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SIMON REYNOLDS

RETRO
MANIA

Warum Pop nicht von seiner
Vergangenheit lassen kann

Aus dem Englischen von Chris Wilpert

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Simon Reynolds wurde 1963 in London geboren. Er lebt mittlerweile in seiner Wahlheimat Los Angeles. Neben dem Standardwerk über die Post-Punk-Ära Rip It Up And Start Again hat er u.a. gemeinsam mit seiner Ehefrau Joy Press The Sex Revolts – Gender, Rebellion & Rock’n’Roll geschrieben. Reynolds arbeitet für The Wire, New York Times, The Guardian, Rolling Stone etc. und hat mit Blissblog eine eigene Netzpräsenz.

Chris Wilpert ist Literaturwissenschaftler und Mitherausgeber der testcard. Er übersetzte gemeinsam mit Martin Büsser für den Ventil Verlag Punk Rock von John Robb, veröffentlichte mit dem Zitatpop-Projekt 4‘33“ eine Kassette und sammelt Reissues von Italo-Western.

Didi Neidhart, geboren 1963, Chefredakteur von skug – Journal für Musik, ist Autor, DJ und Musiker.

Copyright © 2011 by Simon Reynolds.

All rights reserved.

Originaltitel: »Retromania. Pop Culture’s Addiction to Its Own Past«, erschienen bei Faber and Faber Ltd.

Großbritannien

© der deutschen Übersetzung:

Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG,

Mainz, Oktober 2012

Abdruck, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages. Alle Rechte vorbehalten.

2. Auflage 2013

ISBN 978-3-931555-29-0

eISBN 978-3-955756-08-6

Layout: Oliver Schmitt

Druck: fgb, Freiburg

Ventil Verlag

Boppstr. 25, 55118 Mainz

www.ventil-verlag.de

In Erinnerung an meinen Bruder Tim.
Und in Liebe meinen lebenden Brüdern Jez und Hugo
.

Inhalt

Immer Ärger mit dem Rückspiegel

Vorwort zur deutschen Ausgabe von Didi Neidhart

Das Jahrzehnt des »Re«

Einleitung

Prolog: Don’t Look Back

Nostalgie und Retro

TEIL EINS: »JETZT«

imagePop will repeat itself

Museen, Reunions, Rockdokus, Reenactments

imageDie totale Erinnerung

Musik und Gedächtnis im YouTube-Zeitalter

imageLost in the Shuffle

Plattensammeln und der zwielichtige Umgang mit Musik als Objekt

imageGute Zitate

Der Aufstieg des Rock-Kurators

imageTurning Japanese

Das Reich des Retro und die Hipster-Internationale

TEIL ZWEI: »DAMALS«

imageMerkwürdige Verwandlungen

Mode, Retro und Vintage

imageDie Zeit zurückdrehen

Revival-Kulte und Zeitschleifen-Stämme

imageNo Future

Die reaktionären Wurzeln des Punk und sein Retro-Nachspiel

imageRock On (and On) (and On)

Das endlose Fifties-Revival

TEIL DREI: »MORGEN«

imageDie Geister der vergangenen Zukunft

Sampling, Hauntology und Mashups

imageOut Of Space

Sehnsucht nach der Zukunft

(Eine kurze Rückkehr in die) Retrolandschaft

imageDer Schock des Altbekannten

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts

POSTSKRIPT

Recreativity

Die Hinterfragung des Innovations- und Originalitätsmythos

Danksagungen

Bibliografie

Index

Immer Ärger mit dem Rückspiegel

Vorwort zur deutschen Ausgabe
von Didi Neidhart

In Retromania konstatiert Simon Reynolds eine Epoche, in der sich Popmusik zunehmend durch eine immer schnellere Abfolge von Retroschleifen um sich selber dreht und bei dieser permanenten Rückschau auf das Immergleiche, schon einmal Dagewesene langsam zum Stillstand kommt. Box-Sets über Box-Sets mit zig Bonus-Outtakes, Reunions von Bands, komplett nachgespielte Alben-Klassiker als Live-Spektakel und eine Tonträgerindustrie, die als Ausdruck ihrer Retro-Ökonomie nun auch in Europa das Leistungsschutzrecht an Tonaufnahmen von 50 auf 70 Jahre erhöht: Das ist nur die Speerspitze einer Entwicklung, die Pop immer mehr zu einer musealen Angelegenheit macht, bei der Archive (bzw. die von Reynolds beschriebenen »Anarchive«) eher zu End- denn zu Ausgangspunkten popistischer Praxis werden. Pop hat sich damit, gerade nachdem er in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, quasi von der Welt abgekoppelt. Hat seine Kommentarfunktion wie seine Other- und Outerness verloren, kennt keine unzeitgemäßen Betrachtungen und Herangehensweisen mehr und macht es sich dort gemütlich, wo die Retro-Ökonomie ohne große Risiken Rendite einfahren kann, weil sich dieses oder jenes Revival schon einmal auf dem Pop-Aktienmarkt mit einer super Gewinnausschüttung bewährt hat.

Mit dem Begriff »Retromania« habe Simon Reynolds »die neue Zivilisationskrankheit diagnostiziert und mit dem gleichnamigen Buch den aktuellen Diskurshit gelandet«, schreibt Klaus Walter in der Süddeutschen Zeitung.

Und Retromamia war tatsächlich das meist rezipierte Buch über Popmusik der letzten Jahre, dem einzelne Zeitungen und Magazine gleich mehrere durchaus kontroverse Artikel gewidmet haben. Denn Reynolds macht es einem wirklich nicht leicht mit seiner Passage, die er durch den retromanischen Dschungel schlug.

Doch worum geht es? Es geht u. a. um das Abhandenkommen von »Future« als Paradigma der Popmusik, ein Paradigma, das sich – im Mainstream wie in den Nischen – ironischerweise ab dem Zeitpunkt verflüchtigte, als das »No Future«-Setting des Kalten Kriegs (atomare Bedrohung, Wettrüsten) in sich zusammenfiel und die Jahreszahl 2000 wirklich im Kalender stand. Reynolds argumentiert daher auch eher »aus der Haltung des enttäuschten Emphatikers« heraus, »der sich die Gegenwart anders vorgestellt hat, als sie noch Zukunft hieß« (Rabea Weihser in Die Zeit).

Retromania beschwört ein Früher, als Pop noch von anderen Orten, Welten, Universen sprach und gleichsam im Jetzt andere Zeitrechnungen einführte, um vom Anderen, Kommenden zu erzählen. Kurz, eine Zeit, als Pop noch ein utopisches Begehren hatte und ein »Back to the Future« noch kein rückwärts gewandtes »Back to the Back« bedeutete, sondern vorwärts blickte, um die Gegenwart umzuschreiben.

