Der Morgen brach gerade erst an, aber mit ihm zog ein kühler Nebel auf, der die kleine, geschundene Gruppe einhüllte, während sie sich auf Pferden ihren Weg nach Yastia erkämpfte. Die Hufe trafen hart auf dem Boden auf, zerstreuten den Nebel für einen Lidschlag, ehe er sich hinter ihnen wieder zuzog.
Nachdem die alten Ruinen nahe Katta eingestürzt waren, hatten sich Morgan, Cardea, Erik und Jeriah dazu aufgerafft, den Rückweg anzutreten. Nur kurz hatten sie in einer verlassenen Scheune gerastet, um sich zu sammeln und das Geschehene zu begreifen.
Sie hatten einen Gott erweckt. Garvan, alter Gott der Erde, der über mehr als ein Jahrtausend schlafend in seinem Sarg verbracht hatte.
Nachdem sie gegen die Wache haltenden Golem gekämpft hatten, hatten sie den Bann gebrochen, der über dem schlafenden Gott gelegen hatte. Die Erde hatte zu beben begonnen und alles innerhalb einer halben Meile in ihren Schlund gerissen. Gerade so hatten sie sich noch retten und den Hügel erklimmen können, von dem aus sie das Ausmaß der Zerstörung eine Weile lang betrachtet hatten. Morgan hatte die sich bietende Möglichkeit genutzt, um sich endgültig von Aithan und seinem Vetter Mathis loszusagen. Letzterer hatte von Anfang an gegen sie intrigiert und ihren Tod herbeigesehnt, weil er ausschließlich von giftiger Eifersucht beherrscht wurde. Obwohl Morgan seine Gründe kannte, konnte sie ihm nicht vergeben. Genauso wenig wie Aithan, der wieder einmal bewiesen hatte, dass es ihm nur um seine Regentschaft ging und alles andere keine Bedeutung besaß. Weder Freundschaft noch Treue. Es würde sie nicht wundern, wenn er dafür auch seinen eigenen Vetter opfern würde.
Es war erleichternd gewesen, sie gehen zu sehen, auch wenn Morgan bedauerte, Sonan und Lima, ihren alten Kameradinnen, wohl nicht mehr im Guten zu begegnen. Sie hatten Aithan bereits vor langer Zeit ihre Treue geschworen und dagegen kam Morgan nicht an.
Sie ballte ihre Hände um die Zügel zu Fäusten, als ihre Gedanken wieder zu dem Kern ihrer Probleme zurückkehrten.
Cáel.
Aus nur einem Grund hatte sie ihm geholfen. Er hatte ihr versprochen, ihr etwas sehr Wichtiges über sie selbst zu sagen und sie … sie hatte ihre Neugier nicht zurückdrängen können. Nun offenbarten sich ihr jedoch mehr Fragen als vorher, denn Cáel hatte in ihren Erinnerungen gesehen, dass … nahezu keine von ihnen aus ihrer Kindheit der Wahrheit entsprach. Laut ihm hatte sie weder Eltern, die Brian und Elsie hießen, noch besaß sie einen Bruder oder eine Schwester. Nichts davon kam der Wirklichkeit nahe, aber anstatt ihr zu sagen, was wirklich in ihrer Kindheit geschehen war, bevor Larkin sie zur Wölfin ausgebildet hatte, ließ er sie mit einem Rätsel zurück.
Ein Wald aus weißen Knochen.
Eine dunkle, dunkle Hütte.
Eine Wanne gefüllt mit Blut.
Was sollte sie mit dieser kryptischen Antwort anfangen?
Sie fühlte sich, als wäre ihr Innerstes nach außen gekehrt. Nichts ergab mehr einen Sinn, und Dinge, die für sie immer klar gewesen waren, verschwammen nun zu einem See aus Unsicherheiten. Wer war sie? War Morgan überhaupt ihr richtiger Name? Wo befanden sich ihre Eltern? Wussten sie, dass sie lebte? Oder waren sie selbst schon tot?
Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte, es gab nur einen Ort, eine Person, die ihr Antworten geben konnte: Garth Larkin – Alphawolf der Schmuggler und ihr Ziehvater. Geheimnisse umrankten seine Persönlichkeit wie verzauberte Pflanzen das verfluchte Schloss von Vadrya, seit er Morgan vor fast zehn Jahren entführt hatte, und niemals war sie einem von ihnen auf den Grund gekommen. Sie hatte schnell gelernt, dass er Fragen nicht schätzte, denn er ließ sie seine Unzufriedenheit oft mit seinem Gürtel und manchmal auch mit seinem Dolch spüren.
Sie hatte gelernt zu schweigen.
»Woran denkst du?« Erik saß hinter ihr und lehnte seine Schläfe an ihre. Da sie nur drei Pferde mitgenommen hatten, hatte Erik Cardea seine Stute überlassen und sich hinter Morgan gesetzt, die kein Problem mit seiner Nähe hatte. Erik war mittlerweile der Einzige, dem sie vorbehaltlos vertraute. Er würde sie weder im Stich lassen noch jemals verraten, dafür besaß er ein zu großes Ehrgefühl.
»An Cáels Worte«, sagte sie ehrlich und seufzte tief. »Glaubst du, er hat einen Grund, mich anzulügen? Ich sehe einfach nicht, wie das möglich sein kann, dass meine Erinnerungen allesamt … verfälscht worden sind. Und vor allem, warum sollte sich jemand die Mühe machen?«
»Hm.« Erik schwieg eine Weile, während sie ihre Pferde über die Straße aus festgestampfter Erde lenkten. Jeriah führte die Prozession an, Cardea folgte als zweites und Morgan und Erik bildeten das Schlusslicht. »Ich kenne Cáel nicht wirklich, aber ich denke, dass es durchaus im Bereich des Möglichen liegt, dass er dir etwas vorgaukelt. Was er sich davon erhofft? Keine Ahnung. Doch es wird etwas sein, das ihm früher oder später nützen wird.«
»Und wenn nicht? Wenn er die Wahrheit sagt?« Sie konnte nicht vergessen, wie erschüttert er gewesen war, als er einen weiteren Blick in ihren Kopf geworfen hatte. Normalerweise achtete er penibel darauf, ihr nicht das Geringste zu offenbaren, doch hier hatte sich die Angst in seinen Augen gezeigt. Auch wenn sie ihren Zweifeln noch Nahrung gab, im Inneren wusste sie, dass er sie nicht belogen hatte, obwohl er sich dadurch einen Gefallen von ihr gesichert hatte.
»Dann werden wir herausfinden, was wirklich geschehen ist und wer deine Eltern sind.« Er legte sein Kinn auf ihr Haupt, störte sich nicht an dem Schlamm, der zweifellos jeden Zentimeter ihres Körpers bedeckte. Zudem schmerzten ihre Arme, an denen sich einige tiefe Kratzer befanden, die sie sich bei ihrer Flucht zugezogen hatte.
Die Knochenhexe ruhte mit einem zufriedenen Murmeln, als wäre sie durch die Zerstörung gesättigt worden. Morgan verdrängte ihr Wesen noch weiter nach hinten, um sich eine Weile nicht mehr mit ihr auseinandersetzen zu müssen.
Für den Rest des Weges schwiegen sie, bis sie auf die gewundene Königsstraße einbogen, die direkt zum Haupttor von Yastia führte. Rund eine Meile standen Wagen und Reiter sowie Fußgänger, Bauern und Händler vor dem Tor und warteten ungeduldig auf Einlass. Morgans Gruppe ritt enger zusammen, ehe sie am Ende der Schlange vollkommen zum Stillstand kam.
»Was ist hier los?«, erkundigte sich Cardea bei einem Mann mit langen grauen Haaren, der mit einem kleinen Jungen auf dem Kutschbock saß.
