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Fürstenkrone
– 166 –

Lass die anderen reden

Roman um eine ungewöhnliche Liebe

Gitta Holm

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-740-7

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Das Zirkuszelt war fast leer. Hoch oben in der Kuppel saß Carlos Carelli, der tollkühne Luftakrobat, und wiegte sich sanft auf seinem Trapez hin und her. Er blickte auf die Frau im schwarzen Trikot, die in der Manege stand. Mit dem Rücken an eine hölzerne Scheibe gelehnt, wartete sie bewegungslos auf den ersten Wurf des Messerwerfers.

Das Messer blitzte nur leicht auf, als es durch die Luft flog und sich mit dumpfem Schlag in das Holz bohrte. Bella blinzelte, aber nur einmal. »Eins«, flüsterte sie.

Der Messerwerfer wählte eine neue Klinge, ließ den Finger daran entlanggleiten. Dann schleuderte er mit einer schnellen Drehung auf dem Ballen seines linken Fußes, kaum das Ziel anpeilend, das Messer nach dem Brett. Für den Bruchteil einer Sekunde schien es in der Luft zu hängen, bevor es die andere Seite neben dem Kopf der Frau im schwarzen Trikot traf. »Zwei«, zählte Bella dann wieder.

Tolle Frau, dachte Carlos Carelli auf seinem Trapez, während er mit steigender Bewunderung die spannende Darbietung der Zirkusnummer verfolgte. Und dabei ist sie keineswegs mehr taufrisch, sondern bestimmt schon etliches über dreißig. Welche Frau in diesem Alter wagt es, sich solch einer gefährlichen Situation auszusetzen? Mein Trapezakt ist auch nicht ohne Risiko, aber immerhin bin ich erst neunzehn. Da nimmt man einiges in Kauf.

Das nächste Messer traf das Brett wie ein Blitz, fast Bellas Hüfte streifend. Da durchdrang eine Stimme die herrschende Stille: »Du wirfst zu nah!«

Wütend drehte Pietro Farkas, der Messerwerfer, sich um.

Joschka, der Zwerg, der bislang stumm an der Rampe gestanden hatte, starrte ihn aus angsterfüllten Augen an.

»Schon wieder du!«, zischte der Messerwerfer wütend. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst mich nicht beim Training stören?«

Demütig duckte sich der Zwerg. Pietro Farkas wandte sich Bella zu. Sie lächelte. »Mach nur weiter, Pietro, und wirf das letzte Messer.«

Ihr Lächeln schien den Mann mit der artistischen Treffsicherheit augenblicklich zu besänftigen. Das Messer landete genau am rechten Fleck. »Schluss für heute!«, sagte er und begann, seine Utensilien sorgsam einzusammeln.

»Ich geh mich umziehen«, sagte Bella Zarretti, die eigentlich Ilse Petersen hieß, und verließ die Manege.

»Es tut mir so leid«, stieß Joschka heraus. »Ich hatte Angst – er trifft dich!«

Bella strich ihm übers Haar und lachte. Sie mochte den kleinen Kerl gern. »Unkraut vergeht nicht!«, scherzte sie umbekümmert und begab sich zu ihrem Wohnwagen.

Sie hatte gerade ihr Trikot abgestreift und war in ihren bequemen flauschigen Bademantel geschlüpft, als ihr Blick auf das Titelblatt eines Pariser Modemagazins fiel. Es war ein Hochzeitsfoto, und die Braut, die ihr in einem Traum aus Weiß entgegenlachte, war ihre Tochter Marietta. Der Bräutigam hieß Daniel von der Meden, war ein österreichischer Baron und Erbe eines Millionenvermögens.

Bella bekam weiche Knie. Sie musste sich setzen, sosehr hatte die freudige Nachricht sie getroffen. Sie überhörte das Klopfen. Erst als jemand mit lauter Stimme ihren Namen rief, fuhr sie erschrocken hoch und riss die Wohnwagentür auf.

»Komm herein, Silvio!«, forderte sie einen breitschultrigen Riesen mit eisgrauen Haaren auf. Es war der Zirkusdirektor persönlich, der ihr seinen täglichen Besuch abstattete.

