Nics Anblick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Seine bläuliche Aura, die Kälte seiner verlorenen Seele, die auf meiner Haut brannte. Je weiter ich mich von ihm entfernte, desto schlimmer wurden meine Gewissensbisse.
Ich habe ihn sterben lassen.
Es ist meine Schuld.
Einzig und allein meine Schuld.
Ein Schluchzen schlich sich aus meinem Mund und durchbrach die Stille der frühen Morgenstunden. Ich hatte meinen Partner im entscheidenden Moment im Stich gelassen. Das würde ich mir nie verzeihen können.
Ich hatte mehrere Meter Abstand zwischen mich und die Leiche gebracht, mit der festen Absicht, zu gehen. Doch jeder Schritt ließ das Gefühl des Verrats in mir auflodern wie ein Feuer, das in meinem Inneren brannte. Ich konnte und wollte Nic nicht allein lassen. Noch nicht.
Ich war bereits an einer Brücke angelangt, als ich mich umentschied. Ich warf einen Blick über die Schulter zurück. Doch was ich entdeckte, ließ mich einen Moment lang vor Schock erstarren. Am Boden lag der tote Körper meines Freundes. Blut sammelte sich in einer großen Lache unter ihm und verteilte sich in winzigen Rinnsalen über das Kopfsteinpflaster. Ich mied den Anblick der Verletzungen und Wunden, die ihm der marmorne Löwe zugefügt hatte. Stattdessen beobachtete ich die fast transparente Gestalt, die sich über den leblosen Körper beugte und Nic wie ein Spiegelbild glich. Die verlorene Seele meines einstigen Schützlings wirkte neugierig, nicht abgeschreckt. Ich glaubte, dass er nicht verstand, dass es sein Körper war, der dort zerschmettert am Boden lag.
Ich schluckte schwer.
Der stechende Schmerz in meinem Brustkorb wurde immer stärker. Als würde sich eine Hand um meinen Oberkörper schließen und zudrücken. Ich spürte den enormen Druck, unter dem meine Rippen zu brechen drohten, und fühlte das unregelmäßige Pulsieren meines Herzens.
Ich wollte etwas sagen, irgendetwas. Ich wollte Nic Trost spenden. Ich wollte für ihn da sein.
Doch ich wusste nicht wie.
Ich brauche Hilfe …
Dieses Eingeständnis riss mir zusätzlich den Boden unter den Füßen weg. Noch nie in meinem Leben hatte ich Hilfe von anderen angenommen, abgesehen von Nic. Obwohl ich in einer menschlichen Hülle feststeckte, besaß ich immer noch das Wesen eines Schutzgeistes. Ich wollte keine Hilfe annehmen, sondern selbst helfen.
Erst jetzt wurde mir klar, dass es genau diese Sturheit war, die mir meine Probleme eingebrockt und Nic das Leben gekostet hatte. Wenn es mir nur irgendwie möglich war, ihn von seinem Leiden zu erlösen, so musste ich dennoch zurück an meine Kräfte gelangen. Ohne Unterstützung würde mir das niemals gelingen.
Ich atmete tief durch und wollte mich gerade wieder abwenden, als ich plötzlich ein seltsames Flackern direkt neben der verlorenen Seele bemerkte.
Das Flackern glich einer Art Bildstörung in der Welt. Als würde plötzlich die Luft anfangen, sich mit schnellen, kleinen Bewegungen zu verschieben. Das seltsame Flackern offenbarte zunächst nicht mehr als einen dunkel anmutenden Schatten.
Aus dem Schatten wurde schwarzer, fließender Stoff. Dieser wiederum formte eine bodenlange Robe. Ich wagte kaum zu atmen und hielt gespannt inne. Von diesem Wesen ging eine ganz andere Energie aus als von den Dämonen und Fra Mauro. Es war keine böse Gestalt, das ahnte ich bereits. Die Art und Weise, wie sich das Wesen formierte, wie es sich aus den Schatten der Umgebung schälte und wie es friedlich an einem Ort der Gewalt und Zerstörung verharrte, strahlte eine unfassbare Ruhe auf mich aus.