Nur, was tun, wenn jeder »Blast From the Past«, jedes »Back From the Grave« in den eigenen Ohren nur noch nach Farce oder Tragödie klingt und sich die Musikleidenschaft immer mehr in ein melancholisches Leiden an der Musik verwandelt?

Gerade in den autobiografisch gefärbten Kapiteln zeigt sich: Hier spricht jemand, der sich selber in das Retro-Schlamassel hineinmanövriert hat und sich nun aus der eigenen Retro-Falle wieder herausschreiben will.

Teil davon ist das komische Gefühl eines Endvierzigers, jetzt aber wirklich alles schon gehört zu haben und die ernüchternde Feststellung, endgültig Augen- und Ohrenzeuge eines Epochen-Endes zu sein. Zeuge einer Zeit, in der Popmusik und -kultur zu einem alternativlosen Segment einer globalen Unterhaltungsindustrie geworden ist, zu einem Spektakel unter vielen: eine unglamouröse aber schrille Wegwerfware, die jenseits der ökonomischen Aspekte von fast niemandem wirklich ernst zu nehmen ist. Unterhaltung eben, aber keine Popkultur.

Es geht nicht um ein Zurück, zu dem, »Wie es mal war«, sondern um neue Perspektiven auf das, was nicht war, aber hätte sein können, wenn sich damals schon gewisse Wege ergeben und gekreuzt hätten.

Nicht nur, weil jedes Wiederhören und Wiedersehen per se anders ist, ist der Blick in den sonischen Rückspiegel weniger von der Ernüchterung geprägt, auf Altbekanntes zu stoßen, sondern vielmehr von der Verzückung, so viel avant la lettre vorzufinden. Wir hören uns retroaktiv in die Zukunft (oder was einmal darunter verstanden worden ist). Was wir aus dem Gestern hören, ist ja nicht die Musik, wie sie damals gedacht war oder wie sie damals gehört wurde. Was uns heute daran fasziniert, ist genau das, was damals überhört, übersehen, gar nicht intendiert oder einfach zu gut versteckt wurde, um es gleich decodieren zu können. Mit dem Griff in die Retro-, Second-Hand-, Reissues-Kiste sucht man nicht das Altbekannte, sondern wird von dem geleitet, was Walter Benjamin als »vergessene Versäumnisse« und verpatzte bzw. »verpasste Gelegenheiten« bezeichnet.

Erinnern wir uns einfach an Kodwo Eshuns Grundhypothese aus Heller als die Sonne. Abenteuer in der Sonic Fiction: Der Sound of »Now« kommt aus der vergangenen Zukunft und der zukünftigen Vergangenheit.

Das Neue ist sowieso meist (wenn nicht sogar immer) das (noch) nicht bekannte Alte. Einmal sind alle Zugänge geschlossen, dann tun sich plötzlich Seitentüren auf, werden versteckte Eingänge zugänglich, ergeben sich ungeahnte Verbindungen. Gerade weil das Vergangene nicht immer und überall offen ist, geht anything eben nicht immer.

Wie Diedrich Diederichsen in seinem Text »Die Kunst besteht darin, Erregungsmaterial zu sein« zur »Retro-Mode« in der Süddeutschen Zeitung schreibt, geht es um eine Frage, die Pop sich schon immer gestellt hat: »Welche technisch-kulturelle Form gebe ich dem Verhältnis aus dem überwältigenden ersten Erlebnis, reflexiver Erinnerung und Verarbeitung in einem Moment?«

Das Gegenteil davon wäre eine »Retromanie«, die sich von längst amtlich beglaubigten Genrenormierungen leiten lässt. Der es um abgeschlossene, statt um abgebrochene, ausgefranste, nie wirklich ausformulierte Stile und Genres geht.

Vor dem Hintergrund von Benjamins »vergessenen Versäumnissen«, den verpatzten und »verpassten Gelegenheiten«, erweist sich Pop in den Nullerjahren selber als Pool »verpasster Gelegenheiten«. Hier setzt auch Reynolds’ Unbehagen ein. Die von den verschwundenen Utopien gelassenen Leerstellen werden heute von jenen besetzt, die die Rückkehr der Dinge als schon per se Entzaubertes betreiben und deshalb auch so vehement den Pop-Proseminar-Pflichtkanon als ewig zu Bewahrendes verteidigen.

Im Grunde verhandelt Reynolds das selbstgemachte Problem einer Popmusik, die ewig einem imaginierten Urzustand nachtrauert, der irgendwo zwischen Vormoderne und Moderne gewesen sein soll und den dann Roxy Music & Co mittels des Konzepts »Remake/Remodel« kaputt getrampelt haben (und er schlägt sich dabei nicht unbedingt auf die »Remake/Remodel«-Seite). Nur erwies sich spätestens seit den Nullerjahren durch die quasi feindliche Übernahme der auch von Reynolds favorisierten Parole »Rip it up & start again« auch das Konzept »Remake/Remodel« (als Rewriting und Resignifying von History, die Reaktualisierung von Diskursen) mehr und mehr als Bluff.

Die »Kunst des Zitats« mag uns zwar immer noch beeindrucken, aber wir wissen dabei immer weniger, ob dieses Zitat (oder Sample) nun aus ästhetischen oder rein ökonomischen Gründen zu hören ist.

Retro-Ökonomisierung bedeutet eben auch, dass sich die subversiven Taktiken der Retrogarden nicht mehr so einfach von den hegemonialen Strategien der Retromaniacs unterscheiden lassen.

Das »Problem von Retro«, schrieb Frank Apunkt Schneider in skug, »liegt darin begründet, dass sich subkulturelle Retrostrategien strukturell nicht oder immer zu wenig von den hegemonialen unterscheiden«.

Daran ist nicht nur der Mainstream »schuld«, sondern vielmehr jene subkulturellen Nischen, die so tun, als wäre alles noch so wie vorgestern, als würde allein die Erwähnung eines Bandnamens für »cooles Wissen« bürgen.

Dementsprechend haben wir es auch immer mehr mit Pop-Phänomenen zu tun, die im Stil von Bachelorabschlussarbeiten daherkommen. Gewohnt, nur noch das Nötigste abzurufen, wird die Pop-Pflichtliteratur nach einer Marktanalyse schön auf einer CD zusammengefasst und im Promotext als »Indie«, »Alternative« oder »Post-Punk« beworben. Dekonstruktion, Remix und Mashup (drei Angelegenheiten, denen Reynolds sowieso kritisch gegenübersteht) reduzieren sich dann darauf, einen schwarz-weißen Karopullover aufzutrennen, um daraus einen weiß-schwarzen Karopullover zu machen.

