Die Wüste schmeckte nach Staub und Verlust.
Elena konnte sich kaum vorstellen, dass Maywater einst eine Oase gewesen war. Goldglänzende Weizen- und Rapsfelder unter einem veilchenblauen Himmel. Heute war Maywater bloß noch heiß, eine verblichene Erinnerung ehemaligen Reichtums. Durch verlassene Handelsstädte, allesamt zu Ruinen verkommen, donnerte sie der letzten Stadt entgegen, die sich trotzig aus der Wüste erhob. Die Mauer wuchs in schwindelerregende Höhe, je näher sie kam. Erbaut aus dem Gebein Maywaters, bot sie Schutz vor dem Hunger der Wüste. Selten hatten sie über Maywaters Zerfall gesprochen; weder Tarek noch der Orden schien wahrhaftig daran interessiert, weshalb das einst blühende Reich zerfiel. Als Folge des großen Krieges und namensgebend für die Nachkriegszeit – die Ära der Hitze –, war alles, was Elena über Maywaters Schicksal wusste, dass es mit den Hexen zusammenhing. So wie alles mit ihnen zusammenhing. Die Ära der Hitze war mit dem Tag des schwarzen Winters in die Ära der Dunkelheit übergegangen – wenngleich beides fortbestand, die Not in Maywater und die in Athos. Ewige Wolken und glühende Hitze.
Als wären alle Reiche verflucht. Auch der Blutwald.
Hätte sie doch nur mit Tarek gesprochen! Über den Orden und den Sturz der Königin, über die Königskinder und Bräute – und über den Wald. Nichts von alledem wäre geschehen.
Kein Pakt mit der Hexe, keine Cinderella, kein drohender Krieg.
Elena kämpfte mit den Tränen, weil sie wusste, dass es zu spät war. Zu tief hatten sie sich im Gespinst der Lügen verfangen, zu feige waren sie gewesen. Tief lehnte sie sich über den Hals des Pferdes und gab sich für einen Augenblick der Ohnmacht hin, die ihr wie ein Schatten folgte. Kurz, nur kurz durfte sie schwach sein, durfte zweifeln, weinen, schreien, ehe sie sich fokussieren musste: auf die einzige Möglichkeit, den drohenden Krieg abzuwenden.
Was hat sie dir versprochen?
»Frieden«, wisperte sie und wusste doch, dass es etwas anderes gewesen war, das sie hatte zustimmen lassen. Nur du kannst ihn retten.
Das Spiegelamulett fest in den Händen, atmete sie tief durch und streifte die Ohnmacht ab. Sie blieb zurück wie ein Mantel, gebläht vom Wind und schwer zu Boden sinkend, während ihr Pferd sie durch die Ruinen trug. Ihr Atem ging ruhig, ihr Herz schlug fest, ihre Schultern spannten sich, als sie das Pferd vorwärtstrieb, in den lang gezogenen Schatten der Knochenmauer und durch sie hindurch, an unbesetzten Wehrtürmen vorbei. Niemand hielt sie auf, kein Soldat, keine Wache; selbst die Straßen waren erschreckend leer, als würde die Stadt nach einer durchzechten Nacht ruhen. Das Krachen der Hufe hallte zwischen den verstummten Häusern wider, ein vielstimmiger Chor, als würde eine ganze Armee aus Drachentötern sie begleiten.
Doch sie war allein. Und sie war nicht als Drachentöterin hier.
Zielstrebig sprengte sie zum heiligen Viertel. Sie roch das Fleisch, bevor sie es sah. Zu Bergen aufgetürmte Häute, zusammengefaltet wie Laken, dazwischen Karren mit abgetrennten Schädeln, mindestens ein Dutzend, wenn nicht gar doppelt so viele – dahinter weitere Karren, Kisten voll Fleisch, Hunde, die sich um abgeschälte Knochen balgten, Kinder, die aus Schweifhaar Zöpfe flochten. Die Panik ihres Tieres ignorierend, trieb sie es tiefer in das Viertel hinein, an Fellen vorbei, die gerade erst zu trocknen begannen, durch Pfützen aus geronnenem Blut und Schwärme von Fliegen. Die Kinder sahen nur flüchtig auf, zu vertieft waren sie in ihr neuestes Spielzeug, die Hunde tollten sich in eine abgelegene Gasse. Ein Fleischer trat aus der Tür, ein Beil in der Hand, die Augen eindringlich auf Elenas Pferd gerichtet. Sie strafte ihn mit einem flammenden Blick, er zuckte nur die Schultern.
Unter der roten Laterne sprang sie ab, band die Zügel an einen Haken, trat dann an das Portal, um zu klopfen, zögerte. Die Tür stand einen Spalt offen, dahinter gähnte kühler Schatten. Wachsam schob sie sich hinein, lauschte in die Stille, die einzig von summenden Fliegen durchbrochen wurde. Eine Ansammlung aus rauem Stoff lag zusammengeknüllt in einer Ecke, hastig abgestreift, umschwirrt von Aasfliegen.
