Das Mädchen, das die Träume webt

Das Mädchen, das die Träume webt

Carolin Herrmann

Drachenmond Verlag

Für Silke

und

für Lila


Weil ihr immer mit mir geträumt habt.

Where does a dream go

when it’s forgotten?

Inhalt

Prolog

1. Sie

2. Sie

3. Sie

4. Nathan

5. Nathan

6. Sie

7. Nathan

8. Nathan

9. Sie

10. Nathan

11. Nathan

12. Ever

13. Ever

14. Nathan

15. Ever

16. Nathan

17. Ever

18. Ever

19. Ever

20. Ever

21. Nathan

22. Nathan

23. Ever

24. Ever

25. Ever

26. Ever

27. Ever

28. Nathan

Epilog

Danksagung

Prolog

Nathan Clark

Es muss ungefähr drei Uhr morgens sein. Ich bin mir nicht mehr so sicher. Überhaupt bin ich nicht sicher, wie es mir geht oder wer ich eigentlich bin. Die Party ist ziemlich eskaliert. Es war alles cool, die Leute waren gut drauf, der DJ hat gut aufgelegt und es war nicht zu viel Alk. Aber dann kam Emily Winters mit ihrem Freund und der hatte diese Pillen dabei. Eine kleine Plastikdose mit blauen Pillen, die er aus seiner Jackentasche geholt hatte.

Ich lege Ben den Arm um die Schultern, als ich merke, wie ich zu schwanken beginne und kaum einen Fuß vor den anderen setzen kann. Mein eigenes Lachen klingt rau und fremd in meinen Ohren.

Keine Ahnung, was der Kerl uns angedreht hatte. Er meinte, es wäre völlig harmlos und Emily wollte unbedingt, dass wir es ausprobieren. Es macht alles so schön bunt, hat sie geschrien und gelacht und die ganze Zeit ihren Freund umarmt und überschwänglich geküsst. Ich dachte, es wäre witzig.

Es war ja auch witzig, bis sich dann alles gedreht hat. Gott, mir ist schrecklich schwindelig und das Deckenlicht flimmert.

Ich schaffe es kaum, den Kopf zu heben. Der Boden unter meinen Füßen vibriert und die Wände schaukeln hin und her, wabern und zerlaufen wie flüssig gewordenes Wachs. Ich blinzele und kann nicht sagen, ob es passiert oder ob ich mir das einbilde.

Ben reißt die Tür auf. Eisige Luft beißt in mein Gesicht und macht meinen Verstand klarer. Ich atme tief ein und die klirrende Kälte lässt meine Lunge gefrieren. Trotzdem ist es in meinem Kopf viel zu heiß und ich fühle mich, als würde er gleich platzen.

»Und du bist dir sicher, dass ich dich nicht fahren soll?«

Ben macht sich von mir los und packt meine Oberarme. Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe nach oben zu den Sternen, die funkeln und glühen, kaum größer als das spitze Ende einer Stecknadel.

Bens Gesicht verzerrt sich und zieht sich in die Länge. Seine Stimme klingt seltsam und gedämpft, als wären wir unter Wasser.

»Nathan!«

Er verpasst mir eine heftige Ohrfeige. Für einen winzigen Moment ist alles klar und deutlich, dann verschwimmt meine Umgebung wieder. Aus dem Haus hinter uns dringen laute Musik und das Jubeln der anderen. Keiner denkt daran zu gehen.

»Alter, ich ruf dir ein Taxi, klar?«

Ich runzele die Stirn und schiebe meinen Kumpel von mir.

»Nein, Mann, meine Mom rastet aus. Ich komme klar.«

»Ey, Benni! Geile Party!«, brüllt jemand. Wir drehen uns um und entdecken einen Jungen, deutlich älter als wir, mit einem Plastik­becher in der Hand. Er prostet uns zu und leert ihn dann in einem Zug. Ben stöhnt. Angefangen hat das Ganze mit ein paar Leuten aus der Schule, dann sind immer mehr gekommen und haben irgend­welche anderen Freunde mitgebracht und jetzt kenne ich von der Hälfte der Personen den Namen nicht.

Und das will für so ein Kaff wie Westworgh schon was heißen.

»Ich kann dich so nicht fahren lassen«, meint Ben, als der Typ verschwunden ist. Wer das auch war, vermutlich kann er sich morgen eh nicht mehr dran erinnern. Obwohl sich alles in meinem Kopf dreht und ich das Gefühl habe, als müsste ich mich gleich übergeben, winke ich ab.

»Kein Problem. Wir sehen uns morgen.«

»Bin mir nicht sicher. Ich glaub, das gibt einen ganz schönen Kater.«

Er kratzt sich am Hinterkopf und beobachtet mit zweifelndem Blick, wie ich die Autotür des schwarzen Volvos öffne und mich schwerfällig auf den Fahrersitz fallen lasse. Ich ziehe die Nase hoch und stecke den Schlüssel ins Zündschloss.

Ben klopft ans Fenster.

»Ehrlich, ich glaube, du bist total dicht. Oder high. Beides ist schlecht, wenn du fahren willst.«

»Du bist nicht besser. Ich wette, du kannst deinen Namen nicht schreiben und da gibt’s nur drei Buchstaben.«

»Nate, das ist wahnsinnig. Was ist mit den Bullen?«

Ich starte den Motor und zucke mit den Schultern: »Die pennen. Jedenfalls hier in Westworgh. Jetzt geh zurück, sieht aus, als würde Janett Parker tanzen.«

Bevor er noch etwas sagen kann, trete ich aufs Gaspedal. Ich rausche davon, die Bäume rasen an mir vorbei und das Haus wird kleiner und kleiner. Die Lichter werden zu flimmernden Punkten und bald sind sie nicht mehr zu erkennen.

Bis zu mir ist es nicht weit. Doch selbst wenn man Polizisten in unserem Ort nur selten zu Gesicht bekommt, biege ich von der breiten Straße ab und wähle einen schmalen Schleichweg durch Green Darkness, den Wald am Stadtrand. Vor irgendwelchen älteren Damen, die aus dem Fenster gucken und die Straße beobachten, ist man zu keiner Zeit sicher.

Die Bäume stehen dicht aneinander und es hat zu regnen begonnen. Die Tropfen trommeln laut auf das Autodach und es dröhnt in meinen Ohren.

