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Land Niederösterreich und der Stadt Wien.

 

© 2019, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

Lektorat: Evelyn Bubich

Umschlag: Jürgen Schütz

Umschlagbild: © Lydia Steinbacher

 

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-73-6

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN Hardcover: 978-3-902711-86-1

 

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Lydia Steinbacher

geboren 1993, lebt und arbeitet in Wien und Niederösterreich, studierte Deutsche Philologie an der Universität Wien. Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung sowie des Literaturkreises Podium. Sie wuchs in Hollenstein an der Ybbs auf und sammelte schon früh Erfahrungen im Schreiben, u. a. im Rahmen der Schreibakademie Niederösterreich. Steinbacher ist Trägerin zahlreicher nationaler und internationaler Aufenthalts- und Literaturstipendien. 2017 sorgte ihr Lyrikband Im Grunde sind wir sehr verschieden (Limbus Verlag) für großes mediales Interesse, es folgte die Teilnahme am Poesiefestival Treci Trg in Belgrad. Ihre Erzählungen erschienen in zahlreichen Anthologien. Mit Schalenmenschen legt sie nun ihren ersten Erzählband vor.

 

Klappentext

Eine Spaziergängerin trifft auf eine alte Frau, die inmitten eines Trümmerhaufens kauert und einsame Worte vor sich hin flüstert – ein unterirdischer Stollen mag dort gewesen sein und auch das alte Weiblein scheint aus der Zeit wie aus der Welt gefallen in seiner Seltsamkeit. An einer anderen Stelle weilt Monsieur Palmaro eines Morgens zum ersten Mal auf einer Bank im Park, der er all die Jahre zuvor keine Beachtung geschenkt hat. Und die schlaflose Unruhe der vergangenen Nacht sollte ihn noch länger begleiten, besonders bis zu jenem Zeitpunkt, an dem plötzlich die neue Schülerin Ambre auftaucht. Anderswo begibt sich der nicht mehr ganz junge Ivan zurück an einen Ort, von dem ihm der Dachboden und die Spielfiguren, die dieser einst beherbergt hat, am meisten in Erinnerung geblieben sind – nicht zuletzt deshalb, weil er sich dort nach vielen Jahren wieder des Verlusts seines besten Freundes gewahr sein muss. 

Schalenmenschen versammelt in sich Erzählungen der jungen österreichischen Schriftstellerin Lydia Steinbacher, die von der Last wie dem Verlust so manch zwischenmenschlicher Beziehung erzählen, welche oft erst später ihre gesamtheitliche Bedeutung entfaltet. Mit Sprachgeschick und poetischem Feingefühl gelingt es der Autorin in ihren Texten Bilder und in ihrer literarischen Ganzheitlichkeit doch fragmentarische und dabei in sich geschlossene Zeit- und Menschen-Porträts zu kreieren, die von Leben und Sterben zeugen – einem natürlichen Kreislauf, dem man sich nicht zu widersetzen vermag. 

 

 

Lydia Steinbacher

SCHALENMENSCHEN

 

Erzählungen | Septime Verlag

 

Körperbild

 

 

 

»Wie lange würdest du mich noch lieben, wenn –«

Linhard unterbricht Esther mit einem genervten Seufzen, nippt an seinem Glas: »Lass das sein!« Der Aufenthalt dauert schon zu lange und sie wird übermütig vom Zusammensein, nach drei Tagen kein Gefühl mehr für das richtige Maß. Aber eigentlich gefällt es Linhard, sie so zu sehen, leicht trunken. Leicht und trunken. Esther wurde zu einem Kongress nach Madrid geladen, dies ist nun der letzte der vier Tage, dreieinhalb eigentlich, er ist nur das Beiboot. »Was war das heute für ein Workshop?«, fragt er. Ein bisschen ehrliches Interesse lässt sich ihm nicht absprechen. »Körperbildtherapie«, sagt Esther und frisiert sich die Haare mit den Fingern ihrer rechten Hand. Sie sitzen im Freien, obwohl es kalt ist und beide hin und wieder das Gefühl haben, ein paar Tropfen im Nacken zu spüren, es aber nicht aussprechen. Im Süden sitzt man eben unter freiem Himmel, die Erinnerung an den heißen langen Sommer ist in die Köpfe der Menschen eingebrannt. Linhard wirft einen Blick zu den Mädchen am Nachbartisch, die ihre Gabeln in kalte Salatblätter stechen. Er mag dieses leise Knackgeräusch, obwohl es ein Aufspießen ist, oder gerade deshalb. Am Plaza Mayor werden Stuhlreihen vor einer schwarzen Bühne aufgestellt, Regenperlen auf Metall. Er weiß nicht, welches Konzert sie hier versäumen, denn heute Abend werden sie schon zu Hause sein und Esther zurück bei ihrer Familie.

Allein ist sie nie, obwohl Esther sagt, sie wäre es ohne ihn. Fast ein Jahr sind sie jetzt ein Geheimnis. Linhard hätte sich nie gedacht, dass er einmal mit einer Psychotherapeutin zusammensein würde, hat er sie doch kennengelernt, indem er ihr zuerst seinen Namen und dann seine Probleme an den Kopf geworfen hat. Nicht sehr galant, vielmehr rücksichtslos, aber dafür wird sie schließlich bezahlt. Er findet, sie spricht viel von sich selbst und hört manchmal zu sehr auf eine innere Stimme als auf seine Worte, wenn er erzählt, aber was versteht er schon davon. Vorhin haben sie eine Postkarte für Esthers Kinder aufgegeben, sie hätte es fast vergessen. Ja, ausgerechnet Linhard ist es, der sie daran erinnert hat, dabei hat er mit Familie per se nichts am Hut. »Willst du nicht auch unterschreiben?«, hat sie ihn noch gefragt, aber natürlich nur einen Spaß gemacht, über den zu lachen ihm schwergefallen ist.

Noch bevor sich die Schiebetüren zur Ankunftshalle des Flughafens auftun, werden sie sich trennen, nach ungefähr 1800 Kilometern, in etwa sechs Stunden, vielleicht ein bisschen weniger. Esther wird zu ihrem Mann und den Kindern eilen, Linhard als Geheimnis, das er bleibt, einen gleichgültigen Blick auf die Familie werfen, zumindest genau das versuchen, dann in sein Auto steigen und zu Susi fahren, die während dieser drei Tage auf seinen Hund aufgepasst hat.

