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SIEBEN KLEINE VERDÄCHTIGE

Sie sind sieben an der Zahl und erst zwölf Jahre alt, als sie eines Tages beschließen, die Bank in ihrer Heimatstadt Roccella auszurauben. Sie brauchen das Geld, um ihrem kleinen mittelitalienischen Nest zu entfliehen, in dem es für sie keine Zukunft gibt und in dem Giuliano Gorelli und seine Gang den Ton angeben. So schmieden Billo, Cecconi, Corda, Gorilla, Raccani, Lonica und Fostelli einen gewagten Plan. Um den aber ins Rollen zu bringen, muss einer sich opfern und »Speckbacke«, die Tochter des Barbesitzers, in sich verliebt machen. Ein Marathon soll entscheiden. Doch plötzlich ist er wieder da – der Mexikaner! Am helllichten Tag steht er vor ihnen, mit seinem Reptiliengürtel und seinen kalten grünen Augen. Aus dem Nichts wiederaufgetaucht, in das er vor Jahren verschwunden war, als es kein illegales Geschäft gab, das er nicht kontrollierte. Von da an wird es für die sieben Freunde richtig gefährlich …

Christian Frascella hat einen frechen, leichtfüßigen Roman geschrieben, der uns mit viel Charme und Humor die sieben jungen Helden und ihren Traum vom besseren Leben vor Augen führt. Wir lernen ein Italien abseits von falscher Romantik kennen, in dem sich jeder auf seine Weise durchschlägt und froh ist, Freunde an seiner Seite zu wissen.

PRESSESTIMMEN ZU MEINE SCHWESTER IST EINE MÖNCHROBBE

Zu empfehlen ist Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe jedem Jugendlichen und Erwachsenen, denn der Roman ist nah dran an seinem bissigen und zugleich empfindsamen Anti-Helden. Er protokolliert dessen »beschissenes« Leben, aber auch seine Hoffnungen, Sehnsüchte und Glücksmomente. Und er macht das auf eine so selbstironische, charmante und schlagfertige Weise, dass das Lesen einen Riesenspaß macht. Ein Roman, der nicht mehr und nicht weniger will, als eine gute Geschichte gut zu erzählen und dies auf der seiner 320 Seiten tut.

DEUTSCHLANDRADIO KULTUR

Der Romanheld erzählt schnoddrig, salopp, flapsig, frech, respektlos, aber immer unglaublich witzig. Dann wieder lakonisch und knapp. Aber er ist – und das macht das Buch zu einem unglaublichen Lesegenuss – unheimlich intelligent, sehr wortgewandt und schwankt zwischen sehr komischen und sehr poetischen Bildern. Er ist ein vernachlässigter junger Mann, der mich an die Protagonisten von Wolfgang Herrnsdorfs Tschick oder Rolf Lapperts Pampa Blues erinnert. Ich empfehle dieses Buch jedem: jedem Erwachsenen und jedem Jugendlichen. Weil es nah dran ist an seinem stachligen und zugleich zarten Helden, weil es dessen beschissenes Leben genau protokolliert, aber genauso gut von seinen Träumen, Sehnsüchten und Wünschen erzählt. Und weil es so unglaublich selbstironisch und charmant geschrieben ist.

SYLVIA SCHWAB, HR2 KULTUR

Frascellas Held ist einer, der nicht aufgibt. Und immer deutlicher erblickt auch der Leser hinter dem Panzer aus Arroganz eine sensible verletzliche Seele. Er ist rekordverdächtig schlagfertig, was den humoristischen Reiz des Buches erheblich steigert. Christian Frascella erzählt seine Coming-of-Age-Geschichte schwungvoll und gut pointiert.

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

Der Ich-Erzähler hat viele Probleme (…) Aber es könnte schlimmer kommen. Denn wenigstens ist er wie zum Ausgleich in einem ganz wunderbaren Buch gelandet und die Schöpfung eines guten Autors: Denn Christian Frascella lässt ihn in einer Stimme erzählen, die gleichzeitig trotzig und abgeklärt ist, und hat ihm jenen jugendlichen Hochmut gegeben, hinter dem eine herzerwärmende Verletzlichkeit und Sehnsucht nach Wärme zu erkennen sind.

KULTURSPIEGEL

Kaum ein Coming-of-age-Roman mit einem männlichen, wütenden Ich-Erzähler, der ohne den Vergleich zu J. D. Salingers Fänger im Roggen auskommt. Hier passt es aber perfekt: Wegen der Unmittelbarkeit und Heftigkeit der Sprache, wegen der Zerrissenheit und Verlorenheit des Protagonisten. Intensiv geschrieben.

WDR 1LIVE

CHRISTIAN FRASCELLA

SIEBEN KLEINE

VERDÄCHTIGE

ROMAN

AUS DEM ITALIENISCHEN VON
ANNETTE KOPETZKI

Für Domenico Morreale, den lebenslangen Freund

Der Jäger zog dem Wolf den Pelz ab und ging damit heim.

Jacob und Wilhelm Grimm, Rotkäppchen

Inhalt

1 – Mittwoch, 21. Mai

2 – Donnerstag, 22. Mai

3 – Freitag, 23. Mai

4 – Samstag, 24. Mai

5 – Sonntag, 25. Mai

6 – Montag, 26. Mai

7 – Dienstag, 27. Mai

8 – Mittwoch, 28. Mai

9 – Donnerstag, 29. Mai

10 – Sonntag, 1. Juni

Dank

1

Mittwoch, 21. Mai

Sie waren alle etwa zwölf Jahre alt, als sie beschlossen, die Bank von Roccella, ihrer kleinen Stadt, auszurauben. Die Idee stammte von Billo und Gorilla.

Nach einem Fußballmatch auf der Piazza, sie kamen gerade wieder zu Atem und erfrischten sich am Brunnen, rückte Billo mit der Sache raus.

»Wie wärs, wenn wir uns ein bisschen Geld beschaffen?«

Ranacci sah ihn misstrauisch an. »Wie denn das?« Ranacci kaute immer auf irgendetwas herum.

Billo war ganz ernst. »Ich hab mir was überlegt. Wir haben alle Geldprobleme, außer Corda …«

»Ist doch nicht meine Schuld!«

»Keiner sagt, dass es deine Schuld ist.«

»Obwohl man unter Freunden auch mal teilen könnte«, sagte Cecconi und stieß ihn mit dem Ellenbogen.

Genervt versuchte Corda auszuweichen, doch Cecconi drehte ihm blitzschnell einen Arm auf den Rücken. »Auaaa!« Den Griff hatte er von seinem Vater, der hatte ihm das als Judo verkauft.

»Hör doch auf mit dem Scheiß!«, rief Billo wütend. Cecconi ließ Corda abrupt los, und der fiel mit dem Hintern auf den Boden.

Die anderen lachten. Fostelli half Corda beim Aufstehen.

»Aufhören hab ich gesagt!«

Alle verstummten.

Billo kickte einen Stein weg, der über den ganzen Platz flog und an einen Pfeiler prallte.

»Pfosten!«, rief Cecconi.

Billo sah ihn böse an. Wenn Billo einen so anguckte, war man ziemlich sicher zu weit gegangen.

Cecconi starrte auf den Boden, als wären ihm gerade ein paar Münzen runtergefallen.

»Also hört zu, ich habe mir da einen Plan ausgedacht«, fuhr Billo fort.