Ich schalte die Scheibenwischer ein, doch auch die können nicht gerade viel ausrichten, als hektisch hin und her zu klappen. Im Licht der Scheinwerfer tanzen die Regentropfen. Sie prasseln senkrecht auf mich nieder und obwohl die Bäume hoch sind, hält ihr dichtes Blattwerk zwar Mondlicht, jedoch nicht den Regen ab, sodass die Straße rutschig ist und ich das Lenkrad fest umklammern muss.

In meinem Kopf ist dichter Nebel und ich kann kaum klar denken. Ohne dass ich es kontrollieren kann, macht mein Auto einen Schlenker. Ich zucke zusammen. Beinahe wäre ich geradewegs in einen Baum gekracht.

In letzter Sekunde schaffe ich es, den Lenker herumzureißen und wieder auf die richtige Straßenseite zu fahren. Ich bin einfach so fertig! Völlig entkräftet stütze ich den Kopf in meine Hand, den Ellenbogen an das kühle Fenster gelehnt. Die Scheibe ist eiskalt. Mit einem Mal bin ich schrecklich müde und kann die Augen kaum aufhalten.

Wie lange ist dieser Weg denn? Es kommt mir so vor, als würde der Wald immer größer und dichter von Bäumen bewachsen werden. Als nähme er gar kein Ende und die Straße würde stetig schmaler.

Der Regen bildet ein dumpfes Metrum zu meinen Gedanken und wieder treibe ich zwischen Realität und Einbildung.

Plötzlich springt das Radio an.

Ich schrecke auf. Wie ist das passiert? Ich habe keine Taste gedrückt! Verwirrt lehne ich mich vor. Es rauscht und knackt fürchter­lich. Grünes Licht erleuchtet das Display, aber dort ist kein Name oder Sender zu erkennen.

Ich kneife die Augen zusammen. Meine Fresse, mir tut der Kopf weh und alles ist so anstrengend und erschöpfend. Das Knacken schmerzt förmlich in den Ohren – kein Wunder, dass man hier mitten im Wald keinen Empfang hat. Überhaupt hat man in Westworgh nicht außerordentlich viel Empfang. Ganz leise meine ich unter dem Knistern eine Melodie zu vernehmen. Irritiert drehe ich das Radio lauter, das Rauschen nimmt zu, doch jetzt höre ich es ganz deutlich.

Ein hoher Gesang, begleitet von beinahe klagenden Tönen. Ich kann es nicht erklären, mir läuft ein Schauer über den Rücken und ich bekomme vom Zuhören Gänsehaut. Tiefere Stimmen setzen ein, sie sind leiser und murmeln unverständliche Worte. Ich drehe noch ein wenig an dem Lautstärkeregler. Der Gesang übertönt die dunklen Stimmen, während die Melodie auf einmal bedrohlicher und düsterer wird.

Ich versuche zu verstehen, was da gesungen wird.


The years are over now it’ll be

Don’t try to hide or to flee

Soon you will see

Her.


When the leaves fall from the tree

And it rains like the sky bleeds

That’s when you meet

Her.


Ich blicke auf.

Oh mein Gott!

Die Scheinwerfer erfassen eine schemenhafte Gestalt, die mitten auf der Straße steht. Sie trägt ein dunkles Kleid, vollkommen durchnässt vom Regen, sodass es an ihrer Haut klebt. Die Gestalt wirbelt herum. Lange schwarze Haare fliegen durch die Luft. Ein Mädchen.

Ein hübsches Mädchen.

Ihre Augen blitzen auf, das Licht wird von ihnen reflektiert.

Ich bin zu schnell. Viel zu schnell. Ich kann nicht atmen, meine Finger verkrampfen sich, mein Kopf ist wie leer gefegt und mein Herzschlag setzt aus. Nichts schwankt mehr. Ich sehe alles überdeutlich und gestochen scharf.

Ich sehe, wie ich auf sie zurase.

Ich sehe, wie die Regentropfen über ihr blasses, fast weißes Gesicht laufen.

Ich sehe, wie sie den Mund aufreißt und schreit.

Für den Bruchteil einer Sekunde blicken wir einander direkt in die Augen.

1

Sie

Es war dunkel. Das weiß ich noch.

Dann hört es schon auf. Ich treibe in einer unendlichen Dunkel­heit, mal an der Oberfläche des schwarzen Sees, mal im tiefen, undurchdringlichen Wasser. Ich kann nichts erkennen, fühle mich schwerelos und seltsam leicht. Die Erinnerungen wirbeln in meinem Kopf durcheinander, doch ich kann sie nicht fassen, nicht greifen und ein richtiges Bild erhalten.

Sie sind schemenhaft, verschwommen, als wäre ich unter Wasser und würde krampfhaft versuchen, die Augen aufzureißen. Es ist eigenartig, denn es fühlt sich an, als würden sie gar nicht zu mir gehören und nicht richtig in mir sein. Als taumelte ich haltlos durch die schwarzen Fluten und sie mit mir.

Augen blitzen wie glühende Lichter vor mir auf und verschwinden wieder.

Seine Augen.

Sie sind das Einzige, was geblieben ist, das Einzige, was mich hält. Ich müsste mich wohl wundern, wo ich bin und vielleicht sollte ich Angst haben, dass ich in dem schrecklichen Dunkel ertrinke, aber da ist nichts. In mir drin ist kein einziges Gefühl, als wären sie alle aus mir herausgesaugt worden.

Alles, was in mir Platz findet, ist Ruhe. Eine tiefe Ruhe, die mich ausfüllt und jegliche anderen Gedanken verdrängt. Seine Augen schauen mich an und wenngleich es nur Augen sind, geht von ihnen Wärme und Geborgenheit aus. Ich klammere mich an sie, denn außer ihnen habe ich nichts. Sie sind mein Anker, damit ich nicht untergehe und unter den Fluten begraben werde.

Alles, was einmal war, spielt keine Rolle mehr.

Schlafen. Ich möchte einfach nur schlafen.

Doch ich kann nicht, seine Augen halten mich fest und ich darf sie nicht loslassen.

Trotzdem habe ich das Gefühl, als würden sie verblassen, verschwinden. Mit einem Mal erfasst mich eine rasende Angst, ich beginne zu schreien, doch es kommt kein Ton heraus.

