Das Buch

Sierra Nevada, 1856. Mühsam kämpft sich Tahnee durch die Wildnis. Sie muss ihrem Vater helfen, der von Kopfgeldjägern gejagt wird. Immerzu denkt sie an das Versprechen, das sie ihm gegeben hat: Sie muss es schaffen, nach San Francisco zu kommen! Noch ahnt sie nicht, dass dort in einem herrschaftlichen Anwesen Tara lebt, mit der sie ein besonderes Schicksal verbindet …

Patrick Hertweck

© Joerg Schumacher

Patrick Hertweck, geboren 1972, bereiste nach dem Abitur mit dem Fahrrad viele Gegenden Europas, arbeitete danach im Management eines Medienunternehmens und beschloss irgendwann, seine heimliche Passion zum Beruf zu machen. Seither lebt und arbeitet der Vater von drei Söhnen als freier Schriftsteller in Freiburg im Breisgau.

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Viel Spaß beim Lesen!

Teil 1

D‌e‌r F‌r‌e‌m‌d‌e

24. OKTOBER 1856

Der Winter brach in diesem Jahr früh herein. Gegen Mittag war ein eisiger Wind aufgekommen und keine Stunde darauf tanzten die ersten Schneeflocken in das abgelegene Tal am Flusslauf des Feather River.

Am Abend stand Tahnee Fitch am Fenster der vom Ofenfeuer nur dürftig erwärmten Blockhütte und knetete ungeduldig die Hände. Tahnee war elf Jahre alt und wartete auf ihren Vater. Allmählich machte sie sich Sorgen. Schon vor Sonnenaufgang war er in die Wälder aufgebrochen und eigentlich wollte er spätestens am frühen Nachmittag zurück sein. Nun dämmerte es bereits und noch fehlte jede Spur von ihm.

Sicher hält ihn nur dieses Mistwetter auf, dachte Tahnee und drückte die Stirn gegen das Holz der geschlossenen Fensterläden. Durch einen Spalt zwischen den Brettern schaute sie nach draußen – in das wilde Schneegestöber und die aufkeimende Dunkelheit jenseits der Hütte.

Ob Dad sich gerade durch das Schneetreiben kämpft?, überlegte sie. Oder ist er droben in den Bergen in der verlassenen Einsiedlerhütte untergekrochen und wartet dort auf das Abflauen des Sturmes?

Ihm geht es gut, versuchte sich Tahnee zu beruhigen. Schließlich kannte ihr Vater die Launen der Sierra. Und dieser Wintersturm war beileibe nicht der erste und auch nicht der schlimmste, den sie bislang erlebt hatten.

»Ab ins Bett«, murmelte sie nun zu sich selbst. Entschlossen wandte sie sich ab, löste die Schleife um den Pferdeschwanz und ließ ihre flachsblonden Haare frei.

Da flauten das Heulen und das Tosen ringsumher plötzlich ab und Tahnee erstarrte. Wie versteinert stand sie da, bis der Orkan erneut heranbrauste, nun noch lauter und wütender, als habe er in dieser kurzen Pause neuen Atem für sein Toben geschöpft.

Langsam drehte Tahnee den Kopf wieder zum Fenster, denn in den wenigen Sekunden trügerischer Stille hatte sie ein Geräusch vernommen. Ein Geräusch, das gewiss nicht vom Sturm herrührte.

Leise. Wiederkehrend. Ungewöhnlich für diese Gegend. – Das unverwechselbare Klirren schwerer Sporen.

Erneut drückte sie die Stirn gegen die Bretter und spähte durch den Spalt hinaus. Mit ernster Miene betrachtete Tahnee nun das gespenstisch zuckende Licht, das inmitten des Schneetreibens zu schweben schien und langsam näher kam.

Ein paar Minuten darauf beobachtete sie, wie ein Mann in einem langen Mantel auf die Blockhütte zumarschierte und sein schnaubendes Pferd, das er am Zügel geführt hatte, am Pflock neben dem Eingang festband. Als er seine Sturmlaterne in die Höhe hob, sah Tahnee zwischen dem breitkrempigen Hut und dem schwarzen Tuch vor dem Mund des Reiters für einen Moment ein funkelndes Augenpaar aufblitzen.

Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Ängstlich wich sie ein paar Schritte zurück. Die Sekunden dehnten sich endlos, bis drei harte Schläge im Zimmer widerhallten.

Das ungeduldige Hämmern gegen die Tür rüttelte Tahnee auf. Rasch schnappte sie ihr Jagdmesser, schob es seitlich in den Bund ihrer Wildlederhose und zog das Hemd darüber. Anschließend riss sie die Doppelflinte vom Wandhaken und legte den Lauf in die Armbeuge.

Sie atmete einmal tief durch und rief dann mit kräftiger Stimme: »Kommen Sie herein!«

Langsam senkte sich die Klinke. Knarrend schwang die Tür auf. Schnee stob über die Dielenbretter. Die frostige Kälte zerrte an Tahnees Hemd. Im Türrahmen stand ein groß gewachsener Mann mit flatterndem Mantel und umtost von wirbelnden Flocken.

Der Fremde hatte die Laterne auf dem Tisch abgestellt. Nun schickte die Flamme hinter dem Glas einen flackernden Schein durch den Raum.

Grußlos hatte der Mann die Blockhütte betreten. Begleitet vom Klingen seiner Sporen war er zum Tisch gestiefelt. Dann hatte er sich auf einen der beiden Schemel gesetzt und das Tuch unter sein Kinn geschoben. Schweigend drehte er jetzt eine Zigarette.