Corda: »Ach nee, du und denken?«

»Dir tut der Arsch wohl nicht mehr weh, was?« Billos dunkle Augen waren nur noch zwei Schlitze. »Denn wenn er dir nicht mehr wehtut, tret ich dir so lange rein, bis nichts mehr übrigbleibt.«

»Was hast du dir ausgedacht?«, fragte Fostelli, um die angespannte Lage zu entschärfen.

»Einen Plan, hab ich doch gesagt.«

»Das war klar … Aber was denn für einen Plan?«

Billo machte ihnen ein Zeichen, ihm zu folgen. Er ging zu einer der Bänke rings um die Piazza und setzte sich auf die Lehne.

»Wenn das, was ich jetzt sage, aus dieser Gruppe herausdringt, schlag ich euch allen die Fresse ein.«

»Und Gorilla? Dem erzählen wirs nicht?«, fragte Cecconi.

In Wirklichkeit hieß er Gorelli, aber alle nannten ihn Gorilla, und darauf war er stolz. Er trommelte sich gern mit den Fäusten auf die Brust und stieß dabei kehlige Schreie aus. Er war überzeugt davon, dass die Mädchen das mochten, weil sie lachten, wenn sie ihn so sahen.

»Der Plan ist von Gorilla und von mir, und ich hab ihm auch gesagt, er soll kommen«, brummte Billo missmutig. »Aber er wollte Totò im Fernsehen gucken … Mann, Totò!«

»Ich mag Totò, der ist lustig. Was fürn Film zeigen sie?«

Billo musterte Cecconis gutmütige, zerstreute Miene, das hellblaue Trikot vom SSC Napoli mit der verblichenen Aufschrift »Buitoni«. Er machte ein angewidertes Gesicht »Den über deine Schwester, die Schlampe!«

Alles lachte, bis auf einen. Wenn damals etwas heilig war, dann die Lieblingsmannschaft und die Frauen der eigenen Familie. »Was hatn meine Schwester damit zu tun?« Cecconi gab ihm einen Stoß, und Billo stürzte sich auf ihn, aber er kauerte schon in Verteidigungsstellung. Eine Judostellung natürlich.

»Ruhig, Leute«, sagte Fostelli mit seiner Erwachsenenstimme. »Lasst uns vernünftig reden.« Er legte Cecconi eine Hand auf die Schulter und lächelte Billo versöhnlich zu. »… Jetzt erzähl weiter.«

»Kannst dich beim Don bedanken«, sagte Billo. In der allgemeinen Stille blickte er sie alle nacheinander an. »Es geht um die Bank.«

»Die Bank?« Ranacci spuckte einen Aprikosenkern aus. »Du meinst die … die da?«, und er zeigte auf die einzige Bank von Roccella, deren Eingang direkt an der Hauptstraße lag.

»Genau«, bestätigte Billo. »Die da. Scheiße hey, jetzt zeigt doch nicht alle mit dem Finger drauf und dreht euch nicht um!«

Aber natürlich hatten sich schon alle umgedreht.

»Ihr seid echt bescheuert! Haben wir etwa noch eine andere Bank hier? Guckt zu mir!«

Alle sahen ihn an.

Billo drehte ihnen den Rücken zu und ging weg. Die anderen folgten ihm.

»Ich habe diese Bank genau gecheckt. Und einen Plan entworfen.«

»Wozu?«

»Um sie auszuräumen!«

»Tsss«, Cecconi schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Du bist ja voll bescheuert, Mann!«

Corda lächelte. »Was hast du denn für einen Film gesehen, Billo? Der Tag der Hunde

Billo machte einen Schritt auf Corda zu: »Erstens heißt der Film Hundstage. Hirnloser Spacken. Zweitens, du und dieser andere Idiot, ihr dürft euch als rausgeschmissen betrachten, ihr gehört nicht mehr zur Bande.« Der andere Idiot war Cecconi. »Ich brauche aufgeweckte Typen.« Er sah Ranacci an, er sah den kleinen Lonica an.

»Du willst eine Bank überfallen?«, fragte Fostelli ruhig.

»Genau. Dafür brauchen wir ja auch eine Bande. Die Bande für den Banküberfall.«

»Der ist voll bescheuert, ich hab’s euch doch gesagt.«

Billo gab Cecconi einen Stoß. Und wo er schon einmal dabei war, versetzte er Corda einen Fußtritt.

»Auaaa!«

»Schluss jetzt!« Das war wieder Fostelli. »Und du erklär das genauer.«

Billo fing wieder an: »Ich habe mich postiert und die Lage beobachtet. Ich habe Uhrzeiten kontrolliert. Ich habe gezählt, wie viele Leute da drin arbeiten.«

»Die Mutter von Muschio arbeitet da!«, mischte sich Ranacci ein. »Du willst die Mutter von Muschio überfallen?« Muschio war gefährlich. Er hing mit der Gang der Großen rum.

Als Corda und Cecconi begriffen, dass es Billo ernst war, fingen sie an zu quengeln: »Wir wollen auch die Bank überfallen! Wir wollen mitmachen!«

»Ruhe!« Diesmal brachte Fostelli sie zum Schweigen. Dann, zu Billo gewandt: »Sag, was du rausgefunden hast.«

Billo zählte alles auf, was er beim Überwachen entdeckt hatte. Erstens: Morgens um acht kamen die Uniformierten mit dem Kleinlaster das Geld abholen; empfangen wurden sie abwechselnd vom Direktor und von Muschios Mutter, der Vizedirektorin. Zweitens: Kurz bevor die Typen mit dem Kleinlaster wegfuhren, begann der Wachmann, dieser kleine Dicke, der schon dabei war, bevor sie geboren wurden, seinen Dienst … Drittens: Mit dem Direktor, der Vizedirektorin, den Wachleuten und denen, die drinnen hinter den Schaltern saßen, kam man auf nicht mehr als sieben Personen. Sie waren auch zu siebt. Also ein Kampf auf Augenhöhe. Viertens: Kurz nachdem die Bank um viertel vor fünf schloss, gingen der Direktor oder die Vizedirektorin, je nachdem wer aufgemacht hatte, nach Hause, außerdem zwei Angestellte; also blieben einer der beiden Chefs, zwei Kassierer und der Wachmann.

»Alles klar?«, fragte Billo. »Könnt ihr mir folgen?«

»Ja«, antwortete Ranacci. »Nach Schalterschluss sind sie praktisch nur noch zu viert.«

»Gut. Um Punkt fünf Uhr lässt sich der fette Wachmann einen Kaffee aus der Bar bringen.« Er zeigte auf die Bar Gianni an der gegenüberliegenden Ecke der Piazza. »Er bestellt Kaffee für sich und für den anderen mit der Mütze, den ältesten Angestellten. Eine Minute später kommt Speckbacke, die Tochter von Gianni, mit den beiden Kaffees auf einem Tablett. Inzwischen zählen die Kassierer und der Aufseher drinnen das Geld, da hantieren die mit so viel Schotter, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen. Sie stecken das Geld in Säcke und schließen die Geldsäcke im Safe ein …«

»Was issn das, ein Säif?«

»Ein Safe ist das, wo sie die Säcke reintun«, erklärte Corda mit aller Geduld.

»Alles klar?«, wiederholte Billo. »Habt ihr die Sache vor Augen?«

»Hm …«, machte Fostelli.

Cecconi zwinkerte Lonica zu, um die Skepsis des Don zu unterstreichen, aber Lonica beachtete ihn nicht. Er überlegte.