Ich sinke tiefer, das Wasser zieht mich nach unten, reißt mich mit sich. Die Wellen schlagen über mir zusammen und rauben mir für einen Moment die Sicht. Ich kreische, strecke die Hände nach der Erinnerung an diese Augen aus. Es gibt keine Erklärung für das. Es ist ein flüchtiger Gedanke, ein leiser Ruf, ein Instinkt.

Ich darf sie nicht verlieren.

Keuchend schnappe ich nach Luft, obwohl da keine mehr ist. Das dunkle Meer nimmt mich in Besitz und ich spüre, je weiter es mich mit sich zieht, desto schlimmer wird das Gefühl. Die Panik, die eiskalte Angst.

Seine Augen geraten in weite, unnahbare Ferne und ich verliere jegliche Kontrolle, die überwältigende Furcht ergreift mich. Schreiend schlage ich um mich, ringe nach Atem, spucke Wasser aus und huste.

Doch das Meer ist unerbittlich. Ich ertrinke und seine Augen verschwinden wie meine Erinnerungen.

Abrupt reiße ich die Lider auf.

Gleißend helles Licht blendet mich und ich kneife sie mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder zusammen. Mein Kopf ist schwer und dröhnt und in meinem Ohr klingt ein nerviges Piepen. Es ist zwar nur ganz schwach zu vernehmen, so eben laut genug, um mich daran zu erinnern, dass es da ist.

Vorsichtig blinzele ich zwischen meinen Wimpern hindurch, um meine Pupillen zu schützen. Ich kann förmlich spüren, wie sie sich nach der Dunkelheit winzig klein zusammenziehen.

Es dauert einige Sekunden, bis aus den unerträglich hellen Strahlen Umrisse und Formen werden, die ich erkennen und zuordnen kann. Ich wage mich kaum zu rühren, solange ich nicht weiß, wo ich gelandet bin, und nur meine Blicke huschen unruhig hin und her.

Es ist still. Verdächtig still. Ich mag Stille, aber gerade jetzt finde ich sie unheimlich, weil ich keinen Anhaltspunkt habe, wo ich gelandet sein könnte.

Ich linse zur Seite. Graue Vorhänge vor einem riesigen Fenster, durch einen schmalen Spalt dringt dämmriges Tageslicht ins Innere. Wahrscheinlich dämmert erst der Morgen. Mein Blick gleitet über die hässlichen Stoffe weiter zu der Wand gegenüber von mir. Sie ist weiß tapeziert und leere Bilderrahmen sind daran aufgehängt worden. Ihre silbrigen Rahmen glänzen und reflektieren das milchige Licht der Lampe an der Decke.

Hinter den Rahmen ist ein gähnend leeres weißes Papier.

Wow. Welch ein kreatives Genie ist denn auf die außergewöhn­liche Idee gekommen?

Von diesen … besonderen Gemälden hängen drei an der Wand. Links von mir führt eine ungewöhnlich breite Tür nach draußen. Sie ist genauso langweilig grau wie die Vorhänge und wirkt auf mich trist und öde.

Hm. Vorhänge, leere Bilder, weiße Wand und eine Tür.

Sagt mir nichts.

Ich schaue an mir herab. Eine weiß-grau gestreifte Bettdecke wurde über mir ausgebreitet, sie ist dünn und hält kaum warm. Ich spüre die leichte Gänsehaut an meinen Armen. Sie ruhen auf der Decke, wobei man an meinen linken Zeigefinger eine Klemme angeschlossen hat. Ein Kabel führt davon zu einem Bildschirm, auf dem eine grüne Linie meinen Herzschlag anzeigt. Ich bin kein Arzt, aber es bilden sich stets gleiche Hügel auf dem EKG und das soll wohl was Gutes heißen.

Daher kommt das gleichmäßige Piepen.

Außerdem trage ich einen verflixt hässlichen Fetzen Stoff, der wohl ehemals weiß gewesen sein soll, jetzt jedoch verwaschen, ausgeblichen und deswegen genauso grau wie alles andere im Raum ist.

Ein beißender, antiseptischer Duft steigt mir in die Nase und ich verziehe angewidert das Gesicht. Der Spender neben der Tür mit diesem ekelig klinisch riechenden Desinfektionszeug gibt dann den letzten Hinweis.

Ich muss im Krankenhaus gelandet sein.

Stöhnend drehe ich meinen Kopf leicht und sofort rast ein brennender Schmerz von meinem kleinen Zeh hoch bis in die Stirnhöhle und ich muss die Zähne fest aufeinanderpressen, um nicht laut aufzuheulen.

Was mache ich im Krankenhaus?!

Ich versuche den Muskeln in meinem Körper zu befehlen, möglichst still zu halten, da jede kleine Bewegung von meinem momentan überempfindlichen Nervensystem protestierend aufgenommen wird.

Zaghaft bewege ich den linken Ringfinger. Als kein weiterer Schmerzstoß folgt, probiere ich vorsichtig die anderen Finger und dann schaffe ich es, beide Hände zur Faust zu ballen und wieder zu lösen.

Die Frage ist – woher stammen die Verletzungen?

Wunderbar – jetzt wäre es gut, sich erinnern zu können, was passiert ist, aber es ist noch schlimmer als unter den dunklen Wellen. Mein Kopf ist leer und schwer und mein Gehirn will sich nicht besonders anstrengen und mir helfen. Ich schließe die Augen, um mich besser konzentrieren zu können.

Selbst das verursacht ein schmerzhaftes Ziehen zwischen den Brauen. Ich fühle mich, als würde ein Teil von mir sich von meinem Körper loslösen. Als wäre ich ein kleiner leuchtender Punkt, der durch meinen Geist wandert und dort nach den Informationen sucht, die ich brauche. Doch da sind überall verschlossene Türen und bleierne Schwärze und der kleine Punkt vermag nicht sie zu öffnen oder aufzuheben. Ich irre umher und finde – nichts.

Die Tür springt mit einem Ruck auf, so plötzlich, dass ich erschrocken die Lider aufreiße und mein Kopf herumfliegt. Keine gute Idee.

Der Schmerz treibt mir förmlich die Tränen in die Augen und ich drücke die Fingernägel in die verletzliche Handfläche.