Tahnee hatte sich keinen Millimeter vom Fleck gerührt. Mit der Flinte im Arm stand sie in der Raummitte. Angewidert betrachtete sie die Finger des Fremden. Diese waren ungewöhnlich lang und dünn und bewegten sich flink wie Insektenbeine.

Was soll ich nur tun?, fragte sich Tahnee und entschied, ihre Waffe auf keinen Fall wieder wegzustellen. Ihr Vater hatte ihr mehrfach eingeschärft, jeder fremden Seele, die ihre Einöde durchquerte, mit Vorsicht zu begegnen. Erst recht, wenn er nicht da war und sie nicht wusste, wann er wieder auftauchen würde.

Was hat den Mann bloß um diese Jahreszeit in das Tal geführt? Normalerweise verirrte sich höchstens mal ein Goldgräber hierher oder der eine oder andere Waldläufer kam auf seinem Weg aus den Bergen an ihrem Zuhause vorbei.

Der Fremde steckte sich jetzt die Zigarette in den Mundwinkel und nahm den Hut ab. Dies gab Tahnee Gelegenheit, den unbekannten Gast genauer in Augenschein zu nehmen.

Hager war er. Seine Züge knochig, die Nase scharf geschnitten und die Lippen dünn. Das grau durchsetzte Haar war geölt und so glatt nach hinten gekämmt, dass es auf dem Schädel zu kleben schien. Die Haut in dem verwitterten Gesicht hatte die Farbe von gegerbtem Leder und war knittrig wie Papier, das man zerknüllt und anschließend nur halbwegs wieder geglättet hatte.

Nun schlug der Fremde die Beine übereinander und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Plötzlich spürte Tahnee ihr Herz pochen. Zugleich merkte sie, wie ihr Unbehagen wuchs. Das Schweigen des Mannes, welches das Knistern des Ofenfeuers und das Brausen des Windes umso lauter tönen ließ, machte sie allmählich nervös.

Daher fasste sie sich ein Herz und fragte geradeheraus: »Wer sind Sie und was wollen Sie?«

Der Mann entfachte ein Zündholz an seiner Stiefelsohle und führte die Flamme zur Zigarettenspitze. Er inhalierte zunächst ein paar Züge, bevor er sprach. Allerdings murmelte er so leise und undeutlich vor sich hin, dass Tahnee einen Schritt näher kommen und den Kopf vorrecken musste, um seine Worte zu verstehen.

»Ihr haust zu zweit hier. Du und … dein Vater, nehme ich an. Eine Frau wohnt hier nicht.«

Tahnee zog die Stirn in Falten, wie immer, wenn ihr etwas missfiel. Sie holte Luft für eine passende Erwiderung, doch da fuhr der Mann schon mit seinem heiseren Gemurmel fort.

»Es gibt auch keine weiteren Rotznasen. – Warum ein so einsames und abgeschiedenes Leben?«

Sein Blick glitt über die Pritsche zu dem Schaukelstuhl und verharrte dann auf den leeren Haken für die Gewehre an der Wand.

»Er ist auf der Jagd!«, stellte der Fremde fest und Tahnee meinte in seinem Flüstern einen selbstzufriedenen Klang mitschwingen zu hören. »Hat in den Wäldern sicher Fallen aufgestellt. Das Wetter ist ungewöhnlich rasch umgeschlagen. Selbst für diese Gegend. – Deshalb ist er noch nicht zurück.«

Endlich sah der Mann Tahnee direkt an, mit Augen von einem so blassen Blau, dass sie beinahe durchsichtig erschienen. Unterdessen zog er an seiner Zigarette und blies ihr einen Schwall Rauch entgegen.

Tahnees Miene verfinsterte sich und ihre Hand schloss sich fester um den Lauf der Flinte. »Das alles geht Sie einen Dreck an!«, platzte es aus ihr heraus. »Sagen Sie mir, was Sie wollen, und dann verschwinden Sie.«

Der Angesprochene warf den Zigarettenstummel auf den Bretterboden, trat ihn mit dem Stiefel aus und hob abwehrend eine Hand.

»Eine berufsbedingte Unart«, sagte er nun lauter und Tahnee wunderte sich über den unangenehm kratzigen Klang seiner Stimme. »Ich beobachte und ziehe daraus meine Schlüsse.«

»Sind Sie ein Detektiv oder was?«, erwiderte Tahnee schroff.

Der Unbekannte lachte trocken auf. »Sagen wir, ich bin ein Suchender.« Gedankenvoll blickte er zu den geschlossenen Läden des einzigen Fensters der Hütte.

Derweil kniff Tahnee verdrossen den Mund zusammen, denn nach dieser knappen Antwort war sie nicht schlauer als zuvor.

»Sie haben mir noch nicht verraten, was Sie hier wollen«, sagte sie. »Außerdem gehört es sich doch wohl, dass Sie sich vorstellen«, schob sie hinterher.

»Mein Name ist Lennard Crane!«, sagte der Mann und ein gemeines Grinsen erschien um seine Lippen. »Was deine Frage angeht: Womöglich habe ich erwartet, ein aufgewecktes Kind komme in Anbetracht des Wetters von selbst auf des Rätsels Lösung.« Seine wässrigen Augen blickten sie auffordernd an.