»Dieser Kaffee«, fuhr Billo fort, »dieser Kaffee, den die zwei immer um fünf Uhr nachmittags trinken, ist unser Passierschein für den Bankraub.«

Ranacci, der schon wieder auf etwas herumkaute, sprach aus, was die ganze Gruppe sich jetzt fragte: »Ja, aber was hat dieser Kaffee damit zu tun?«

Genau darauf hatte Billo gewartet. Er nickte langsam, als wollte er sagen: »Hier wollte ich euch haben, Soldaten.«

»Es geht nicht direkt um den Kaffee.« Er zog die Augenbrauen hoch. Und fügte hinzu: »Sondern um Speckbacke!«

Keiner wollte Speckbacke, die in Wirklichkeit Letizia hieß, gerade vierzehn geworden war und in der Bar ihres Vaters als Kellnerin arbeitete. Keiner mochte sie, weil sie über achtzig Kilo wog und ungefähr einen Meter fünfzig groß war.

Die Kunden der Bar taten, als bemerkten sie sie und ihre fettigen, zerzausten Haare und den ewig feuchten Flaum unter ihrer Nase nicht.

Die Folge war, dass Speckbacke genau wusste, dass sie Speckbacke war. Aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien sie das nicht allzu sehr zu bekümmern, sie ertrug ihren Zustand mit dem glücklichen Blick und der heiteren Sanftmut einer Kuh auf der Weide.

»Jetzt geht es darum«, erklärte Billo, »wer von uns es hinkriegt, dass Speckbacke sich in ihn verliebt. Von Speckbacke zum Kaffee ist es dann nur ein kleiner Schritt.«

Fostelli verscheuchte die dichten Nebelschwaden, die noch immer in den Köpfen der anderen waberten: »Im Klartext meinst du, dass einer von uns sich an die … es hinkriegen muss, dass Speckbacke sich in ihn verliebt, damit er irgendwelche Schlafmittel in den Kaffee schütten kann, den sie dem Wachmann und dem anderen bringt? Und dann wird die Bank ausgeraubt, richtig?« Sein Tonfall ließ einen Hauch Pessimismus erkennen.

»Mamamia, bist du echt irgendwann heimlich durchgeknallt, und wir haben’s nicht gemerkt?«, schrie Cecconi.

Billo ließ sich nicht beirren. »Der Don hat recht. Jetzt brauchen wir nur noch einen Freiwilligen, in den sie sich verliebt. Von mir kommt schon der Plan.«

Ranacci spuckte auf den Boden. Ein Windstoß lenkte die Spucke auf Billos Fuß, der keinen Mucks machte. Er wartete nur darauf, dass Ranacci, der ewige Nörgler und Oberfeigling, sich abmeldete. Prompt tönte der: »Du bist verrückt. Wer hat denn den Nerv, sich diese eklige Mülltonne aufzuladen? Ich bestimmt nicht. Da könnt ihr einen drauf lassen.« Gesagt, noch mal gespuckt, diesmal zur Seite.

»Immer nährt man Schlangen am Busen, und nie wechseln sie die Haut«, sagte Billo feierlich. »Und du, Ranacci, bist eine Schlange!«

»Naja …«, versuchte der Don einzuwenden. Aber diesmal mischte er sich nicht ein. Auch die anderen nicht.

Ranacci machte einen Schritt auf Billo zu. »He, mich nennst du nicht Schlange, ist das klar? Ich hab wenigstens den Mut, es dir jedes Mal ins Gesicht zu sagen, wenn du Scheiß baust, und das kommt ziemlich oft vor … ich bin nicht wie die da«, er zeigte mit dem Kopf auf den Rest, »die sich über dich lustig machen, sobald du dich umgedreht hast.«

»Und ausgerechnet du, der Mutigste, willst nicht mitmachen?«, provozierte ihn Billo. »Bist du draußen?«

»Du sagst es!«

»Das heißt … kein Trubel, aber auch keine Rubel.«

Ranacci staunte. »Du willst echt …«, fing er an, »du willst die Bank knacken? Sag mal, haben sie dir ins Hirn geschissen?«

»Ins Hirn geschissen? Der Plan steht. Und wenn wir’s schaffen, weißt du, wie viel Kohle das bringt, mein guter Ranacci?«

Kohle, Kröten.

Einen Haufen Geld.

Ranacci schwankte ein wenig.

»Und wer sagt denn«, fuhr Billo fort, »dass gerade du Speckbacke übernehmen musst? Keiner.«

»Stimmt«, überlegte sein Gegenüber. »Keiner.«

»Es geht hier sowieso weniger um Speckbacken«, stachelte Billo sie an, »als um das, was danach kommt. Geld. Mit dem wir machen können, was wir wollen. Lonica kann sich endlich ein Paar eigene Boxhandschuhe kaufen, und für dich, Cecconi, steht dem neuen Trikot von Maradona nichts mehr im Weg …«

Cecconi riss die Augen auf. »Mann, das wär ja geil.«

»Wenn du nur glücklich bist, Ceccò … außerdem Sticker, Fußballschuhe für mich. Ach, was rede ich … neue Fahrräder! Der neuste Atari! Wir könnten sogar alle zusammen ein Haus mieten und unseren Unterschlupf daraus machen. Ist euch klar, was das bedeutet? Scheiß auf diese verfluchte Piazzetta …«

»Scheiß auf den Park, wo die Großen rumhängen!«, rief Lonica aus, der schon Finten mit seinen imaginären Boxhandschuhen probierte.

»Die können uns mal, die Großen, wenn wir einen eigenen Unterschlupf haben«, erklärte Ranacci versonnen.

»Muschio kann uns mal!«, sagte Lonica.

Jetzt schrien sie alle durcheinander. Sogar Fostelli, von der Begeisterung mitgerissen: »Scheiß auf Muschio!«

»Scheiß auf die Großen!«

»Scheiß auf den Mexikaner!«

Schlagartig brach das Geschrei ab.

Das hatte Corda gerufen.

Lonica war aschfahl im Gesicht, und Ranacci hatte aufgehört zu kauen. Fostelli und Cecconi blickten sich nervös um.

Billo, ebenfalls bleich, schaute ihn böse an. »He, hast du sie noch alle?«

Corda senkte den Kopf. »Entschuldigung … entschuldigt bitte.«

»Dieser Name …«

»Ich weiß … ich weiß ja«, stotterte Corda.

Das Schweigen im Halbkreis der sechs Jungen dauerte noch ein paar Augenblicke, dann löste sich die Spannung, kaum dass Ranaccis Kiefer wieder zu arbeiten begann.

»Und wie … wie wird der Freiwillige nun gefunden?«, fragte Corda, nachdem er sich geräuspert hatte.

»Hä? Und wie … und wie?«, äffte Cecconi ihn nach. Er sah sich schon auf dem Sattel eines Rennrads wie die von der Tour de France.

Jetzt waren alle wieder entspannt. Billo spürte, dass er sie in der Hand hatte. »Okay, ich habe zwar den Plan ausgearbeitet, aber ich bin trotzdem mit im Spiel. Wir machen einen Marathonlauf. Der Letzte übernimmt Speckbacke. Oder der Erste, der aufgibt.«

Wieder Schweigen.

Ein riskantes Spiel. Bestürzt blickten die sechs auf der Piazzetta einander an. Jeder versuchte, im Gesicht seiner Kameraden die eigene Angst bestätigt zu finden.