Eine junge Frau mit Kurzhaarschnitt und einem weißen Kittel kommt herein. Ihre Haare müssen gefärbt sein, denn das Blond wirkt leicht gelblich in der Deckenbeleuchtung. Unter dem Arm trägt sie ein Klemmbrett mit Stift und an ihrer Brusttasche ist ein kleines Schild befestigt:

Fallington.

Aha.

Meine Lippen sind zusammengepresst und mein Blick verschlossen, während ich ihr mit den Augen folge, wie sie den Raum durchquert.

Ihr Lächeln ist gezwungen freundlich, als Krankenschwester muss sie vermutlich ständig so lächeln und sie trägt diese durchsichtigen Handschuhe gegen Bakterien. Außerdem stelle ich von Nahem fest, dass sie überhaupt keine Schminke aufgelegt hat. Deshalb kann man ihre dunklen Augenringe erkennen. Wahrscheinlich hat sie eine Nachtschicht gehabt und ist jetzt müde und fast fertig mit der Arbeit.

Das ist so eine Macke von mir. Ich mache es ständig. Ich schaue mir Menschen überaus genau an und versuche alles an ihnen zu deuten, um mehr über sie zu erfahren und hinter die Fassade zu schauen. Ihr Aussehen, ihre Mimik, Gestik und Sprache.

Miss Fallington (ich glaube nicht, dass sie bereits verheiratet ist) beugt sich zu mir herab und drückt die Mine des Kugelschreibers mit einem Klicken heraus.

»Alles okay?«

Ich will nicken, habe aber Angst, dass es heftig wehtun wird. Mein Hals ist trocken und ich bringe nicht mehr als ein heiseres Krächzen heraus, doch sie schreibt bereits etwas auf das Klemmbrett.

Dann setzt sie sich auf mein Bett und ich will reflexartig zur Seite rücken. Ich mag die Nähe anderer Menschen einfach nicht gern, im Gegenteil. Ich bekomme Platzangst wie in einem zu engen Raum, fühle mich unwohl und habe das Gefühl, entweder weglaufen oder schreien zu müssen.

Deswegen verhärtet sich mein Blick jetzt und ich starre demonstrativ in die entgegengesetzte Richtung. Entweder ist sie tatsächlich so blöd wie blond oder sie ist übermüdet und will nur nach Hause, denn sie reagiert nicht auf mein offensichtliches Unbehagen.

»Du bist von einem Auto angefahren und danach ohnmächtig geworden. Allerdings ist dir außer einer Platzwunde nichts Ernstes zugestoßen.«

Sie kramt eine kleine Taschenlampe hervor und ich schiele unruhig zu ihr hinüber.

»Schau mich bitte an«, sagt sie, dann leuchtet sie mir in die Pupillen und ich muss mich zusammenreißen, um ihren Anweisungen ruhig zu folgen. Ich weiß, sie muss es machen, um zu sehen, ob ich eine Gehirnerschütterung habe.

Kaum dass sie fertig ist, schließe ich die Augen und versuche die Krankenschwester so auszublenden.

»Es ist alles so weit in Ordnung. Wir wollen dich zur Sicherheit heute noch hierbehalten, am Abend kannst du nach Hause.«

Ich höre, wie sie einen Zettel vom Klemmbrett reißt.

»Und füll dieses Formular bitte mit deinen persönlichen Daten aus, damit wir deine Eltern anrufen können.«

Sie seufzt und sagt, mehr zu sich selbst als zu mir:

»Und dann muss ich nur noch diesen Jungen am Empfang loswerden …«

Junge.

Ich kneife die Augen noch ein wenig fester zu, während tief in meinem Inneren eine Erinnerung, ein verzerrtes Bild aufleuchtet. Ich versuche mich zu entspannen und darauf zu warten, bis es schärfer wird, anstatt panisch danach zu greifen. Dabei entwischt es mir wieder.

Das Bild treibt langsam an die Oberfläche meines Bewusstseins und dann kann ich es endlich erkennen.

Für einen Augenblick beginnt sich alles zu drehen und mir wird so schwindelig, dass ich froh bin, schon zu liegen, sonst wäre ich mit Sicherheit auf der Stelle umgefallen.

Mein Zimmer.

Mein Bett.

Ich will schlafen, wälze mich hin und her.

Ein Traum, seltsam real, ich laufe durch den Wald, laufe vor irgendetwas davon.

Es ist kalt. Es ist dunkel. Meine Füße sind nackt und ich zittere vor Kälte am ganzen Körper.

Als ich aufwache, sehe ich den Sternenhimmel über mir. Bevor ich noch verstehe, erfasst mich das Licht von Scheinwerfern.

Ich wirbele herum.

Sehe direkt in seine Augen.

Und sie sind alles, was bei mir hängen bleibt.

Ich höre mich schreien.

Dann kommt die Dunkelheit.

Ich keuche entsetzt auf. Die Erinnerung an den merkwürdigen Traum hat mir den Atem geraubt, als hätte ich ihn noch einmal erlebt, als wäre ich vor wenigen Sekunden tatsächlich noch durch den Wald gestürmt.

Fallington dreht sich zu mir um, die Hand bereits an der Tür. Ich habe nicht bemerkt, dass sie aufgestanden ist. Sie runzelt die Stirn.

»Alles in Ordnung? Hast du Schmerzen?«

Ich schüttele schwach den Kopf, selbst wenn das nicht ganz der Wahrheit entspricht. Immerhin ist es nicht mehr das brennende Rasen, sondern nur noch ein unterschwelliges Stechen hinter der Stirn.

Nicht angenehm, aber ertragbar.

Sie zögert einen Moment, doch anscheinend hat sie keine Lust, sich länger mit mir zu befassen. Sie öffnet die Tür, bleibt allerdings draußen auf dem Flur noch stehen.

»Ach, und da ist ein junger Mann, der zu dir will. Da er kein Familienangehöriger ist, konnte ich ihn bisher noch nicht reinlassen. Willst du ihn sehen?«

Abermals schüttele ich den Kopf und es ist, als würde das Stechen von einer Seite auf die andere fliegen und von innen gegen meinen Schädel hämmern.

Wer es ist, ich will keinen Besuch. Ich muss erst einmal meine Gedanken ordnen und begreifen, was geschehen ist. Ich war gestern nämlich ziemlich sicher zu Hause in meinem Bett und jetzt bin ich zwar wieder in einem, jedoch ganz bestimmt nicht in dem, in dem ich eingeschlafen bin.

