmerten sich um mich.«
»Wir wurden so getäuscht«, murmelte Pagana nach einigen Momenten der Stille. Und damit hatte sie recht. Das Winterreich war uns stets als Feind präsentiert worden. Als ein kaltes Land, in dem nur Wilde hausten. Niemand hätte gedacht, dass dort Menschen von Ehre und Anstand leben würden.
Khouan schaute mich betroffen an. »Was machen wir jetzt?«
»Das weiß ich nicht«, gab ich leise zu. »Ich … Ich kann kaum noch klar denken, seit sie diesen Bann auf mich gelegt haben. Es ist wie früher – nein, eigentlich ist es noch viel schlimmer. Ich will Pläne schmieden, aber das kann ich nicht. Nicht, wenn meine Gedanken tagtäglich durchpflügt werden wie ein Feld von einem Ackergaul.«
»Grau soll diesen Bann brechen. Das kann er doch, oder?«, kam es von Pagana.
»Er könnte es vielleicht. Aber mit diesen Magiebannern um seinen Körper kann er seine Kräfte nicht rufen. Er ist zu geschwächt.«
»Dann nehmen wir sie ihm eben ab.«
Ich sah sie mit hochgezogener Braue an. »Und wie? Dafür braucht man spezielle Handschuhe, die sich ausschließlich im Besitz der Gardeeinheit befinden, die wiederum mit Magiebannern ausgestattet ist.«
»Können wir sie vielleicht klauen?«, fragte Khouan.
Ich schnaubte. »Sicher, wenn ihr einmal in die Kaserne einbrechen wollt.«
Es folgte eine angespannte Stille.
»Damit wäre es aber nicht getan. Wir müssten noch mal zu Graus Gefängniskammer vordringen und ich habe keinen blassen Schimmer, wie wir das bewerkstelligen sollten. Mein Vater wird meinen Namen gewiss von der Liste der Besucher gestrichen haben«, sagte ich mit deutlichem Sarkasmus in der Stimme.
»Dann versuch das zu ändern«, meinte Pagana.
»Wie denn?« Meine Stimme klang schnippisch. »Meinst du, ich kann meinen Vater mit großen Kulleraugen darum bitten und er wird es mir widerstandslos gewähren? Ich bin nicht Maklin.«
»Nein, aber ich habe gehört, dass es Schwierigkeiten gäbe, Informationen aus dem Winterkönig herauszubekommen.«
Nun legte ich den Kopf schief. »Wo hast du das aufgeschnappt?«
Pagana lächelte verschlagen. »Wachen tratschen. Und das viel zu gern, wenn es um den Winterkönig geht. Sie wollen sich regelrecht damit brüsten, dass sie etwas mit ihm zu tun gehabt haben, auch wenn es vielleicht nur die simple Nennung seines Namens während ihrer Dienstaufsicht ist.«
»Du wusstest schon immer, wo du Informationen herbekommst«, brummte ich.
»Natürlich. Ich wäre eine schlechte Diebin, wenn nicht.«
Pagana war eine interessante Frau, keine Frage. Ein Mädchen reicher Eltern, das des Nachts hochriskante Diebstähle beging, um sich die Langeweile zu vertreiben. Diebstähle, die sie auch in mein Schlafgemach geführt hatten, um mir drei in Gold eingefasste Kristalleier vor der Nase wegzustehlen. Unglücklicherweise war ich aufgrund meiner damaligen Albträume verfrüht aus dem Schlaf erwacht und hatte sie prompt entdeckt.
Dies war der Anfang unserer Geschichte gewesen.
»Sag deinem Vater, du bietest dich ihm an. Sag ihm, du würdest die Zuneigung des Winterkönigs ausnutzen, um an die Informationen heranzukommen, die er zu haben wünscht«, wies Pagana mich an. »Im Gegenzug solltest du Freigang verlangen – zu deinem eigenen Seelenwohl. Du musst dir mal wieder die Sonne aufs Gesicht scheinen lassen.«
Zuerst widerstrebte mir dieser Vorschlag. Auf den zweiten Blick erschien er mir allerdings sehr verlockend. Die Aussicht, Grau wiederzusehen, setzte Gefühle in mir frei, die fast bis an die Oberfläche drangen. Sehnsucht und Liebe. Ich konnte ein Ziehen in meinem Bauch spüren, als ich an seine Augen dachte, seinen silbernen Blick.
»Gut. Ich werde es versuchen«, meinte ich.