»Sie lassen nur noch diejenigen ein, die eine Bürgschaft vorweisen können«, grunzte der Alte und schnalzte verärgert mit der Zunge. »Deshalb dauert das so lange. Müssen jeden einzelnen Bürgen aufspüren und kontrollieren.«
»Warum?« Morgan blickte vom Mann zurück zur Schlange vor ihnen. Sie war so lang, dass sie nicht mal mehr das Tor erkennen konnten, nun da sie die Anhöhe verlassen hatten.
»Erlass der Königin«, murmelte er und spuckte aus. »Vermutlich will sie das gute Essen der Stadt für sich behalten.«
Morgan hörte schon nicht mehr zu. Ihre Gliedmaßen schmerzten, sie war todmüde und konnte sich nicht vorstellen, Stunden auf der Straße auszuharren, um dann gesagt zu bekommen, dass ihr Bürge unauffindbar war.
»Ich kenne einen anderen Weg, aber wir müssen die Pferde zurücklassen«, teilte sie ihrer Gruppe mit.
Jeriah sah sie mit verhärmtem Gesichtsausdruck an und wirkte in seinem Gebaren ähnlich wie Cardea. Beide konnten es nicht erwarten, in die Stadt zurückzukehren, um sicherzugehen, dass es Jathal und Thomas an nichts mangelte. Morgan war ihr Schicksal nicht sonderlich wichtig, aber das wollten sie vermutlich nicht hören.
Sie verschenkten ihre Pferde an eine ärmlich wirkende Familie, die sie zunächst misstrauisch beäugte und dann mit glorreichen Lobpreisungen überschüttete. Um ungesehen mit der Landschaft zu verschmelzen, mussten sie wieder ein Stück des Weges zurückgehen, damit niemand sie dabei beobachten konnte, wie sie die Böschung hinabschlichen, um sich dann an den vereinzelten Bäumen vorbeizudrängen, bis sie auf die südlichen Mauern von Yastia zusteuerten.
Als Schmugglerin kannte Morgan nicht nur einen anderen Weg, um in die Stadt zu gelangen, dieses Mal entschied sie sich für den schnellsten, auch wenn dieser frequentierter war als die übrigen.
Sie besaßen noch ihre Waffen und notfalls müssten sie sich einfach gegen entgegenkommende Schmuggler zur Wehr setzen.
Ihre Flucht vor der Menschenmenge endete vor einem stählernen Gitter, das vor einem Abwasserkanal angebracht worden war. Was der Königsfamilie und somit auch Jeriah als Thronfolger nicht klar war, war, dass sich die Schmuggler dies zunutze gemacht hatten – vor einigen Jahren hatte Larkin das Gitter durch eine Tür ersetzt, die man auf den ersten Blick nicht als solche erkannte. Die Scharniere waren bereits von Moos bewachsen und es gab weder ein Schloss noch einen Türknauf, trotzdem ließ sich das Gitter durch mehrmaliges Rütteln mit einem lauten Quietschen aufziehen.
»Willkommen im Untergrund«, sagte Morgan und deutete mit der Hand in die Dunkelheit, aus der das leise Plätschern des ranzigen Wassers ertönte.
»Ich würde sagen, ich muss einiges veranlassen, um die Stadt vor Feinden zu sichern«, bemerkte Jeriah trocken, bevor er an ihr vorbeitrat.
»Sei froh, dass es diesen Zugang gibt, sonst bräuchten wir noch länger, bis wir uns endlich ausruhen können«, widersprach Morgan, wartete, bis auch Cardea eingetreten war, und zog das Gitter dann wieder zu. »Etwas Licht?«
Sowohl Cardea als auch Jeriah gehorchten. Cardea nutzte ihre Blutmagie, um ein schwaches Leuchten um ihre Hand hervorzurufen, und Jeriah erschuf mit seiner Webmagie ein Netz aus glühenden goldenen Fäden, die sich schließlich zu einer Kugel formten und dann vor ihnen schwebte. Angeber.