»Wenn einer nun nicht mitmachen will?«, wagte Cecconi zu fragen. »Was passiert dann?«

»Ihm passiert gar nichts«, antwortete Billo. »Bloß dass er dann von der Beute nichts abkriegt. Wir anderen laufen mit neuen Sachen rum, haben haufenweise scharfe Weiber, und er sitzt zu Hause und holt sich traurig einen runter.«

»Hm …«

»Aus der Bande wird er natürlich auch rausgeworfen.«

»Hm …«

»Denn wir sind wie die Musketiere des Königs: alle für einen und einer für alle. Falls das noch nicht klar war.« Er starrte Cecconi an. »Hast du’s jetzt kapiert?«

»Hm, hm …«, kam es mit widerwilligem Nicken. »Ja, hab kapiert.«

Fostelli kratzte sich am Kopf. »Ich hätte da ein paar Einwände moralischer Art, Billo. Ich möchte euch daran erinnern, dass Stehlen, auch wenn uns der Coup gelingt, nicht in Ordnung ist. Lügen ist nicht in Ordnung. Und so weiter. Wie halten wir es damit?«

Gespannt auf die Antwort, hob Ranacci eine Augenbraue.

Billo schien darüber nachzudenken. Dann wandte er sich ab und ging ein paar Schritte auf die entfernteste Ecke des Platzes zu.

Die anderen verteilten sich rings um ihn.

»Der Don hat recht … die Moral …«, und sofort wurde er wütend. »Mann, geht mir doch nicht auf die Eier mit eurer Moral! Wacht auf, Leute! Guckt euch doch an. Wir haben gar nichts. Einen Scheiß haben wir. Seht doch, wie wir rumlaufen. Kurze Hosen und T-Shirts vom Wochenmarkt. Die Weiber gucken uns nicht mit dem Hintern an. Nie auch nur eine Lira in der Tasche, nicht mal für ein Eis. Arme Schweine, mal ehrlich! Elend verrecken werden wir, alle miteinander, außer Corda. Und wer weiß! Sein Vater fällt womöglich in Ungnade, und aus dem Sohn des Anwalts, der mit dem Bürgermeister rummacht, wird einer von denen, die in der Scheiße sitzen wie wir, vielleicht sogar noch tiefer, kann ja sein. Wir sind wenigstens dran gewöhnt …«

Cordas Miene verfinsterte sich.

»Mit einem reinen Gewissen waschen wir uns nicht mal die Achseln, wenn sie stinken, Genossen!«, schrie Billo. Dann senkte er die Stimme. »Oder wollt ihr auch so werden wie eure Eltern?«

Alle dachten an ihre Eltern oder an die, die diese Rolle übernommen hatten.

Völlig unerwartet kam die erste Reaktion von Ranacci. »Ich bin dabei«, sagte er.

»Ich auch.« Lonica.

»Einen Versuch könnte man machen«, gab der Don zu.

Cecconi zuckte die Achseln. »Na gut«, brummte er schließlich. »Wann machen wir diesen Marathonlauf?«

»Übermorgen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

»Und Gorilla?«, fragte er weiter. »Macht der auch mit?«

»Klar. Wir sind uns schon einig.«

»Aber …«, fing der kleine Lonica an. Aber dann verstummte er und stierte auf einen Punkt hinter Billo.

Alle folgten seiner Blickrichtung.

Mitten über die Piazza ging, ein Tablett in der Hand und beschwert von den Pfunden, um die sich Hose und Hemd spannten, die Speckbacke.

»Scheiße!«, sagte Fostelli, der solche Ausdrücke selten benutzte.

Ranacci fing an zu husten.

Da sie sich beobachtet fühlte, warf Speckbacke sich in die Brust wie ein Topmodel auf dem Laufsteg. Sie hob das Tablett höher, so dass es gegen ihren prallen Busen stieß und in eine Schräglage geriet, bei der die Tassen klirrten. Kurz vor der unabwendbar scheinenden Katastrophe rettete sie die Lage mit einer geübten Bewegung des Unterarms, um dann in Richtung Bank weiterzugehen. Sie überquerte die Straße, ging auf das Gebäude mit dem Kreditinstitut im Erdgeschoss zu und blieb vor der Tür stehen.

Der Wachmann vom Sicherheitsdienst kam in Begleitung eines hageren Angestellten mit einem zerdrückten Hut heraus.

Die Türen hatten sie offen gelassen.

Sie zuckerten ihren Kaffee und tranken ihn. Zufrieden machte der Wachmann eine lobende Kreisbewegung mit der Hand. Dann hielten sie sich mindestens fünf Minuten bei einem Schwätzchen mit Speckbacke auf, die oft lachte und ihren dicken Kopf zu den Jungen hindrehte.

»Habt ihr gesehen?«, fragte Billo hinterher.

»Sie ist echt zum Kotzen!«, sagte Cecconi.

»Das meine ich nicht! Habt ihr gesehen, dass beide rauskommen, um einen Kaffee zu trinken, und dann eine ganze Weile draußen bleiben?«

»Ja.«

»Habt ihr gesehen, dass sie die Türen offen lassen?«

»Ja …«

»Ahnt ihr jetzt, was es bedeutet, wenn wir ein Schlafmittel in diesen Kaffee tun?«

Ranacci: »Dass sie umkippen.«

Fostelli: »Und den Eingang unbewacht lassen.«

Lonica: »Jeder kann einfach in die Bank reingehen.«

Billo triumphierend: »Und das können wir sein!«

Sie blickten sich an, gierig und aufgeregt.

Corda begann, auf der Stelle zu laufen, dabei keuchte er vernehmlich.

»Was soll der Scheiß?«, fragte Ranacci.

»Ich fange mit dem Training an. Damit ich nicht als Letzter ankomme und mir dieses Monster einhandle.«

Alle lachten, er auch. Es war ein nervöses Lachen.

Auf dem Nachhauseweg kam Billo an dem kleinen Laden von Melo, dem Schuster, vorbei. Der Mann saß vor seinem Geschäft, um eine Zigarette zu rauchen, und grüßte Billo mit erhobenem Arm, wie er es bei allen tat.

Billo erwiderte den Gruß, ohne anzuhalten.

»Warte«, sagte Melo und kam ihm auf dem Gehweg hinterher.

Billo sah ihn interessiert an. Um die fünfzig, dichte, dunkle Haare, die glänzten wie frischpolierte Mokassins.

»Du bist Emanuele, stimmt’s?«, fragte er.

Billo blähte die Brust auf. »Ich bin Billo.«

»Aber dein … dein Taufname ist Emanuele?«

»Ja. Aber mir ist der Nachname lieber. Billo, mehr nicht.«

Der Schuster lächelte unter seinem schwarzen, gepflegten Schnurrbart. »Wie beim Militär«, sagte er.