Er denkt noch immer oft an Susi. Nachdem nun aber keine Liebe mehr im Spiel ist und sie auch nicht mehr wütend aufeinander sind, können sie einfach Freunde sein, so etwas in der Art. Doch wenn sie einander treffen, dann sind da noch immer solch merkwürdige Schweigemomente, in denen plötzlich Raum für diese überkommenen Gefühle entsteht, für Fragen und Zweifel. Und warum hast du nicht –, wollte er fast fragen, als er seine Hündin Nanook zu Susi gebracht und sie ihm einen Tee gekocht hatte, bevor er mit Esther nach Madrid geflogen war. Es kam ihm vor, als hätte er das auch vor Jahren immer wieder gefragt, in regelmäßigen Abständen. Und während der Wasserkocher immer lauter geworden war, sagten aber weder Linhard noch Susi mehr ein Wort, aus Angst, das laute Zischen übertönen zu müssen, zu schreien, oder so wie früher, nur missverstanden zu werden, weil die Worte zu leise ausgesprochen worden waren. Nach seiner Ankunft heute Abend wird Linhard jedenfalls mit seiner aufgeregten Nanook am Rücksitz in die Garçonnière weiterfahren, in der die Zimmertemperatur mittlerweile deutlich gefallen ist. Über und unter ihm stehen die Wohnungen leer, den Winter heizt er sich ganz allein erträglich. Außer wenn Esther heimlich bei ihm die Nachmittage verbringt, wenn er sie aus ihrer viel zu bunten Praxis entführt, dann erwärmt ihr Körper mehr als ein Zimmer. Seine Wohnung ist weiß, seine Möbel sind dunkel und dennoch ist es dann fast gemütlich, wenn sie ihm gegenübersitzt und ihm lange in die Augen schaut, wie sie das so oft macht, und er sie anlächelt. Er ist nicht neidisch auf das Doppelleben, das sie führt – er würde schätzen, gut fünfundzwanzig Prozent davon machen das Leben mit ihm aus.

Kurz darauf stellt ein Kellner mit dicken schwarzen Augenbrauen einen großen Teller Pasta vor Esther auf den Tisch und geht zurück in die Küche. Als Linhard sich gerade fragt, was so schwer daran sein kann, zwei Speisen gleichzeitig zu servieren, klingelt Esthers Telefon. Dass es ihr Mann ist, der sie anruft, liest er ihr vom Gesicht ab. In ihrem linken Mundwinkel bemerkt er ein bisschen Tomatensoße vom ersten Essversuch. Sie hat nicht auf ihn gewartet. Der Kellner stellt nun einen Teller Paella vor ihn hin, die Speisen dampfen. Esther hat nicht abgehoben, sondern lässt das Telefon wieder in ihre Handtasche auf ihrem Schoß gleiten. Sie stellt sie nie auf den Boden. Gestern ist sie schon nicht rangegangen, als es läutete, da waren sie zusammen in der Badewanne und Linhard hat diese langen Beine bewundert, mit denen sie enorm schnell laufen können müsste, wenn sie denn wollte, jagen oder davonlaufen. Eher jagen. Und die sich bei allen Bewegungen und Verdrehungen abzeichnenden Rippenknochen mag er so an ihrem Therapeutinnenkörper, aber natürlich kann er das niemandem sagen. Was ist das für ein Frauenbild. Dabei geht es ja nicht um das Magersein, er ist vielmehr verliebt in die Idee als in die schlanke Silhouette. Dass jemand nicht alles annimmt, was man ihm an Genuss bietet, diese Art von Disziplin und Strenge gegenüber sich selbst, eine Entsagung. Eine innere Stärke, die er darin sieht, sich zu verweigern, weil sie nicht will, was sie nicht braucht, ganz simpel, aber Esther weiß das selbstverständlich nicht, vielleicht sagt sie auch nicht Nein, verweigert sich, sondern ist schlichtweg genetisch gesegnet. So genau kennt man sich doch nicht und ist sich darum nicht böse.

»Linhard?« Esthers Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. »Stört es dich, wenn ich abhebe?« Er hat gar nicht realisiert, dass ihr Telefon nun schon zum wiederholten Mal klingelt. Den Kopf schüttelnd vergräbt er seine Gabel in den gelben Reiskörnern und spießt eine Crevette damit auf. Seit seinem halben Jahr in Frankreich kann er sich dem deutschen Wort für diese Krustentiere nie schnell genug entsinnen, um nicht aufzufallen. Es ist aber auch schwierig, auf Französisch wahrscheinlich nicht minder, Garnelen, Scampi, Langusten. In Wahrheit weiß er gar nicht, was er isst. Die Schale gibt ein leises Knackgeräusch von sich, als er hineinsticht. Er wirft einen Blick zum Nachbartisch, aber die Mädchen mit den langen Haaren und den rollenden Zungenspitzenkonsonanten sind schon weg. Ein paar schlaffe Salatblätter haben sie auf ihren Tellern zurückgelassen wie zu alte Männer. Kein Knacken. Linhard fängt gerade an, das traurig zu finden, aber der Kellner mit den dichten Augenbrauen räumt die Teller unwirsch ab und zerstört das Bild, bevor sein Gast sich darin vertiefen kann.

»Hallo«, sagt Esther in dem Moment fast schüchtern in den Hörer. Es ist ein ganz anderes Hallo als jenes, das sie für ihn benutzt, ein süßeres, auch transparenteres irgendwie. Und dann sagt sie: »Ich weiß, es tut mir leid, ich wollte ja, aber …« Was folgt, sind Ausreden und eine lange Pause des Hinhörens, in der Linhard den Reis wieder mit seiner Gabel nach etwas Knackendem durchforstet. Er findet nichts und beginnt sich schon zu sehnen nach dem kleinen Knackgeräusch, dem Aufbrechen und Freiwerden. Von dem einseitig mitgehörten Telefonat versteht Linhard nur so viel, dass Esthers Mann wohl krank sei, womöglich im Krankenhaus gewesen ist oder irgendetwas mit dem Kreislauf gehabt hat, es ist schwierig zu sagen, weil Esther – und das obwohl sie doch Therapeutin ist – die Worte ihres Gesprächspartners nie wiederholt. Und Linhard hat immer gedacht, dies sei eine bestimmte Technik, eine Möglichkeit, dem anderen noch einmal zu spiegeln, was er da eigentlich von sich gibt. Die angebotene Möglichkeit, sich zu negieren. Aber er irrt sich bestimmt. Esthers Stimme ist plötzlich Föhnwind in dem kalten Madrid, dieses Fühlst du dich schon besser? und Ich bin ja schon in ein paar Stunden wieder da verursachen ein flaues Gefühl in seiner Magengegend und er starrt in die hellgrauen Augen, starrt auf den Mund mit dem Fleck Tomatensoße und kann noch immer nicht damit aufhören, als Esther schon aufgelegt hat und seine rechte Hand, in der er die Gabel zum Aufspießen hält, sanft berührt, noch mit der Sanftheit des Gesprächs mit dem anderen Mann. Er hat es nicht gern, wenn sich ihre zwei Leben vor ihm kreuzen. Sie entschuldigt sich bei ihm, aber in Wahrheit weiß keiner so genau, wofür. Nachdem Linhard die offene Rechnung beglichen hat, nehmen sie die Metro zum Flughafen. Seinen Rucksack hat Linhard heute Mittag nach dem Auschecken gleich zu ihrem Treffpunkt ins Restaurant mitgenommen, um jetzt nicht noch einmal zurück zu müssen. Bloß nichts unnötig verzögern. Er ist kein routinierter Reisender und mit Flugzeugen hat er sich nur wegen den Wolken angefreundet.