»Was hast du Thomas gesagt, bevor wir losgezogen sind?«, fragte Cardea Morgan mit einem kurzen Seitenblick. Erik schritt mit einer Hand an seinem Schwertknauf neben Jeriah und unterhielt sich leise mit ihm.
»Woher weißt du, dass ich ihm etwas gesagt habe?«, entgegnete die Wölfin und hob beide Brauen, was das Jucken in ihren Augen noch verstärkte. Sie war so verdammt müde. Der Kampf gegen die Golem, das Wirken der Knochenmagie und die anschließende Flucht hatten sie ziemlich ausgelaugt. Ihre Kräfte verließen sie schneller als gedacht. Je früher sie einen sicheren Ort erreichten, desto besser.
»Ich kenne dich, Morgan.« Cardea hielt ihre grauen Augen nun auf das Licht um ihre Hand gerichtet und Morgan wusste nicht, was sie davon halten sollte. War sie wütend? Dabei sah Morgan dieses Mal wirklich keinen Grund dafür. Die ganze Nacht hatte sie ihr Bestes gegeben, um ihre Freundin heil aus der missliche Lage zu manövrieren.
»Ich gab ihm ein Messer und bat ihn, sich um Jathal zu kümmern. Nichts weiter«, antwortete sie barsch. Was dachte Cardea denn? Dass sie ein solches Monster war und ihm den Tod wünschte?
»Wirklich?« Cardeas überraschter Tonfall schmerzte mehr, als Morgan je zugeben würde. Noch immer verstand sie nicht, wie ihre sanfte, hilfsbereite Freundin mit jemandem wie Thomas zusammen sein konnte. Ja, vielleicht hatte er sich geändert, aber all die Jahre, in denen er sie im Quartier der Wölfe schikaniert hatte … Das ließ sich nicht so einfach verarbeiten. Oder vergessen.
»Was hast du dir denn vorgestellt?«, zischte Morgan und konnte sehen, dass Cardeas bleiche Wangen nun von einer zarten Röte bedeckt wurden. »Vielen Dank aber auch.«
»Entschuldige, Morgan, aber du kannst mir meine Vorsicht nicht verübeln. Du bist Thomas nicht gerade mit ausgesuchter Freundlichkeit begegnet.«
»Ist das dein Ernst?« Morgan schüttelte den Kopf. Sie hatte weder Lust noch Kraft, sich weiter mit ihr darüber zu unterhalten, sodass sie Erik und Jeriah in dem engen Gang überholte und die Führung übernahm. Dafür wurde es sowieso Zeit, da sie demnächst mehrere Kreuzungen erreichen würden und sie aufpassen musste, die richtige Richtung einzuschlagen. »Ich kann uns direkt bis zur Thoan bringen. Die Altstadt müssen wir dennoch über die Brücke betreten.«
»Das sollte genügen«, sagte Jeriah mit kratziger Stimme und räusperte sich. »Ich bin mir nicht sicher, was meine Mutter … was Phaedra mit der Kontrolle erreichen will, aber sie wird noch nicht die Macht haben, sie auf die gesamte Stadt auszuweiten.«
Morgan nickte, mit den Gedanken an seinen Worten hängend. Anscheinend hatte er noch nicht verarbeitet, dass sich Phaedra nicht als seine Mutter sah. Während ihrer letzten Begegnung hatte sie ihm gestanden, dass er angeblich während levengrond gezeugt worden war. Einmal im Jahr kamen die Götter zu ihnen auf die Erde und übernahmen für einen Tag und eine Nacht die Körper von Freiwilligen. Phaedras Körper war ihrer Aussage nach vor vierundzwanzig Jahren von der neuen Göttin Diama besetzt worden und sie hatte Jeriah empfangen. Ob Jeriah ihren Worten Glauben schenkte, konnte Morgan nicht sagen, aber allein die Tatsache, dass Phaedra ihm dies an den Kopf geworfen hatte, noch dazu vor so vielen Zeugen, musste ihn schmerzen.