Es war nicht einfach, nach so vielen Tagen im Bett einen sicheren Gang zurückzugewinnen. Wie ein Fohlen bewegte ich mich durch die großen Korridore des Sommerpalastes. Meinen Vater fand ich schließlich in einem Lesezimmer, wo mein Bruder Sura eine Abhandlung über die vergangenen Könige unseres Reiches lesen sollte. Vater stand mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor einem Fenster und warf nachdenkliche Blicke auf die Stadt. Sura wagte es kaum aufzusehen, als ich an ihm vorbeilief. Seit meiner Rückkehr mied er mich. Ich nahm es ihm nicht übel, wusste ich doch am besten Bescheid über die Schmach, die er erfahren hatte im Duell gegen Grau. Wir waren uns beide darüber im Klaren, dass er nicht gegen ihn hätte gewinnen können, wäre das Ganze nicht ein abgekartetes Spiel gewesen.
»Vater«, erhob ich die schwache Stimme.
Der Sommerkönig drehte sich um. »Ciara. Kind, was tust du hier?«
»Ich habe dich gesucht. Man hat mir zugetragen, dass die Befragungen des Winterkönigs fruchtlos wären«, erklärte ich tonlos.
Die Brauen meines Vaters zogen sich misstrauisch zusammen. »Woher hast du diese Information?«
»Wachen. Sie tratschen.«
Er knurrte. »Unfähiges Pack.«
»Sag mir, was ist es, das du zu wissen wünschst? Vielleicht kann ich dir behilflich sein.«
Nun spannte sich seine Haltung an. »Ach ja?«
Ich nickte stumm.
»Woher dieser Sinneswandel?«
»Ich will aus diesem Palast. Ich halte es hier nicht mehr aus. Wenn ich es schaffe, dem Winterkönig ein Geheimnis zu entlocken, lässt du mich hinaus.«
Die Augen meines Vaters wurden schmal. »Führst du etwas im Schilde, Tochter? Oder kehrt deine Vernunft langsam zurück?«
Emotionslos sah ich ihn an. »Dieser Bann hat etwas in mir verändert. Alles fühlt sich so chaotisch an. Ich weiß gerade nicht mehr, wer ich bin.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Ich habe im Winterreich so viele schreckliche Dinge gesehen. Morde, Monster und verschlingende Magie. Es war schrecklich. Sie zwangen mich dazu, Teil des Ganzen zu werden – mit ihnen zu kämpfen und meine Magie aus mir herauszuzerren. Jeden Abend haben sie mich mit Rauschmitteln benebelt und irgendwann ging ich in mir selbst verloren. In diesem See aus Magie.« Ein gequältes Seufzen kam aus meinem Mund. »Ich weiß jetzt, warum du mich nie hast unterrichten lassen, Vater. Du hattest mit allem recht. Meine Magie ist gefährlich.«
Er hob das Kinn und betrachtete mich mit schmalen Augen. »So? Warum, glaubst du, ist das so?«
»Weil sie mich verschlingt«, entgegnete ich so eindringlich, wie ich konnte. Die Knöchel meiner Fäuste traten schon weiß hervor, als ich einen Schritt näher kam. »Sie frisst mich! Das, was ich bin, wird unter dieser Energie begraben! Es schmerzt, Vater, so sehr! Wenn du es könntest, würde ich dich bitten, sie mir zu nehmen.«
Den letzten Satz versah ich mit einer winzigen Träne, die mir über die Wange rann.
Selten hatte ich mir so viel Mühe gegeben, ihn hinters Licht zu führen. Viel zu oft hatte ich gegen ihn aufbegehrt, also musste ich meiner Demut etwas anderes hinzufügen, um ihn zu täuschen: Angst und Verzweiflung.
»Bitte«, wisperte ich und griff nach seiner Hand, während ich von diesem Schauspiel gleichzeitig unfassbar angewidert war. »Sag mir, was ich tun soll. Wie kann ich wieder die sein, die ich einst war?«
Die Augen meines Vaters leuchteten auf. Darauf hatte er offensichtlich gewartet. Dass ich gebrochen und eingeschmolzen wurde wie Glas, das er endlich wieder nach seinen Vorstellungen formen konnte.
»Indem du eine bessere Tochter wirst. Eine, die auf das hört, was ich zu sagen habe. Dein Leichtsinn hat dich beinahe den Kopf gekostet, Ciara. Wenn du dich mir als würdig und ergeben erweisen willst, dann zeige mir, dass du diesen Mann dort unten als den Feind siehst, den er für unser Reich darstellt. Ich will wissen, welchen Pakt er mit den Dämonen geschlossen hat, die unsere Lande noch immer attackieren. Finde etwas darüber heraus und ich gestehe dir zu, dich jeden Nachmittag unter Aufsicht aus dem Palast zu begeben, damit du endlich wieder zu deinem alten Leben zurückkehren kannst. Das Volk sehnt sich nach dir.«
Demütig nickte ich ihm zu. In meiner Brust fühlte ich ein hasserfülltes Brennen, als ich mich wieder aufrichtete. Mein Vater wirkte zufrieden. Ich hätte ihm am liebsten die Augen ausgekratzt.