»Hallo, Bella, wie geht’s?«, fragte er und ließ sich in einen bequemen Sessel fallen. »Du strahlst ja wie eine Wunderkerze«, stellte er fest. »Hast du im Lotto gewonnen?«

»So etwas Ähnliches«, gab sie zurück. »Das Kind hat geheiratet.«

»Das Kind? Welches Kind?«

»Na, hör mal. Du tust, als ob ich ein halbes Dutzend davon hätte. Marietta hat geheiratet.«

Silvio Bertini richtete sich steil auf. »Das darf doch wohl nicht wahr sein.«

»Und ob es wahr ist. Hier steht es dick gedruckt auf Französisch. Du kannst doch Französisch, oder nicht?«

»Genug, um mich verständlich zu machen. Aber sag’s mir in schlichtem Deutsch.«

»Also: Sie hat einen österreichischen Baron geheiratet, der Daniel von der Meden heißt. Und reich ist er auch noch. Millionenschwer. Mir ist ganz flau im Magen. Stell dir vor: Ich bin Schwiegermutter, Silvio.«

»Und warum erfährst du aus einem Klatschmagazin, dass deine Tochter geheiratet hat?«, erkundigte sich Bertini argwöhnisch. »Für gewöhnlich pflegt man die eigene Mutter zur Hochzeit einzuladen.«

Bella fuhr sich durch die schwarzgelockten Haare. »Ganz bestimmt hat sie mich eingeladen«, sagte sie leicht entrüstet. »Aber vielleicht hat sie noch an unsere alte Gastspieladresse geschrieben, und der Brief wird mir nachgesandt.«

»Mach dir nichts vor, Bella«, sagte Bertini hart. »Ich will dir sagen, wo die Einladung zur Hochzeit für dich geblieben ist.«

»Wo denn?«

»Bei allen anderen nicht abgeschickten Einladungskarten. Deine bezaubernde kleine Tochter hat sie niemals abgeschickt.«

Bella sah ihren alten Freund und Berufskollegen erschrocken und vorwurfsvoll an.

»Das darfst du nicht sagen, Silvio. So ist Marietta nicht. Sie ist ein Zirkuskind. Niemals würde sie so etwas tun. Bestimmt nicht. Darauf könnte ich tausend Eide schwören.«

»So? Dann sieh nur zu, dass du keinen Meineid leistest. Sie war ein Zirkuskind, bis du sie in diesem Elite-Internat von Millionärstöchtern hast verderben lassen.«

»Verderben?« Bella sprang auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Marietta hat so viel gelernt, wie du in deinem ganzen Leben nicht in deinen Hirnkasten hineinbekommst, mein Lieber. Sie spricht akzentfrei Englisch und Französisch und –«

»Na, hoffentlich hat sie ihre Muttersprache nicht verlernt«, fiel der Riese ihr ins Wort.

»Sie ist eine richtige Dame geworden. Und jetzt sogar eine echte Baronin!«, überstimmte ihn seine langjährige Freundin.

»Schön und gut, Bellalein. Aber Aristokratinnen schämen sich vielleicht, eine Mutter zu haben, die beim Zirkus ist und Abend für Abend als Zielscheibe für einen Messerwerfer in der Manege auftritt.«

»Marietta ist nicht so. Sie würde sich niemals ihrer Mutter schämen«, beharrte Bella leidenschaftlich. »Du bist heute richtig eklig, Silvio.«

»Tut mir sehr leid. Ich hab’s nicht so gemeint«, grummelte er reuevoll. »Vielleicht kommt es daher, weil ich selbst so große Sorgen habe.«

Sofort schwenkte Bellas Stimmung um, und sie sah den alten Weggefährten mitfühlend an.

