Einen Tag später fand ich mich vor Matthews Books wieder. Die alte, aber sehr gemütliche Buchhandlung lag nur zwei Straßen von unserer Wohnung entfernt. Das dunkelgrüne Holz der Fassade, in die zwei große Rundfenster und eine etwas nach hinten versetzte Tür eingelassen waren, glänzte im Sonnenlicht. Über dem Eingang prangte das von Mr Matthew selbst gemalte Schild mit dem stilisierten Bild einer Teetasse, die auf einem Buch stand. Engländer. Tee, Tee und nochmals Tee. Vermutlich würden sie eher ihre charakteristischen Taxis und Busse aufgeben, bevor sie auch nur im Entferntesten daran dachten, auf ihr geliebtes Heißgetränk zu verzichten. Das für die Teeliebe verantwortliche Gen musste in meiner Familie allerdings schon lange verloren gegangen sein. Denn Grandma, Mom und ich, die alle in England geboren und aufgewachsen waren, hatten nie zu den Teetrinkern gehört. Aber Kaffee … Mit dem ersten Schluck war es um uns geschehen gewesen. Was Grandma wohl dazu sagen würde, wenn sie mich jetzt sehen könnte? Ihre Ratschläge fehlten mir. Ich wischte mir eine Träne aus dem Auge und warf einen Blick durch das Fenster des Buchladens.
Im Innenraum sah ich nicht nur Bücher, sondern auch viele lesende Teetrinker, die sich auf Sofas und Sesseln lümmelten. Mr Matthew servierte jeden Tag eine andere Sorte des Heißgetränks mitsamt passendem Buchtipp. Vielleicht sollte ich ihn fragen, ob er das auch mal mit Kaffee machen wollte. Dann würde vielleicht sogar ich endlich wieder die Ruhe und Stimmung finden, um ein gutes Buch zu lesen. Das letzte Mal war viel zu lange her. Von dem Ratgeber über Katzen mal abgesehen. Ich brauchte einen dicken Fantasy-Schinken, in dem ich mich stunden-, wenn nicht sogar tagelang verlieren konnte. Mit der Hand auf der Türklinke geriet ich kurz in Versuchung, den Laden zu betreten und zu stöbern. Früher hatte ich viele Stunden an den Regalen entlangschleichen und durch Bücher blättern können. Doch seit ich von meinem Erbe als Anti-Muse wusste, fiel mir das schwer. Für jedes Buch, das ich in die Hand nahm, kamen mir drei weitere in den Sinn, die ich am Erscheinen gehindert hatte. Und damit verpuffte jegliche Lust zu lesen. Nein, auch heute würde sich das nicht ändern. Ich würde tun, wozu ich ursprünglich hergekommen war, und in die Londoner Zwischenweltbibliothek, kurz ZwiBi, gehen.
Ich drückte die goldene Klinke herunter und flüsterte: »Hesiod.« Es war der Name des Schöpfers der ersten Buchwelt, der damit den Grundstein für das Litersum gelegt hatte, das Universum aller Geschichten. Hesiod hatte die Welt um die griechische Göttin Mnemosyne und ihre neun Töchter, die ursprünglichen Musen, in seinem Werk Theogonie erschaffen. Die Musen waren daraufhin aus ihrer Buchwelt in die echte Welt ausgeströmt und hatten Künstler aller Art mit einem Kuss bedacht. Daraus waren unter anderem weitere Buchwelten entstanden, die im Litersum zum Leben erwachten. Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung und von manchen auch das Gedächtnis genannt, wachte seitdem über das Litersum. Die ZwiBi, den Knotenpunkt sowie die Agentur, welche die Kuss-Aufträge regelte, hatte sie mithilfe ihrer Töchter erschaffen, um Ordnung in das Chaos zu bringen und für die Buchcharaktere ein möglichst einfaches Wandeln durch die Welten zu ermöglichen. Nur dank Mnemosyne und ihren Töchtern erwartete mich hinter der Tür von Matthews Books etwas, das die Vorstellungskraft der meisten Menschen bei Weitem überschritt. Deswegen war es auch besser, dass fast keiner von ihnen vom Litersum wusste.