Statt um die Referenzhöllen der »Recreativity« (Reynolds zählt dazu Persiflage, Remake, Parodie, Reenactment, Pastiche) geht es ihm um eine Rehabilitierung »innovativer Musik«, die sich gleichsam durch eine creatio ex nihilo (dem Phantasma der Moderne par excellence) von allem, was zuvor gewesen ist, unterscheidet.

Jedoch bastelt auch Reynolds ebenso leidenschaftlich wie manisch an jener »Verweishölle« weiter, die er schon bei Rip It Up And Start Again angelegt hat. Die Fakten, Fußnoten, Referenzen von Retromania erschlagen einen beinahe in ihrer Akribie.

Genau hier entspinnen sich auch die Kontroversen rund um das Buch (auf die Reynolds im Postskript eingeht). Sein bedingungsloses Eintreten für die Ehrenrettung von Begriffen wie »Originalität«, »Innovation«, »Authentizität« und der damit verbundenen künstlerisch-kreativen Praxis, lässt Retromania auch als bockige Kampfschrift gegen den von ihm diagnostizierten »altmodischen Postmodernismus« erscheinen.

Für Reynolds stellt die Fortschrittlichkeit von Pop Ende der 60er/Anfang der 70er einen Teil des Projekts der Moderne dar, die zu diesem Zeitpunkt jedoch von der Kunst und der Architektur schon in Richtung Postmoderne verlassen wurde. Reynolds lobt die 60er wegen dem »Nichtvorhandensein von Revivals und Nostalgie« in den Pop-Olymp. »Bei Pop ging es doch um die Verheißung der Gegenwart, oder?« Pop sagt: »Be here now.« Nur, war Popkultur nicht schon immer postmodern? Ein hybrides, kosmopolitisches Mischmasch unterschiedlichster Zitate und Referenzen?

Schon 1958 gab es in den USA die ersten Rock’n’Roll-Oldie-Radio-Stationen (in George Lucas 1962 spielendem Film American Graffiti hören wir außer den Beach Boys nur »Oldie«-Musik aus den 50ern) und selbst die 60er sind durch eine eigentümliche Dialektik von Future- und Retromania gekennzeichnet. Angefangen beim Folk- und Blues-Revival bis hin zum »New Hollywood« und den ebenso auf »Old Hollywood« zurückblickenden »Midnight Movies« und Vintage Stores des campen Undergrounds. Selbiges finden wir auch bei den Ideen von Brian Wilson und Van Dyke Parks, die sich aus Bestandteilen des »Amercian Songsbooks«, der »American Operetta« und des Musicals eine neue Musik zusammenbasteln. Ähnliches gilt für die Beatles, für die, wie McCartney unlängst in den Liner Notes zu Kisses On The Bottom erklärte, vor allem die Swing-Ära prägend war. Auch in der Pop Art haben wir es überall mit Blicken in diverse Rückspiegel zu tun, finden wir doch bei Warhol, Rauschenberg, Lichtenstein immer wieder Rückgriffe auf Ikonografien, Images und Zeichen aus den 30ern/40ern.

Da Reynolds auf einen Theorientwurf verzichtet und beizeiten geschmäcklerisch argumentiert, fällt seine Kritik an den Nullerjahren entsprechend aus: »Anstatt sich mit sich selbst zu beschäftigen, drehten sich die 2000er um alle vorangegangenen Jahrzehnte auf einmal.« Dabei verkennt er den ideologischen Kern der großen Erzählungen des »Pop-Selbst«. Die konnten sich ja nur durchsetzen, indem sie Anderes radikal ausklammerten. Dass in diesem Zusammenhang bei Reynolds auch »Dekadenz« als Beschreibung des von ihm nicht geschätzten Ist-Zustands dient, macht die Angelegenheit nicht gerade leichter. Zu sagen, alles sei nur »Ersatz« (dekadente Second-Order-Hipness ohne »wahren Kern«) und frühere Revivals hätten sich noch »echt angefühlt«, ignoriert, dass, wer sich mit dem »Pop-Selbst« ins Bett legt, am Morgen danach mit dem Gegenteil von Pop aufwachen kann.

Verlaufen sich nicht auch die Futuremaniacs bei ihrer permanenten Jagd nach dem ganz Neuen und landen so selber in einem endlosen Loop? Mehr noch: Die Fixierung auf den neuesten Schrei verhindert geradezu das längere Eintauchen in eine Musik, einen Act, ein Genre. Was bleibt, sind die ewigen Altvorderen – wohingegen eine Musik, die im November 2012 nach Juli 2012 klingt, schon total out sein kann.

Hier zeigt sich auch der grundsätzliche Zwiespalt, mit dem jeder »enttäuschte Emphatiker« zu kämpfen hat, wenn die Enttäuschung einen kulturpessimistischen Doppelgänger generiert: Es kommt zu einer Verstrickung in zig Widersprüche (von denen wiederum jeder einzelne eine Menge produktiver Denkprozesse in Gang setzen kann).

Kann, aber nicht muss. Denn am Phänomen »Retromania« hat auch jener Popjournalismus der Nullerjahre mitgearbeitet, der gleichzeitig durch das zynisch-fadisierte Mantra »Kenn ich schon, mag ich nicht« wie durch ein banales »Alt aber immer noch besser als …« gekennzeichnet ist.

Zudem gibt es kaum mehr subversive Lesarten von Pop jenseits der reinen Musikbesprechung (das Schreiben über Pop selbst ist in die Retro-Falle getappt, als die Theorie zum unnützen Orchideenfach erklärt und entsorgt wurde). Gerade die blöde, sagen wir ruhig un-campe, Anwendung von »Remake/Remodel« bietet die Möglichkeit, auch gleich mit dem »ganzen Scheiß der Postmoderne« (Poststrukturalismus, Dekonstruktivismus, Gender/Queer Studies etc.) abrechnen zu können: Alles falsch, alles Mist. Das »Echte« setzt sich am Ende doch durch. Da es sowieso nichts Neues mehr gibt und weil deshalb nun belegbar am Anfang von Früher alles felsenfest besser (weil neuer) war, braucht es gar keine Artikel mehr über Neuerscheinungen und es kann stattdessen das Reissue, das Box-Set, die Reunion, das Comeback oder die neue CD alter Lieblinge in den Feuilleton-Himmel gelobt werden.

Im schlimmsten Fall kann Reynolds’ Retromania dann auch als Bestätigung all jener Box-Set- und Sixties-Fans gelesen werden, von denen Reynolds sich ja absetzen will.