»Meinetwegen können Sie sich hier eine halbe Stunde aufwärmen«, brummte Tahnee widerwillig. »Aber dann verduften Sie wieder!«

Der Mann erwiderte darauf nichts, sondern blickte zum Kessel auf dem Ofen. »Ich vermute, darin befindet sich Kaffee oder vielleicht auch Tee? Mir ist beides recht. Nach dem langen Ritt bei dieser Kälte wird mir etwas Warmes gut tun.«

»Von mir aus«, sagte Tahnee kurz angebunden und zuckte mit den Schultern.

Langsam ging sie rückwärts vom Tisch fort. Dabei ließ sie den Mann nicht aus den Augen. Am Ofen klemmte sie die Waffe unter die Achsel, nahm einen Blechbecher vom Regal und goss Tee ein. Auf dem Weg zurück beobachtete sie aufmerksam die Hände des Fremden. Sie nahm sich vor, ihm ja nicht zu nahe zu kommen. Deshalb hielt sie auf die gegenüberliegende Tischseite zu, beugte sich vor und schob ihm den Becher hinüber.

Wie eine angreifende Schlange schoss die linke Hand des Mannes vor. Tahnee erschrak so sehr, dass ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Mit angehaltenem Atem schaute sie nach unten und sah, wie sich seine Faust öffnete und den Blick auf einen mit Schwielen und Narben überzogenen Handteller freigab. Auf diesem lag das matte Silberkreuz, das immer an einem Lederriemen um ihren Hals hing. Tahnee sah zu dem Mann auf und erschrak noch mehr. Seine rot geränderten Augen waren aufgerissen und leuchteten wie glühende Kohlen, während er ihren Glücksbringer begaffte.

Voller Ekel vor diesem gierigen Blick stieß sie sich vom Tisch ab. Der Anhänger wurde von der Lederschnur um ihren Hals mitgezogen. Hastig stopfte ihn Tahnee wieder unters Hemd und brachte die Waffe erneut in Anschlag.

»Was soll das?«, keuchte sie atemlos.

Das Gesicht des Mannes wirkte mit einem Mal noch eingefallener. Sein Mund war nur noch ein dünner Strich. Der unbestimmbare Ausdruck in seinen Augen ließ Tahnee plötzlich mehr frösteln als die Winterkälte, die in die Blockhütte kroch.

»Das Kreuz … ist es ein Geschenk?«, fragte der Fremde mit einem Beben in der Stimme, das seine Erregung verriet.

Unterdessen öffnete er mit seinen spinnenhaften Fingern den Kragenknopf des schwarzen Staubmantels. Seine Rechte tauchte in eine der Innentaschen.

Tahnee reckte drohend die Flinte vor und seufzte erleichtert auf, als die Hand ohne Waffe wieder zum Vorschein kam. Stattdessen umklammerte sie eine Papierrolle. Mit einer erhobenen Augenbraue taxierte der Fremde das Mädchen. Anscheinend wartete er auf eine Antwort. Aber Tahnee dachte gar nicht daran, diesem zwielichtigen Kerl auch nur irgendetwas aus ihrem Leben preiszugeben. Das Kreuz mit dem eingefassten honiggelben Stein in der Mitte war tatsächlich ein Geschenk. Sie hatte es zum elften Geburtstag von ihrem Vater bekommen. Bis zu jenem Tag hatte er den Talisman getragen. Sie erinnerte sich noch genau an seine Worte, als er ihn ihr um den Hals gebunden hatte.

»Tahnee«, hatte er gesagt und ihr dabei tief in die Augen geblickt. »Das Kreuz hat deiner Mutter gehört. Sie gab es mir in der Stunde ihres Todes. Das hier ist ein Bernstein. Man sagt ihm nach, dass er seinem Besitzer Glück bringt. Dieses Amulett hat mich viele Jahre begleitet und beschützt. Trage es immer bei dir. Es soll nun auf dich achtgeben.«

Der Fremde hielt ihr jetzt das Pergament entgegen. Tahnee klemmte die Waffe erneut unter die Achsel, riss ihm die Rolle aus der Hand und wickelte sie geschwind auseinander.

Es war ein Steckbrief. Er musste schon älter sein. Das Papier war wellig und an den Rändern eingerissen. Die Schrift war bereits ziemlich verblasst. Die Mitteilung lautete:

G‌E‌S‌U‌C‌H‌T:

TOT ODER LEBENDIG

D‌I‌E‌S‌E‌R M‌A‌N‌N!

EIN B‌A‌N‌D‌I‌T & M‌Ö‌R‌D‌E‌R

$1.000 B‌E‌L‌O‌H‌N‌U‌N‌G

U‌n‌t‌e‌r‌z‌e‌i‌c‌h‌n‌e‌t v‌o‌m G‌o‌u‌v‌e‌r‌n‌e‌u‌r d‌e‌s
S‌a‌n F‌r‌a‌n‌c‌i‌s‌c‌o C‌o‌u‌n‌t‌y

Entgeistert starrte Tahnee auf die Zeichnung, die dem Text beigefügt war. Diese zeigte ein Gesicht, das ihr allzu vertraut war. – Es gehörte ihrem Vater.

Tahnee erkannte ihn an den dichten Brauen, der markanten Stirn und den hohen Wangenknochen. Sogar das charakteristische Muttermal unter seinem linken Auge war darauf abgebildet. Den gebogenen und gestutzten Schnurrbart trug ihr Vater jedoch schon lange nicht mehr. Vor Jahren hatte er sich einen prächtigen Bart stehen lassen, den er jeden Morgen sorgsam mit seinem Schildpattkamm in Form brachte. Außerdem trug er sein lockiges Haar seither für gewöhnlich schulterlang.