Die Tür glitt nach hinten auf, und auf der anderen Seite empfing mich die schwere, aber heimische Luft der Bibliothek in der Zwischenwelt, die die echte Welt mit dem Rest des Litersums verband. Altes Papier und Leder, Holz und Staub kreierten den für diese Bücherei ganz eigenen Geruch. Der dunkle, polierte Laminatboden, der sich durch das gesamte Gebäude zog, war mir mittlerweile so vertraut wie der in unserer Wohnung. Doch über die unzähligen Regalreihen, die sich rechts und links von mir erstreckten, staunte ich wie immer. Die Regale waren bestimmt zehnmal so groß wie ich und wirkten wie Türme aus dunkelbraunem Holz, die ihre Schätze nur mutigen Eroberern preisgaben. Buchdeckel an Buchdeckel standen die Bücher auf den Brettern, jedes von ihnen gab es nur ein einziges Mal. Die Sammlung in diesen Räumen umfasste jedes existierende Buch, das von einem Autor aus London geschrieben worden war oder das in London spielte. Und die Hauptstadt Englands erfreute sich großer Beliebtheit bei Autoren aus allen Zeiten und allen Ländern, weshalb der Bestand hier riesig war. Egal ob Fantasy-Geschichten, historische Romane oder Krimis – sie alle wurden hier aufbewahrt. Und nicht nur das. Von der Londoner ZwiBi aus gelangte man in all diese verschiedenen Londoner Buchwelten, die nebeneinander im Litersum existierten. Die Charaktere aus jenen Geschichten waren ihrerseits in der Lage, in die ZwiBi zu kommen und in anderen Büchern und sogar in deren Welten zu stöbern. Das störte den Ablauf ihrer eigenen nicht. Denn ihre Welten würden für alle Ewigkeit so bestehen wie am Ende ihres Buches oder ihrer Reihe. In ihren Geschichten herrschte Stillstand, der nur minimale Entwicklungsmöglichkeiten für das weitere Leben der Buchcharaktere ließ. Vor allem auf emotionaler Ebene gab es noch Raum für Veränderungen. Sie konnten inner- und außerhalb ihrer Bücher neue Freundschaften schließen, sich verlieben und umherreisen, so viel sie wollten, aber sie blieben immer in derselben Gestalt, unsterblich, solange das Litersum bestand.
Die einzige Ausnahme stellten Menschen wie ich dar. Die Kinder von echten Menschen und fiktionalen Charakteren, deren Existenz sich jeglicher Logik entzog und die es trotzdem gab. Wir waren das Bindeglied zwischen den zwei ungleichen Universen. Trotzdem fühlte ich mich nur in einem von ihnen zu Hause – in dem echten.
Die Aufsicht über die Londoner ZwiBi führte Mrs Badham. Sie war der Inbegriff einer Bibliothekarin und wie alle anderen Angestellten hier ein Buchcharakter aus einer Welt, die sich ebenfalls in einem der Regale versteckte. Mrs Badham musste als Vorlage für all die Klischees einer Bibliothekarin hergehalten haben, oder aber ihr Charakter war von ebenjenen beeinflusst. Denn ihr strenges Reglement sorgte dafür, dass trotz all der Buchcharaktere in der ZwiBi kein Chaos ausbrach. Die Leute unterhielten sich nur gedämpft miteinander, nirgendwo lag ein zurückgelassenes Buch herum und zu keiner Zeit bestand die Gefahr, dass auch nur eine Seite Papier durch Nahrungsmittel oder Getränke beschmutzt wurde. Mrs Badham sah alles. Ihr Dutt auf dem Hinterkopf war wie ein drittes Auge und das wussten alle, die hier ein und aus gingen. Aber sie verrieten es einem nicht. Schon gar nicht mir. Ich hatte es erst herausgefunden, als ich in den Fokus ebenjenes dritten Auges geraten war und fast zu Tode erschrak, weil Mrs Badham plötzlich mahnend meinen Namen gerufen hatte. An jenem Tag hatte ich mich erdreistet, einen Kaffee in meinem Mehrwegbecher mit in die ZwiBi zu bringen. Ein Fehler, den ich kein zweites Mal beging.