»Was ist los? So rede schon. Können wir die Platzmiete nicht bezahlen? Oder ist jemand von der Truppe ausgebüxt?«

»Schlimmer. Wir stehen kurz vor der Pleite.«

»Ach, du großer Gott!« Bella hielt den Atem an. »Das ist ja entsetzlich!« Sie vergaß das Hochzeitsfoto auf dem Modemagazin, den unbekannten Schwiegersohn, ja, sogar die Tochter, die vergessen hatte, die eigene Mutter zur Hochzeit einzuladen. All das war für Bella Zarretti, die Vollblutartistin, zwar wichtig, aber es bildete jetzt nicht mehr die Hauptsache ihres Lebens. Marietta war versorgt. Marietta hatte bekommen, was die Mutter ihr immer gewünscht hatte. Jetzt galt ihre einzige Sorge dem Zirkus Bertini.

»Ich habe noch einige Ersparnisse auf der Bank«, sagte sie nach kurzem Überlegen. »Die Versicherungssumme, die Max vor seinem Unfalltod abgeschlossen hatte, war ziemlich hoch. Was davon übrig geblieben ist, kannst du von mir aus haben. Hauptsache, der Zirkus bleibt uns allen erhalten.«

»Das ist sehr lieb von dir, Bella, aber ich fürchte …« Er kam nicht weiter. Harte Fäuste hämmerten gegen die Wohnwagentür.

»Herr Direktor! Herr Direktor! Kommen Sie schnell!«, rief eine raue Männerstimme aufgeregt.

Silvio Bertini sprang hoch und riss die Tür auf. »Was ist los?«

»Satanas ist beim Longieren gestürzt und hat sich den Knöchel gebrochen.«

»Auch das noch«, stöhnte der breitschultrige Riese. »Wenn die Pferdenummer ausfällt, sind wir wirklich Matthäi am letzten. Tschau, Bella. Wir reden später weiter.« Damit sprang er trotz seiner Körperlänge leichtfüßig über die Holzstufen und ließ sich von dem Stallburschen, der ihn alarmiert hatte, zur Unfallstelle seines Lieblingstrabers führen.

*

Die Parterreakrobaten hatten ihre halsbrecherische Nummer mit Bravour beendet und verließen unter den aufpeitschenden Rhythmen der Zirkuskapelle die Manege.

Der Zwerg Joschka, als Clown mit roter Nase und weiß geschminkten Wangen kaum wiederzuerkennen, kam auf einer riesigen Silberkugel in die Manege gerollt und lieferte seine zwerchfellerschütternden Späße ab, die besonders die jüngsten Zuschauer zu Lachstürmen herausforderten. Er heizte die Stimmung der Zirkusbesucher in den Pausen zwischen den einzelnen Darbietungen gewaltig an.

»Toi-toi-toi!«, zischelte der Zwerg seiner angebeteten Freundin Bella beim Abgang zu, bevor sich die Scheinwerferkugel auf die Frau im schwarzen Trikot und den berühmten Messerwerfer richteten. Sie bildeten die Hauptattraktion des Programms.

Atemlose Stille herrschte im weiten Zirkusrund, als Pietro mit seiner bis zur Höchstspannung gesteigerten Darbietung begann. Bella, vollschlank, aber wohlproportioniert, bot mit ihrem schwarz gelockten Haar, ihrem aparten Gesicht mit dem Grübchen am Kinn, einen überaus reizvollen Anblick.

Elf Messer hatten die bewegungslos dastehenden Artistin bereits haarscharf mit einem Zentimeter Abstand eingekreist, als der Mann mit der unglaublichen Treffsicherheit die zwölfte Klinge in die Höhe hob. Der Scheinwerfer beleuchtete sie grell. Dann kam der letzte und schwierigste Wurf. Das Messer hatte die hölzerne Zielscheibe um Haaresbreite über Bellas Kopf getroffen. Eine Beifallssalve brauste durch das Zelt, nachdem das Publikum die Schrecksekunde überwunden hatte. Die Musik dröhnte.

Bella trat schnell beiseite und reichte Pietro, dem Messerwerfer, die Hand. Beide verbeugten sich. Immer wieder. Nach allen Seiten. Der Applaus wollte nicht enden, bis die Helfer kamen, um die Manege für die nächste Nummer herzurichten.