Tahnee ließ das Papier sinken und betete innerlich, dass der Fremde ihre Bestürzung nicht bemerkt hatte. Die Gedanken in ihrem Kopf kreisten um die Frage, wie es passieren konnte, dass ihr Vater auf einem Steckbrief gelandet war. Nur war für solche Überlegungen jetzt keine Zeit. Erst mal musste sie diesen Kerl wieder aus der Hütte bekommen, ehe – ihr Atem stockte und das Herz hämmerte schneller in ihrer Brust –, ehe ihr Vater heimkam.

Erst in diesem Augenblick ging Tahnee auf, in welch schrecklicher Gefahr ihr Vater schwebte.

Ich darf mir nichts anmerken lassen!

Die Ermahnung half ein wenig, das Zittern ihrer Hände zu unterbinden.

»Wer ist das?«, fragte sie in einem arglosen Tonfall. »Sollte ich den …?«

Ihre Stimme verebbte von der einen auf die andere Sekunde. Der Mann hatte nämlich die restlichen Messingknöpfe seines Mantels geöffnet, sodass Tahnee jetzt freie Sicht auf seine beiden Revolver in ihren Hüftholstern hatte.

Das Papier entglitt ihren Fingern. Es segelte zu Boden. Sie packte den Flintenlauf und wollte auf ihn anlegen, doch der Mann zielte bereits mit einer der Waffen auf sie.

»Wenn ich bitten dürfte, Miss, das Gewehr dorthin!«, sagte er in einem unpassend höflichen Tonfall und deutete mit dem Schießeisen zur Tischplatte. »Das Messer in der Hose ebenfalls.«

Tahnee biss trotzig die Zähne aufeinander. Ihr Daumen spannte den Hahn der Waffe …

Der Knall war markerschütternd. Beißender Pulverrauch hing in der Luft und Holzsplitter regneten aus dem Loch nieder, das die Kugel aus dem Colt des Fremden in einen der rauchgeschwärzten Deckenbalken gerissen hatte.

Tahnees Ohren klingelten. Ihre Hände bebten vor Schrecken und Wut. Ihre Augen sprühten Funken, während sie die qualmende Mündung des Revolvers betrachtete. Widerstrebend legte sie die Flinte auf dem Tisch ab, zog das Jagdmesser unter dem Hemd hervor und schob es neben die doppelläufige Schusswaffe.

»Verraten Sie mir endlich, wer Sie sind und weshalb Sie nach diesem Mann suchen!«, keuchte sie, denn sie musste die Worte regelrecht aus ihrem zugeschnürten Brustkorb herauspressen.

Der Fremde antwortete nicht.

»Sie sind ein Kopfgeldjäger«, warf sie ihm entgegen und gab sich keine Mühe, die Abscheu in ihrer Stimme zu verbergen.

Der Fremde reagierte nicht. Ausdruckslos starrte er zur Tür, als konzentriere er sich darauf, die Geräusche außerhalb der Hütte zu deuten.

Die Angst um ihren Vater wurde langsam unerträglich. Dennoch zwang sich Tahnee, Ruhe zu bewahren. Sie musste irgendetwas unternehmen. – Bloß was, das war die Frage.

»Ich kenne den Mann nicht und er ist nicht hier«, sagte sie. »Das sehen Sie ja.«

Ihr Gegenüber blieb stumm.

Als Tahnee in seine mitleidlosen Augen blickte, wusste sie mit einem Mal, dass sie einen kaltblütigen Mörder ins Haus gelassen hatte. Sie konnte das Niederträchtige seines Wesens beinahe riechen. Von diesem Mann waren weder Anteilnahme noch Gnade zu erwarten, ganz gleich, ob sie ihm ins Gewissen redete oder ihn auf Knien anbettelte.

»Warum verschwinden Sie nicht einfach?«, fragte sie dennoch.

»Ich bleibe hier«, sagte der Fremde nur tonlos, ohne die Tür aus den Augen zu lassen. »Ich weiß, wer dein Vater ist. Das Kreuz hat es mir verraten. Und jetzt sei still!«

Tahnee spürte Verzweiflung in sich aufsteigen. Ungeachtet ihrer wackligen Knie tat sie einen Schritt zur Seite. Sogleich folgte ihr die Mündung des Colts. Verzagt ließ sie die Schultern fallen und blickte auf die Zeichnung ihres Vaters auf dem Steckbrief zu ihren Füßen. Ein darüber stehender Satz sprang sie förmlich an.

Tot oder lebendig.

Auf einmal musste Tahnee mit den Tränen kämpfen. Aber sie durfte ihren Gefühlen nicht nachgeben! Sie biss sich auf die Unterlippe und schluckte den Kloß im Hals hinunter.

»Schon möglich, dass mein Vater Geheimnisse vor mir hat«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Aber eines steht fest: Er ist kein Bandit und schon gar kein Mörder!«

Tahnee hielt den Atem an, als der Mann in einem widerlich gleichgültigen Tonfall erwiderte: »Ich pflege meine Geschäfte zu Ende zu bringen. Meine Unternehmung ist abgeschlossen, wenn er am Galgen baumelt.«

Draußen heulte der Wind. Das Dachgebälk knarrte. Die Hütte ächzte unter der Wucht des Sturms. Lange starrte Tahnee ratlos vor sich hin, bis sich ihre Augen auf die Laterne auf dem Tisch richteten.