Judith Butler hält in Haß spricht fest: »Es gibt keine Möglichkeit, nicht zu wiederholen.« Und aus diesem Loop ergeben sich bekanntlich immer wieder Möglichkeiten von »Fehlaneignungen« (aka »produktive Missverständnisse«). Butler ist jedoch nicht so naiv, die Skills (nachstellen, resignifizieren, überschreiben) uneingeschränkt als subversiv zu betrachten. In Körper von Gewicht behandelt sie Forman von Wiederholungen, »die nicht subversiv genannt werden« können, da sie zur »Festigung hegemonialer Normen«, der »Reidealisierung« statt »Destabilisierung« dienen. The-Bands und Neo Soul verschieben nicht das Zitierte, sondern etablieren es (handgespielter, verschwitzter Soul versus Cyber-R&B) erneut als hegemoniale Norm.

Erinnern wir uns nur an das Joy-Division-Revival im Zusammenhang mit dem Film Control. Joy Division wurden ins klassische Rocknarrativ eingeschrieben. Als New-Wave-Version der Doors konnten sie nun problemlos integriert und das subversive (politische) Programm von Post-Punk (gegen den Punkrock-Machismo, für bastardisierte, queere, multiethnische Bündnisse) entsorgt werden.

Solche Revivals ohne Nebenwirkungen exekutieren ein revisionistisches wie restauratives »Ende der Geschichte«, um es sich in einem idealtypischen Gestern gemütlich zu machen. »Legalize History« wird hier nur noch als weiteres Box-Set verstanden.

Deshalb kann die Ideologie der Revivals nicht von den Revivals der Ideologien getrennt werden. Was macht ausgerechnet die 80er als »Me-Age« so faszinierend für das von Reynolds diagnostizierte »Re-Age« der Nullerjahre? Welche Funktion hat das NDW- und Schlager-Pop-Revival der Berliner Republik vor dem Hintergrund einer Re-Nationalisierung durch Pop?

Nicht zuletzt brachte diese ideologische Retromanie im Schlepptau von The-Bands, Neo Soul und auch einzelnen Post-Dub-Step-Acts all das wieder auf, was in den 80ern aus guten Gründen angegriffen wurde: Wunderkinder, Genies, Talente, Selbstverwirklichung, Realness, live per Hand gespielte Instrumente (Madonna mit E-Gitarre, Laptop-Acts mit echtem Schlagzeug). Darauf konnten sich nun all jene wieder einigen, für die vor allem elektronische Tanzmusik eine »No-go-Area« war.

Vielleicht provoziert deshalb Reynolds’ Wechsel »vom Hardcore-Kontinuum schnurstracks ins Retro-Kontinuum« (Aram Lintzel in De:Bug) so sehr. Hat nicht die Club- und Bassmusik ein gänzlich anderes Verständnis von Zeit und Raum (im Reggae heißen die Pausen/Breaks »Space«)? Gerade in der Popkultur stoßen wir dabei doch immer auf zwei unterschiedliche Positionen: Entsteht die Zeit aus dem Tun (dem Loop, der Wiederholung, den geringen Verschiebungen), oder entsteht das Tun aus der Zeit (der linearen Abfolge von Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, den großen Brüchen und Erzählungen)?

Pop schaute immer schon mit einem Auge in den Rückspiegel und hörte mit einem Ohr in die Vergangenheit. Einerseits um richtig rückwärts einparken, andererseits um überholen zu können. Auch Markus Heidingsfelder spricht in seiner Analyse System Pop (2012) von einer grundsätzlichen »Rückwärtsbewegung«, die Pop charakterisiert: »Das System (Pop) bewegt sich mit dem Rücken zur Zukunft.«

Problematisch wird das jedoch, wenn die Bewegungen des Einparkens und Überholens immer weniger zu unterscheiden sind. Nur ist das nicht immer so leicht zu differenzieren, kann doch die Frage »Bin ich noch Retro oder schon Future bzw. bin ich noch Future oder schon wieder Retro?« meist nur retrospektiv beantwortet werden.

Dennoch ist eine Unterscheidung möglich: Ein Sprung zurück in die Zeit ist etwas anderes als ein Gang zurück durch die Zeit. Ein Zeitsprung will zurück zu den »reinen Zeichen«, die jedoch nur um den Preis einer reaktionären Aneignung zu haben sind. Deshalb setzt etwa der Neo Soul alles daran, so zu klingen, als hätte es Hip Hop, House oder Techno nie gegeben, wohingegen sich Reynolds noch sehr genau an eine Zeit erinnert, in der allein die Vermutung, hier würde etwas »like Punk never happened« klingen, ausreichte, um die rote Karte zu zücken.

Andererseits braucht es immer ein »Second Coming«, damit etwas wirkungskräftig wird. Sonst bleibt es beim »done and gone« für elitäre Zirkel. Die ersten Platten der Rolling Stones mögen für Bluesfans schlimmste Retromanie gewesen sein, für andere jedoch ein folgenschwerer Erstkontakt mit Muddy Waters, Willie Dixon, Robert Johnson. Ebenso wären ohne Hip Hop viele rocksozialisierte Teens und Twens nicht auf den Geschmack von Soul und Funk gekommen, zwei Genres, um die es Ende der 70er/Anfang der 80er nicht gerade zum Besten stand, über die wenig in den Rocklexika zu finden war.

Vielleicht sollten wir uns Retro-Schleifen eher als Möbius-Schleifen denken. Analog zu Butler spricht Diederichsen in Eigenblutdoping daher auch vom »nicht Vorhersehbaren« im Loop, vom Kopfanstoßen, Auf-den-Arschfallen, Entgleisen, Ausrutschen: »Es ist dasselbe, mindestens zweimal von mir erlebt.« Und hier finden wir auch den Schlüssel zu dem Rätsel, warum manche Platten besser altern, als andere: »Wer im Immergleichen des Loops etwas Neues erlebt, hat es mit einem viel härteren Neuen zu tun, als wer dies in einer Struktur erlebt, in der das Auftreten des Neuen vorgesehen ist.«

Wie Klaus Theweleit einmal so schön sagte, sind Schallplatten (oder CDs, MP3s) auch »Gedächtnisspeicher«. Während wir Musik abspielen, schreibt sich gleichsam auch immer etwas in sie hinein (die Bierflecken und Kratzer von der Party, die Erinnerungen an hitzige Diskussionen, die dazu gelesenen Bücher, die peinlichsten Momente der Jugend, die Geisterstimmen, die uns später immer wieder heimsuchen werden, ein »neues«, anderes Denken über Musik). Wir können also gar nicht mehr zurück, es sei denn, wir machen aus dem Gestern eine Schneekugel. Oder, um es mit Elvis zu sagen: »I forgot to remember to forget you.«

Das Jahrzehnt des »Re«

Einleitung

Wir leben in einem Zeitalter des Pop, das völlig verrückt ist nach permanenter Erinnerung. Bands reformieren sich, spielen Reunion-Touren. Es erscheinen Tributalben und Box-Sets, es finden Jubiläums-Festivals und Livekonzerte statt, auf denen komplette Alben, bevorzugt die Klassiker, durchgespielt werden: Mit jedem neuen Jahr, das ins Land geht, scheint die Musik von gestern wichtiger zu werden.