Billo nickte. »Wie in der Schule.«

»Wie auf dem Platz«, schloss der Mann und zog hastig am Rest der Zigarette. »Ich habe dich spielen sehen, Billo.«

»Ach ja?«

»Letzten Sonntag. Du bist sehr gut.«

Das Kompliment machte Billo stolz, obwohl er schon wusste, dass er gut war, wenn er einen Fußball vor den Füßen hatte. Schon seit der ersten Grundschulklasse spielte er bei Roccellese. Der Bruder seiner Mutter, Onkel Michele, hatte ihn auf den Fußballplatz mitgenommen und ihm alles erklärt, sogar das Abseits. Kurz bevor er nach Deutschland ging, hatte er Billo bei den Minis eingeschrieben. Wenn er anrief, wollte er nicht seine Schwester sprechen, sondern Emanuele, um über Fußball und seine Karriere zu reden. »Ich sorge dafür, dass Leverkusen dich einkauft!«, sagte er. »Dann kommst du auch nach Deutschland, wirst schon sehen, was für ein Unterschied zu diesem Scheißitalien.« Doch an seiner traurigen Stimme merkte man, dass ihm, wenn schon nicht ganz Italien, mindestens aber Roccella fehlte.

»Danke«, sagte Billo zu dem Schuster.

Der drückte die Zigarette mit dem Schuhabsatz aus. Er grinste. »Genau das verschafft mir mein Brot. Raucher haben immer verbrannte Sohlen.«

Billo nickte. »Wenn keiner den Aschenbecher erfunden hätte, wärst du jetzt Millionär!«

Der Schuster lachte. »Da hast du wahrscheinlich recht.« Dann wurde er wieder ernst. »Hör zu, hast du einen Manager?«

»Nein.« Billo spitzte die Ohren. »Warum?«

»Weil ich einen kenne, in Vincipasso, das ist nicht weit von hier.«

»Ich weiß, wo Vincipasso ist.«

»Letzten Sonntag habe ich dich spielen sehen, und da hab ich gedacht: Den muss ich Nicola Santovito zeigen.«

»Und wer ist dieser Nicola Santovito?«

»Ein Manager, was sonst?«

»Aha.«

»Wenn Nicola herkommt und dich sieht, nimmt er dich bestimmt unter Vertrag, und dann findet er eine tolle Mannschaft für dich!«

Billo schwieg, starrte ihn aber mit großen Augen an.

»Wo spielt ihr nächsten Sonntag?«

»Heimspiel gegen Montesposchiese! Sie sind auf dem ersten Tabellenplatz und wir mit einem Punkt Abstand auf dem zweiten.«

»Das Spitzenspiel der Saison! Da komme ich zuschauen und versuche, meinen Freund mitzubringen.«

»Danke …«, begann Billo, aber der Schuster unterbrach ihn mit einer Handbewegung, als wollte er sagen: »Ist doch selbstverständlich«, und ging wieder an seinen Platz zurück.

Als Corda zu Hause ankam, war es zehn vor sieben. Im Eingang lauschte er reglos, noch immer außer Atem, dem Geräusch des Besteckklapperns aus dem Esszimmer. Er wusste, dass sie gerade erst angefangen hatten. Vielleicht würden sie diesmal drüber hinwegsehen, dachte er.

Aus der Küche kam Nenette. »Guten Abend, Vittorio, Ihre Familie isst schon zu Abend. Und Sie sind verspätet.«

Corda nickte.

»Ihre Mutter hat mir gesagt, dass Sie schon wissen, was Sie zu tun haben …«

»Können wir nicht so tun, als wäre ich schon weggegangen, Nenette?«, wagte er flüsternd einen Versuch, die Ohren auf das Geschehen nebenan gespitzt. »Sie haben ja nicht mal gemerkt, dass ich nach Hause gekommen bin.«

»Das denkst du, Vittorio!«, ertönte der eisige Ruf seines Vaters vom Tisch.

»Es ist etwas dazwischengekommen, Papa«, wimmerte er, und weil er nicht den Mut hatte, das Esszimmer zu betreten, sprach er, von der Gouvernante beobachtet, mit der Wand.

»Uhrzeiten müssen eingehalten werden. Dein Bruder Germano hat sich während all der Jahre, die er in diesem Haus gelebt hat, kein einziges Mal erlaubt, zu spät zum Abendessen zu erscheinen.« Das war seine Mutter. »Nenette?«

Nenette ging ins Speisezimmer. »Ja, Signora?«

»Sie begleiten ihn.«

Die hohe Stimme eines kleinen Mädchens gellte in Cordas Ohr: »Ja, bring ihn in das Zimmer mit dem Lämpchen. Das geschieht ihm nur recht.«

»Du isst weiter, Ludovica!«, ertönte der Befehl des Vaters.

Nenette kam rückwärts aus dem Esszimmer, ohne dem Ehepaar Corda den Rücken zuzuwenden. Sie heftete ihre großen blauen Augen auf den Jungen und versuchte, eine strenge Miene aufzusetzen. Immerhin war sie nur sieben Jahre älter als er. »Gehen wir, Vittorio?«

Während er ihr durch den langen Flur folgte, vermied er es, ins Esszimmer zu blicken.

Ludovica lachte.

»Sei still und iss«, sagte die Mutter. »Sonst musst du auch hinein.«

Corda und Nenette kamen zu einer Tür, die kleiner und enger war als die anderen. Nenette öffnete. »Bitte … gehen Sie hinein.«

Das Kämmerchen war nicht größer als ein mal zwei Meter.

Wie eine rote Warnleuchte im Dunkeln warf ein Lämpchen sein trauriges, trübes Licht auf einen hölzernen Betschemel.

Nenette nahm das Kissen von der Kniebank und wies mit dem Finger auf das nackte Holz.

Corda erinnerte sich an den Schmerz, ein Stöhnen entfuhr ihm, noch bevor er die Knie aufstützte.

»Tun Sie jetzt Ihre Buße, Vittorio. Und versuchen Sie, dem Vorbild des Signorino Germano zu folgen.«

Auf dem harten Holz kniend, faltete Corda die Hände. Seine Augen gewöhnten sich rasch an das Halbdunkel.

»In diesem Haus wird um halb sieben gegessen. Vergessen Sie das nicht«, sagte Nenette, die Tür hinter sich schließend.

In völliger Finsternis, die das Lämpchen nur schwach durchdrang, und bei zunehmender Wärme im Raum, dachte Corda an seinen Bruder, der weit weg in irgendeinem Zimmer eines Schweizer Internats saß. Und er dachte daran, wie perfekt sein Bruder sein musste, wenn sogar Nenette, die bei keinem Namen die richtige Betonung traf, Germanos Namen fehlerfrei aussprach.

Vier große Mietshäuser, alle so hoch wie breit, mit insgesamt einhundertzwanzig Wohnungen standen um einen Innenhof, in dem die kleinsten Kinder spielen konnten. Ihre Familien überwachten sie von den Balkonen aus, indem sie sich über die aufgehängte Wäsche beugten.

Billo hatte den kahlen Vorraum hinter sich gelassen und war durch die kleine Tür gegangen, die auf den Hof führte. Hier fand er sich inmitten einer Schar brüllender Rotznasen zwischen drei und acht Jahren wieder, die ein erfundenes Spiel spielten, bei dem sie einander verfolgten und ihre Namen riefen. Einer der Spieler gehörte eindeutig einer anderen Altersklasse an, Antonio Gorelli, genannt Gorilla, der zerstreut mit einem Ball dribbelte, aus dem die Luft raus war.

»He, Gori«, sprach Billo ihn an. »Na, war der Film mit Totò gut?«

Gorilla drehte sich um. Unter den schwarzen, ein wenig zu langen Haaren hatte er ein blaues Auge, außerdem einen dunkelvioletten Fleck am Kinn. Er versuchte ein Lächeln, das ihm nicht recht gelang. »Hallo Billo«, sagte er mit hauchdünner Stimme.