Plötzlich hellten sich ihre Züge auf und ihre Hände ballten sich zu Fäusten.

»Ich weiß nicht, wann mein Dad zurückkehrt«, sagte sie mit etwas festerer Stimme. »Aber an Ihrer Stelle würde ich beten, dass Sie dann längst über alle Berge sind.«

Endlich drehte der Kopfgeldjäger den Kopf zu ihr. Kalte Augen fixierten sie. Trotzdem beugte sich Tahnee mit herausfordernder Miene vor.

»Halt endlich den Mund!«, zischte ihr Gegenüber und Tahnee bekam nun auch die Mündung der zweiten Pistole zu sehen.

»Okay«, sagte sie und holte tief Luft. »Lassen Sie mich nur eines noch loswerden.«

»Ich höre. Aber beeil dich und treib keine Spielchen mit mir. Eine falsche Bewegung und dein Vater sieht seine Tochter erst im Himmel wieder. – Hast du verstanden?«

»Habe ich«, gab sie zurück und blickte ihm direkt in die Augen. »Sie haben ganz recht! Dad und ich leben alleine hier. Meine Mutter ist schon lange tot. Auch von unseren Miwok-Freunden ist keiner mehr da. Sie starben entweder an Hunger und an den Krankheiten, die von den Goldsuchern eingeschleppt wurden, oder sind einfach fortgegangen, weil ihre Heimat zerstört und verloren war. Es gab aber auch welche, die hiergeblieben sind, um für ihre Rechte zu kämpfen. Wissen Sie, was denen passiert ist?« Tahnee stockte kurz und sprach dann gedämpft weiter. »Sie wurden allesamt umgebracht. Von Männern wie Ihnen.«

Erneut verstummte sie.

»Bist du endlich fertig?« Der Fremde wies mit einem der beiden Pistolenläufe auf den freien Schemel. »Dann setz dich dahin!«

»Gleich«, hauchte Tahnee und trat dicht an den Tisch heran. »Hören Sie gut zu! Ich lasse nicht zu, dass ich auch noch meinen Vater verliere. Wenn Sie ihn erwischen wollen, dann müssen Sie vorher mir eine Kugel verpassen.«

Ihr Blick grub sich tiefer in seine Augen. Zeitgleich glitten ihre Handflächen unter die Tischplatte. Sie holte tief Atem, spannte ihre Unterarme an und genoss den Moment, als sich die Pupillen des Mannes weiteten, weil ihm dämmerte, dass ihm etwas entgangen war.

Mit aller Kraft riss Tahnee den Tisch hoch. Zwei Schüsse bellten durch die Nacht. Ein greller Feuerblitz leuchtete in der Hütte auf – und Tahnee rannte um ihr Leben.

Mit wenigen Sätzen war Tahnee an dem umgeworfenen Tisch vorbei und stürzte zum Ausgang. Sie packte die Klinke, stieß die Tür auf, wirbelte auf der Schwelle herum und warf einen letzten Blick zurück. Der Kopfgeldjäger rappelte sich gerade vom Boden auf, neben ihm sein umgekippter Schemel. Er war umgeben von einem ovalen, vom ausgelaufenen Öl der Laterne genährten Feuerteppich. Verwirrt starrte er auf die Flammen, die gierig an der gewachsten Baumwolle seines Mantelsaums leckten. Tahnee spürte auf den Wangen die Hitze des Feuers und über ihr Gesicht flog ein bitteres Lächeln. Dann trat sie nach draußen und schlug die Tür hinter sich zu.

Ab sofort zählte jede Sekunde.

Ohne auf die klirrende Kälte zu achten, griff sie rasch nach dem Rundholz, das an der Außenwand der Hütte lehnte und welches ihr Vater immer unter die Klinke klemmte, wenn sie gemeinsam ihr Heim verließen, damit sich während ihrer Abwesenheit keine hungrigen Bären über die Vorräte hermachten. Schnell schob Tahnee die Stütze unter den Türgriff. Und das keinen Augenblick zu spät, denn nur einen Wimpernschlag darauf wurde heftig, aber vergeblich daran gerüttelt. Während sich Tahnee mit kalter Miene abwandte, hörte sie ein wütendes Gebrüll. Unmittelbar danach rammte von innen etwas so heftig gegen die Eingangstür, dass diese in ihren Angeln erbebte.

Doch da war Tahnee schon auf halbem Weg zum Pferd des Fremden. Während ihr Schneeflocken entgegenpeitschten und der Wind mit eisigen Klauen unter ihr dünnes Hemd drang, eilte sie zu dem Tier. Dieses schien das Feuer bereits zu wittern. Unruhig stampfte es mit den Hufen und seine Augen rollten wild in ihren Höhlen. Daher zwang sich Tahnee, die letzten Schritte langsamer zu nehmen. Sie blieb neben dem zurückweichenden Pferd stehen und legte ihm sacht eine Hand auf die Flanke. Mit der anderen löste sie die Zügel vom Pfosten. Ihre Rechte wanderte höher und ihre Finger umschlossen das Sattelhorn. Behutsam hob sie ein Bein an. Dann glitt ihre Schuhspitze in den Steigbügel.