Die Schwester ist verschwunden und ich setze mich vorsichtig auf. Das klingt leicht, aber ich bewege mich ungefähr in dem Tempo einer tausend Jahre alten Schildkröte. Während ich mir auf die Lippe beiße, stemme ich mich mit den Armen hoch, drücke den Rücken durch und hieve mich Zentimeter für Zentimeter nach oben, bis ich eine halbwegs sitzende Position eingenommen habe und völlig am Ende meiner Kräfte bin.

Benommen streiche ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und meine Finger streifen ein dickes Heftpflaster, das auf meiner Stirn prangt.

Im selben Moment fliegt die Tür auf und kracht sogar gegen die Wand.

Öffnet hier niemand normal die Türen?

Ich wende mich so schnell es eben schmerzfrei geht zur Seite und betrachte den nächsten Gast.

Es ist ein Junge.

Der Junge.

Ich erinnere mich zwar nicht an seine allgemeine Gestalt, doch seine Augen blitzen wie gestern Nacht auf. Sie sind von einem interessanten Blau mit goldbraunen Sprenkeln darin. Eigentlich hätte ich das niemals auf diese Distanz erkennen können, aber ich bin mir trotzdem sicher.

Er wirkt völlig außer Atem und seine blond-braunen Haare sind verwuschelt, sein Gesicht blass und zerknittert, als hätte er kaum geschlafen, und seine Haut ist aschfahl. Unter seinen auffallenden Augen liegen tiefe Schatten.

Obwohl ich ihn gestern nicht erkennen konnte, ist er mir bekannt.

Natürlich.

Es handelt sich um Nathan Clark, Footballer, Zwölftklässler. Er geht auf die Westriver Highschool und verbringt seine Pausen entweder auf dem Hartplatz hinter der Schule, um mit seinen Kumpels zu trainieren, oder in der Mensa an einem der guten Tische, wo die ganze Mannschaft und hin und wieder die Cheerleader sitzen, die stets mit Lästereien beschäftigt sind.

Nathan Clark, der mich früher einmal auf dem Spielplatz angetippt und eingeladen hat, mit ihm und den anderen Verstecken zu spielen, weil ich allein war. Er hat meine Hand gehalten und sich mit mir in den Büschen versteckt und niemand konnte uns finden.

Nathan Clark, der offiziell zu der Elite an unserer Schule zählt, zu denen, die sich für etwas Besseres halten und sich unbedingt von den anderen abheben wollen. Sie haben ihre Stammplätze in der Cafeteria, auf den Schulbänken und im Klassenraum. Sie sind Klassen- und Schulsprecher, Ballkönigin und Gewinner von Wettbewerben. Sie sehen gut aus und können alles am besten.

Ich kann solche Leute nicht ausstehen.

»Verstehst du nicht, was Nein bedeutet?«, frage ich kühl und schaue an ihm vorbei. Schließlich habe ich der Krankenschwester gesagt, ich will ihn nicht sehen. Doch er überhört mich schlicht und fällt mir hastig ins Wort.

»Hey, es tut mir total leid, was passiert ist, ehrlich!«

Seine Stimme ist heiser und kratzig, als hätte er tatsächlich nicht viel geschlafen.

»Du solltest wohl besser aufpassen.« Trotzdem meine Stimme angeschlagen und eher ein raues Flüstern ist, schaffe ich es, abweisend zu klingen.

Er kommt auf mich zu. Mein Herz beginnt augenblicklich zu rasen.

Ich rieche Deo und einen zarten eigenen Geruch.

»Schon klar, ich war bei Ben, du weißt ja, die Fete, und dann war ich so fertig. Außerdem bist du wie aus dem Nichts aufgetaucht!« Er runzelt leicht die Stirn, als würde es ihm jetzt erst einfallen. »Vielleicht solltest du auch besser aufpassen.«

Obwohl ich mir selbst nicht erklären kann, wie ich in den Wald gekommen bin, rümpfe ich die Nase.

»Ich wusste nicht, dass um drei Uhr nachts die Möglichkeit besteht, dort von einem betrunkenen Verrückten angefahren zu werden. Niemand benutzt jemals diesen Weg.«

Nathan Clark ist jetzt vor meinem Bett angekommen und es kommt mir vor, als wollte mein Herz meine Brust sprengen. Das Piepen des Automaten ist inzwischen zu einem hysterischen Schrillen geworden und verrät mich.

»Deswegen bin ich hier. Ich saß die ganze Zeit da, weil ich mich entschuldigen wollte. Du hast recht, sorry.«

Er streckt mir die Hand hin, aber ich ignoriere sie.

»Wenn ich deine Entschuldigung annehme, verschwindest du dann?«

Ich will mich nicht länger mit ihm unterhalten. Niemand von der Elite unterhält sich mit mir und er tut es nur, damit er kein schlechtes Gewissen hat. Bestimmt ist es ihm peinlich, sich bei jemandem wie mir zu entschuldigen.

Ich gehöre nicht zu ihnen.

Ich bin allein.

Wie gesagt, ich komme mit Menschen nicht so gut klar, ich kann das einfach nicht und das ist okay. Mein Leben funktioniert auch so. Es ist zwar jeden Tag relativ gleich, aber das macht nichts.

Und ich mag ihn nicht. Nicht mehr.

»Na ja. Ich will es wiedergutmachen. Dir hätte echt was Schlimmeres passieren können als nur eine Platzwunde.«

Er fährt sich durch die ohnehin verwuschelten Haare.

»Wie heißt du eigentlich?«

Beinahe hätte ich aufgelacht. Es ist schon lustig, wie ich alle sehe und sie sehen mich nicht. Wir haben uns gemeinsam versteckt und ich weiß so vieles über ihn, doch er kennt nicht einmal meinen Namen. Natürlich nicht.

»Geh raus.«

»Seltsamer Name«, witzelt er, aber ich reagiere nicht. Ich bin müde. Einfach nur schrecklich müde.