Kann es sein, dass die größte Gefahr für die Zukunft der Musik … ihre eigene Vergangenheit ist?

Vielleicht klingt das übertrieben apokalyptisch. Aber das Szenario, das ich mir ausmale, ist weniger eine plötzliche Katastrophe denn vielmehr ein schleichendes Verschwinden. So wird Pop enden: nicht mit einem Knall, sondern in einem Box-Set, dessen vierte CD du niemals abspielen wirst, und mit einer überteuerten Eintrittskarte für ein Pixies- oder Pavement-Konzert, auf dem ein Album eins zu eins neu inszeniert wird, das du bereits in deinem ersten Semester bis zum Gehtnichtmehr gehört hast.

Es gab einmal eine Zeit, in der der Stoffwechsel des Pop auf Hochtouren lief und während der psychedelischen 60er, der Post-Punk-70er, der Hip-Hop-80er und der Rave-90er das Gefühl erzeugte, direkt in die Zukunft gespült zu werden. Die 2000er fühlten sich anders an. Der Pitchfork-Kritiker Tim Finney verwies auf »die seltsame Langsamkeit, mit der das Jahrzehnt voranschreitet«. Er meinte damit insbesondere die elektronische Dance Music, die in den 90ern die Avantgarde der Popkultur war und die in jeder Saison das Next Big Thing hervorbrachte. Aber Finneys Beobachtung trifft nicht nur auf die Dance Music zu, sondern lässt sich auf die gesamte Popmusik übertragen. Das Gefühl, vorwärts zu kommen, wurde immer schwächer, je weiter das Jahrzehnt voranschritt. Die Zeit selbst wurde scheinbar träger, wie ein Fluss, der sich ruhig dahinschlängelt und tote Flussarme ausbildet.

Wenn der Pulsschlag des JETZT sich mit jedem Jahr schwächer anfühlte, lag das daran, dass die Gegenwart von Pop in den 2000ern immer mehr von der Vergangenheit verdrängt wurde, sei es durch die Erinnerungen aus dem Archiv des Gestern oder als Retro-Rock, der sich an alte Stile klammerte. Anstatt sich mit sich selbst zu beschäftigen, drehten sich die 2000er um alle vorangegangenen Jahrzehnte auf einmal: Die Gleichzeitigkeit der Pop-Zeit, die die Vergangenheit abschaffte, während sie die Bedeutung der Gegenwart als eine Epoche mit eindeutiger Identität und Atmosphäre demontierte.

Anstatt die Schwelle in die Zukunft zu verkörpern, waren die ersten zehn Jahre des 21. Jahrhunderts das »Re-«Jahrzehnt. Die 2000er waren von dem Präfix »Re-« bestimmt: Revivals, Reissues, Remakes. Endlose Retrospektive: Jedes Jahr brachte eine neue Flut von Jubiläen mit dem dazugehörigen Überschuss an Biografien, Erinnerungen, Rockumentationen, Biopics und Jubiläumsausgaben von Magazinen mit sich. Und dann gab es die Bands, die sich reformierten; entweder waren es Gruppen, die sich für Nostalgie-Touren wiedervereinigten, um die leeren Konten der Band-Mitglieder wieder aufzufüllen (oder deren volle Konten noch weiter aufzublähen – Police, Led Zeppelin, Pixies … die Liste ist endlos), oder es waren Bands, die ins Studio zurückkehrten, um die Karrieren ihrer Musiker wieder anzukurbeln (Stooges, Throbbing Gristle, Devo, Fleetwood Mac, My Bloody Valentine …).

Wären doch bloß lediglich alte Musik und alte Musiker wieder zurückgekehrt, sei es in »archivierter Form« oder als wiederbelebte Performer. Aber die 2000er waren auch das Jahrzehnt des ungezügelten Recyclings: Vergangene Genres wurden wiederbelebt oder erneuert, verstaubte Aufnahmen wurden neu bearbeitet und neu kombiniert. Viel zu häufig konnte man unter der straffen Haut und den rosa Wangen junger Bands das schlaffe graue Fleisch alter Ideen durchschimmern sehen.

Je weiter die 2000er voranschritten, desto mehr schrumpfte der Abstand zwischen einem Ereignis und seiner Wiederverwertung auf frappierende Weise. Die I Love the … -Fernsehserie, die erst von der BBC ausgestrahlt und dann für Amerika von VH1 übernommen wurde, brauste durch die 70er, 80er und 90er und nahm dann – mit I Love the Millennium, die im Sommer 2008 gesendet wurde – die 2000er gleich mit, noch bevor das Jahrzehnt überhaupt vorbei war.

Inzwischen greifen die Tentakel der Wiederveröffentlichungsindustrie bereits nach den 90ern, mit Box-Sets und neu gemasterten oder erweiterten Versionen von deutschem Minimal Techno, Britpop und selbst den schwächsten Soloalben von Morrissey. Wir stehen bereits knöcheltief in einer zunehmenden Flut historisierter Vergangenheit. Wenn es um Revivals ging, hielt sich die Musikszene zunächst an die 20-Jahre-Regel: In Form von Post-Punk-, Elektropop- und zuletzt Gothic-Auferstehungen waren die 80er während fast der gesamten 2000er »in«. Aber mit der Nu-Rave-Mode und dem zunehmenden Interesse neuer Indie-Bands an Shoegaze, Grunge und Britpop deutete sich schon früh ein 90er-Revival an.