Sie hasste Fliegen.
Geräuschlos durchquerte sie den Raum und sank neben dem Kleiderhaufen auf ein Knie. Ein derbes Kleid wie für eine Magd. Es stank elendig nach Fisch und Gedärm und ein wenig nach Blut. Der Wüstenkönig würde sein wahres Wunder erleben, käme er heim.
Was er vielleicht niemals tat, nicht, wenn Tarek ihn tötete.
Angespannt erhob sie sich von dem Stoffknäuel, trat in den angrenzenden Raum und sah sich um. Es war beängstigend still. Der Orden umfasste nur wenige Mitglieder, darunter vor allem Kinder, die auf ihre spätere Aufgabe vorbereitet wurden, dazu die Oberin und einige Schwestern. Dennoch war Elena der Tempel niemals so verlassen vorgekommen wie an diesem Morgen. Misstrauisch trat sie zur Treppe. Sie wusste, wohin der dunkle Schacht führte. Hinab, hinab. Widerwillig folgte sie den grob in den Fels gehauenen Stufen, zählte sie stumm, wissend, dass es genau vierzig waren, bis sie das Schlachthaus erreichte.
Acht.
Neun.
Zehn.
Sie hatte jede einzelne Stufe gefürchtet, damals, als sie noch ein Kind gewesen war, auserwählt, dem Orden zu dienen, von der Straße geklaubt, geformt und manipuliert.
Dreizehn.
Vierzehn.
Gekauft mit Essen, Trinken und einem Dach über dem Kopf.
Fünfzehn.
Sechzehn.
Niemals konnte sie vor Tarek zugeben, dass sie in dieses Leben gezwungen worden war. Dass sie keine Wahl gehabt hatte. Keine wirkliche zumindest.
Neunzehn.
Zwanzig.
Sie verharrte – wie sie es früher stets getan hatte – in der Mitte der Treppe. Zwanzig Stufen hinter ihr und zwanzig, die weiterführten. Hinab, hinab. Wenn sie hier gestanden hatte, zwischen oben und unten, zwischen der Stadt und der Hölle in ihren Eingeweiden, hatte sie sich stets gefühlt, als hätte sie eine Wahl. Als bräuchte sie bloß umzudrehen, die Stufen erklimmen, die Pforte durchschreiten und dem heiligen Viertel entfliehen. Hinein in die Stadt und fort von dem, was unter ihr lag.
Zwanzig Schritte bis zur Freiheit.
Zwanzig Schritte hinab, hinab.
Einundzwanzig.
Das Gleichgewicht wankte. Die Freiheit verlor – wie stets.
Zweiundzwanzig.
Weil sie niemals eine Wahl gehabt hatte. Weder damals noch heute.
Sie erinnerte sich, wie sie als Kind der Oberin durch die schummrigen Gassen gefolgt war, fasziniert von den schwankenden Laternen und bunten Farben – vielleicht auch von der Oberin selbst, deren Narben und den Geschichten, die sie erzählte. Über Monster in Wäldern und jenen in Schlössern. Von Bräuten, die sich in menschliche Häute kleideten, und Königen, die erblindeten, von lebenden Toten und gestohlenen Kindern. Sie erinnerte sich, wie sie zum ersten Mal vor der Pforte gestanden hatte, unter der roten Laterne. Das Licht hatte sich so wunderbar leicht angefühlt, anders als die klebrige Hitze in den unteren Vierteln, aus denen sie stammte. Dunkel und heiß und staubig und überbevölkert. Sie hatte nicht lange gezögert. Auch Susann nicht. Niemand von ihnen.
Achtundzwanzig.
Neunundzwanzig.
Das unsichere Leben auf den von hungernden Kindern ausgetretenen Straßen oder ein Dasein als Schwester des Roten Ordens.
Dreißig.
Auserkoren, um zu schützen.
Zweiunddreißig.
Dreiunddreißig.
Vierunddreißig.
Der Preis erschien gering, der Nutzen gewaltig.
Und doch, während hier und jetzt die letzten Stufen unter ihr dahinschwanden, wusste sie, dass der Orden ihr mehr abverlangt hatte, als es ein Leben auf der Straße je gekonnt hätte. Der Orden opferte Kinder, um einen Krieg zu fördern, dessen Spuren noch heute die Welt entzweiten. Brach liegendes Land, zerfallende Städte, Berge von Häuten und Zöpfe aus Schweifhaar. Das war die Welt, in der sie lebte – und starb.
»Damit sie eine Wahl haben«, flüsterte Elena, doch die Worte klangen hohl.
Was hat sie dir versprochen?