»Geh raus, Clark.«

»Warte mal kurz, du …«

»Bye!«, schneide ich ihm das Wort ab und drehe mich trotz des hässlichen Stechens und unerträglichen Pochens in meinem Kopf zur Seite, um ihm den Rücken zuzuwenden. Das rasende Piepen verwandelt sich fast in einen einzigen hoch fiependen Ton und das macht mich nur noch unruhiger. Nathan Clark soll nicht wissen, wie nervös ich bin. Ich kann ihm nicht in die Augen sehen. Dann müsste ich weinen. Weil er hier ist und so tut, als würde ihm all das etwas ausmachen. Schon morgen wird er mich allerdings wieder vergessen haben. Auf den Schmerz der Enttäuschung kann ich gut verzichten, deshalb ist es besser, wenn ich keinen weiteren Gedanken an ihn verschwende.

Eine Weile bleibt er noch stehen, doch als er merkt, dass ich es ernst meine, geht er.

Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss und es gibt wieder nur mich allein in dem grauen Zimmer.

2

Sie

So bleibt es für den Rest des Tages. Abgesehen von Miss Fallington, die noch zweimal hereinschaut und mir mit ihrer Taschenlampe in die Augen leuchtet. Allerdings kann sie nichts feststellen.

Und die Lähmung nach dem Schock lässt ebenfalls nach. Ich bin mir immer noch nicht sicher, wie ich überhaupt in den Wald gekommen bin, doch ganz gleich, wie stark ich mich zu erinnern versuche, da ist nichts. Absolut gar nichts, nur eine tiefe und undurchdringliche Dunkelheit. Als hätte jemand eines dieser riesigen Radiergummis genommen und alle Gedanken und Bilder aus meinem Kopf gelöscht.

Nur die Schatten davon geistern noch in ihm herum, aber viel zu schwach, als dass ich irgendetwas in ihnen erkennen könnte. Es ist schrecklich frustrierend. Mir fällt beim besten Willen kein Grund ein, was ich mitten in der Nacht im Green Darkness zu suchen hätte. Den Namen trägt der Wald seit Ewigkeiten, obwohl er reichlich unkreativ ist. Das scheinen die Leute in Westworgh allgemein zu sein. Die anderen Wälder haben nicht viel bessere Namen, etwa Little Green oder The Old Forest.

Beinahe hätte ich gelacht. Als würden die Namen unserer Wälder jetzt eine Rolle spielen.

Ich blicke aus dem Fenster beziehungsweise in die Richtung des Fensters, denn die Vorhänge sind weiterhin zugezogen. Angestrengt starre ich auf den kleinen Spalt zwischen ihnen, als könnte ich ihn nur durch meine Willenskraft dazu bringen, größer zu werden und mir die Sicht nach draußen zu gewähren.

Aber etwas wirklich Interessantes gibt es da wahrscheinlich ohnehin nicht zu sehen. Ich lache trocken auf. In Westworgh gibt es nie etwas Interessantes zu sehen. Zwar ist Minnesota der zweitgrößte Staat des mittleren Westens, wir leben hier jedoch in einem winzigen Kaff im absoluten Nirgendwo, umgeben von Bäumen und einem Fluss, der die Stadt – Entschuldigung, das Dorf – umgibt wie ein Burggraben das Schloss. Es liegt in einem kleinen Tal und am Stadtrand, wo der Green Darkness beginnt, erheben sich die ersten Hügel und bergartigen Höhen.

Man könnte es als niedlich bezeichnen, weil wir nur knapp zweitausend Einwohner zählen, und das liegt bestimmt nur an den zahllosen älteren Damen und Herren, die hier ihre letzten Jahre genießen, weil es so ruhig ist. Für Teenager ist dieser Ort alles andere als ideal.

Um etwas zum Anziehen zu bekommen, muss man mit dem Auto in eine zwanzig Kilometer entfernte Stadt fahren, weil das Zentrum nicht viel zu bieten hat. Bei uns gibt es einen Diner, das LaLuna (das einzige Lokal hier), eine Bäckerei, ein Schuhgeschäft, einen Supermarkt und eine Handvoll kleiner Krimskramsläden. Und natürlich die Buchhandlung meines Vaters.

Das war es schon mit unserem Stadtzentrum. In der Mitte ist ein runder Platz, auf dem früher angeblich Feste stattgefunden haben, aber das muss wohl Ewigkeiten her sein.

Wir können froh sein, dass Westworgh wenigstens eine Highschool hat, sonst müsste ich jeden Morgen mit dem Bus in den Nachbarort zur Schule fahren und der ist, wie gesagt, ein gutes Stück entfernt.

Hinter der Schule sind dann noch eine Halfpipe zum Skaten und ein Basketballplatz. Ich glaube, das ist dann alles, was man hier zu sehen bekommen kann. Aber alle Eltern und Großeltern sind aus einem unerfindlichen Grund wahnsinnig stolz darauf, in Westworgh zu leben, weil es ja so idyllisch und erholsam ist. Und auf diesen Broschüren über die Städte für Touristen sieht man dann die riesige Westriverbridge (das einzig Moderne hier), die einen wohl an die Golden Gate Bridge erinnern soll. Eigentlich lächerlich, denn es verirren sich niemals Touristen in diese verschlafene Gegend.

Und das, obwohl Westworgh seit ungefähr siebenhundertfünfzig Jahren schon existiert und friedlich vor sich hin vegetiert. Dank den reichen Familien, die wir oft die Siedler oder eben Elite nennen, denn ihre Vorfahren haben diese Stadt gegründet und sie seitdem nicht mehr verlassen, gibt es hier einen Haufen Geld. Manche behaupten darüber hinaus, Westworgh sei eines der reichsten Städtchen im ganzen Westen.

Einmal im Jahr findet das Jubiläum statt. Wir feiern den Tag, an dem die ersten Siedler in dieses Tal kamen und sich niederließen. Es gibt noch viel mehr solcher Traditionen, die die Elite organisiert und die das ganze Dorf jedes Mal in helle Aufregung versetzen.

Es ist nicht Westworgh an sich, das mir nicht gefällt, ich fühle mich um ehrlich zu sein sogar sehr wohl in der ländlichen Kleinstadt. Nein, es sind die Leute, die hier leben.

Ein Gerücht zu verbreiten könnte hier glatt als Sportart gelten, denn nichts lieben die Bewohner hier mehr als zu tratschen und zu klatschen. Ist ja kein Wunder, denn wenn es hier schon nichts gibt, über das man reden kann, muss man sich eben etwas ausdenken. Sie treffen sich zum Kaffeekränzchen und lassen sich über Nachbarn, Verwandte und Bekannte aus und die wildesten Spekulationen werden angestellt. Sowieso kennt jeder hier jeden und weiß alles über den anderen. Manchmal habe ich das Gefühl, die Leute hier wissen mehr über einen, als man es selbst tut.