Lediglich in der Sitzecke hinter ihrem Pult war es erlaubt, Speisen und Getränke zu verzehren. Man durfte sogar etwas zu lesen dorthin mitnehmen, wenn man sich in der Vergangenheit als würdig und reif genug erwiesen hatte. Einer, dem diese Ehre zuteilwurde, war Tom, mein Mentor, mit dem ich mich jetzt traf.
Wie erwartet saß er in der Sitzecke am hintersten Ende in einem rostbraunen Sessel. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Tasse Tee, in der Hand hielt er ein dickes Buch, in das er tief versunken schien. Seine Finger strichen behutsam über den Buchschnitt, während seine Augen schnell die Zeilen überflogen. Tom war ebenfalls ein Buchcharakter. Er entstammte einer frühviktorianischen Geschichte und war dementsprechend gekleidet. Eine braune Weste über einem grauweißen Hemd, dazu eine Anzughose aus dunkelgrauem Stoff, die schon bessere Tage gesehen hatte. Viele der Londoner Charaktere liefen so herum – es war mit Abstand das beliebteste Zeitalter, wenn es um Bücher rund um die Metropole ging.
Toms rotblonder Haarschopf war verwuschelt, weil er die Gewohnheit hatte, beim Lesen unbewusst damit herumzuspielen. Mit seinen vierundzwanzig Jahren war er mir zwar nur fünf Jahre voraus, aber er sah deutlich älter aus als die echten Männer in seinem Alter. Seine Haut war fahl und stellenweise bereits von tiefen Falten durchzogen, die Haare dünner und glanzlos. Auch das war eine Begleiterscheinung des viktorianischen Zeitalters, sei es nun real oder erfunden. Es zehrte an den Menschen, und ich schätzte mich jedes Mal glücklich, dass ich in eine andere Epoche hineingeboren worden war. Tom seinerseits beschwerte sich nicht. Er war ein ruhiger und genügsamer Charakter, der keine Energie darauf verschwendete, sich über Dinge zu ärgern, die er ohnehin nicht ändern konnte. Darum beneidete ich ihn manchmal, ich selbst legte in vielen Situationen nicht so viel Geduld an den Tag. Wie jetzt, als ich an den versammelten Buchcharakteren vorbeilief, um zu Tom zu kommen. Die Gespräche verstummten, sobald ich nur noch wenige Schritte entfernt war, und ich spürte die bösen Blicke, die sie mir zuwarfen. Wie immer, wenn ich hier war.
Als Anti-Muse verhinderte ich die Entstehung neuer Welten und neuer Charaktere. In den Augen der Buchcharaktere war ich … böse. Meine Hände wurden feucht und ich wischte sie an meiner Hose ab. Mit dem Blick auf Tom gerichtet lief ich ruhig weiter. Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie nervös mich die plötzliche Stille machte.
Tom bemerkte mich erst, als ich mich ihm gegenüber auf einem Stuhl niederließ. Er hob den Kopf und ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Denn Tom, im Gegensatz zu fast allen anderen im Litersum, redete trotz allem mit mir.
»Malou, schön, dich zu sehen!« Er klappte das Buch zu und legte es nach einem letzten sehnsüchtigen Blick beiseite. »Möchtest du etwas trinken?« Er griff nach einer Wasserflasche, die auf dem Tisch stand.
»Nein, vielen Dank«, sagte ich und rückte meinen Stuhl so, dass ich alle anderen im Rücken hatte. Langsam und leise nahmen sie ihre Gespräche wieder auf. Tom beeindruckte die schwankende Stimmung nicht. »Was liest du denn?«, wollte ich von ihm wissen.
Seine haselnussbraunen Augen leuchteten auf, noch immer lag eine Hand auf dem dunklen Hardcovereinband. Er tippte mit dem Finger darauf. »Es ist ein Kriminalroman, der in der Zukunft spielt. Äußerst spannend. Solltest du unbedingt lesen.«
»Für Krimis hatte ich noch nie viel übrig.« Es reichte, mit einer Mom zusammenzuleben, die bei dem im New Scotland Yard residierenden Metropolitan Police Service, auch liebevoll The Met genannt, arbeitete. Da kamen genug gruselige und blutige Geschichten zusammen.