Plötzlich scheute das Pferd. Ungestüm riss es den Kopf herum und Tahnee zog sich gerade noch rechtzeitig in den Sattel hoch, ehe das verängstigte Tier lospreschte. Auf der Stelle entglitten ihr die Lederriemen und sie verlor beinahe das Gleichgewicht. Geistesgegenwärtig beugte sich Tahnee vor, um ihre Hände in die Mähne des Pferdes zu graben. Derweil presste sie ihre Schenkel gegen die Seiten des davongaloppierenden Tieres. Schon jagten sie über die schneebedeckte Talsohle, entlang der Felshänge zu beiden Seiten, die nur als schwarze, steil aufragende Masse im schwindenden Dämmerlicht zu erahnen waren.

Tahnee jubelte innerlich auf und wollte schon einen Blick zurück riskieren, als das Donnern eines Schusses durch die Nacht rollte. Während dessen Echo vielfach von den Berghängen widerhallte, bäumte sich das Pferd mit einem schrillen Wiehern auf und Tahnee wurde aus dem Sattel geschleudert.

Sie schlug so hart rücklings auf, dass ihr die Luft wegblieb und sie beinahe das Bewusstsein verlor. Stöhnend richtete sie sich auf und blickte benommen dem Pferd des Kopfgeldjägers hinterher, das sich in wilder Hast entfernte und vor ihren Augen im Zwielicht verschwand.

Dann erst drehte sie sich um und erschauderte. Ungefähr hundert Schritte lagen nun zwischen ihr und der Blockhütte. Aus deren Dach stoben verglühende Funken. Unter dem Gebälk leckten Flammen. Aus sämtlichen Ritzen des Hauses strömte Qualm hervor. Doch was Tahnee in namenloses Entsetzen stürzte, war die undeutliche Gestalt, die genau in ihre Richtung marschierte. Jetzt hielt diese an und hob mit beiden Händen einen langen Gegenstand hoch. Es war der Fremde, der einen Weg aus seinem brennenden Gefängnis gefunden hatte und nun ausgerechnet mit ihrer Flinte Jagd auf sie machte.

Dies hatte Tahnee gerade erst begriffen, als das neuerliche Donnern eines zweiten Gewehrschusses die sturmtosende Dunkelheit zerriss.

Sie warf sich in den Schnee und presste sich flach auf den Boden. Unschlüssig und am ganzen Leib schlotternd lag Tahnee da. Vorsichtig hob sie schließlich das Gesicht und sah voller Schrecken, dass der Mann den Abstand zu ihr schon so gut wie halbiert hatte. Rasch sprang sie auf und rannte, so schnell sie konnte, davon – hinein in die klirrend kalte Düsternis.

Nach einigen Minuten blieb Tahnee stehen und schnappte nach Luft. In ihren Fingern und Zehen hatte sich ein taubes Gefühl eingenistet. Furchtsam spähte sie in das Schneetreiben. Links glaubte sie, im Schein der lichterloh brennenden Hütte einen Schatten huschen zu sehen.

Sie rannte weiter, in nördliche Richtung, wo das flache Grasland nach einer halben Meile in einen Hügel überging. Dahinter schlossen sich die Wälder an. Bald war sie derart außer Puste, dass an Rennen nicht mehr zu denken war. Keuchend und gegen den heranbrausenden Sturm gebeugt, wankte Tahnee der Anhöhe entgegen. Grobkörniger Schnee hieb ihr ins Gesicht. Ihre Haut brannte wie von tausend Nadelstichen. Immer wieder suchte sie mit zusammengekniffenen Augen ihren Verfolger. Sie konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Die Sicht wurde von Minute zu Minute schlechter. Sicher war er irgendwo in der Nähe, und mit der Gewissheit kroch zu der Kälte auch lähmende Angst in ihre Glieder.

»Mach schon!«, befahl sie sich und stapfte mit klappernden Zähnen weiter.

Irgendwann stieg das Gelände an und Tahnee quälte sich die Erhebung hinauf, die sie eigentlich auf dem Rücken des Pferdes hatte überwinden wollen, um dann in den angrenzenden Wald einzutauchen und der Route ihres Vaters in Richtung Berge zu folgen. Ihr Plan war, sich bis zu der verlassenen Hütte durchzuschlagen, wo ihr Vater womöglich in diesen Stunden Schutz suchte. Ein riskanter Einfall, denn bis dorthin brauchte man beritten schon bei gutem Wetter ein bis zwei Stunden. Nun aber lag Schnee, es jagte ein grimmiger Sturm von den Bergen herab und die Sicht war mehr als schlecht. Überdies trug Tahnee bei dieser mörderischen Kälte außer ihren Mokassins, einer Lederhose und einem Baumwollhemd nichts am Körper, weil ihre Fäustlinge, Stiefel und ihr Wintermantel in der Blockhütte waren und dort gerade zu Asche verbrannten. Zu allem Überfluss hatte sie nicht einmal mehr ein Pferd, sondern wühlte sich völlig durchnässt und unterkühlt durch beinahe knietiefen Schnee. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass ihre Lage aussichtslos war, denn im Umkreis von fünfzehn Meilen gab es weder eine Siedlung noch eine einzige sonstige Behausung.

Es war nicht zu leugnen: Sie war verloren.

Trotzdem ging Tahnee weiter. Die nackte Angst trieb sie die Steigung hinauf. Einmal nur, nicht weit unterhalb der Kuppe, musste Tahnee anhalten, um ihren zitternden Beinen und dem rasenden Herz eine kurze Pause zu gönnen, ehe sie sich auf allen vieren und mit zusammengepressten Zähnen weiterschleppte.

Dann war sie oben.