Billo hatte ihn schon tausendmal so zugerichtet gesehen. Aber er erschrak immer wieder. Gorilla wurde regelmäßig von seinem Bruder Giuliano verprügelt. »Was ist passiert?«, rutschte Billo trotzdem heraus.

Gorilla wusste, dass Billo es wusste, dass alle es wussten. »Ich bin gefallen und hab mir das Gesicht am Tisch aufgeschlagen.«

Immer war er gefallen, das war die verängstigte, banale Version, die er der Welt auftischte. Und hatte sich gestoßen. Am Tisch, an einem Stuhl, einem Schrank mit offener Tür. Ihm sei oft schwindelig, behauptete er.

Billo wandte den Blick von dem verwüsteten Gesicht. »Die anderen sind einverstanden mit dem Bankraub.«

Gorilla versetzte dem Ball einen Tritt, so dass er weit wegflog.

Drogen verkaufen, wozu der Bruder ihn zwang, war genauso ein Verbrechen wie ein Banküberfall. Aber der würde nur ein paar Minuten dauern, und er würde niemandem Rechenschaft ablegen müssen. Am allerwenigsten Giuliano. Danach wäre er frei und würde weggehen können. Egal wohin. Mit Geld konnte man sich alles erlauben. Vielleicht nach Amerika. Den Pass würde er sich kaufen. Einen Pass mit seinem Gesicht und einem falschen Namen. Er würde nie mehr zurückkehren.

»Also ist alles abgemacht?«, fragte Gorilla.

»Alles. Auch der Marathon.«

»Okay.«

»Emanuè!« Das war die Stimme einer alten Frau. »Emanuè, komm rauf und wasch dich, du sollst jetzt essen!«

Billo sah Gorilla an. »Aber … schaffst du das denn, den Marathon?«

»Machst du Witze?« Obwohl es höllisch wehtat, lachte Gorilla. »Euch schlage ich doch noch auf Krücken!«

Billo lachte mit ihm.

Beide wussten, dass es nicht darum ging, zu gewinnen, sondern nicht als Letzter anzukommen.

Und sie würden nicht als Letzte ankommen. Bestimmt nicht.

Die Großmutter hatte ein Gesicht wie aus Porzellan, in das nur wenige Falten um die Lippen und am Hals feine Risse gezogen hatten, und den gleichen kräftigen Körperbau wie Anna, Billos Mutter, die sich in diesem Moment, wie auch sonst immer, auf dem Balkon zur Straße aufhielt.

In der Wohnung ertrage sie es nicht, sagte sie, das Einzige, was sie gerne tue, sei, von dort oben auf den Ort zu schauen, den Berge umringten, obwohl das Meer nicht weit entfernt war. Aber alle wussten, dass sie auf diesem hölzernen Armstuhl, umgeben von Frauenzeitschriften und zerknitterten Harmony-Groschenromanen, auf die Rückkehr ihres Mannes Alberto wartete.

Er war weggegangen, als Billo sechs war. Das Bild, das der Junge von seinem Vater in Erinnerung hatte, wurde immer blasser: ein großer Mann mit ungepflegtem Bart und strenger Miene. Er lebte im Norden, jemand aus Roccella war ihm noch mehrmals begegnet, denn er arbeitete in Zügen, als Fahrkartenkontrolleur. Eine Scheidung hatte er nie gewollt, und keiner wusste, warum er nicht mehr zurückgekommen war. Jeden Monat schickte er pünktlich Geld, doch mehr tat er nicht. Weit weg, abgehauen, gehasst von der Großmutter und ein bisschen auch vom Sohn.

Nicht aber von seiner Frau, die auf ihn wartete, während ihre Mutter Giovanna sich um Billo und die Wohnung kümmerte. Die Familie hatte wenig zum Unterhalt, nur Albertos Scheck und die Hinterbliebenenrente von Großvater Nicola, dem einstigen Briefträger von Roccella, seit über fünfzehn Jahren tot.

»Setz dich zu Tisch, das Essen ist fast fertig«, sagte die Großmutter.

Billo warf einen Blick auf den Balkon. Seine Mutter starrte vor sich hin, ein aufgeschlagenes Buch im Schoß. »Großmutter …«, sagte er.

Sie rief vom Herd: »Was ist?«

»Gibst du mir eine?«

Die Großmutter bedeutete ihm, still zu sein. Dann steckte sie eine Hand in den weiten Ausschnitt ihres Kleides und holte ein 10er-Päckchen Zigaretten heraus. Sie drehte die Gasflamme kleiner und winkte Billo, der ihr folgte.

Das Zimmer der Großmutter war spärlich eingerichtet, sie hatte sich nur das Allernötigste aus dem Haus mitgenommen, in dem sie mit ihrem Mann gewohnt hatte. Die Aussteuer, ein paar Fotografien, einen Schreibtisch.

Sie öffnete das Fenster zum Innenhof. Billo rückte zwei Stühle heran. Donna Giovanna holte eine Frotteesocke aus einer Schublade. Sie rollte sie auf, zum Vorschein kamen ein Aschenbecher und ein kleines Feuerzeug.

Sie setzten sich. Billo zündete erst die Zigarette der Großmutter an, dann seine.

»Ah!«, machte sie.

»Ah!«, machte auch Billo lächelnd.

Die Großmutter nahm einen tiefen Zug, dann wurde sie ernst. »Nun?«, fragte sie. »Hast du Neuigkeiten von diesem Schurken?«

»Nach der Schule habe ich eine Stunde vor seinem Haus gestanden«, berichtete Billo. »Er ist nur zwanzig Sekunden lang auf den Balkon gekommen, so gegen zwei, um das Tischtuch auszuschütteln.« Er lächelte wissend.

Die Großmutter runzelte die Stirn. »Er hat das Tischtuch ausgeschüttelt? Was ist schlecht daran?«

Billo log. Er hatte heute nicht vor dem Haus des alten Gaetano Moretti gestanden. Dessen Frau Imma, die Schwester von Billos Großmutter, war vor kurzem gestorben und hatte den pensionierten Lehrer zum Witwer gemacht. Die Beschattung hatte vor einem Monat begonnen, und noch war kein einziger Fehltritt ans Licht gekommen. Das Verhalten des ehrwürdigen Lehrers ließ sich nicht anders als tadellos bezeichnen: fast den ganzen Tag zu Hause; seltene Ausgänge in Richtung Bar Azzurro, wo er in Gesellschaft anderer alter Männer Karten spielte; häufige Abstecher zum Friedhof, immer mit einem Sträußchen Margeriten für die Verstorbene; dienstags und freitags Einkaufen im Minimarkt.

Donna Giovanna glaubte Gaetano Moretti trotzdem kein Wort. Schon zwei Tage nach der Beerdigung ihrer Schwester hatte sie ihn überrascht, wie er im Park mit Giadina Monferro, verwitwete Comotti und ebenfalls eine pensionierte Lehrerin, spazieren ging. Das konnte keine zufällige Begegnung gewesen sein. Die beiden waren ihr ein wenig zu vertraut vorgekommen, während sie, hinter einem Baum versteckt, genaue Beobachtungen anstellte. Gepeinigt von der Vorstellung, ihr Schwager könnte der seligen Imma untreu sein, hatte Donna Giovanna ihren Enkel gebeten, Informationen über den Tagesablauf des Lehrers einzuholen. Als Gegenleistung würde sie ihm gelegentlich Zigaretten spendieren und seiner Mutter nicht erzählen, dass sie ihn dabei ertappt hatte, wie er in ihren Sachen nach dem Päckchen suchte, das sie seitdem immer im Ausschnitt trug.