Das Wort »Retro« hat eine konkrete Bedeutung: Es meint die selbstreflexive Fetischisierung eines bestimmten Zeitraums (in der Musik, Mode oder im Design), die durch Nachahmung und Zitat kreativ ausgedrückt wird. Im engeren Sinne ist Retro die Domäne von Ästheten, Connaisseuren und Sammlern, also von Leuten mit beinahe akademischem Wissenshorizont und einem scharfen Sinn für Ironie. Aber das Wort ist inzwischen in einer viel weiter gefassten Bedeutung gebräuchlich und dient dazu, so ziemlich alles zu beschreiben, was irgendeinen Bezug zur jüngeren Geschichte hat. Im Sinne dieser weiter gefassten Verwendung des Wortes untersucht Retromania die gesamte Bandbreite des gegenwärtigen Gebrauchs und Missbrauchs der Vergangenheit von Pop. Die Gegenwärtigkeit der alten Popkultur wurde immer deutlicher spürbar: Komplette Backkataloge sind weiterhin verfügbar, auf YouTube ist ein riesiges kollektives Archiv entstanden. Gleichzeitig hat sich die Art und Weise, wie wir Musik konsumieren, verändert, nicht zuletzt dank eines Geräts wie dem iPod, der oft als persönlicher »Oldies«-Radiosender dient. Dazu kommt noch, dass Rockmusik nach etwa 50-jähriger Geschichte auf natürliche Weise ergraut ist: Es gibt Musiker, die immer noch touren und Alben aufnehmen, genauso wie Künstler, die nach langer Zeit des Schweigens wieder ein Comeback starten. Und schließlich gibt es »neue alte« Musik von jungen Leuten, die sich stark an der Vergangenheit orientieren, häufig auf eine allzu deutliche, überzogene Weise.

Auch frühere Epochen waren von der Vergangenheit besessen – angefangen bei der Ehrfurcht, die man in der Zeit der Renaissance vor der römischen und griechischen Antike hatte, bis hin zur Verehrung des Mittelalters während der englischen Romantik. Jedoch gab es bisher in der Geschichte der Menschheit keine Gesellschaft, die so von den kulturellen Artefakten ihrer eigenen jüngsten Vergangenheit besessen war. Das ist es, was Retro von der Begeisterung für Antiquitäten oder Historisches unterscheidet: die Faszination für Moden, Trends, Sounds und Stars, die man noch lebhaft in Erinnerung hat. Gemeint sind Phänomene, die man bereits bei der ersten Begegnung bewusst als Bestandteil der Popkultur wahrgenommen hatte – im Unterschied zu den Sachen, die unbemerkt an einem vorüberzogen, als man noch ein kleines Kind war.

Diese Form der Retromanie ist in unserer Kultur zu einer vorherrschenden Kraft geworden, es fühlt sich fast nach einer Trendwende an. Hindert die Nostalgie unsere Kultur daran, voranzupreschen, oder verfallen wir der Nostalgie, weil unsere Kultur keinen Fortschritt produziert und wir deshalb unweigerlich auf Zeiten zurückblicken, die uns bedeutsamer und rasanter erscheinen? Aber was passiert, wenn wir die Vergangenheit zur Gänze abgegrast haben? Bewegen wir uns auf eine Art kultur-ökologische Katastrophe zu, wenn der Flöz der Popgeschichte ausgebeutet ist? Und was von all dem, was sich in diesem Jahrzehnt ereignet hat, kann den Nostalgie-Wahn und die Retro-Trends der Zukunft bedienen?

Ich bin nicht der einzige, der diesen Perspektiven ratlos gegenübersteht. Ich habe aufgehört, die Kolumnen und Blogs zu zählen, die besorgt und händeringend fragen, was mit Innovationen und Umbrüchen in der Musik geschehen ist. Wo sind die bedeutenden neuen Genres und Subkulturen des 21. Jahrhunderts? Manchmal sind es die Musiker selbst, die an den ermüdenden Déjà-vus leiden. 2007 verkündete Sufjan Stevens in einem Interview: »Rock’n’Roll ist ein Museumsexponat … Es gibt heute großartige Rockbands – ich liebe die White Stripes, ich liebe die Raconteurs, aber sie sind reif fürs Museum. In die Clubs zu gehen, wo deren Musik gespielt wird, ist wie den Geschichtssender anzusehen. Sie wiederholen nur eine vergangene Stimmung. Sie beschwören die Geister dieser Epoche herauf – The Who, Punk Rock, die Sex Pistols, was auch immer. Aber das ist vorbei, die Rebellion ist vorbei.«

Aber freilich krankt nicht allein die Popmusik an der Vergangenheit: Man muss sich nur die Manie verdeutlichen, mit der Hollywood Remakes von Blockbustern macht, die ein paar Jahrzehnte zurückliegen: Alfie, Ocean’s Eleven, Die Bären sind los, Casino Royale, Der rosarote Panther, Hairspray, Reise zum Mittelpunkt der Erde, Fame, Tron, True Grit … Für die nahe Zukunft sind Remakes von Die Fliege (ja, er wird zum dritten Mal gedreht), Die unglaubliche Geschichte des Mister C., Das dreckige Dutzend … versprochen, während Russell Brand in Remakes von Mein böser Freund Fred auftreten wird. Wenn sie nicht bewährte Kassenschlager der Vergangenheit aufmotzt, adaptiert die Filmindustrie beliebte »Kult«-Fernsehserien für die Leinwand, wie Ein Duke kommt selten allein, Drei Engel für Charlie und Mini-Max, ebenso wie längst vergangene Kinder-Cartoons wie Yogi Bär und Die Schlümpfe. Irgendwo dazwischen liegt Star Trek, das Mitte 2009 auf die Leinwand zurückkehrte: Es handelte sich dabei nicht im engeren Sinne um ein Remake, sondern um ein Prequel (der Untertitel fiel ungewollt ironisch aus: »Die Zukunft hat begonnen«) mit Spock und Kirk in ihren jungen Jahren. Dieser Film versucht, zwischen der generationenübergreifenden, zunehmenden Begeisterung für die Originalfernsehserie aus den 60ern, den Filmen der 80er und der darauf folgenden Fernsehserie Star Trek: The Next Generation zu versöhnen.

Im Theater gibt es eine lange Tradition, kanonische Stücke und populäre Musicals wiederzubeleben. Aber auch hier setzen sich Remakes und Spinoffs mit Produktionen wie Spamalot (basierend auf Monty Python und die Ritter der Kokosnuss) und »Jukebox Musicals« durch, zusammengesetzt aus den Golden Oldies legendärer Bands oder aus klassischen Genres: We Will Rock You (Queen), Good Vibrations (Beach Boys), The Times They Are A-Changin’ (Bob Dylan) und Rock of Ages (80er-Hair-Metal). Es gibt sogar »Jukebox-TV« mit Sendungen wie Glee oder Pop Idol/American Idol (mit Beatles-Nächten, Stones-Nächten etc.), die Rock und Soul auf die harmlose Tradition des Showbusiness / leichter Unterhaltung / des Varieté herunterbrechen. Auch das Fernsehen ist mit Remakes auf den Zug aufgesprungen, allerdings für gewöhnlich mit weniger Erfolg als Hollywood. Die Leute in diesem Bereich beschreiben die zeitgenössischen Versionen klassischer Fernsehserien als ein »gut verkäufliches Konzept«, aber bisher haben sich die Versuche – glamouröse Remakes von Nummer 6, Detektiv Rockford, Drei Engel für Charlie, Polizeibericht, The Twilight Zone, Auf der Flucht, Kojak, Die Sieben-Millionen-Dollar-Frau, Hawaii Fünf-Null, Beverly Hills 90210, Dallas und beliebte Britcoms wie Der Aufpasser, Reggie Perrin und The Likely Lads –, gemessen an den Einschaltquoten, nicht besonders gut »verkauft« (tatsächlich werden diese Remakes in Amerika noch häufig vor dem Ende einer Staffel abgesetzt). Trotzdem versuchen sie es immer weiter: Es scheint eine unwiderstehliche Versuchung zu sein, das Altbewährte neu aufzubereiten, den Kultstatus des Originals immer weiter zu melken.