Ohne es wirklich wahrzunehmen, trat ich wieder näher an das Geschehen heran. Nics verlorene Seele hatte das Auftauchen der fremden Macht inzwischen auch bemerkt und sich dem lebendigen Schatten zugewandt.
Je näher ich an die beiden herantrat, desto mehr Details erkannte ich. Es war tatsächlich eine Robe, die den Fremden einhüllte. Die Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen, darunter war ungesund bleiche Haut zu sehen.
Die Gestalt schien darauf zu warten, dass ich näher herantrat. Sobald ich nur noch wenige Meter von ihnen entfernt war, positionierte ich mich so, dass ich mit dem Rücken zu Nics Leiche stand. Ich ertrug den Anblick einfach nicht. In meinen Augen sammelten sich erneut Tränen, die ich eilig hinfort wischte. Diese Schwäche wollte ich mir nicht eingestehen. Nicht, solange Nics Seele sich immer noch hier aufhielt. Es war noch nicht vorbei. Ich weigerte mich, jetzt schon aufzugeben.
»So sehen wir uns also wieder«, sprach plötzlich die Gestalt. Die Aura des Wesens kam mir nur allzu bekannt vor. Als es dann noch die Kapuze ergriff und sie nach hinten zog, war ich mir sicher.
Ich hätte es wissen müssen.
Die bleiche Haut, das schwarze Gewand. Und nun offenbarte der Fremde seinen kahlen Kopf und stechend gelbe Augen. Selbst wenn ich gestorben und wiedergeboren worden wäre, hätte ich dieses Gesicht vermutlich überall wiedererkannt. Allerdings wusste ich nicht, ob ich froh darüber sein sollte, ihn so schnell wiederzusehen. Er war mit einer der Gründe, warum ich mich schließlich auf den Kampf mit Fra Mauro eingelassen hatte.
»Fährmann«, hauchte ich tonlos und blinzelte verblüfft. Sein Anblick erinnerte mich an jene Mittsommernacht, in der wir das erste Mal gegen Fra Mauro gekämpft hatten und ich meine Kräfte einbüßen musste. So viel war in dieser Nacht schiefgelaufen. Und trotzdem hatten wir gesiegt. Nicht zuletzt dank der Hilfe des Fährmanns. »Was tust du hier?« Meine Frage klang harscher als beabsichtigt. Insgeheim freute ich mich, ein bekanntes Gesicht zu sehen, das uns nicht den Tod wünschte. Dennoch konnte die Gegenwart eines Wesens, das für die Aufbewahrung und den Transport von Seelen zuständig war, nichts Gutes verheißen.
Ist er wegen Nic hier?
Mein Blick streifte die verlorene Seele, die zwei Schritte von mir entfernt stand. Die geisterhafte Kälte verursachte bei mir Gänsehaut. Unauffällig versuchte ich meine Arme mit meinen Händen zu rubbeln, um Wärme zu erzeugen. Vergebens. Die eisige Aura meines ehemaligen Freundes hatte sich bereits in mein Herz gefressen und pumpte nun flüssige Kälte durch meinen gesamten Körper. Sie sickerte in meine Knochen und ließ mich von innen heraus erstarren.
Ich halte das nicht aus. Ich muss etwas dagegen tun. So schnell wie möglich.
Der Fährmann ließ seinen prüfenden Blick über mich gleiten, nur um schließlich Nic zu fokussieren. Er starrte direkt durch die verlorene Seele hindurch, auf den leblosen Körper meines Schützlings.
»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte der Fährmann. Seine Stimme wirkte heiser und glich einem Röcheln. »Er ist der Grund, warum ich gekommen bin.«
Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, begann ich zu zittern.
Nein.
Nein.
Nein.
Er darf Nic nicht mitnehmen!
»Seine Seele ist nun bereit, in die ewigen Gefilde überzugehen«, eröffnete er mir.