Billo ließ etwas Asche fallen. Dann blickte er die Großmutter unheilverkündend an: »Zu viele Krümel für einen allein. Die waren mindestens zu zweit.«

»Zwei?!« Donna Giovanna sprang auf, ihren Jahren und den Zipperlein zum Trotz.

»Zwei«, bestätigte Billo.

»Krümel von zweien? Sicher?«

»So wie heute Mittwoch ist, Großmutter.«

Die Frau zerdrückte die Zigarette im Aschenbecher. »Dieses Schwein!«, knurrte sie. »Meine arme Schwester! Betrogen und wer weiß, wie lange schon. Seit ihrer Krankheit, wette ich. So ein zügelloses Schwein!« Sie legte sich die geschlossene Faust vor den Mund, auf ihrer Hand voller Altersflecken traten die blauen Adern hervor. »Wenn ich den jetzt vor mir hätte … o, ich würde ihn umbringen!«

Billo fürchtete, dass er übertrieben hatte und die Großmutter vor ihm zusammenbrechen könnte. »Wie auch immer …«, versuchte er sie zu beruhigen, »Bleib ganz ruhig.«

»Emanuè!«, schrie sie. »Waren das nur Krümel, oder hast du noch andere Sachen gesehen, die du mir nicht sagen willst? Sprich!«

»Setz dich doch erst mal!«, bat er.

»Keine Lust.«

»Dann bleib stehen …« Er räusperte sich und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. »Beweise habe ich keine. Ich musste gehen, die anderen warteten auf mich.«

»Konntest du nicht trotzdem bleiben?«

»Großmutter, ich habe auch noch was anderes zu tun! Ich habe mein Leben. Ich kann ja nicht dauernd an diesem Typen kleben!«

Donna Giovanna ließ ihren Hintern wieder auf den Stuhl sinken. »Hm …«, räumte sie nach einer Weile ein, ein leichtes Keuchen in der Stimme, »im Grunde gibt es also keinen wirklich erwiesenen Beweis.«

»Leider nicht.«

Ihre Züge entspannten sich. »Entschuldige«, sagte sie.

Billo fühlte sich schuldig. »Schon gut. Morgen stelle ich mich länger vors Haus.«

Lächelnd entblößte die Großmutter ein glänzendes Gebiss. »Hast du Hunger?«

Ranacci aß, ohne den Blick von seinem Vater abzuwenden.

»Da bin ich zum Arbeitgeber gegangen und hab gesagt: ›Hör mal, dies sind unsere Forderungen‹ … Der guckt mich groß an, als hätte ich goldene Berge verlangt. ›Andernfalls‹ sag ich, ›geht es morgen mit Stotterstreiks los, bis ihr nachgebt.‹ Und er: ›Was ist das denn, ein Stotterstreik, was ist das für eine neue Teufelei?‹« Sein Sohn und seine Frau Ida brachen in Gelächter aus.

Andrea Ranacci, ein blonder Mann mit breiten Schultern, war Gewerkschaftler. Er reiste durch ganz Italien, mal war er im Norden, zwei Tage später auf einer der Inseln, und nie bekam er mehr als einen kümmerlichen Spesensatz und einen Schlag auf die Schulter, wenn er etwas erreicht hatte, oder ein gleichgültiges Schweigen, wenn die Verhandlung gescheitert war.

Seine Augen strahlten, er war stolz auf sich. »›Du bist Arbeitgeber‹, sag ich zu ihm, ›und weißt nicht mal, was ein Stotterstreik ist?‹ Also habe ich es ihm genau erklärt.« Er blickte seinen Sohn an. »Italo, sag du mir, was ein Stotterstreik ist.«

Ranaccis Antwort kam prompt: »Eine halbe Stunde am Fließband arbeiten, dann eine halbe Stunde nicht arbeiten, und immer so weiter, acht Stunden lang! Damit die Arbeitgeber nervös werden, denn ein Stotterstreik ist schlimmer als ein ununterbrochener Streik.«

Der Vater packte ihn an der Schulter und rüttelte ihn liebevoll. »Genau! Denn zusätzlich entsteht das Problem …«, er wandte sich fragend an seine Frau. »Ida?«

»Zusätzlich entsteht das Problem, dass die Maschinen sich nach zehn Minuten Stillstand von selbst abschalten, darum muss man sie wieder anschalten, wenn die Produktion wieder aufgenommen wird, und bis sie warm werden, vergeht noch mal eine Viertelstunde!«, antwortete sie wie eine brave Schülerin.

Andrea Ranacci beugte sich über den Tisch, um seine Frau auf den Mund zu küssen. Sie errötete.

Der Sohn schaute weg, aber er freute sich.

»Also ist er eingeknickt«, fuhr der Vater fort. »Er hat den Stundenlohn nachgebessert und den für die Überstunden während der Nachtschicht um ein Fünftel erhöht. Als wir uns nach der Unterschrift die Hand gegeben haben, wisst ihr, was er da gesagt hat? ›Sie sind wirklich ein harter Brocken, Ranacci …‹, hat er gesagt. Und ich habe ihm geantwortet …«

»Ich bin kein harter Brocken«, fuhr sein Sohn fort, »ich bin nur einer, der sich nicht auf Kompromisse einlässt!«

»Bravo, Italo«, sagte seine Mutter.

Andrea Ranacci lächelte dem Sohn zu. »Genau, Italo, ganz richtig.«

Ken, der Krieger

»Nichtsnutz!«, schrie Vito.

Salvatore drehte den Kopf, nicht aber die Augen in Richtung des Vaters. »Was ist los, Papa? Ich guck gerade Ken!«

Der Vater schlug ihn auf den Nacken.

»Aua!«

»Hast du gehört?«, fragte Vito Cecconi. »Ab morgen gehst du mit deiner Mutter auf den Großmarkt.« Er versetzte ihm noch einen Hieb, aber weniger stark als zuvor.

»Hey!«

»Papa!«, bat die Tochter Rosalia, die sich mit ihren Melonenbrüsten auf den Tisch stützte. »Lass ihn in Ruhe, komm schon!«

»Rosalia hat recht!«, mischte sich die Mutter ein. »Ist ja nicht seine Schuld, wenn du morgens nicht rechtzeitig aufstehst!«

Die Augen der ganzen Familie auf sich gerichtet, erstarrte Vito Cecconi ein paar Sekunden lang.

Dann hieb er auf den Tisch, dass Teller und Besteck hüpften.

»Wer kommandiert in dieser Scheißfamilie!?«, schrie er.

Er stand auf und ging zum Fernseher. Ken ließ gerade zum x-ten Mal einen Feind explodieren. Die präexplosive Grimasse des Opfers war so dramatisch, dass sogar Vito Cecconi stehenblieb, um sie zu betrachten.

»Meine Fresse …«, rief das Familienoberhaupt aus, als der Körper auf dem Bildschirm in tausend Stücke zerriss.

Vito schaltete den Fernseher nicht mehr ab, sondern setzte sich, von dem Trickfilm ebenfalls hypnotisiert, zu den Kindern.

Seine Frau beobachtete ihn und lächelte verstohlen. »Der ist schlimmer als die Kinder!«, sagte sie zu sich selbst.