Schwankend und mit rasselndem Atem kam sie auf die Beine. Sie fror inzwischen so entsetzlich, dass sie einfach auf die Knie sinken und hemmungslos weinen wollte. Stattdessen beschirmte Tahnee die Augen mit einer steifen Hand und blickte auf das jenseitige Gelände hinab. Sie sah rein gar nichts – außer einem schweren Vorhang aus herabsausenden Schneeflocken in nahezu vollständiger Dunkelheit.

Sie drehte sich zur anderen Seite. Hier war die Sicht um keinen Deut besser. Nur in der Ferne konnte sie ein unruhig funkelndes Glühen erblicken, wo einmal ihr Zuhause gewesen war.

Da hörte Tahnee ein kaum wahrnehmbares Klirren links von sich. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie in die Richtung des Lautes. Im letzten Dämmerlicht des vergehenden Tages erkannte sie ihn. Den kauernden Schatten neben einem Felsvorsprung. Panik übermannte Tahnee, denn nun löste er sich aus seinem Versteck und wuchs in die Höhe. Die Silhouette des Jägers schälte sich aus der Düsternis und Tahnee wusste nun, auch er war außer Sicht- und Hörweite über die breite Flanke auf den Hügel gestiegen. Gemeinsam mit dem verräterischen Schellen seiner Sporen kam er näher. Nur wenige Meter vor ihr blieb er stehen. Sein zerfledderter und angesengter Staubmantel wurde vom Sturm gebauscht und die Krempe seines Hutes flatterte im Wind. In aller Ruhe richtete der Kopfgeldjäger den Lauf der Waffe auf seine Beute.

Unwillkürlich taumelte Tahnee einen Schritt zurück. Ihre Sohlen traten ins Nichts. Wild mit den Armen rudernd, stürzte sie rücklings und rutschte die der Hütte abgewandten Hangseite hinunter. Dann überschlug sie sich, immer und immer wieder, bis sie endlich auf dem Bauch, halb von Schnee begraben, liegen blieb.

Mühsam kämpfte sie sich auf die Beine. Schwankend stand sie eine Weile im Windbrausen. Dann stolperte sie vorwärts, obgleich sie längst kein Gefühl mehr in den Füßen hatte. Alle paar Meter sank sie auf die Knie. Von Mal zu Mal kam sie schwerfälliger wieder hoch, um blindlings weiterzuwanken, bis die eisige Luft und der gnadenlose Wind den letzten Rest Wärme aus ihrem Körper vertrieben hatten. Irgendwann fiel sie hin und rollte auf den Rücken. Mit flachem Atem lag sie da und verspürte merkwürdigerweise gar nichts mehr – nicht einmal Angst oder Kälte.

Am Rande ihrer Wahrnehmung meinte sie, wieder ein Geräusch zu hören. Da wurde sie fest unter den Achseln gepackt und hochgerissen. Tahnee wollte aufschreien und wild um sich schlagen, doch sie brachte keinen Laut hervor und auch ihre Arme und Beine gehorchten ihr nicht mehr. Unsanft landete sie bäuchlings auf einer breiten Schulter. Umgehend erschlafften ihre verkrampften Glieder. Der Geruch von Wald und Tabak stieg in ihre Nase, das Aroma von Geborgensein und Vertrautheit.

Tahnee musste ihn nicht sehen, um zu wissen, wer sie trug.

Sie schreckte aus dumpfer Ohnmacht auf, hörte das Knarzen von Schritten und ein angestrengtes Schnaufen. Benommen betrachtete sie die Stiefelabdrücke in dem makellosen Weiß. Sie dämmerte weg, tauchte wieder aus ihrer Betäubung auf und drehte müde den Kopf hin und her. Ein Knarren und Ächzen dröhnte in ihren Ohren. Hinter den Schneewehen erahnte sie vom Wind gebeutelte Bäume. Dann wurde es wieder still und verworrene Traumbilder von fremden Männern mit Revolvern und verheerenden Feuersbrünsten stiegen in ihr auf.

Als Tahnee das nächste Mal zu sich kam, war der Sturm abgeflaut. Sie lag auf dem Grund einer Waldlichtung, umgeben von schwarzen aufstrebenden Stämmen. Halb betäubt betrachtete sie den sternenlosen Nachthimmel über sich, aus dem keine Flocken mehr hinabfielen. Vor dem vollen Mond jagten Wolken wie Gespenster dahin.

Tahnee fühlte sich wie in einem Kokon gefangen. Sie senkte das Kinn auf die Brust, um zu erkennen, was sich um ihren Körper wand. Verwirrt erfasste sie, dass sie in eine Pferdedecke gewickelt war. Ein plötzliches nahes Rascheln brachte dunkle Erinnerungen an das kürzlich Erlebte zurück. Mit brennenden Augen sah sie auf. Unscharf schwebte das Gesicht ihres Vaters über ihr. Sein Bart war weiß und starr wie aus Marmor gemeißelt. Eiskristalle glitzerten in dem eingefrorenen Dickicht. Die Lippen schimmerten blau und aus seinen Augen sprachen Sorge und Furcht.