Zumindest für den Rückflug kann sich Linhard den Fensterplatz ausverhandeln, aber da Esther seit dem Telefonat ohnedies ganz unruhig ist und ihr alles gar nicht schnell genug gehen kann, scheint es ihr nicht so unrecht zu sein, am Gang zu sitzen. Ein paar Minuten nach dem Start quengelt ein unsichtbares Kind. Von den Wolken kann Linhard nicht genug bekommen, sobald er sich mit ihnen auf Augenhöhe befindet. Tief drinnen in seinem Körper hat er vielleicht ein Wolkenorgander Gedanke ist interessant, er möchte ihm gern noch ein bisschen nachhängen, aber Esther reicht ihm raschelnd ihren Snack weiter und plötzlich platzt es ganz unvermittelt aus ihm heraus: »Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, selbst Kinder zu haben.« Esther hört auf zu knabbern und sieht ihn beunruhigt an, und zum ersten Mal wiederholt sie seine Worte, nachdem er sie gesprochen hat, verlangsamt und in einem ganz anderen Tonfall, was Linhard ärgert. Warum nur hat er das auch jetzt gesagt? »Aber, ich meine, bist du dafür nicht zu … also, und außerdem habe ich, du weißt doch, ich habe schon Familie, bitte versteh mich nicht falsch …« Dieser Satz, den sie soeben begonnen hat, nimmt gar kein Ende mehr zwischen ihren Lippen und je länger er wird, desto weniger falsch versteht Linhard sie. Er schweigt. Und irgendwann tun sie es beide. Die Stewardess hält eine offene Hand in den Nachklang des beendeten Satzes und nimmt dankend den Müll entgegen. Ein paar grobe Salzkörner fallen auf den Flugzeugboden. Dann schnallt er sich ab und drängt sich umständlich bei Esther vorbei, um auf die Toilette zu gelangen. Auf dem Weg dorthin stößt er gegen die Schulter eines Mannes, der im Schlaf verrutscht ist und jetzt wie betrunken aufwacht. Diese Träumer! Das gelbliche Licht in dem kleinen verschlossenen Raum lässt Linhard noch unzufriedener werden und als er den Seifenspender bedient, bricht der weiße Plastikschnabel ab. Er wirft ihn ins Klo. Nachdem er mit noch feuchten Händen wieder auf seinen Platz zurückgegangen ist, kramt er seine Kopfhörer aus dem Rucksack und lässt Esthers Blicke und Fragen über sich ergehen, unbeantwortet ausnahmsweise. Er fühlt sich verraten von ihr, die seine Ängste und Zweifel gegen ihn ausspielen kann, die es nicht wirklich tut, die aber in der Lage dazu ist, die er dafür bezahlt hat und jetzt auch dafür begehrt.

Nach der Landung lässt Linhard im Ankunftsbereich des Flughafens Esther vorausgehen, sie hat sich schon von ihm losgemacht, die drei Tage sind zu Ende, zwar ist es erst Abend, aber schon jetzt beginnt ein neuer Tag für beide. Linhard hält gut fünf Meter Abstand hinter ihr. Esthers oranger Mantel ist zu kurz für ihre Größe, sie ist nur mit einer Tasche und ihrem Notebook gereist und sieht auch deshalb noch immer leicht aus. In der Ankunftshalle ist es unangenehm laut und Linhard will nur schnell hinaus, aber er zögert, weil Esther unschlüssig stehengeblieben ist vor der wartenden Menschenmenge und sich umsieht. In seiner Tasche vibriert sein Mobiltelefon. Da er die Zeilen der Nachricht überfliegt, ist Linhard plötzlich wie versteinert. Ihm ist, als hätte irgendein Organ in seinem Körper versagt und fast hätte er gar nicht bemerkt, wie Esther ihren Mann und ihre Kinder in diesem Augenblick findet. Alle sind zum Flughafen gekommen, um sie abzuholen, als hätte sie eine monatelange Weltreise hinter sich – wie sie ihren Mann küsst und die ältere Tochter bei der Hand nimmt und die vier Wiedervereinten sich zum Gehen wenden. Da wirft Esther noch einmal einen Blick zurück zu ihrem Geheimnis, sieht Linhard aber nicht, erkennt ihn nicht oder hat vorbeigesehen, lächelt vage in seine Richtung, aber mit einem fremden Lächeln. Sie ist schon die andere Esther geworden. Dann ist sie weg und Linhard lässt sein Telefon zurück in die Jackentasche gleiten.

Er fährt, als gäbe es noch etwas zu retten, als hätte Susi sich vertan in ihren Worten vielleicht hat sie nur wieder irgendwelche Drogen ausprobiert. Das Licht einer Ampel ist schon auf Rot gesprungen, aber er rast über die Kreuzung, erreicht Susis Bezirk, die Lischka-Trost-Straße. Ein Parkplatz direkt in ihrer Gasse ist nicht zu finden und Linhard muss seinen Wagen in einiger Entfernung in eine Lücke zwängen. Völlig außer Atem klingelt er wenig später an der ihm vertrauten Wohnungstür. »Was ist passiert? Wo ist Nanook?«, ruft er schon, als Susi die Tür erst halb aufgezogen hat. Augenblicklich streckt sie ihm eine Visitenkarte entgegen und sagt: »Du kannst selbst hinfahren, Nanook ist dort, ich wusste nicht, was ich tun soll, wir sind sofort zum Tierarzt gefahren, aber –« Linhard spürt seinen Herzschlag im Kopf, er greift nach der Karte, reißt sie Susi förmlich aus den Händen, wirft einen Blick auf die Adresse und stürmt die Treppen nach unten. Hat Susi geweint?

Es fängt an zu regnen, ein Filmbild in der Wirklichkeit.

 

Er verlässt die Praxis des Veterinärs. Manchmal ist das Wetter trotz allem ein Gefühl. Nanook ist tot und er war nicht da, um es zu verhindern. Der Tierarzt hat ihn mitleidig angesehen, ist in dieser Nacht aus seinen Privaträumen wieder nach unten in die Praxis gekommen, weil Linhard sturmgeläutet hat, und hat ihm Nanook gezeigt, ihren feingliedrigen Hundekörper. Umständlich hat der Arzt erklärt, was passiert ist, und Linhard hat zu Beginn nur einzelne Brocken verstanden, nach und nach ein bisschen mehr: »Ihre Freundin«, »Röntgen«, »Leber oder Milz, »eine Blutung, sie hat es nicht mehr in die Tierklinik geschafft. Vielleicht ist ein Tumor geplatzt. Man könnte sie natürlich in die Pathologie bringen, wenn Sie das wollen, nur macht es sie nicht mehr lebendig, Sie wissen das. Und umsonst ist es auch nicht.« Linhard hat sich niedergekniet zu dem leblosen Körper seines Hundes, den Kopf ans hellbraune Fell geschmiegt. So ist er etliche Minuten verharrt, bis dieser fremde Mann im Bademantel, der sich offensichtlich eingebildet hat, irgendetwas davon verstehen zu können, was hier vor sich geht, ihn gebeten hat zu gehen. Linhard wusste nur, dass er nicht dagewesen war und dass man ihm alles erzählen hätte können, was er jetzt einfach glauben musste.