»Banause«, witzelte Tom und lachte. Ich rollte amüsiert mit den Augen, weil er mir das jedes Mal vorwarf, wenn ich eine seiner Empfehlungen ausschlug.
Tom war mir vor eineinhalb Jahren von der Musenagentur als Mentor und Vermittler zugeordnet worden. Gemeinsam mit mir kümmerte er sich um die Aufträge, die ich zugeteilt bekam. Denn es gab einige Ecken im Litersum, die mir vorenthalten wurden. Unter anderem der Knotenpunkt, von dem aus man in die Buchwelten anderer Länder gelangte, und die Agentur, die man über diesen erreichte. Dorthin ging Tom für mich. Und das war mir ganz recht. Denn auch wenn ich neugierig auf das Litersum war, so wollte ich doch nicht zu tief darin eintauchen, um nicht Gefahr zu laufen, die lauernde Finsternis in mir zu erwecken. Ja, das klang dramatisch, aber wenn der eigene Vater einer Tragödie entstammte, konnte man gar nicht vorsichtig genug sein.
Ich fischte Evas Akte aus meiner Handtasche und legte sie vor Tom auf den Tisch. »Auftrag erfolgreich ausgeführt.«
Tom zog den Klappordner aus Papier zu sich und nickte zufrieden. »Ich werde sie gleich morgen früh in die Agentur bringen. Mrs Patton wird sich freuen.«
»Und das ist das Wichtigste, nicht wahr?«, sagte ich und versuchte nicht einmal, den Spott und das Missfallen in meiner Stimme zu verbergen.
Mrs Martha Patton, die gemeinsam mit ihrem Mann Robert die Musenagentur leitete, war die Sorte Frau, die zum Lachen in den Keller ging. Seit sie meine Mom und mich an meinem achtzehnten Geburtstag aufgesucht hatte, um mir von meiner Musengabe zu erzählen, konnte sie mich nicht ausstehen. Sie war mir gegenüber immer unfreundlich, fauchte mich regelrecht an, wenn ich eine Frage stellte, und sie hatte mir von Anfang an klargemacht, dass ich im Knotenpunkt und in der Agentur nichts zu suchen hatte. Vielleicht dachte sie, dass ich alle guten Musen küssen und den Ruf ihrer Agentur ruinieren könnte. Falls es möglich war, dass meine Gabe bei ihnen irgendetwas ausrichtete. Vielleicht passte ihr auch mein Gesicht nicht. Ich hatte es noch nicht herausgefunden, trotzdem hielt ich mich an ihre Ansagen und stellte nicht zu viele Fragen. Das war besser für uns alle.
»Vom Stirnrunzeln bekommst du Falten«, tadelte mich Tom spielerisch und wedelte mit einer Hand vor meinem Gesicht herum.
»Ich habe gerade an Mrs Patton gedacht«, gestand ich und rieb mir über das Gesicht, um mich zu entspannen. Es half nicht viel.
»Ah, verstehe«, sagte er und zwinkerte. Um seinen Mund lag ein mitfühlender Zug. Er kannte meine Meinung über sie. Obwohl er es aus Höflichkeit nicht zugab, wusste ich, dass er sie insgeheim genauso wenig mochte. Auch er spannte sich in ihrer Anwesenheit an und atmete erleichtert auf, wenn Mrs Patton uns den Rücken kehrte. Ihr Mann war wohl um einiges netter, aber ihn hatte ich noch nie persönlich kennengelernt und musste mich deshalb nur auf das verlassen, was Tom mir von ihm erzählte. Hätte doch bloß er uns damals aufgesucht und mir eröffnet, dass ich Ideen auslöschen konnte. Vielleicht wäre es dann ein kleinerer Schock gewesen. Aber er übernahm andere Aufgaben in der Agentur.
Tom seufzte und trank einen Schluck Tee. »Jedenfalls werde ich die Akte zurückbringen und mich melden, wenn ich einen neuen Auftrag für dich habe. Mittlerweile kann ich sogar SMS schreiben!« Er richtete sich stolz auf.