Dann gibt es da noch die Mode. Hier ist das Durchstöbern des Kleiderschranks seit längerer Zeit wesentlich für die Industrie, aber auch die Wiederverwertung alter Ideen hat im letzten Jahrzehnt ihren wahnwitzigen Höhepunkt erreicht. Designer wie Marc Jacobs und Anna Sui wühlten sich durch die Stile vergangener Epochen, sobald diese vorbei waren. Der Markt für Vintage-Klamotten boomte (»vintage« meint mittlerweile schon die 80er, denn heute ist die Nachfrage nach Designern dieser Zeit wie Azzedine Alaia groß) und gleichzeitig fand eine »Antikisierung« von Möbeln und Artefakten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt, da die Magazine für Innendesign und Architektur wie wild auf die modernen Möbel dieser Zeit abfuhren.

Das sind nur einige der sichtbarsten Schauplätze der Retromanie. Es gibt natürlich noch Retro-Spielzeuge (die Trends umfassen alles vom View-Master bis zur Blythe-Puppe aus den frühen 70ern) und Retro-Spiele (das Spielen und Sammeln von alten Computer-, Video- und Arcade-Spielen aus den 80ern). Es gibt Retro-Essen (die Sandwich-Kette Pret A Manger bietet »Retro Prawn on Artisan« an, eine aufgemotzte Version des in den 70ern beliebten Krabbencocktails) und es gibt genauso Retro-Inneneinrichtungen, Retro-Süßigkeiten, Retro-Klingeltöne, Retro-Reisen und Retro-Architektur. Es gibt sogar ab und an Werbung in Retro-Manier, wie etwa die für Heinz Baked Beans, die unzählige Schnipsel aus alten britischen Werbespots der 60er, 70er und 80er vermischt, gekrönt von dem unverwüstlichen Slogan »Beanz Meanz Heinz«. Am verrücktesten ist die Nachfrage nach Retro-Pornos: Sammler, die sich auf Erotik- und Sex-Magazine aus bestimmten Epochen spezialisieren; Websites mit Kategorien wie »Retro Face-Sitting«, »Retro Big Tits« und »Vintage Hairy« (gemeint sind Pornos vor der Brazilian-Waxing-Ära). Telefonsexwerbung im Kabelfernsehen wird hin und wieder von schwarz-weißen Pornos und Nacktfilmen aus den 50ern (oder früher) unterbrochen, die einen zu der Vorstellung verleiten, dass die lasziven Darstellerinnen mittlerweile entweder in Einrichtungen für betreutes Wohnen oder – schluck – bei den Würmern hausen.

Obwohl man überall auf Spuren von Retro trifft, nimmt es gerade in der Popmusik überhand. Und dort fühlt es sich besonders falsch an. Bei Pop ging es doch um die Verheißung der Gegenwart, oder? Pop wird immer noch als die Sphäre der Jugend betrachtet, und von jungen Menschen erwartet man nicht, dass sie in Nostalgie verfallen; sie leben noch nicht lange genug, um in einer Fülle wertvoller Erinnerungen zu schwelgen. Gleichermaßen bedeutet der Aufruf des Pop, »Be here now«, sowohl »Lebe, als gäbe es kein Morgen« als auch »Schüttel die Fesseln des Gestern ab«. Die Verbindung der Popmusik mit dem Neuen und dem Hier und Jetzt erklärt ihre beispiellose Fähigkeit, die Atmosphäre einer bestimmten Ära herauszudestillieren. In Historienfilmen und Fernsehsendungen beschwört nichts den Geist einer Epoche besser herauf als Popsongs aus der betreffenden Zeit. Mit Ausnahme der Mode vielleicht, dem anderen Feld der Popkultur, das völlig von Retro durchdrungen ist. In beiden Fällen ist es genau diese Aktualität, die Qualität des Gegenwärtigen, die dafür sorgt, dass Musik und Mode einerseits so schnell veralten aber andererseits, wenn sie nach einer angemessenen Pause schließlich wiederbelebt werden, so sehr dafür geeignet sind, den Geist einer Epoche zurückzuholen.

Bezogen auf den Mainstream-Pop handelte es sich bei vielen der in den 2000ern kommerziell erfolgreichsten Trends um die Wiederverwertung von Bekanntem: das Wiederaufflammen des Garage-Punk durch The White Stripes, The Hives, The Vines, Jet; der Vintage-Soul von Amy Winehouse, Duffy, Adele und anderen jungen britischen Frauen, die wie schwarze amerikanische Sängerinnen der 60er daherkommen; Frauen, die vom Synthie-Pop der 80er beeinflusst sind, wie La Roux, Little Boots und Lady Gaga. Aber seine wahre Herrschaft als bestimmende Geisteshaltung und kreatives Paradigma hat Retro im Land der Hipster, den Intellektuellen des Pop, errichtet. Es sind genau diejenigen, von denen man erwartet, dass sie als Künstler das Unerwartete und Wegweisende produzieren oder es als jene Konsumenten unterstützen, die am meisten auf die Vergangenheit fixiert scheinen. Demographisch betrachtet ist es genau die Gruppe, die auf dem neuesten Stand ist, aber anstatt sich als Pioniere oder Erneuerer hervorzutun, haben sie die Seiten gewechselt und sind zu Kuratoren und Archivaren geworden. Aus der Avantgarde ist eine Arrière-garde geworden.

Auf einmal war die ganze Musikhistorie verfügbar, und dies übte natürlich eine große Anziehungskraft aus. Das Gefühl, etwas zu erleben, konnte leicht erlangt werden (tatsächlich sogar leichter), indem man sich in die immense Vergangenheit zurückbegab, statt nach vorne zu gehen. Es handelte sich dabei immer noch um einen Forschungsdrang, der aber die Gestalt der Archäologie annahm.