Ich habe aufgehört, mich darüber aufzuregen oder mir darüber den Kopf zu zerbrechen, ob sie wohl auch über mich reden.

Bestimmt tun sie es.

Sie reden über jeden. Wenn es ihnen Spaß macht und sie teilweise vollkommen absurde Dinge über mich glauben wollen, bitte. Ich weiß es besser.

Nur leider trifft man mit dieser Einstellung in Westworgh nicht gerade auf Freunde. Jedem ist es unheimlich wichtig, was andere von ihm denken, jeder ist unecht und verstellt sich. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es echte Freundschaften gibt. Das alles, das Leben in Westworgh, ist eine Show, eine grässliche Show, bloß um dazuzugehören. Beliebt zu sein. Koste es, was es wolle. Geheimnisse gibt es nicht, die weiß die Stadt schon, bevor irgendwer anders es erfahren könnte. Und das weiß ebenfalls jeder.

Vorurteile gehören in Westworgh dazu wie das tägliche Quatschen über alle anderen. Ganz vorne die dämliche Hierarchie an meiner Schule. Es gibt diese Leute, die sich für etwas Besseres halten und das in ihrer Abgehobenheit den anderen gar nicht oft genug unter die Nase reiben können. Die Elite.

Sie wurden hier geboren, genau wie ihre Eltern und Groß­eltern, und sie bleiben auch hier, denn sie sind unglaublich stolz, dass Westworgh praktisch ihre Stadt ist. Sie verdienen alle recht gut und stechen mit ihren prächtigen Villen deutlich aus der Masse der übrigen Bewohner heraus. Und ihre Kinder sind genauso.

Sie glauben, ihr Geld würde sie zu etwas Besonderem machen und dass sie als Maß aller Dinge über jeden urteilen können. Bestimmen können, ob er oder sie beliebt oder langweilig ist.

Das Schlimmste ist, dass alle mitspielen. Das Ganze ist ein verfluchtes Spiel, bei dem Kinder aus den Siedlerfamilien von ihren angesehenen Eltern alles bekommen und das macht sie zu den Königen und Königinnen auf dem Schachbrett und alle anderen können sie hin und her schieben. Die, die versuchen, so zu sein wie sie.

Der ganz gewöhnliche Highschool-Mist.

Ich schüttele mich.

Widerlich ist so etwas.

Gut, dass ich bereits vor langer Zeit aus dem Spiel ausgestiegen bin. Für gewöhnlich geht das nicht. Ich erinnere mich noch an ein Mädchen, Holly hieß sie, glaube ich, die lieber trug, was sie wollte. Die sich mit der größten Fashionqueen der Schule angelegt und ihre Meinung gesagt hat. Sie wurde ziemlich übel gemobbt, es gab die fiesesten Lügengeschichten über sie, bis sie schließlich weggezogen ist. Sie hat es nicht länger ausgehalten.

So viel zum Thema, wie wahnsinnig harmonisch und ruhig es hier doch ist. Das hier nichts los ist, führt nur dazu, dass die Leute sich selbst unterhalten müssen und deswegen ist alles, was nicht so wie sie ist, ein gefundenes Fressen.

Ich wohne seitdem ich denken kann in Westworgh und nie hat sich etwas geändert. Es wird sich auch nie etwas ändern.

Ich denke an Nathan Clark, und daran, dass er nicht einmal meinen Namen wusste. Es ist eine absolute Seltenheit, dass irgendwer in diesem Kaff nicht jedem namentlich bekannt ist, doch ich verstehe ja selbst nicht einmal, weshalb es bei mir so ist.

Aber ich habe Glück, denn da ich noch nie an der Elite als solche interessiert war und mich bemühe, keine Aufmerksamkeit zu erregen, beachten sie mich kaum. Und ich habe sicher nicht vor, das zu ändern.

Ich gehe wie sie alle zur Schule, die Pausen verbringe ich jedoch allein, nachmittags treffe ich mich nicht mit irgendwem zum Nägel–lackieren, gehe nicht zum Cheerleading oder Volleyball. Ich rede nicht mit ihnen und sie sprechen mich erst recht nicht an.

Alles in allem führt das dazu, dass ich praktisch isoliert von jeglichen potentiellen Freunden und Bekannten lebe.

Manchmal fühle ich mich sogar selbst mehr wie ein Schatten, der lautlos und unerkannt zwischen ihnen umherstreift …

Ich schlage die Decke zurück, sie ist ohnehin viel zu dünn, um Wärme zu spenden. In letzter Zeit ist mir ständig kalt, meine Haut ist blass, nahezu weiß.

Irgendwer muss mir dieses schreckliche Krankenhaushemd angezogen haben, jedenfalls sind meine alten Klamotten verschwunden und ich stecke in diesem weißen Stoffding mit Ärmeln. Egal, mich sieht niemand.

Meine Schmerzen wurden mit der Zeit zum Glück schwächer und jetzt schaffe ich es sogar, aus dem Bett zu steigen, ohne aufzuschreien.

Auf nackten Füßen tappe ich zum Fenster und ziehe mit einem Ruck die Vorhänge beiseite. Die Sonne leuchtet nur noch schwach, die letzten Strahlen ihres goldenen Lichts spiegeln sich in den Glasscheiben des Hauses und blenden mich. Unten auf dem Parkplatz stehen vereinzelte Autos, ein Mann steigt in diesem Moment aus einem schwarz lackierten Postauto und eilt auf den Haupteingang zu.

Seine dunklen Haare sind wirr und seine abgetragene Jacke hat er nur eilig übergeworfen. Ich lächele.

Endlich kommt mein Vater.

Er ist neben meiner Mutter der einzige Mensch dieser Welt, dem ich vertraue und den ich liebe. Wir haben ein sehr inniges Verhältnis (wenn man ein Verhältnis zwischen mir und einem anderen Menschen denn so beschreiben kann), was vielleicht auch daran liegt, dass ich sonst mit niemand anderem rede.

Ich habe ihn vermisst.