»Wachen«, rief er mit lauter Stimme. »Begleitet meine werte Tochter ins Verlies. Behaltet sie gut im Auge, während sie mit dem Verräter spricht, der unseren Kontinent in den Abgrund stürzen will.«
Ich verbiss mir eine feindselige Antwort und ließ mich von den beiden Männern aus dem Saal führen. Sura regte sich noch immer nicht. Tatsächlich hatte ich sogar den Eindruck, er würde seine Nase noch tiefer in das Buch stecken, als ich an ihm vorbeilief.
Der Weg ins Gefängnis dauerte eine Weile. Ständig wurden wir von weiteren Wachen aufgehalten und man erkundigte sich nach unserem Anliegen. Mir entging nicht, wie man uns zweifelnd hinterherschaute. Was sollte eine schwache, gebrochene Prinzessin schon bei einem aus Eis und Stahl gefertigten Mann ausrichten – das schienen sie zu denken.
Der Gang hinab zur Zelle war so eng, dass kaum zwei Menschen nebeneinander Platz hatten. Die Luft roch modrig und feucht, die Wände glänzten, als wären sie mit einem Film überzogen. Jeder Schritt auf dem verdreckten Boden erzeugte ein Knirschen. Abseits unserer eigenen Fackeln gab es kein Licht.
Als ich schließlich vor Graus Zellentür stand, rauschte das Blut in meinen Ohren. Schweiß sammelte sich auf meinen Handflächen, also ballte ich die Fäuste. Mit größter Beherrschung sah ich zu, wie man die Tür aufschloss und für mich aufstieß. Danach durfte ich eintreten.
Zunächst war da nichts außer Dunkelheit, doch als die fackeltragende Wache hinter mir in die Zelle trat, sah ich den geschundenen Körper, der sich in der Mitte des Gewölberaumes befand. Helle, fast weiße Haut, die über und über mit blauen, roten und gelben Flecken übersät war. Stiche und Schnitte dazwischen wie Straßen, die man auf einer Landkarte verzeichnet hatte. Es war ein Bild des Elends.
Die Hände waren über dem Kopf fixiert. Ein schwaches Schillern der dünnen Seile – der Magiebanner – erhellte den Raum, als das Licht der Fackel reflektiert wurde. Der Kopf mit dem weißen, nun eher schmutzig grauen Haar, hing kraftlos herab.
Ich schluckte bei Graus Anblick. Nie hätte ich gedacht, dass man ihn derart in die Knie zwingen könnte. Nicht ihn. Den großen, strahlenden Winterkönig und eines der mächtigsten Lebewesen, die ich je kennengelernt hatte.
»Hey. Aufwachen.« Einer der Zellenwärter schlug mit einem Knüppel gegen Graus Bauch. Stöhnend regte er sich und hob den Kopf.
Sein Gesicht war von verkrustetem Blut bedeckt, die Unterlippe war aufgeplatzt. Unter seinem rechten Auge prangte ein Schnitt. Ein langer Bluterguss zierte seine linke Wange. Der Atem war flach und dennoch hörbar.
»Erkennst du dein Opfer noch?«, raunte der Wärter in sein Ohr. Dann packte er Graus Kopf und zwang ihn, mich anzusehen.
Zu gerne hätte ich den Wärter in Brand gesteckt. Er sollte ihn loslassen.
Graus Gesicht zeigte kaum eine Regung, was vielleicht daran lag, dass ihm alles wehtun musste. Doch auch ich trug eine nichtssagende Miene. Unter keinen Umständen durfte ich mir etwas anmerken lassen.
»Ich bin gekommen, um dir Fragen zu stellen«, sagte ich. »Fragen zu deinem Pakt mit den Dämonen.«
Grau röchelte. Sagte aber nichts.
»Welche Vereinbarungen hast du mit ihnen getroffen?«, fragte ich.
Grau schwieg, worauf der Wärter ihm die Faust in die Seite donnerte. »Antworte ihr!«
»Hört auf«, zischte ich ihn an. »Seht Ihr denn nicht, dass er völlig am Ende ist? Wie soll er denn noch sprechen mit derlei Verletzungen?«
»Er ist ein mächtiges Scheusal, das mit der Kraft des Winters gesegnet wurde. Ein paar Schläge hält er schon aus«, höhnte der Wärter.