Aber ich bin es nicht!
»Nein. Nein, du kannst ihn noch nicht mitnehmen«, stotterte ich. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Mir wurde schwindelig und übel. Die Beine drohten mir unter dem Körper wegzuknicken, so sehr bebten sie plötzlich. »Das kannst du nicht machen.«
»Ich kann und ich werde. Schließlich ist das meine Berufung.«
Verzweiflung packte mich und legte meinen Verstand lahm. Nach allem, was der Fährmann und wir miteinander durchgemacht hatten, konnte er uns doch nicht einfach mit solch einer Nüchternheit behandeln. Er hatte uns schon mehrmals geholfen. Nur noch ein Mal … er musste uns nur noch ein Mal helfen. Und wenn er sich dazu nicht bereit erklärte, dann musste ich eben zu anderen Mitteln greifen.
»Nein! Das lasse ich nicht zu!« Ich griff nach meinem Dolch, wollte ihn zücken und gegen den Fährmann richten. Doch die Waffe befand sich nicht länger in ihrer Scheide. Sie musste während des Kampfes gegen Fra Mauro verloren gegangen sein.
Aber sie hätte bestimmt sowieso nichts gegen dieses Wesen ausrichten können.
Der Funke Kampfgeist in meinem Inneren erlosch genauso schnell, wie er aufgeflammt war. Denn erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich absolut nichts gegen den Fährmann tun konnte. Wenn er Nics Seele an sich nehmen wollte, dann konnte er das tun; ob mir das gefiel oder nicht, spielte dabei keine Rolle.
Ich schluchzte und rieb mir erneut über die Wangen, um die Tränenspuren zu beseitigen. In meinen Gedanken versuchte ich irgendeinen Weg zu finden, der mich und Nic aus dieser Situation retten würde. Doch alles war aussichtslos. Jeder Strohhalm, an den ich mich klammerte, stellte sich als brüchig und unsicher heraus.
Nichts und niemand konnte mir jetzt noch helfen.
»Ich kann ihn noch nicht gehen lassen«, gab ich leise zu und vermied es, dem Fährmann in die Augen zu schauen. Ich spürte auch so seinen stechenden Blick auf mir.
»Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du noch nicht so schwach«, sagte er plötzlich. Ich dachte an unsere letzte Begegnung zurück, bei der er mir mitgeteilt hatte, dass er sich um das »Problem« kümmern würde. Den Herzreißer.
Damals war ich entschlossener. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht gewusst, was ich alles verlieren könnte.
»Der Kampf gegen Fra Mauro hat alles verändert.« Meine Stimme bebte verräterisch, trotzdem versuchte ich, aufrecht zu stehen und mir nichts anmerken zu lassen.
»Du hast das Leben deines Schützlings riskiert? Um diese Stadt zu retten?« Der Fährmann klang ungläubig, als könne er nicht begreifen, dass so etwas überhaupt möglich war.
»Was wäre denn die Alternative gewesen? Noch mehr Menschen sterben zu lassen?« Inzwischen wusste ich es besser. Ich wäre nie hergekommen, wenn ich gewusst hätte, dass es Nic das Leben kosten würde.
»Nein. Ihr hättet fliehen können. Ihr hättet diesen Ort verlassen und nie wiederkehren können, egal was mit den Menschen hier geschieht. Aber ihr seid geblieben. Und habt gekämpft.«
Ich wandte mich Nic zu, dessen verlorene Seele Löcher in die Luft starrte und offenbar versuchte, unserer Unterhaltung zu folgen. Natürlich erinnerte er sich nicht an diese Ereignisse. Er hatte schließlich sein Gedächtnis verloren, sobald er in das Reich der Toten übergegangen war.
»Wenn Nic für sich sprechen könnte, würde er bestimmt dasselbe sagen«, fügte ich hinzu und wagte es schließlich doch, dem Fährmann in die Augen zu schauen.
Ich erkannte den Ausdruck in seinem Gesicht. Er war sich seines Vorhabens unsicher geworden.