Das Wasser stieg an, je mehr sie sich dem Fluss näherten, und auch der Gestank nahm zu. Irgendwann setzte der Selbsterhaltungstrieb ein und man roch kaum noch etwas; dieses Stadium hatte Morgan allerdings noch nicht erreicht und sie musste sich konzentrieren, sich nicht zu übergeben. Ein Blick in die Gesichter der anderen zeigte ihr, dass sie nicht die Einzige war, der es so erging.
Plötzlich vernahm sie ein Geräusch, das nicht zu dem Rauschen des Kanals passen wollte, und sie hob eine Hand, um ihre Gruppe zum Stehenbleiben aufzufordern. Sie gehorchte augenblicklich, alle lauschten wie Morgan nach verräterischen Schritten oder gemurmelten Worten.
»Das Licht«, wisperte sie gerade laut genug, um gehört zu werden. In der nächsten Sekunde legte sich die Finsternis wie eine kalte Decke über sie.
Morgan blinzelte ein paar Mal, ehe sich ihre übermüdeten Augen an das fehlende Licht gewöhnten und sie dennoch Schemen und Umrisse ausmachen konnte. Sie drängte sich eng an die Seitenwand, eine Hand gegen den schleimigen Untergrund gepresst, und arbeitete sich leise, aber stetig vorwärts. Mit der anderen Hand umfasste sie ihre letzte Waffe – einen spitzen Dolch, der, von ihr geführt, vergleichbaren Schaden anrichten konnte wie Eriks Schwert.
Fast hatte sie sich eingeredet, sich die fremden Geräusche eingebildet zu haben, doch dann schritt sie um die Ecke und sah sich zwei Schmugglern gegenüber. Sie trugen jeweils eine Fackel und erkannten Morgans Gruppe deshalb erst, als es bereits zu spät war, da sie sich außerhalb des Lichtkreises befunden hatte.
Morgan stürzte auf den Linken, Erik warf sich ohne zu zögern auf den Rechten und wenige Minuten später hatten sie beide bewusstlos geschlagen.
»Was machen wir mit ihnen?«, fragte Cardea. »Sie haben uns gesehen.«
»Ich denke nicht, dass sie Jeriah oder Erik erkannt haben. Mitch ist nicht der Hellste, und auch wenn ich den anderen nicht kenne, bezweifle ich, dass er sich nach diesem Schlag gegen den Kopf noch an irgendetwas, geschweige denn an seinen Namen erinnern kann«, antwortete Morgan zuversichtlich. »Lasst uns weitergehen. Es ist nicht mehr weit.«
Sie hob die Fackel auf, die nicht erloschen war, und drängte die anderen zur Eile, bis sie endlich den Aufstieg gefunden hatte, der sie an die Oberfläche bringen würde. Erik übernahm die Rolle des Spähers und ging als Erster hinauf, hob den schweren Deckel an und sah sich um.
Morgan, Jeriah und Cardea verharrten in spannungsgeladenem Schweigen am unteren Ende der Leiter, bis Erik ihnen zuwinkte. Jeriah stieg als Zweiter die Eisensprossen hinauf, Cardea und Morgan folgten ihm dichtauf.
Oben angekommen atmete Morgan erst einmal tief durch die Nase ein und stieß innerlich eine Lobeshymne auf die reine kalte Luft aus. Noch nie war sie so glücklich gewesen, dem Kanal entstiegen zu sein.
»Wir sollten nicht zu lange ausharren«, gab Jeriah zu bedenken. »Wir sind zwar in der Stadt, aber wir ziehen allein durch den Dreck auf unserer Kleidung und den … Geruch Aufmerksamkeit auf uns. Wohin?«
»Zum Hafen«, sagte Morgan prompt, weil sie hoffte, dass sie dort Jathal und Thomas finden würden. Cardea nickte bekräftigend und sie überwanden im Schnellschritt die Brücke, hielten sich eng an den Hauswänden, dunklen Gassen und tauchten wenig später in den Nebel des Hafens ein, in dem heller Aufruhr herrschte. Viel mehr Menschen, als die Uhrzeit gerechtfertigt hätte, hatten sich hier zusammengefunden.