Eine große breite Hand legte sich auf ihren Schopf. Sein Gesicht kam näher und Tahnee hörte dicht an ihrem Ohr seine Stimme flüstern: »Du musst ganz still sein! Der Mistkerl ist uns auf den Fersen. Ich bringe dich jetzt fort.«

Tahnee spürte eine flüchtige Berührung seiner Lippen auf ihrer Stirn. Angst packte sie, als sich seine Schritte entfernten, und Erleichterung überwältigte sie, als jene gleich darauf wieder näher kamen. Schwer sank etwas auf sie nieder. Tahnee hob noch einmal den bleiernen Kopf und ihre tauben Lippen umspielte ein erschöpftes Lächeln. Auf ihr ausgebreitet lag der muffige und modrige Büffelfellmantel ihres Vaters, den dieser über alles liebte und den sie im wahrsten Sinne des Wortes nicht riechen konnte. Dennoch ließ sie es geschehen, dass ihr Vater nun auch den Mantel mit einem Hanfseil fest um ihren Körper schnürte. Tahnee merkte bereits, wie die entsetzliche Erstarrung von ihr wich und sich ihre Glieder mit einem Kribbeln und Jucken zurückmeldeten.

Dann wurde sie wieder hochgehoben, getragen und quer über einen Sattel gelegt. Schon sanken ihre Lider über die Augen und sie fiel erschöpft in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

A‌u‌s T‌a‌r‌a‌s T‌a‌g‌e‌b‌u‌c‌h

8. SEPTEMBER 1856

Liebe Mama,

verzeih bitte, dass ich erst heute wieder Gelegenheit für ein paar Zeilen an Dich finde. Ich war eine ganze Weile krank ans Bett gefesselt. Darum gab es einfach nichts Neues zu erzählen. Aber heute war ein ganz besonderer Tag. Deshalb habe ich mich vor dem Schlafengehen noch an meinen Sekretär gesetzt, um Dir einen Brief zu schreiben.

Aber alles der Reihe nach!

Mitte letzten Monats habe ich plötzlich Fieber bekommen. Es stieg so rasch, dass ich bald wie ein Ofen geglüht habe und Großvater unseren Kutscher Cyrill runter in die Stadt schicken musste, um ihn nach dem Hausarzt rufen zu lassen. Bis Doktor Lindsay bei uns auf dem Hügel ankam, war ich bereits so weggetreten, dass ich von seinem Besuch rein gar nichts mitbekommen habe. Molly hat mir später erzählt, dass der Arzt nach seiner Untersuchung richtig besorgt war und meinte, man müsse schnellstmöglich mein Fieber senken. Deshalb hat er sie angewiesen, mir alle paar Stunden ein neues Paar Essigstrümpfe anzulegen. Außerdem sollte die alte Molly einen Heiltrank aus heißem Wasser, Knoblauch, Thymian und Honig ansetzen und mir fünfmal am Tag und einmal in der Nacht ein paar Löffel davon einflößen. Sei es wegen dieses widerlichen Hexengebräus oder dank Mollys Gebeten – am übernächsten Morgen hatte ich das Schlimmste überstanden. Trotzdem musste ich auf Anweisung des Arztes noch ganze zwei Wochen lang im Bett bleiben. Ich sage Dir, hätte mir Großvater nicht sämtliche Abenteuer von Natty Bumppo aus seiner Bibliothek auf meinen Nachttisch gelegt, wäre ich gewiss gestorben. Nicht wegen dem Fieber, sondern aus purer Langeweile! Aber dank James Fenimore Cooper ging die Zeit alles in allem doch recht rasch vorbei.

Mitte der vergangenen Woche war meine Temperatur endlich wieder so, wie es sich gehört, und langsam bekam ich auch wieder Appetit.

Daraufhin hat mir Großvaters Leibarzt endlich erlaubt aufzustehen und sogar einen kleinen Spaziergang in unserem Garten zu machen.

Aber das war noch nicht alles!

Als ich nach dem kurzen Streifzug vorm Haus ziemlich erschöpft auf meiner Matratze lag, hat mich Doktor Lindsay plötzlich gemustert, als wäre ich ein seltenes Tier. Dabei kratzte er sich nachdenklich das Kinn unter seinem schneeweißen Rauschebart. Dann sah er Großvater ernst an und meinte zu ihm, mit einer Lungenentzündung sei nicht zu spaßen. Um wieder ganz gesund zu werden, bräuchte ich dringend täglich eine Dosis kräftiger Seeluft. Ab sofort solle man mich regelmäßig von unserem Hügel hinabführen und für ein Stündchen ans Meer bringen.

Du kennst ihn ja, Mama. Selbst wenn die Welt unterginge, würde Großvater keine Miene verziehen. Aber wenn er aufgebracht ist, glitzern seine Augen gefährlich. Glaube mir, nach den Worten des Doktors sprühten sie förmlich Funken. Doch dann wandte er sich mir zu und sein Blick wurde freundlicher. Seine Augen wirkten irgendwie matt und traurig. Da erst habe ich erkannt, wie ihn meine Krankheit mitgenommen haben muss. Seit dem Ausbruch des Fiebers scheint er noch hohlwangiger und blasser geworden zu sein als ohnehin schon. Mit seiner gebogenen Nase und den dichten grauen Brauen sieht er ein wenig wie ein in die Jahre gekommener Raubvogel aus.

Ohne den Blick von mir zu lösen, sagte er nach einem lang gedehnten Seufzen: »Edward, Sie wissen, was ich von der Welt dort draußen halte. Kinder haben im Wilden Westen nichts verloren. Wir befinden uns an einem gesetzlosen Ort. Er wird bevölkert von Verbrechern und ist voller Gefahren. Sie können also gewiss ermessen, wie sehr es mir widerstrebt, Ihren Rat zu befolgen. Aber um ihrer Gesundheit willen, werde ich meine Enkelin künftig zu meinen Spaziergängen an der Küste mitnehmen.«