»Ihr stört meine Befragung. Verlasst die Zelle. Sofort.« Mein Tonfall machte klar, dass ich keinen Widerspruch duldete.
Einer meiner beiden Wächter trat vor, als der Wärter nicht reagierte. »Hast du nicht gehört, was die Prinzessin gesagt hat?«
Grummelnd und fluchend rauschte der Wärter letztlich ab. Durchdringend starrte ich die beiden Wachen an, die mich hierher begleitet hatten. »Ihr geht ebenso. Ich will mit dem Winterkönig allein sein.«
»Herrin, das solltet Ihr besser nicht tun …«
»Warum?«, fiel ich ihm ins Wort. »Seht ihn Euch doch an. Er ist absolut wehrlos. Es dürfte ein Wunder sein, wenn ich etwas aus ihm herausbekomme. Aber lasst mir den Versuch.«
Es dauerte einen Moment, bis die ältere der beiden Wachen ermattet seufzte. »Wir warten auf Euch außerhalb der Zelle.«
Unmerklich nickte ich ihm zu. »Ich danke Euch.«
Es fühlte sich wie eine schiere Ewigkeit an, bis sie den Raum verlassen hatten. Derweil biss ich so fest die Zähne aufeinander, dass es wehtat. Ich zählte bis zehn, als die Tür sich hinter mir schloss, dann eilte ich zu Grau. Endlich hob er den Kopf. Sein Blick war trüb, aber er schien mich zu erkennen. Meine Hände berührten sein Gesicht, ich strich durch sein schmutziges Haar, kostete seinen Atem auf meinen Lippen, ehe ich ihn zu küssen begann. So verzweifelt, dass ich beinahe mit den Magiebannern in Kontakt gekommen wäre, die ihn umschlangen. Ich war darauf bedacht, sie nicht zu berühren, was mir unendlich schwerfiel, da ich Grau in diesem Augenblick nicht nahe genug sein konnte.
»Ciara«, wisperte er gebrochen, nachdem ich mich von ihm gelöst hatte. Der metallische Geschmack von Blut lag auf meinen Lippen, als ich mit der Zunge darüberfuhr. Grau stemmte sich im nächsten Moment gegen die Fesseln, woraufhin eine der verkrusteten Wunden an seinem Arm wieder aufplatzte.
»Scht«, machte ich. »Sei still und beweg dich nicht. Du bist vollkommen entkräftet.«
Er schloss die Augen, während ich meine Stirn an seine lehnte. »Du solltest fliehen.«
»Nicht ohne dich.«
»Kehr ins Winterreich zurück. Sag Sazel, dass …«
Ich sah auf. »Was?«
»… dass es so weit ist. Sie sollen die Stimme der Wintereiche um Rat fragen.«
Ich legte meine Hände an seine Wange, darauf bedacht, ihm nicht wehzutun. »Was redest du da?«
»Die Wintereiche bestimmen einen neuen König, wenn der alte vergeht und es keine Nachkommen gibt.«
Ich sog entsetzt die Luft ein. »Wage dich nicht, auch nur an so etwas zu denken! Ich werde dich befreien, koste es, was es wolle. Ich werde dich hier nicht zurücklassen.«
»Die Dämonen wüten noch immer. Ich habe die Wachen reden hören. Du musst ins Winterreich. Sie brauchen einen neuen Anführer, der das Volk unter Kontrolle bringt, wenn alles aus den Fugen gerät«, redete er einfach über mich hinweg.
Voller Panik zwang ich ihn, mich anzusehen. »Hör auf, so etwas zu sagen!«
Seine silbernen Augen hatten viel von ihrem einstigen Glanz verloren. »Ich werde deinem Vater und auch sonst niemandem etwas über das Winterreich verraten. Das ist mein Todesurteil.«
»Wir schmieden einen Plan, um dich zu befreien. Du musst nur ein klein wenig länger durchhalten.« Meine Stimme klang beinahe flehend.
»Je länger ich vom Winterreich getrennt bin, umso stärker schwindet meine Macht. Ich weiß nicht, wie lange ich noch standhalten kann.« Er ächzte. »Diese Magiebanner …«
»Es gab einen Grund, warum man sie früher einmal verboten hat.« Mir kamen beinahe die Tränen. »Ich finde einen Weg, um dich von ihnen zu befreien.«
Erneut küsste ich ihn. Wollte all meine Hoffnung in diese Zärtlichkeit legen, die eigentlich so verzweifelt und hungrig war.
»Ich lasse dich nicht zurück«, flüsterte ich abermals. »Hörst du?«
Grau nickte schwach.
»Ich verspreche es dir.«