»Irre ich mich, oder warst du heute Abend ein wenig nervös?«, fragte der treffsichere Artist seine Partnerin. »Ich sah dich zweimal mit der Augenbraue zucken.«

»Vielleicht werde ich für diesen Job allmählich zu alt.«

»Unsinn. Du wirst niemals alt.«

»Danke, Pietro. Das hast du nett gesagt.«

»Gehen wir zusammen eine Kleinigkeit essen?«

»Nein, du. Heute nicht. Ich muss noch mit dem Direktor reden. Der Gute hat einen Haufen Sorgen. Tschau. Wir sehen uns morgen.«

Eine halbe Stunde später saßen sie in einem Bistro des Pariser Vorortes, in dem ihr buntes Zirkuszelt auf einer großen Festwiese aufgeschlagen stand. Hier, in der verräucherten Kneipe, in der sich die Anwohner zu Abendschoppen und angeregtem Geplauder trafen, setzten Bertini und Bella ihr Gespräch vom Vormittag fort.

»Wie gesagt, du kannst über meine Ersparnisse verfügen, Silvio. Ich glaube, es sind noch etwas über siebentausend Euro.«

»Kommt nicht infrage«, schüttelte der Zirkusdirektor den Kopf. »Denkst du, ich würde dich um deinen Notgroschen bringen? Außerdem wäre es nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Was glaubst du, was für Unsummen bei einem Unternehmen wie dem meinigen auf dem Spiel stehen?« Er langte in seine Brusttasche und zog einen Haufen Papiere heraus. »Hier. Sieh dir das an. Alles unbezahlte Rechnungen. Dagegen sind deine paar Tausender Peanuts!« Er machte eine wegwerfende Geste. Bei sich dachte er: Ich bin ein Grobian. Sie meint es so gut. Und ich hab sie aufrichtig gern. Vielleicht liebe ich sie sogar. Verdammt noch eins.

»Und wenn du dir von der Bank einen Kredit geben lässt?«

»Haha«, lachte er unfroh. »Da kennst du die Banker schlecht. Die verlangen von dir Sicherheiten, bevor sie auch nur einen müden Euro herausrücken. Nein, da ist leider nichts zu holen.«

»Und was hast du vor?«

»Ich werde den Zirkus wohl verkaufen.«

»Bist du verrückt? Dein Lebenswerk verkaufen?« Sie starrte ihn an, als zweifelte sie an seinem Verstand. »Das kann nicht dein Ernst sein, Silvio. Das glaube ich einfach nicht.« Sie schüttelte den dunklen Lockenkopf, als könnte sie mit dieser Geste einen bösen Dämon vertreiben. »Was fängst du ohne deinen Zirkus an?«

»Ah, ich werde wohl künftig Fische angeln. Nach einem Leben voller Stress hat man etwas Ruhe und Beschaulichkeit verdient.« Er rieb sich über die müden Augen. »Nein, Bella, es hilft alles nichts. Ich muss verkaufen … Die Nach­mittagsvorstellungen sind halb leer. Und die Abendvorstellungen sind nur an den Wochenenden gut besucht. Die Leute sind zirkusmüde. Sie haben ja Fernsehen. Da könnten sie über Satellit weltberühmte Zirkusvorstellungen empfangen und dabei noch gemütlich ihr Bier trinken.«

Seine Hoffnungslosigkeit erschreckte sie mehr als die bevorstehende Arbeitslosigkeit. Sie kannte Silvio Bertini seit über zwanzig Jahren. Schon zu Lebzeiten ihres Mannes, mit dem sie in einem international bekannten Drahtseilakt auftrat, waren sie alle gute Freunde gewesen. Alle Freuden und Leiden hatten sie gemeinsam getragen.

Silvio war nicht nur ein hervorragender Artist – seine Pferdedressurnummer hatte Weltformat –, er war auch ein brillanter Organisator. Sein ganzes Herz hing an seinem Zirkus. Nie hatte er den Mut verloren. Selbst in Krisenzeiten hielt er eisern durch. Nun hatte er gesagt, dass er verkaufen müsse. Und das musste die Wahrheit sein.