Nur wenige Minuten später öffnet sich die Tür. Ich wirbele herum. Er wirkt erschöpft und müde von der Arbeit – seitdem sein Geschäftspartner Mr. Benson eine schwere Lungenentzündung bekommen hat, muss er sich allein um die kleine Buchhandlung kümmern und das nimmt ihn ziemlich mit. In seine kurzen schwarzen Haare haben sich graue Strähnen geschlichen und an seinem Kinn und den Wangen zeigt sich ein unrasierter Dreitagebart. Sein Pullover hat einen Fleck und an seinen Händen ist Tinte von den Quittungen.

Er breitet seine Arme, die noch stark und muskulös vom Schleppen schwerer Bücherkisten sind, aus und kommt mit langen Schritten auf mich zu.

»Liebling!«, murmelt er und drückt mich fest an sich. Er ist so groß, dass er seinen Kopf leicht auf meinen legen kann. Ich schließe die Augen.

»Hey, Daddy.«

»Was machst du nur für Sachen?« Er sieht so kaputt aus, als würde er am liebsten nur schlafen wollen. Wahrscheinlich hat er früher Schluss gemacht, um mich abzuholen. Ein schlechtes Gewissen schleicht sich bei mir ein, denn ich weiß, dass wir das wenige Geld, das er verdient, dringend nötig haben und ich sollte mich nicht in den Vordergrund drängen. Trotzdem bin ich ihm dankbar. Ich brauche ihn einfach.

Mein Vater erfährt als Einziger diese Art Zuwendung von mir, dass ich ihn überhaupt umarme, ihn anlächele und mit ihm spreche. Seit ich denken kann, bereitet mir die Nähe anderer Menschen ein unbehagliches Gefühl. Er löst sich sanft von mir und hält mich eine Armeslänge von sich weg, um mich von oben bis unten prüfend zu betrachten. Ich schlage die Augen nieder. Abgesehen von den schrecklichen Schmerzen habe ich nur einige Blutergüsse an den Armen und den Rippen von der Nacht davongetragen. Nathan scheint mich nicht sehr heftig erwischt zu haben, mein Kopf ist zwar immer noch schwer und ich spüre das dicke Pflaster, aber ich kann wieder klar denken und meinen Kopf ganz normal bewegen.

Trotzdem sieht mein Vater reichlich geschockt aus. Er streicht mir über die Haare und schüttelt den Kopf. »Was ist denn überhaupt passiert? Als ich heute Morgen losgefahren bin, dachte ich, du wärst vielleicht vor mir aufgestanden, aber dann rief man mich in der Buchhandlung an und sagte, du wärest angefahren worden!«

Obwohl er nicht schreit oder wütend das Gesicht verzerrt, weiß ich, wie angespannt er ist. Man merkt es an dem festen Griff, mit dem er meine Oberarme umklammert, und der Art, wie sein linker Mundwinkel zuckt, wie gewöhnlich, wenn er sich sorgt.

Mein Vater ist ein eher … entspannter Mensch. Lange nicht so temperamentvoll wie meine Mutter, die wahnsinnig schnell ausflippt. Es ist gut, dass sie so verschieden sind, so schafft er es stets, sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.

Ich beiße mir auf die Lippe. Was auch immer in dieser Nacht geschehen ist – ich kann ihm unmöglich die Wahrheit sagen. Zum einen, weil ich mir selbst noch nicht sicher bin, was passiert ist, zum anderen, weil er bestimmt trotz seines ruhigen Gemüts nervös werden würde. Und er hat schon genug Sorgen …

Ich weiche seinem besorgten Blick aus und presse die Lippen aufeinander, um nichts sagen zu müssen. Er deutet daraus, dass ich wohl noch schwach bin und schiebt mich behutsam zum Bett, um mich auf die weiche Matratze zu setzen. Dann nimmt er neben mir Platz und legt vorsichtig den Arm um mich. Ich zucke fast unmerklich zusammen.

»Wie konnte das passieren? Ich war so überrascht, als sie sagten, es wäre in der Nacht passiert. Ich dachte, du würdest friedlich schlafen.«

Ich nestele an dem Ärmel des Krankenhaushemdes herum und ziehe ihn über meine Hände, bis sie darin verschwinden. Immer diese Frage, die ich mir selbst ständig stelle. Aber was soll ich ihm sagen? Ich weiß es doch selbst nicht. Außerdem sind meine Eltern seit jeher recht besorgt gewesen. Manchmal behüten sie mich fast zu sehr, holen mich von überall mit dem Auto ab, sehen nach mir und lassen mich selten allein irgendwohin gehen. Allerdings – wohin gehe ich schon.

Bevor ich noch weiter darüber nachdenken könnte, sprudelt es aus mir heraus: »Ich habe auch geschlafen.«

Das ist die Wahrheit.

»Aber dann war ich draußen.«

Immer noch die Wahrheit.

Mein Vater sieht mich verwirrt an. Mom wäre wahrscheinlich bestürzt aufgesprungen, doch er zieht nur eine Augenbraue hoch, während sich der um meine Schultern gelegte Arm anspannt.

»Was machst du denn mitten in der Nacht draußen?«

Ich schlucke. Ich kann ihn nicht ansehen. Es ist besser, wenn er sich keine Sorgen machen muss. Seitdem Mom … nicht mehr … arbeitet, hat er nur wenig Zeit und wir müssen jede Münze für Essen sparen. Er hat so viel, um das er sich Gedanken machen muss …

Betreten starre ich auf den Ärmel und balle die Hand zu einer Faust. Meine Fingernägel graben sich in die dünne Handinnenfläche, wie gewöhnlich, wenn ich nervös bin. »Ich wollte zu der Party.«

Lüge. Eindeutig.

Normalerweise lüge ich nicht. Ich denke, es ist besser, die Wahrheit zu kennen, selbst wenn sie wehtut. Allerdings habe ich das Gefühl, als wäre es jetzt klüger, ihm zu verheimlichen, dass ich aufgewacht bin und trotzdem alles noch genauso aussah wie in meinem Traum, nur dass es auf einmal die Realität war und ich mich nicht erinnern konnte, wie ich an diesen Ort gekommen bin.

Er wirkt nicht gerade überzeugt und nimmt den Arm von mir, um sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht zu streichen und seine Hände dann zu verschränken. Misstrauisch sieht er mich von der Seite an.

»Was denn für eine Party?«