»Das will ich sehen!«
Tom kramte das für unsere Verhältnisse steinzeitliche Handy hervor, das die Agentur ihm zur Verfügung gestellt hatte, um sich über die unterschiedlichen Welten hinweg mit mir in Verbindung zu setzen, und tippte los. Mein Pendant dazu war mit Touchscreen und Internetempfang um einiges moderner. Ich zog es aus meiner Handtasche und wartete. Wie genau die Verbindung zwischen den Welten über die Handys funktionierte, wusste ich nicht, es war auf jeden Fall Magie im Spiel. Die Agentur hatte sich bestimmt in einer Buchwelt bedient. Der Austausch zwischen den Welten war wie alles andere streng reglementiert, aber nicht grundsätzlich verboten. Vor allem nicht für Mnemosyne und ihre Agentur, die man quasi als Regierung des Litersums bezeichnen konnte.
Und tatsächlich, eine Minute später piepte mein Handy und kündigte eine SMS an.
Hallo Malou.
»Sehr gut«, lobte ich Tom und steckte das Gerät weg. »Wenn der nächste Auftrag steht, melde dich auf diesem Weg. Dann kannst du noch ein bisschen üben und wirst schneller.«
Doch Tom hörte mir nicht mehr zu. Er schielte sehnsüchtig auf seinen Krimi.
Ich grinste. Diesen Blick kannte ich. Zumindest wusste ich, wie er sich fühlte. Neid pikte mich in der Brust. »War wohl gerade sehr spannend, was?«
Er seufzte, sah aber nicht auf. »Kann man so sagen. Was aber nicht heißt, dass ich dich loswerden will«, erwiderte er entschuldigend und schaffte es doch noch, den Blick zu heben.
»Schon okay. Ich verstehe das. Es geht nichts über ein gutes Buch. Dann lasse ich euch beide mal wieder allein.« Ich erhob mich und schob den Stuhl an den Tisch zurück. Stell dich niemals zwischen einen Leser und sein Buch, sagte Emma, eine Freundin von mir, immer. Das geht meistens nicht gut aus.
Tom grinste und klemmte sich wieder hinter seinen Krimi. »Bis bald!«, presste er noch hervor, und schon war er wieder in der Geschichte verschwunden. Bildlich gesehen, nicht wortwörtlich. Dafür musste man nach wie vor durch Türen gehen.
Ich hatte gerade die Sitzecke verlassen und steuerte auf den Ausgang zu, als jemand meinen Namen rief.
»Malou, warte!« Bevor ich mich der Stimme hinter mir zuwandte, sah ich noch, wie sich Mrs Badham in meine Richtung umdrehte und einen sauertöpfischen Gesichtsausdruck aufsetzte. Laute Rufe mochte sie gar nicht gern. Über meine Schulter hinweg funkelte sie die Schuldige bitterböse an und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf ihren PC. Aua, der Blick musste wehgetan haben. Doch als ich mich umwandte, schmunzelte ich. Es war Emma Holmes, die nach mir gerufen hatte. Als hätte mein Gedanke von eben sie heraufbeschworen.
Wenn es einen Menschen auf der Welt gab, der sich von Mrs Badham nicht beeindrucken ließ, dann Emma. Genau wie ich war sie seit knapp eineinhalb Jahren als Anti-Muse unterwegs. In Wirklichkeit hieß sie nicht Holmes, sondern Miller. Aber Emma war der größte Sherlock-Holmes-Fan, den ich kannte, und sie eiferte ihm nach, wo sie nur konnte. Das ging so weit, dass sie manchmal viktorianische Klamotten und eigentlich immer einen Deerstalker-Hut trug, unter dem ihre blonden Locken hervorlugten. In dem halben Jahr, in dem ich sie kannte, hatte ich sie nie ohne dieses Accessoire gesehen. In ihrer Handtasche steckte eine Lupe und sie hatte sich mittlerweile einen Namen als Detektivin gemacht, die Fälle aller Art in der Buch- und Menschenwelt löste.
Ihre Eltern, oder genauer gesagt ihre Mom und ihr echter Stiefvater, betrieben eine Privatdetektei, in der Emma ebenfalls arbeitete. Die Millers waren Consultants für The Met, und auch Emma mischte bei dem einen oder anderen Fall mit.