Achtunddreißig.
Neununddreißig.
Vierzig.
Etwas schepperte. Sie fuhr herum, die Klinke schon in der Hand. Ein Mädchen stand über ihr auf der vierunddreißigsten Stufe. Ein Mädchen, wie sie es gewesen war, mit derselben Vorsicht im Blick und gehüllt in die traditionelle Ordenstracht, damit niemand das Blut sah, sollten die Schnitte aufbrechen. Beim Anblick der langen Ärmel, dem steifen tizianroten Stoff, hochgeschlossen bis zum Hals, wurde ihr schlecht. Wie alt mochte sie sein? Acht? Neun?
»Für wen bist du vorgesehen?«, verlangte sie zu wissen.
Das Mädchen krampfte die Finger um den Eimer, den es in der einen Hand trug und in dem es dunkel schwappte. Mit der anderen hielt sie einen tropfenden Wischmopp, dazu eine flackernde Kerze. Elena ächzte innerlich, weil sie wusste, wozu das Mädchen die Stufen hinabstieg. Es gab nur einen Grund, das Schlachthaus zu säubern. Sie selbst hatte es nur wenige Male tun müssen, ehe sie in den Dienst der Drachentöter abkommandiert worden war. Andere, das wusste sie, blieben auf ewig im Tempel, um den Ritualen beizuwohnen und das Blut aufzuwischen – so wie das Mädchen, dessen Anblick ihre Zweifel nährten wie der Silberfluss das Meer.
»Für niemanden«, antwortete es kleinlaut.
Elena zwang sich, keinerlei Mitgefühl zu zeigen. Es würde dem Mädchen nicht helfen, ihm höchstens vor Augen führen, wie aussichtslos seine Lage war. Falls es das überhaupt zu begreifen vermochte. Denn all jene, die für niemanden bestimmt waren, dienten einem anderen Zweck. Von ihnen verlangte der Orden das größte Opfer.
»Wo ist sie?«
»Die Fürstin?«
Elenas Brauen schossen hoch. »Sie war hier?«
Das Mädchen zuckte verängstigt zurück und erklomm instinktiv die dreiunddreißigste Stufe.
Gut so, dachte Elena. Hinauf mit dir, hinauf in die Freiheit.
»Was wollte sie hier?«
Die Antwort kam so leise, dass Elena größte Mühe hatte, die Worte zu verstehen.
Braut. Kleid. Opfer. Genug, um zu begreifen, was geschehen war.
Die Klinke brannte sich in ihre Haut, ihr war schlecht. »Seit wann ist sie fort?«
»Im Morgengrauen waren sie fertig.«
Fertig.
Das Wort hallte in Elena nach.
Fertig.
Fertig.
»Die Oberin?«
»Ging ebenfalls.«
»Wohin?«
Das Mädchen stammelte etwas vor sich hin.
»Es ist mir gleich, dass du gelauscht hast. Ich muss wissen, was sie sagten.«
»Sie suchen ein Kleid. Weil das, welches die Fürstin brachte, das falsche war.«
»Wo sind sie?«, hakte sie nach, doch das Kind wusste keine Antwort, und so blieb Elena nichts übrig, als die Klinke hinunterzudrücken und das Schlachthaus zu betreten, jenen Raum, von dem sie wusste, dass auch ihr Leib eines Tages in ihm verschwinden würde, dann, wenn ihre Dienste nicht länger gebraucht wurden und eine jüngere Schwester an ihre Stelle treten würde. Ausgedient – wie die Person auf der Schlachtbank.
Oder eher das, was davon noch existierte.
Es war gerade genug, um die Überreste als menschlich zu identifizieren. Keine Haut, kein Herz, kein Haar. Der Körper glich einem aufgebrochenem Gefäß, das Blut sorgsam abgezapft, die Krüge, in denen es aufgefangen worden war, noch feucht. Elena trat tiefer in den Raum, fand die frisch aufgereihten Einmachgläser und träge dahintreibenden Organe im dämmrigen Nass. Das Mädchen folgte ihr, es trat zum Kopfende des Opfertisches.
»Wozu braucht sie ihr Gesicht?«
Elena glaubte sich verhört zu haben. Doch das Mädchen sah hoch, die Augen zwei blanke Kiesel, das Grauen spiegelnd, und wiederholte die Frage. Elena stutzte. Ihr Blick suchte die Einmachgläser. Da war Haut. Haufenweise Haut. Konserviert für spätere Zauber. Für dunkelste Blutmagie. Aber da war kein Gesicht.
»Sie trägt es«, sagte das Mädchen.
Elena taumelte. Das Spiegelamulett brannte in ihrer Hand, das Schwert mit der blutigen Spitze wog plötzlich schwerer.
Nur du kannst ihn retten.
Aber zu welchem Preis?