Und nun der Regen, der sich einmischt. Susi öffnet ihm die Tür, sie trägt einen Pyjama mit irgendwelchen blauen Tieren auf weißem Grund, wahrscheinlich sind es Vögel. Ihre Haare sind nass, als hätte sie den Kopf ins Freie gehalten so wie Linhard, der denselben Parkplatz wie vorhin wiedergefunden hat. In den Armen trägt er seinen Hund in einem rosaroten Tuch, das ihm der Veterinär noch mitgegeben hat. Er spricht nicht beim Eintreten und bleibt auch stumm, als er sich auf dem dunkelgrünen Sofa niederlässt. Auf dem Schoß hat er Nanook, die er so achtsam hält, als schliefe sie nur und als bestünde die Gefahr, sie unsanft zu wecken. Nach jenen totenstillen Minuten aber, in denen er realisiert haben muss, dass Nanook nicht atmet, plötzlich und vollkommen unerwartet für Susi, die an der Küchenzeile Tee kocht, schreit Linhard sie an: »Du hast sie einfach dort gelassen und bist abgehauen, zum Krepieren hast du sie allein gelassen!« Mit dem Satz, der gegen ihren Rücken knallt, bricht er gleichzeitig den Damm zwischen ihnen und alles schwappt über. Susi und Linhard sind wieder ein Paar. Sie dreht sich zu ihm um, noch irgendwie benommen, bevor sie spricht, hat wieder das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, alles scheint plötzlich schlimmer denn je. Diesmal hat sie Angst, tatsächlich etwas falsch gemacht zu haben. Sie sagt: »Wie immer hast du keine Ahnung, ich war natürlich da, ich habe sie gehalten, ganz fest, und dann habe ich dich angerufen. Dein Handy war aus!« – »Ich war im Flugzeug.« – »Ich konnte nicht mehr warten und ich konnte es auch nicht sein, die dir Nanook zurückgibt, tot, entschuldige.« Auch der Tee, den Susi jetzt auf den Couchtisch stellt, ist bitter. Die Schuldfragen schwimmen oben auf in kleinen Bläschen am Rand, klammern sich ans Porzellan. Ein warmes Getränk macht nichts wieder gut. Was würde Esther sagen, nein, was würde sie fragen, wenn sich ihre innere Stimme einmal nicht einmischte? Linhard denkt daran. Wie sehr hast du Nanook geliebt? – Er denkt, mehr als dich. – Wie sehr hast du Susi geliebt?

Ungefähr einen Meter hinter dem kleinen Tisch hat Susi den Heizstrahler positioniert, der jetzt die Schienbeine und die hängengelassenen Arme und Beine der beiden Niedergeschlagenen wärmt. Das muss ein neuer Pyjama sein, den Susi trägt. Linhard hat ihn noch nie gesehen. Er wirkt irgendwie zu groß und ganz oben ist er nass von den gewaschenen Haaren, die, auch wenn sie trocken sind, noch über dem Kinn enden. Ein bisschen feucht von den Augen vielleicht auch. Susi stellt ihren Tee wieder auf den Tisch und rückt noch ein bisschen näher an Linhard heran, der unaufhörlich schreien und um sich schlagen will, aber nicht weiß, wie und wohin. »Mein Gott, du blutest ja«, hört er Susi plötzlich sagen und ertastet mit seinen Fingern den Punkt in seinem Gesicht, den sie so eindringlich fixiert. »Tue ich nicht!«, ruft er, obwohl er nun selbst spürt, dass er sich in die Unterlippe gebissen hat. Er springt auf, sodass Nanook von seinem Schoß rutscht und sich das Tuch, in das der tote Körper gewickelt ist, unvermittelt öffnet. Wie zerbrochen sinkt er zu dem Tier nieder, und Susi erinnert sich an ein paar Verse. Sie sagt leise: »Es rauscht der Kraniche Gefieder, er hört schon kann er nicht mehr seh’n.« Linhard nimmt den leblosen Körper und bettet ihn auf die Couch, direkt neben Susi. Sie schiebt ihre feuchte Hand in das braune Fell. Selbst noch am Boden kniend legt Linhard seinen Kopf in Susis Schoß und weint. Sein Leben ist so merkwürdig geworden. Susis Vögel bewegen sich, verschwimmen, sie riechen nach Viskose und Freiheit, weil sie weiterziehen könnten. Susi streicht mit ihrer rechten Hand durch Linhards verklebtes Haar, die andere liegt noch immer im Nacken von Nanook.

Du hast mich nur ausgenommen, will Linhard Esther später schreiben, will ein bisschen etwas von der Schuld loswerden und weiß doch, wie ungerecht er ist. Esther hat ihm einst geholfen, über seinen Beziehungsscherbenhaufen hinwegzukommen, hat versucht, sich mit ihm in sein inneres Chaos zu begeben, um ein bisschen aufzuräumen, aber sie hat es dort so interessant gefunden, dass sie sich hinter den schwarzen Möbeln vor ihm versteckt und auf seinem alten Musikinstrument gespielt hat. Ein paar wenige Rätsel hat sie gelöst und die Bilder an der Wand getauscht, an den Salatblättern im Kühlschrank geknabbert und den Tauben Reis gestreut, kluge Sätze aus den Büchern im Schrank vorgelesen und sich nachts zu ihm ins Bett gelegt. Als Linhard sein Handy entsperrt, um ihr eine SMS zu schreiben, wird ihm beim Blick auf das aufleuchtende Zeichen klar, dass sie schneller gewesen ist. Nach ein paar freundlichen Worten meint sie, es sei vielleicht besser, wenn es zu Ende sei. Nicht ist und wird. Linhard spürt ein schmerzendes Knacken in der Brust – da ist es wieder, das Geräusch, das er so mag, aber diesmal macht es Angst, ist viel zu nah, kommt aus ihm selbst, ist nicht so laut wie eine Einbildung, sondern leise, echt. Susi, die neben ihm im Bett liegt, fragt: »Alles okay?«

Nanook gibt keinen Laut von sich.

 

 

 

 

Nieselregen

 

 

 

Die Schwester sitzt in Fahrtrichtung, Alex ihr gegenüber. Der Junge mit dem schwarzen Stier auf dem T-Shirt verliert das Altbekannte langsamer aus den Augen, starrt ihm nach und ist sich ungewiss über die Möglichkeit eines Weges zurück. »Woran denkst du?«, hört er jemanden fragen. Es ist nicht die Stimme seiner Schwester, die die ganze Fahrt über sehr schweigsam war, sondern eine fremde Stimme, doch trotzdem sucht Alex kurz nach einer Antwort. Er schaut wieder aus dem Fenster, klappert leise mit dem Blechdeckel des Abfallbehälters. Im Zug riecht es nach Bananen, wie sie erst riechen, wenn sie reif sind. Er denkt an nichts, das er hätte benennen können, sitzt nur stumm die Zeit ab, schaut zu seiner Schwester und dann wieder aus dem Fenster. So viel beruht auf Gegenseitigkeit. Nur die Landschaft spricht zu ihm.