Sie war quasi von klein auf mit Rätseln aufgewachsen und unglaublich gut darin geworden, sie zu lösen. Sie wohnte wie ich noch bei ihren Eltern und studierte Forensische Wissenschaften. Sobald sie damit fertig war, wollte sie als vollwertiger Partner in der Detektei einsteigen.
»Hey, Emma«, grüßte ich sie. »Bist du gerade geschäftlich unterwegs?« Sie umarmte mich und schien außer Puste. Emma war immer in Bewegung und der Typ Mensch, der Espresso eher zum Runterkommen trank. Wenn sie sich nicht ganz und gar dem Earl Grey verschrieben hätte. Ihre Wangen waren leicht gerötet, der Deerhunter-Hut hing etwas schief und sie rückte ihn zurecht.
»Jep«, sagte sie und grinste. »Ich bin einem gestohlenen USB-Stick auf der Spur.«
»Sind da wichtige Unterlagen drauf?«
»Seeehr wichtige«, flüsterte sie übertrieben dramatisch. »Darauf befinden sich ganz viele Fotos von Cupcake.«
»Will ich wissen, wer Cupcake ist?«
»Nein, ich glaube nicht. Das tut jetzt auch nichts zur Sache. Ich wollte dich fragen, ob du Lust hättest, nächste Woche ins Kino zu gehen.« Ihre Augen strahlten.
»Welcher Film?«
Ihr Grinsen wurde noch breiter und ich ahnte, worauf es hinauslief. Ich hob eine Hand.
»Okay, sag nichts. Entweder es ist etwas mit Benedict Cumberbatch, Sherlock Holmes oder … einem der Hemsworth-Brüder, richtig? Aber egal, was es ist, ich bin dabei.«
»Sehr schön.« Emma klatschte in die Hände. »Lass dich überraschen. Ich schick dir die weiteren Infos. Jetzt muss ich los. Mach’s gut!« Und schon war sie an mir vorbeigesaust und auf dem Weg zum Hauptausgang, dem Verbrecher dicht auf der Spur. Die Buchcharaktere konnten Anti-Musen wie Emma und mich nicht ausstehen, aber sie waren dennoch pragmatisch genug, um Emma um Hilfe zu bitten, wenn sie sie brauchten. Denn ab und an kam es vor, dass Figuren Regeln brachen und Gegenstände aus anderen Buchwelten mit in ihre eigene nahmen. Das war eigentlich strengstens verboten, aber da es keine Polizei oder Ähnliches im Litersum gab, mussten die Bestohlenen einen anderen Weg finden, um ihre Besitztümer zurückzuerlangen. Emma hatte das erste Mal, als einer der Charaktere sie angesprochen hatte, ablehnen wollen, dann jedoch erkannt, wie wertvoll eine solche Zusammenarbeit sein konnte. Statt mit Geld, das wir von den Buchcharakteren ohnehin nicht hätten annehmen dürfen, ließ sie sich mit Informationen über das Litersum bezahlen. Dadurch hatte sie schon eine beachtliche Sammlung an Wissen erlangt. Manche Informationen waren gewichtiger als andere, aber für Emma kam jedes Puzzlestück des Litersums Gold gleich. In dieser Hinsicht unterschieden wir uns grundlegend. Sie wollte so viel wissen wie möglich, ich nur so viel wie nötig.
Ich schlenderte noch eine Weile durch die Regalreihen, genoss den wohligen Geruch von Papier und Tinte. Es gab so viele Bücher, dass man tatsächlich die Qual der Wahl hatte, wenn man auf der Suche nach Lesestoff war. Ohne hinzusehen, strich ich mit den Händen im Vorbeigehen über die Buchrücken und zog zufällig eines heraus. Dem Einband und Titel nach handelte es sich um einen Fantasyroman. Der Klappentext klang vielversprechend. Ich las ein paar Sätze des ersten Kapitels, ehe sich mein schlechtes Gewissen wieder regte. Diese Idee war nur entstanden, weil nicht jemand wie ich sie zerstört hatte. Ich sah auf die nun leere Stelle im Regal, aus der ich das Buch herausgezogen hatte. Dort klaffte ein Loch, das den Auswirkungen meiner finsteren Magie ähnelte, die Ideen auf ewig verschluckte. Ich schob den Roman vorsichtig zurück an seinen Platz und ging nach Hause.