»Gibt es keine Möglichkeit, ihn zurückzuholen? Er hat das hier nicht verdient. Nicht so früh.« Meine Stimme hatte einen flehenden Tonfall angenommen. Ich beobachtete, wie mein Gegenüber die Stirn runzelte. »Ich würde alles tun, um ihn wieder bei den Lebenden zu wissen.«
»Tatsächlich?«, fragte er nun nach. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu nicken.
»Wovon sprecht ihr?«, unterbrach Nic uns. Er hatte große Schwierigkeiten, uns zu verstehen.
»Von deiner Zukunft«, erwiderte der Fährmann trocken.
Nic interessierte die Antwort gar nicht. Er zuckte mit den Schultern, als würde es ihn nicht scheren, was mit ihm geschah. Diese Tatsache verschlimmerte die Situation für mich nur umso mehr. Diese Gleichgültigkeit seinem eigenen Schicksal gegenüber ließ mich schaudern. Der echte Nic hätte niemals so reagiert.
»Du willst ihm also ein neues Leben schenken?«, hakte der Fährmann mit einem Blick in Nics Richtung nach.
»Ja.« Dieses winzige Wort lag so schwer wie Blei auf meiner Zunge.
»Hast du schon eine Ahnung, wie du das bewerkstelligen möchtest?«
Seufzend sah ich in Nics milchig weiße Augen. Beinahe vergaß ich zu antworten.
»Nein. Aber ich werde einen Weg finden. Dessen bin ich mir sicher.«
Der Fährmann nickte nachdenklich.
Was soll das hier werden?
Diese Unterhaltung führt doch zu nichts.
Sie wird Nic nicht zurückholen.
Ich schinde hier nur Zeit, um mich noch nicht verabschieden zu müssen.
Lange wird das nicht mehr funktionieren.
»Ich gebe dir fünfzehn Tage.«
Die dahingemurmelten Worte des Fährmanns ließen mich erstarren. Hatte er gerade das getan, wovon ich denke, dass er es getan hat?
»Was?«
»Ich gebe dir fünfzehn Tage, um einen Weg zu finden, deinen Schützling zu retten. Das bin ich euch schuldig, nachdem ihr euch für die Stadt und ihre Menschen aufgeopfert habt. Ich kann deinen Freund nicht zurück ins Reich der Lebenden überführen, aber ich kann den Prozess der Seelenwanderung ins Jenseits unterbinden oder verlangsamen.« Nach und nach wurde mir immer klarer, wovon mein alter Bekannter da gerade sprach. »Ich werde Nicolos Seele solange hier auf der Erde halten und sie vor den anderen Seelensammlern beschützen, die sie ins Jenseits bringen könnten. Dein Freund wird keine letzte Ruhe finden, solange du auf der Suche bist. Ich gebe dir fünfzehn Tage. Nicht mehr, nicht weniger. Wenn du bis dahin keinen Weg gefunden hast, ihn zu retten, werde ich mich seiner Seele annehmen.«
Ich gab keinen Mucks von mir, aus Angst, dass der Fährmann seine Meinung noch ändern könnte.
»Mehr als fünfzehn Tage kann ich jedoch nicht verantworten. Obwohl dein Freund eines gewaltsamen Todes gestorben ist, hat er die Möglichkeit, den Weg ins Jenseits zu finden, auch ohne seinen Schutzgeist. Schließlich hätte er schon vor einer geraumen Weile sterben sollen.«
Als ich ihn aus dem Feuer gerettet habe.
Damals hat alles begonnen.
»Fünfzehn Tage«, flüsterte ich mehr zu mir selbst als zu den anderen. »Das schaffe ich.«
»Dann haben wir eine Abmachung.« Bevor ich auch nur ein weiteres Wort an ihn richten konnte, zerfaserte die dunkle Robe des Fährmanns in flüssige Schatten und seine Gestalt löste sich vor meinen Augen in Luft auf.
Habe ich gerade einen Pakt mit dem Tod geschlossen?