Weiße Windräder ziehen am Zug vorbei, natürlich ist es in Wahrheit umgekehrt, auch das ist oft so. Und der Regen draußen fällt so unauffällig, dass man ihn im Zuginneren lediglich erahnen kann, aber auch nur dann, wenn zumindest ein einziger der Reisenden an ihn glaubt. Das Fenster ist einen Spalt breit offen und ein paar der winzigen Tropfen wehen hinein in den Waggon auf die nackten Arme und in die blauen Augen des Knaben – er könnte es den anderen zeigen. Der Schaffner kommt und geht. Draußen wieder Bäume, viele Birken und dazwischen verstecken sich die Erinnerungen der großen Kinder.

»Ich würde lieber mit dir zu Hause warten«, sagt Alex jetzt und sieht seine Schwester an, die fremd und mit einem Mal unerreichbar älter und lebensklug zu sein scheint, uneinholbar für jeden anderen. Woher sie das plötzlich hat? Es fällt ihm nicht ein, sie danach zu fragen, und sie würde ihn sicher nur verärgert ansehen, täte er es doch. »Wir werden bald da sein«, meint sie dann, »und versprochen – das habe ich doch schon gesagt – sobald zu Hause alles geregelt ist, komme ich nach und wir können die neue Wohnung beziehen, dann gibt es ein neues Zuhause, nur ein bisschen Geduld. Das ist für uns beide eine Überbrückungszeit, ich komme dann und hole dich dort ganz bald wieder raus. Die paar Wochen – also, du bist doch schon groß!« Die Sätze sind auswendig gelernt und ein wenig falsch erinnert, das hört Alex. Der Bruder kennt seine Schwester besser, als sie vermutet. Aber wer so eng zusammenlebt, der überschreitet Grenzen. Die beiden wohnen schon jahrelang zu zweit auf engstem Raum, das Mädchen hat alles für Alex getan und ihm auch beigebracht, wie man es ganz allein schafft. Dabei ist sie selbst noch nicht erwachsen genug für irgendeine Art des Bemutterns. Dadurch wurde der Junge viel zu ernst für die anderen Schüler in seiner Klasse und andererseits doch schon jetzt tief drinnen ein ewiges Kind für alle zukünftige Zeit.

Die Luft flimmert vor Feuchtigkeit. Sie werden die Hauptstadt bald erreichen. Alex will keinen neuen Versuch, Freunde zu finden, keine neue Chance sich zu beweisen und doch wieder nur vorschnell beurteilen zu lassen aufgrund dessen, dass er keine Eltern hat. Immerhin hat er zuletzt in Johannes so etwas wie einen Verbündeten gefunden. Johannes’ linke Gesichtshälfte ist dunkel von einem Leberfleck und die Leute und Kinder sprechen ihn deswegen lieber von rechts an, nur Alex ist das immer egal gewesen. Die beiden haben oft Verstecken gespielt nach der Schule. Der eine stand dann hinter der großen Birke und verbarg sein Gesicht, der andere lief und drückte sich in irgendeinen Schatten hinein. An solchen Frühsommertagen wie heute, nur zu späterer Stunde. Je länger er darüber nachdenkt, kommt er zu dem Schluss, dass es doch nicht Tage wie heute gewesen sind, denn jetzt scheint alles anders. Er hat von zehn rückwärts gezählt. Oft brauchte er fast zehn Minuten, um Johannes zu finden. Wenn die Klassenkameraden mit Holzstöcken gegeneinander kämpften und ihn aufforderten, doch mitzuspielen, stand Alex wieder hinter dem Baum. Jetzt müssen seine Schwester und er in die Hauptstadt übersiedeln, um sich zu verstecken. Niemand wird sie dort finden. Seit das Mädchen ihren Körper wieder nur für sich allein haben will, hat es viele Feinde, zu viele. »Zehn, neun, acht«, zählt Alex jetzt so leise, dass er es selbst kaum bemerkt, aber die Schwester sehr wohl, denn sie passt auf ihn auf und sie hat das, was man Argusaugen nennt. »Lass das, du machst mich verrückt!«, fährt sie ihn an und schiebt seine Hand von dem Abfalleimer, denn jede Zahl hat der Bub mit dem Klappergeräusch des Blechdeckels untermauert. Wie die Zeit vergeht, immer wieder in dieselbe Kerbe schlagend, ohne Erbarmen, ohne Halt, dessen Ankündigung der Schaffner jetzt heuchlerisch aus den Lautsprechern rasseln lässt, und wer will, der glaubt, er sei bald am Ziel. Endstation.

Der Zug wird langsamer und die Leute schieben sich durch den Gang. Alex beißt sich beim Aussteigen in die Zunge. Sie haben das Zugfenster nicht mehr geschlossen. Sich so viele Wege offen halten wie möglich – das ist die Maxime der Schwester, die seit Kurzem angefangen hat zu rauchen, heimlich, und eigentlich wieder aufhören hätte wollen. Das Aufhören ist aber schwieriger als das noch ungeübte Drehen einer Zigarette im Dunkeln am offenen Fenster. Und natürlich weiß der Bruder längst von diesem Laster und denkt, es sei besser als das späte Nachhausekommen am Morgen nach einer ekelhaften Nacht, die er beim Frühstück von der Haut unter den Augen der Schwester noch ablesen kann. Ja, auch schon in seinem Alter kann er so etwas. Nachdem er dann sein Brot aß und sich auf den Schulweg machte, hatte sie sich für gewöhnlich wieder schlafen gelegt. Nach Unterrichtsschluss blieb Alex dann oft noch lange fort. Das war der Tagesablauf der Geschwister gewesen. Seit die Schwester vor einiger Zeit allerdings aus dem Geschäft der schnellen Liebe ausgestiegen ist, sind die Tage anders. Ein Supermarkt hat ihr eine Chance als Regalbetreuerin gegeben. Warum also nun weg, gerade in dem Moment, da alles besser wird? Alex weiß nicht, wohin sie gehen, die ausgemergelte starke Hand, an der er herläuft und die ihn nicht loslassen würde, fiele er hin, zieht ihn aber in eine ganz bestimmte Richtung. »Nun komm schon!« Auf der Straße liegen grüne Scherben. Er denkt ans Barfußgehen und unvermittelt beginnt er wieder rückwärts zu zählen, doch durch den Straßenlärm, der von den alten Betonwänden widerhallt, hört die Schwester ihn diesmal nicht. »Sieben, sechs, fünf.«

Sie fahren mehrere Stationen mit der Straßenbahn. Es kommt Alex so vor, als durchquerten sie die gesamte Stadt, als würden sie noch einmal so weit wie vorhin mit dem Zug unterwegs sein. Er dreht seine Fahrkarte in den Händen, bis sie alt aussieht, die Schwester hat gesagt, in Zukunft müsse er auch alles selbst tragen und Wichtiges bei und für sich behalten, was ihm gehört oder ihm etwas nützt. Man könne die Verantwortung dann nicht mehr abgeben. Er weiß nicht, was sie damit meint, weil er gar nicht das Gefühl hat, irgendetwas zu besitzen, das ihm wirklich gehört, ihm nützt. Auf seine guten Schuhe, die ihm nach jahrelangem Tragen endlich wie maßgeschneidert passen, ist er aber stolz, hat er doch anfangs Blasen bekommen und sich die Fersen wundgerieben. Durch jede Wunde ist leicht einzudringen ins Innenleben. Die Schwester hat ihm das gesagt und ihm Angst gemacht. Krankheiten aller Art, auch unheilbare. Während Alex einen Platz in der Straßenbahn bekommen hat, steht sie neben ihm, die linke Hand in der Halteschlaufe baumelnd, merkwürdig leblos, es ist die andere Hand, mit der sie sich an der Rückenlehne des Sitzes festhält, auf dem der Bruder sitzt. Der Junge kommt sich plötzlich ausgeliefert vor, als schaukelte er selbst an einem langen Seil über einer Schlucht. Und da wird ihm vielleicht zum ersten Mal bewusst, dass er nicht frei entscheiden kann, auch seine Schwester nicht und womöglich niemand, den er kennt. Das Gefühl, die Wahl zu haben – nur ein nicht zu löschender, fliehender Funke im Gehirn.