Dieses Phänomen setzte bereits in den 80ern ein, doch im letzten Jahrzehnt ist es richtig eskaliert. Die jungen Musiker, die in den letzten zehn Jahren zur künstlerischen Reife gelangten, wurden in einer Umgebung groß, in der die musikalische Vergangenheit in einem beispiellosen und überwältigenden Maße verfügbar war. Das Resultat ist ein anderer Ansatz des Musik-Machens, der zu einem sorgfältig arrangierten Mosaik aus Verweisen, Andeutungen und Klanggeflechten führt, dem Produkt eines ausgesuchten und oftmals überraschenden Geschmacks, der die Zeiten und die Weltmeere überbrückt. Ich habe diese Herangehensweise »Plattensammler-Rock« genannt, aber heute muss man dazu überhaupt keine Platten mehr sammeln, nur MP3s anhäufen oder wahllos durch YouTube cruisen. Die gesamte Musik und alle Bilder, die man sich früher für Geld und unter körperlicher Anstrengung besorgen musste, sind jetzt kostenlos verfügbar und immer nur ein paar Mausklicks entfernt.

Es ist nicht so, als wäre in der Musiklandschaft der 2000er gar nichts passiert. Es herrschte ein wahnsinniges Gewimmel von Mikro-Trends, Subgenres und neu zusammengesetzten Stilen. Aber die bedeutsamsten Umwälzungen betrafen die Methode unseres Konsums und die seiner Verbreitung – das führte dazu, dass die Retromanie überhand nahm. Wir wurden zu Opfern unserer Fähigkeit, große Mengen kultureller Daten zu speichern, zu ordnen, jederzeit darauf zugreifen zu können und sie zu teilen. Es gab bisher nicht nur keine Gesellschaft, die derart von den kulturellen Artefakten ihrer unmittelbaren Vergangenheit besessen war, es gab auch keine Gesellschaft, der es möglich war, so einfach und unbegrenzt auf ihre unmittelbare Vergangenheit zuzugreifen.

Allerdings geht es in Retromania nicht einfach nur darum, Retro als Ausdruck einer kulturellen Regression oder als Dekadenz anzuklagen. Wie auch? Ich bin ja selbst mitschuldig. Ebenso wie ich als Journalist über »das schöne neue Grenzgebiet« der Musik, nämlich Rave und Elektro, geschrieben habe, und ebenso wie ich auf Buchlänge Bewegungen wie Post-Punk, bei denen es immer um das Zukünftige ging, gefeiert habe, so bin ich auch mit Begeisterung an der Verbreitung der Retro-Kultur beteiligt: als Historiker, als Rezensent von Wiederveröffentlichungen, als »Talking Head« in Dokus und als Verfasser von Booklets. Aber ich bin nicht nur beruflich involviert. Als Fan von Musik bin ich genauso der Retrospektion verfallen wie alle anderen auch: Ich durchforste Second-Hand-Plattenläden, grüble über Rockbüchern, bleibe bei VH1 Classic und YouTube hängen und schaue mir Rockdokus an. Ich sehne mich nach der Zukunft, die unentschuldigt fehlt, aber ich erliege auch der Verlockung der Vergangenheit.

Als ich für dieses Buch recherchierte, war ich beim Durchsehen meiner alten Artikel überrascht, wie sehr Themen, die mit Retro zu tun haben, bereits über lange Zeit im Fokus standen. Inmitten des begeisterten Geplappers vom »Next Big Thing« in der Musik, tauchte dessen Gegenpol auf – die seltsame Bürde des Rock, seine stetig schwerer werdende Vergangenheit zu schultern. Retro verfolgte mich, diese geisterhafte Umkehrung der »Zukunft«, über die ich mich sonst ausgelassen habe und wofür ich viel bekannter bin. Im Rückblick fällt mir auf, dass ich oft unbewusst meinen ganzen Glauben und Optimismus aufbrachte, um dieses Gefühl der Verspätung beiseite zu fegen, das meiner ganzen Generation eigen ist: die Ungnade der späten Geburt all derer, die die 60er oder Punk noch nicht als bewusste Akteure miterleben konnten. Genauso wie sie begeisterten, lösten die Bewegungen der 90er, Grunge und Rave, auch eine Art Erleichterung aus: Endlich passierte mal was, das dem sagenumwobenen Glanz der Vergangenheit auch in unserer Zeit, im Heute, ebenbürtig war.

Ich konnte eine Menge Zeit und Begeisterung für Bands aufbringen, die man einfach als einen Retro-Abklatsch abtun könnte. Ich griff auf ausgefallene Argumente und abgedroschene Metaphern zurück, um zu erklären, warum eine bestimmte Band, die ich bewundere, nicht bloß ein weiterer nekrophiler Grabräuber ist. Das aktuellste Beispiel dafür ist Ariel Pink, wahrscheinlich mein Lieblingsmusiker der 2000er, dessen Before Today überall als eines der besten Alben 2010 gefeiert wurde. Ohne einen Anflug von Verlegenheit beschreibt Ariel seinen Sound als ein verzogenes Echo des friedvollen Radiopops der 60er, 70er und 80er, als »retroartig«. Und das ist er auch! Nostalgie ist trotz allem eine der großen Emotionen im Pop. Und manchmal ist diese Nostalgie eben das bittersüße Verlangen nach seiner eigenen Version der verlorengegangenen Zeit, die auch immer eine goldene war. Um es anders auszudrücken: Einige der großartigsten Künstler unserer Zeit machen Musik, deren vordergründige Emotion auf andere Musik gerichtet ist, auf frühere Musik. Aber ist andererseits nicht etwas grundsätzlich falsch daran, dass so viel großartige Musik des letzten Jahrzehnts auch genauso gut 20, 30 oder sogar 40 Jahre früher hätte entstanden sein können?

Bisher habe ich die Einleitung eines Buches immer als letztes geschrieben. Dieses Mal beginne ich mit dem Anfang. Ich weiß noch nicht genau, was ich alles herausfinden werde, wenn ich mich erstmal auf den Weg gemacht habe. Dieses Buch ist in vielerlei Hinsicht eine Recherche. Nicht nur suche ich nach dem Wie und Warum von Retro als Kultur und Industrie, sondern auch nach den größeren Fragen, die das Leben in, von und mit der Vergangenheit betreffen. Warum empfinde ich Retro trotz der vielen Aspekte, die ich daran mag, nach wie vor als dürftig und beschämend? Wie neu ist das Phänomen der Retromanie und wie weit können seine Wurzeln in der Popgeschichte zurückverfolgt werden? Bleibt uns Retro erhalten oder wird es eines Tages zurückgelassen werden und sich nur als eine historische Phase entpuppen? Und wenn das so ist, was verbirgt sich dann dahinter?

DIE RETROLANDSCHAFT