»… der König unter ihnen?«, rief eine Frau mit ungleichmäßig gefärbten roten Haaren und hielt sich eine Hand vor ihren geöffneten Mund.
»Es gibt keine Überlebenden bisher«, sagte jemand anderes.
Jeriah hielt abrupt inne, sodass Morgan beinahe gegen ihn gelaufen wäre. »Keine Überlebenden?«
»Die gesamte Flotte ist in dem gestrigen Sturm gekentert«, erklärte die Frau. »Ein paar Schiffsteile sind bereits angespült worden.«
»Wir müssen weiter«, drängte Morgan Jeriah und zog ihn am Ärmel hinter sich her, bis sie den Teil des Hafens erreichten, der nicht ganz so belebt war. »Wo ist das Geheimversteck, Cardea?«
»Direkt hier durch.« Sie steuerte eine unscheinbare Stahltür an, die ins Innere eines Backsteingebäudes führte, das von zwei Lagerhallen flankiert wurde. Sie erinnerten Morgan an das letzte Mal, als sie hier gewesen war. Die Knochenhexe hatte sie beinahe überwältigt und nur noch Cáel war dazu fähig gewesen, sie zurückzuholen. Es schien eine Ewigkeit her zu sein.
»Lass mich«, bat Morgan sie, da sie damit rechnete, in eine Falle zu treten. Auch wenn sie gerade nicht gut auf Cardea zu sprechen war, wollte sie ihr Leben nicht gefährdet wissen. »Erik?«
Der ehemalige Hauptmann positionierte sich direkt ihr gegenüber und während sie den Dolch erhoben hielt, stieß er die Tür auf. Jeriah kreierte Licht für sie, wodurch Morgan sofort erkannte, dass sich Thomas und Jathal am Ende des Raumes befanden. Ein Feuer brannte im Kamin und bot mit einem Kerzenleuchter auf dem niedrigen Tisch zusätzliches Licht.
»Alles in Ordnung?«, fragte Morgan an Jathal gewandt, der sich von dem mottenzerfressenden Sofa erhoben hatte.
»Alles in Ordnung«, bestätigte er und es gab nichts mehr, was Jeriah oder Cardea vom Eintreten abgehalten hätte.
Erik und Morgan wichen zur Seite aus und sorgten dafür, dass die Tür wieder geschlossen wurde, während sich die anderen in die Arme fielen.
»Das ist so verrückt, Bruder«, hörte sie Jathal gerade sagen, während sie den Blick nach oben richtete, da sie noch immer jeden Moment erwartete, hinterrücks angegriffen zu werden. Schließlich war dieses Versteck bereits durch Aithan kompromittiert worden, als er Cardea und Thomas entführt hatte. Sie sollten nicht länger als unbedingt notwendig hier verweilen.
Also immer noch keine Zeit, sich auszuruhen.
»Ich bin bloß nach Hause gekommen, um meine Ausbildung abzuschließen und dich zu sehen, und nun ist auch noch Vaters Schiff gekentert«, sprach Jathal weiter, als hätte er all seine Gefühle stundenlang in sich verschlossen und war nun unfähig, den Strom aufzuhalten. Irgendwann lief jedes Fass über, wenn es nicht regelmäßig abgeschöpft wurde.
»Ich weiß«, beschwichtigte ihn Jeriah, als sich Morgan an Thomas und Cardea heranschlich, die leise miteinander redeten. Vermutlich tauschten sie Liebesschwüre aus oder etwas Ähnliches.
»Darf ich stören?« Natürlich wartete Morgan nicht auf eine Antwort. »Sag es mir. Hier und jetzt, Thomas. Warum hat mich Rhion verraten?«
Der ehemalige Wolf leckte sich über die Lippen, dann sah er erst Cardea und schließlich Morgan an.
»Rhion wollte dich aus Larkins Griff befreien. Dich wegschaffen. Weg von dem Rudel. Raus aus Yastia.«