»Da waren wir einmal, kannst du dich erinnern?«, fragt seine Schwester und zeigt hinaus auf die bescheidene Grünfläche hinter den Restaurants, ohne Alex anzusehen, der so zusammengesunken auf der hölzernen Sitzfläche kauert und seinen Körper pendeln lässt mit den Bewegungen des Gefährts. Er starrt nur so vor sich hin und dreht den Kopf nicht zum Fenster. Ihm gegenüber haben sich eine alte Frau und ein glatzköpfiger Mann niedergelassen, er vielleicht ein bisschen jünger als sie. Sie halten einander an der Hand und stützen sich, obwohl sie beide sitzen. Halb geschlossen sind die Augen der Frau, die Lider hängen schlapp über die Pupillen, die Haare bilden einen grauen Flaum um die Silhouette des Kopfes, wie bei manchen jungen Tieren, und Alex stellt sich vor, dass sie plötzlich die Augen aufreißen würde, weil sie ihn erkennt, und ihm all die Geschichten erzählen würde, die unter dem merkwürdigen Flaum in ihrem Kopf wohnen. Nachts fühlt Alex sich oft allein.

»Dort drüben beginnt der Vergnügungspark mit dem Karussell und den vielen Eisverkäufern«, sinniert die Schwester weiter und lächelt zu ihrem Bruder hinunter, aber sieht ihm nicht ins Gesicht dabei, verfehlt es absichtlich ganz knapp. Sie weiß, wohin sie ihn bringt. »Du darfst nicht so schüchtern sein, es wird schon alles.« Und froh darüber, etwas Zuverlässiges sagen zu können, fügt sie schnell hinzu: »Komm, wir steigen hier aus!« Alex wirft vom Trottoir aus noch einen Blick auf die alte Frau und den Mann hinter der Glasscheibe, die noch sitzen bleiben für einige weitere Stationen, und Alex ist sich sicher, dass in Wahrheit die Frau es ist, die den glatzköpfigen Mann führt, wohin auch immer, mit halb geschlossenen Augen, aber vollkommen sicher.

Das Haus, auf das sie zugehen, ist weiß wie die Windräder, nicht schmutzig, eine unwirklich reine Insel im Stadtstaub und obwohl Alex die Gegend vage wiedererkennt von früheren Ausflügen, kann er sich nicht an dieses riesige Grundstück mit den Mauern und dem mehrere Meter hohen Gittertor erinnern, dahinter ein gesichtsloses Gebäude. Sie gehen die Stufen zur Eingangstür hinauf. Die Tür ist so schwer, dass die Schwester zuerst annimmt, sie sei verschlossen. Hinter den dicken Mauern ist es kühler als draußen, bedrückend wegen der kurzen Säulen, die eine viel zu niedrige Decke stützen. Ratlos bleiben die beiden stehen und schauen sich um, bis die Schwester eine trotz ihres enormen Körperumfangs in dem dunklen Schummer kaum auszumachende Damensilhouette hinter einem Schreibtisch erkennt. Das Möbelstück steht wie ein zufälliger Fremdkörper im Raum und die sich darauf Abstützende verteidigt seinen und damit ihren eigenen Platz mit einem Stift in der Hand. In ihrem Blick, der zuerst die Schwester getroffen hat, liest Alex Misstrauen und Argwohn, doch ihre Stimme klingt anders. Die Schwester entzieht sich dem Griff ihres Bruders und schreitet entschlossen zum Tisch. Die rechte Hand reicht sie der Fremden, die noch im Begrüßungssatz nach Ausweisen verlangt. Stets ihre erste, auswendig gelernte Frage. Sie betrachtet die Pässe dann länger als nötig, weil sie sich wohl erst eingestehen muss, dass das Mädchen wirklich volljährig ist. Es stimmt, dass sie viel jünger aussieht auf einen ersten Blick. Alex versucht, in den mehrfärbigen Fliesen ein Muster zu erkennen, doch Teile des Bodens sind offensichtlich so oft erneuert worden, dass nichts von dem Ursprungsgedanken mehr übriggeblieben ist. Er würde sich gern noch einmal an der Schwester festhalten, doch die hantiert nun mit Formularen und zeichnet kunstvolle Unterschriften auf die Blätter, die die Dame ihr nacheinander aushändigt. Diese Papiere – etwas Wichtiges? Alex muss wieder daran denken, was seine Schwester damit gemeint hat. Die Frauen sprechen über den Unterricht, die Zimmer, Betreuung, Mitbewohner, Allergien und Unverträglichkeiten, Religion und leichten Schlaf, sie sprechen über das Sprechen an sich, vor allem in der Nacht.

Keine Vorhänge. Der Boden ist grau. Die Frau mit den breiten Schultern und noch breiteren Hüften führt die Geschwister jetzt im Haus herum. Die Wände sind irgendwann einmal gelb gestrichen worden, doch die Gänge und Zimmer starren aus dem Schmutz, es riecht nach Moder. Von den Fenstern im Flur aus kann man auf den Hof hinaussehen, wo Kinder im Nieselregen mit einem Ball spielen. Alex versucht, die Regeln zu verstehen. Ein Mädchen schaut kurz in seine Richtung, genau dorthin, wo er hinter der Fensterscheibe steht. Dann klatscht der weiche, orange Ball wieder am Boden auf und alle Kinder rufen Namen durcheinander. Branko, Maja, Alex – er kann es durchs dünne Glas hören, es gibt schon ein Kind mit seinem Namen. Wie auf Kommando rennen dann einige Buben und Mädchen in der Mitte des Hofes zusammen, die anderen stellen sich schnell mit dem Rücken an die Wand des Gebäudes, einer bleibt dazwischen stehen und hält den Ball in Angriffsposition, sucht nach einem Auffälligen in den Reihen. Alex kennt dieses Spiel nicht. Er bekommt Angst davor.