Den Blick starr auf Ken, der Krieger gerichtet, strich ihr Mann unterdessen dem Sohn liebevoll dort über den Kopf, wo er ihn vorher geschlagen hatte. Auch Rosalia wurde gestreichelt.

Die Kinder merkten es fast gar nicht. Er auch nicht.

Sonia begann, den Tisch abzuräumen.

»Was macht das Boxen?«, fragte Mario Lonica seinen Sohn.

Mario Lonica hatte Darmkrebs.

»Gut, Papa.« Er setzte sich aufs Bett neben den Vater. Das Zimmer lag im Halbdunkel, es roch nach Medizin und Desinfektionsmittel. Aus dem Katheter kam ein leises Gurgeln. Anfangs war es schwer gewesen, sich daran zu gewöhnen. Lonica hatte auf dem Balkon stumm geweint, als der Vater mit diesen Beuteln und Röhrchen am Bauch aus dem Krankenhaus gekommen war. Inzwischen war dieses Geräusch zu einer Art freundlicher Hintergrundmusik geworden.

»Was sagt Onkel Botta?«, fragte der Vater.

»Dass meine Beine beweglicher werden müssen«, antwortete er ein bisschen enttäuscht. Onkel Botta war in Wirklichkeit niemandes Onkel, er trainierte die wenigen Jungen aus der Gegend, die sich in der edlen Kunst des Boxsports bewähren wollten. »Ich bin langsam. Ich bin nicht wie Ali.«

»Die Schnelligkeit kommt mit der Zeit, Giuseppe. Du trainierst noch nicht lang, du bist ja erst zwölf.«

»Aber ich bin langsam …«

»Eines Tages wirst du schnell sein.« Er sagte »eines Tages« mit etwas Fernem, Unerreichbarem in der Stimme. Dann lächelte er. »Dann wirst du tanzen wie Ali um Frazier.«

»Glaubst du wirklich, dass ich ein guter Boxer werde?«

»Ja. Aber nur als Sport, vergiss das nicht. Zuerst musst du dafür sorgen, dass du dich und Mama mit einer richtigen Arbeit ernähren kannst.« Der Vater erkannte zu spät, dass er die falschen Worte gewählt hatte.

Lonica spürte, wie ihm der Atem in der Kehle stockte.

Unter der Decke magerte der einst so kräftige Körper seines Vaters von Tag zu Tag mehr ab. Sein Gesicht bestand nur noch aus Kanten, und die Augen wirkten riesig in den ausgezehrten Zügen.

Der Mann versuchte ein Lächeln. »Außerdem weiß man nie … Vielleicht wirst du sogar ein Boxchampion.«

Lonica nickte wenig überzeugt.

Fostelli, ausgerechnet Fostelli, war der Einzige von ihnen, der in diesem Moment, kurz vor dem Einschlafen, an den Bankraub dachte.

Es konnte klappen, warum nicht? Erst die Observierungen. Vielleicht die Mutter von Muschio ausspionieren. Ja.

Die Tür des Zimmerchens öffnete sich einen Spaltbreit, der Kopf seiner Mutter Paola erschien. »Schläfst du, Francesco?«

»Fast.«

»Hast du deine Gebete gesprochen?« Ihre Stimme war ein Hauch. Drüben zeichnete ihr Mann Giordano, de facto Müllmann, offiziell Fachkraft für Abfallwirtschaft, mit raschen Strichen eine Wegeskizze für den Arbeitsablauf des nächsten Tages. Morgen würde er bis nach Courbene fahren müssen, einem Bauerndorf. Fostelli stellte sich vor, wie sein Vater kopfschüttelnd, die Zungenspitze im Mundwinkel, als arbeite er an einem Kunstwerk, wie jeden Abend, nachdem der Fernseher ausgeschaltet war, die Strecke zeichnete.

»Ja, ich habe gebetet, Mama.«

»Hast du um Vergebung gebeten?«

Wofür denn, wäre ihm fast herausgeplatzt. Dann dachte er, dass ein Bankraub, oder auch nur die Idee eines Bankraubs, tatsächlich nicht die beste Eintrittskarte fürs Paradies war.

Die Frau versuchte, ihren Sohn in dem dunklen Zimmer zu erspähen. Sie kam mit kleinen Schritten auf das Bett zu, beugte sich über ihn und strich ihm übers Gesicht. »An gewisse Dinge solltest du selber denken, ich muss dich nicht daran erinnern. Im September musst du bereit sein.«

»Ich fühle mich schon bereit, Mama. Du weißt, dass es eine Berufung für mich ist.« Doch als er das sagte, spürte er einen stechenden Schmerz im Magen, wie immer bei diesem Wort.

»Sehr gut, Francesco.« Sie küsste ihn. Dann wanderte sie wieder durch die kleine Wohnung, wie es ihre Gewohnheit war. Andauernd musste sie wer weiß was kontrollieren, auch nachts.

Fostelli lauschte eine Weile dem klatschenden Geräusch ihrer Plastiksandalen, während sie von einem Zimmer zum anderen ging. Dann schluckte er und dachte über sein Schicksal nach. Er verscheuchte den Plan des Banküberfalls so gut es ging aus seinen Gedanken und bat um Vergebung, obwohl er nicht genau wusste, wen.

»Was für eine hübsche Fresse!« Giuliano Gorelli hob das Gesicht seines jüngeren Bruders.

Gorilla schlug ihm die Hand weg. »Lass mich in Ruhe.«

»Lass mich in Ruhe«, äffte Giuliano ihn nach. »Armes Brüderchen, was ist denn passiert? Wie hast du dich so zugerichtet?«

»Ich bin … gefallen.«

Giuliano lachte schallend. »Wie die verprügelten Frauen im Film!« Er gab ihm einen Schubs, nicht besonders heftig, doch Gorilla stieß trotzdem gegen den Schrank des Bruders. »Au!«

Verglichen mit Gorillas Zimmer war das von Giuliano immer auf Hochglanz poliert. Die Mutter war verpflichtet, es in tadellos sauberem, gut gelüftetem Zustand zu halten, damit es »nach der Jahreszeit duftete«, wie der Sohn befohlen hatte.

Gorilla massierte sich die Schulter.

»Nun?«, fragte sein Bruder grinsend. »Hast du deine Meinung geändert oder nicht?«

»Du bist ziemlich arm dran«, sagte Gorilla und bereute seine Worte noch im selben Moment, »wenn du niemandem trauen kannst außer deinem zwölfjährigen Bruder.«

Die Ohrfeige kam so prompt, dass Gorilla sie nicht vorhersehen konnte.

»Willst du weitertanzen, kleines Arschloch? Ich kann nämlich die ganze Nacht lang Musik machen, wenn es dich interessiert!«

Gorilla öffnete den Mund und spuckte in seine Hand. Blut. Seine Augen füllten sich mit wütenden Tränen.

Ein kleiner, mit einem Band verschlossener Beutel schaukelte wie ein Pendel vor seiner Nase.

»Bring das, du weißt schon wohin«, drohte Giuliano. »Und lass dich bar auf die Kralle bezahlen.«

Gorilla zog sich mühsam hoch und nahm den Beutel, ohne den Bruder anzusehen. Der hatte schon den Telefonhörer genommen und eine Nummer gewählt.

»Er kommt.«

Hinter der Zimmerwand wechselten Fulvio und Sabrina Gorelli, die sich in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen hatten, einen raschen, ohnmächtigen Blick. Dann stellten sie den Fernseher lauter.