Die Schwester hat etwas zu ihm gesagt, aber er hat nicht zugehört und geht schweigend an ihrer ziehenden Hand weiter ins Treppenhaus und Stufe für Stufe nach oben, wo sich die Wohnräumlichkeiten der Waisen befinden. Er hat nun begriffen, wo er ist. Auch da grauer Boden, keine Vorhänge, versiffte gelbe Wände. Die Dame, die wie aufgezogen vor ihnen hergeht und ab und zu mit den breiten Hüften an den Wänden streift, öffnet eine Zimmertür. Sie ist nicht abgesperrt. Das Wichtige und Nützliche solle er bei und für sich behalten, aber Alex sorgt sich, weil er keine Verstecke ausmachen kann, und leise beginnt er rückwärts zu zählen und den Raum mit den Augen abzusuchen, vier, drei, zwei. Das Fenster ist geschlossen. Die Betten in dem kleinen Raum sind gemacht, aber die Kleidungsstücke liegen darauf verstreut, als gäbe es eine Lücke im Regelwerk. In der Luft latenter Schweißgeruch. Er würde unten im Stockbett schlafen, neben dem Tisch, es ist das einzige noch freie Bett. Die Schwester stellt die Tasche mit den Sachen des Bruders ab und richtet sich wieder auf, als müsste sie sich selbst zu der einstudierten Bewegung des Abschieds zwingen. Geradezu unnatürlich aufrecht steht sie mit einem Mal im Zimmer, klug und schön und bereit, sodass selbst die fremde Dame einen Moment so etwas wie ehrliche Aufmerksamkeit für sie übrig hat. Dann aber erhebt die dicke Frau ihre Stimme und spricht weiter von den guten Gepflogenheiten, weil sie es doch nicht bemerken kann, wie ernsthaft Bruder und Schwester miteinander sind. Plötzlich überkommt die Schwester ein Gefühl von Ekel, nachdem sie längere Zeit die fremden Betten betrachtet hat. Man darf in der Nacht nicht sprechen, nichts endlos lang erzählen, was einen unter der Haut bedrängt und sie von innen aufkratzt. Die Regel, nachts nicht sprechen zu dürfen, existiert nicht, aber Alex hat sie sich ausgedacht und später wird auch niemand in der Dunkelheit mit ihm sprechen.

Ob es draußen nun noch nieselt oder nicht, ist schwer zu sagen. Irgendwann verlässt die Schwester ihn dann, geht hinaus, aber nicht ins Freie, denn dieses Wort ist trügerisch. Mit ihren feuchten Haaren und Schultern hätte sie jemanden vom Regen überzeugen können, der in seinem Innenraum sitzt und nicht daran glaubt. Die Schwester steigt in die Straßenbahn und nachher in den Zug. Der vermeintliche Weg zurück. Alex sitzt auf seiner Matratze, die er makellos überzogen hat, und wartet auf die anderen Kinder, die gleich vom Sport kommen werden. Nun muss er sie kennenlernen. Er blickt auf seine Hände – und nach innen, denkt an die Zugfahrt und sieht wieder die vorbeiziehenden Birken, die etwas für ihn unter ihrer Rinde verstecken, eine Berührung der Schwester, eine Erinnerung an gestern. Wie man das Fenster öffnet, weiß er nicht. Er traut sich nicht, es zu versuchen.

Als Alex vor dem Einschlafen an sie denkt und den anderen Knaben beim Atmen zuhört, sitzt seine Schwester rauchend am Fenster, allein in ihrer winzigen Wohnung, für die sie die Miete nicht mehr zahlen kann. In fremden Betten hat sie mehr verdient. Sie hat vergessen, das Fenster aufzumachen, dabei heißt es doch, es wäre besser, die Wege nach draußen ins Bekannte und Unbekannte stets offen zu halten. Es klopft an der Eingangstür, während sie den süßlichen Rauch in die Lungen zieht. Das Klopfen bricht nicht ab und wird immer lauter, jemand ruft ihren Namen, ihren falschen Namen, den sie sich einst aus einer Liste mit zweisilbigen Frauennamen ausgesucht hat, ganz einfach weil er einer von denen war, die noch frei waren, und weil er so anders klingt als ihr echter. Sie geht nicht zur Tür, denn draußen schreit die Stimme nach einem Teil von ihr, den sie vergessen will, an den sie niemand je erinnern soll, dann würde sie es schaffen, einen Weg ins Versprechen zu finden, das sie ihrem Bruder gegeben hat. Ich komme nach, hat sie gesagt. Jetzt ist es kein Klopfen mehr, das sie stört, sondern Schlagen und Hämmern von Metall auf Holz. Das Schloss zittert in der Eingangstür und als diese wenig später mit einem plötzlichen Ruck aufgestoßen wird, hat die Schwester das Fenster doch geöffnet – … eins, ich komme! – und springt in die Nacht, in der heute niemand ein Wort mehr spricht.

 

 

 

Die letzte Partie

 

 

 

Prüfend legt Ivan eine Hand auf den grauen Stein. Die Wärme des bereits erloschenen Feuers ist in ihm noch eine unbestimmte Weile gespeichert. Keine Lampe erleuchtet das Haus, aber durch die großen Fenster ohne Vorhänge lässt das Mondlicht sich ins Zimmer fallen wie ein müder Geist. Er selbst setzt keinen Fuß in das Licht, betrachtet seinen Lebensmittelpunkt aus der Finsternis heraus. Hier die Silhouette des großen Kleiderschranks, dort in der Ecke das verschlissene Canapé, das unbemerkt in den Jahrzehnten seine Farbe von lindgrün hin zu einem nichtssagenden Grau gewechselt hat. Schon als Kind lag er darauf in so manch schlafloser Nacht, den Blick starr auf die Zimmerdecke gerichtet. Sein Kinderbett stand im Schlafzimmer der Eltern und manchmal hatten diese sich vor dem Zubettgehen so voll Bitterkeit gestritten, dass er sie lieber allein ließ, um nicht auch etwas Verletzendes zu sagen. Samt Polster und Decke übersiedelte er aufs Canapé, denn die Eltern schliefen trotz ihrer Streitigkeiten stets in einem Bett, was er insgeheim bewunderte, aber nicht verstand. Und die Schuld war immer ein gehütetes Gut im Haus, sie wurde gewissenhaft verteilt und jedem so viel davon aufgeladen, als er tragen konnte.

Es riecht nach Asche und ungelesenen Büchern, auf denen der Staub wächst. Ivans Mutter schläft schon seit mehreren Stunden. Und wäre Ivan nicht angereist, dann wäre es für die Mutter wahrscheinlich die erste Nacht allein in diesem Haus.

Die Müdigkeit drückt auf seine Schultern, aber noch immer steht er verloren im Raum, eine Hand am Ofen ruhend. Er hat sich vor ein paar Tagen dazu entschlossen, wieder Briefe zu schreiben, hat auch schon dreieinhalb an der Zahl verfasst, sie allerdings nicht abgesandt. Das hat er gar nicht wirklich vor, er behält sie lieber für sich. Auf die gelblichen Kuverts hat er die Adresse seines einstigen Schulfreunds geschrieben, der wahrscheinlich längst nicht mehr dort wohnt, obwohl die alte Villa am Eibenweg 23 ein verwunschener Ort sondergleichen ist, und er selbst es nicht nachvollziehen könnte, ihn freiwillig zu verlassen. Wer sollte sonst dort wohnen? In seiner Vorstellung passt keine andere Familie in das Haus. Die Vorfahren verwachsen in dicken Efeuranken, die die Fassade zuerst gesprengt haben, um sie danach wieder zusammenzuhalten, so haben sie sich gewaltsam zu etwas Unersetzbarem gemacht.

Einst im Gymnasium waren die Haare seines Freundes Ludwig, der von allen nur Lu genannt wurde, strohblond und die Haut war stets von der Sonne gebräunt, ein Hauch von Sommersprossen über den noch jugendlichen Gesichtszügen. Ein Antlitz voller Reize. Wenn sie einander im Spiel ganz nahekamen oder an Sommerabenden auf die hohe Steinmauer kletterten, die die Villa umgab, und in die letzten Strahlen, die noch durch die Eiben- und Wacholderäste fielen, ihre nackten Füße baumeln ließen, war Ivan glücklich. Wann kann man das schon von sich sagen. Fast alle Gefühle, deren ein Mensch fähig ist, hat Ivan in ihrer stärksten Ausprägung mit seinem damaligen besten Freund erlebt. Nach der Schule, die meistens in den ersten Nachmittagsstunden zu Ende gegangen ist, haben sie sich gemeinsam auf den Heimweg gemacht. Es war stets Ivan, der Lu bis zum Eibenweg 23 begleitete und sich dort verabschiedete, indem er den Schmerz, den diese Trennung jedes Mal bei ihm verursachte, so gut wie möglich hinter einem schnellen Bis dann zu verstecken versuchte. Der sommersprossige Lu war nicht nur beliebt bei den Klassenkameraden, sondern auch bei den Erwachsenen. Weil sein Vater das Lebensmittelgeschäft am Dorfplatz führte, kannte jeder seinen Namen und die, die ihn auf der Straße schon nicht grüßten, nickten ihm im Vorübergehen wenigstens freundlich – ja, fast anerkennend – zu. An manchen Wochenenden kam Lu zu Ivan nach Hause. Obwohl er eigentlich zu fast jeder Zeit willkommen gewesen wäre, ließ er sich dann doch gern bitten. Ivans immer müder Vater behandelte den Schulfreund wie einen zweiten Sohn. Der hatte keine Schuld zu tragen, war gewitzt und charmant und erfreute mit seiner Leichtigkeit jeden, der ihm begegnete. Die Jungen spielten im Garten mit Pfeil und Bogen und schossen auf Ivans selbstgebaute Zielscheibe. Er hatte das hölzerne Konstrukt eigenhändig überdacht, um es witterungsbeständiger zu machen, obwohl er über keinerlei handwerkliche Begabung verfügte. Es galt bloß, einen weiteren Anreiz für Lu zu schaffen, ihn besuchen zu kommen. Was ist eigentlich aus seinem Pfeilfang geworden nach so vielen Jahren? Ihm fehlt die Erinnerung an ein Zwischenstadium des Verfalls.

Bei dem Gedanken nimmt Ivan endlich die Hand vom Ofen und geht durch den dunklen Raum zum Fenster. Draußen wird der Garten vom Mondlicht zart beschienen. Ivan kann nun sogar die Umrisse der großen hölzernen Balken erkennen, die er einst in den Boden geschlagen hat, die jetzt, Jahrzehnte später, umgekippt und zusammengesunken noch immer an dieser Stelle aus der Erde ragen. Das Herbstgras so hoch, dass man auch in hellen Nächten wie dieser darüber stolpern würde, wenn man nicht wüsste, dass jemand hier einmal etwas in den Boden geschlagen hat. Er hat schon damals auf Beständigkeit geachtet, und trotzdem hält nichts ewig. Kurz nachdem Ivan aus seinem Elternhaus ausgezogen ist, hat der Vater den Garten kein einziges Mal mehr betreten. Überhaupt nichts mehr mit eigenen Füßen wahrhaftig betreten, nach einem Arbeitsunfall im Wald und der Querschnittslähmung.
Die Mutter ist bei ihrem Mann geblieben, ist dann doch geblieben, obwohl sie sich so gehasst haben, es sich zumindest oft gesagt haben. Die Mutter hat sich um den Vater gekümmert. Weiterhin haben sie im selben Bett geschlafen, in das die Mutter den Vater jeden Abend mit ihren starken Armen gehoben hat. Sehr lange Jahre, bis gestern. Ivans Mutter ist nie eine Frau gewesen, die andere fragt, ob sie ihnen noch etwas bringen könne, etwas tun könne, um ihr Wohlbefinden zu steigern. Für irgendeine Form von kurzfristiger Dankbarkeit und Anerkennung. Aber als es ums Leben ging bei ihrem Mann, da blieb die Mutter doch bei ihm und opferte auch ihr eigenes, weil sie ja sonst keines hatte.

Plötzlich ist ein leises Knarren zu hören, die Wohnzimmertür hat sich geöffnet und dahinter erkennt Ivan die Silhouette der alten Frau. Sie ist im Alter noch um ein paar Zentimeter kleiner geworden, aber er weiß, dass unvermutete Kraft in ihren Armen und Beinen steckt. Wer würde das besser wissen als er. »Schläfst du nicht«, sagt sie, als sie den Sohn vor dem Fenster erblickt, mehr Feststellung als Frage. Und kurz wundert sie sich, wie groß er nicht ist, erwachsen, in der Mitte seines Lebens. Als hätte sie vergessen, wie man da aussieht. »Wie du«, erwidert er viel zu laut für diese Dunkelheit und das Geisterlicht. Er merkt es selbst und zuckt zusammen beim Klang der eigenen Stimme. Auch die Mutter streicht jetzt mit der Hand über den Ofen, ehe sie langsam den Raum durchquert und sich auf das Canapé setzt. Ihre linke Gesichtshälfte ist mondhell, der schwarze Stoff ihres Wintermantels, den sie sich Gott weiß warum übergeworfen hat, scheint gierig danach zu verlangen. Der Kragen schmiegt sich um den faltigen Hals wie ein Tier. Sie friert. Immer friert sie. Ivan steht am Fenster und wartet, vielleicht darauf, dass sie etwas sagt, oder nur auf den richtigen Augenblick, selbst etwas zu sagen. Sie ist ihm so fremd in ihrer Traurigkeit, so hat er sie nie gesehen. Die Schultern hängen kraftlos nach unten, der Rücken gekrümmt, als sei er ein Panzer. Absichtslose Bewegungen und diese Tonlosigkeit. Am Dachboden laufen wieder die Mäuse umher und knabbern an den alten Schachteln, und weil in dieser Nacht Totenstille herrscht im Haus, hört man ihre schnellen Tritte und die hohen Stimmen, wie sie nach einander rufen. An dem auf Brusthöhe aufgestickten Emblem des Mantels, dessen seidiger Stoff das Licht besser reflektiert, erkennt Ivan jetzt, dass es gar kein Kleidungsstück der Mutter ist, das sie trägt, sondern der Wintermantel des Vaters, den er seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat – zuletzt auf dem Dachboden. Die Mutter hat ihn in eine der Schachteln gelegt – ihr Ort für Dinge, die nicht mehr verwendet, aber vielleicht noch gebraucht werden, zu einer Zeit, die dann schon einem anderen gehört, dem alles vererbt ist. Ab und zu denkt sie nicht an sich selbst.