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Felix Demant-Eue

Das dramatische Leben des Christopher M.

Roman

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Der Wink des Todes

Der 30. Mai 1593, knapp zwei Stunden vor Mitternacht. Der heftige Sturm des Nachmittags hatte sich vor etlicher Zeit schlafen gelegt, die Sichel des Mondes aber blieb weitgehend hinter schwarzen Wolken verborgen. Aus einiger Entfernung wehten ab und zu Lachen oder auch unverständliche Gesprächsfetzen herüber. Ansonsten Stille. Nur das sanfte Plätschern vom Ufer des Flusses drang in die Finsternis der Stube.

Dann knirschte etwas, ein Gemurmel kam näher, tapsende Schritte auf Holzbohlen. Dreimaliges Klopfen. Dann eine kurze Pause. Wieder Klopfen.

Der Mann, der in dieser Kneipe im Dunklen ungeduldig auf dieses Zeichen gewartet hatte, groß, breitschulterig, das noch jugendlich wirkende Gesicht glatt rasiert, mit einer vollen weißen Perücke, deren lockige Enden ihm seitlich beinahe auf die Schultern herab fielen, der sich einen auffällig weiten Umhang aus grau gefärbtem Wollstoff übergeworfen hatte, erhob sich, ging zur unscheinbaren Nebentür, die unmittelbar zum Flussufer hinab führte, entriegelte sie und öffnete. Zwei völlig in Schwarz gekleidete Gestalten standen auf dem schmalen Anleger. Ein Kahn war seitlich festgemacht. Der erste der beiden, ein eher schmächtiger Kerl, hielt eine Laterne in der Hand, der zweite, ein Hüne, schleppte auf seiner Schulter ein beinahe bis auf die Bretter des Anlegers herabhängendes längliches Bündel.

„Kommt rein“, sagte der mit der weißen Perücke, „hat ja lange genug gedauert.“ Die beiden nächtlichen Besucher folgten der Aufforderung und betraten den Raum. Den Mann, der ihnen geöffnet hatte, kannten die beiden nächtlichen Besucher nicht. Sie wussten nur, dass er ein hohes Tier ihrer Organisation sein musste, möglicherweise gar der Nachfolger des jüngst verstorbenen Chefs, und dass sie diesen Mann, wie besprochen, hier treffen würden. Und sie wussten weiterhin, dass sie beide beauftragt worden waren, ihr Bündel heimlich vom Galgen zu entfernen und unbemerkt hier her zu bringen.

Hinter den beiden mit ihrer ominösen Last schloss der Unbekannte die Tür. „Da, da hinüber“, sagte er und deutete auf einen Durchgang zu einem Nebenraum. In der Mitte dieses Raumes stand ein Tisch. „Auswickeln und drauf legen“, befahl der Mann und zeigte auf einen rechteckigen Tisch von etwa der Größe, dass an den beiden Schmalseiten jeweils einer, an seinen Längsseiten aber jeweils zwei Männer bequem hätten Platz finden können.

Der erste der schwarz gekleideten nächtlichen Besucher, James, der mit der Laterne in der Hand, ging voraus. Beim Tisch stellte er die Lampe auf den Dielenboden. Als der zweite Kerl, Roger, mit seiner Last beim Tisch ankam, half ihm sein Kumpan die Pferdehaardecke von dem transportierten Körper zu entfernen. Die Decke glitt zu Boden. Die beiden Männer hoben ihre schmale leblose Fracht hoch und ließen sie mit dem Rücken auf die Tischplatte fallen. Da lag er nun, der nackte Mann. Seine Beine hingen ab dem Kniegelenk über der unteren Schmalseite der Tischkante nach unten. Die Arme fielen am oberen Ende des Tisches rechts und links seitlich herab.

Die beiden dunklen Gestalten, die diesen jungen Mann hierher in die um diese nächtliche sonntägliche Stunde des 30. Mai verwaiste Hafenkneipe in Deptford am Ufer der Themse gebracht hatten, wichen nun einen Schritt zurück. Sie ließen ihren jungen Vorgesetzten herantreten. Der wollte diese Gestalt nun genauer betrachten. Er hatte sie ja schon zuvor einmal, noch lebend, kurz in Augenschein genommen. Und er wusste, dass sie genau dem entsprach, was er für dieses Unternehmen brauchte: Sie hatte das passende Alter, war männlich und von der richtigen Größe und Statur. Jetzt aber kam es darauf an, dass dieser Tote keine verräterischen Merkmale aufwies.

„Halt mir das Licht nah heran“, befahl er seinen Untergebenen. Sofort eilte James an den Tisch, hob die Lampe empor, hielt sie hoch. Solch barschen Ton waren weder er noch Roger gewöhnt. Doch in diesem Fall, war ihnen gesagt worden, ging es um eine große Sache.

Immerhin, so viel wusste Roger, bekleidete der seinem Eindruck nach noch relativ junge Unbekannte einen wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Posten, in dem erst vor kurzem vom verstorbenen Sir Francis Walsingham aufgebauten und weit über England hinaus gefürchteten Geheimdienst Ihrer Königlichen Majestät Königin Elisabeth I.. Möglicherweise war dieser Unbekannte gar der Nachfolger des Verstorbenen. Von dem hatte man auch erst nach seinem Tod den Namen erfahren.

Im Licht der Lampe schaute sich nun dieser Unbekannte mit der weißen Perücke den jungen Mann auf dem Tisch von oben bis unten an. Zuerst inspizierte er dessen Kopf. Die Augen des Toten waren geschlossen. Aber bei dem noch Lebenden hatte er gesehen, dass auch die Augenfarbe genau die richtige war.

Nun drehte der Vorgesetzte den Schädel von rechts nach links und wieder zurück. Dann untersuchte er den Hals. „Komm mal mit dem Licht etwas näher“, befahl er. „Hm,“ meinte er nachdenklich, „hier nahe dem Kehlkopf sieht man eine leichte Rötung. Aber was solls, das wird niemanden sonderlich auffallen.“

Langsam glitten seine Augen den Körper des Toten weiter hinab. Er betrachtete die schmale Brust, dann hob er zuerst den linken, dann den rechten Arm in die Höhe, schaute sie sich nacheinander genau an. Als er nichts Auffälliges feststellen konnte, ließ er den zuletzt betrachteten Arm sinken. Als sein Blick zufällig auf den Penis des Toten fiel, dachte er: Ein wenig klein geraten sieht er aus. Ich hab’ da was anderes in Erinnerung. Aber diesen Unterschied, den wissen nur ich und einige der engsten Freunde jenes wichtigen Subjekts. Und möglicherweise schrumpft so ein Ding ja auch bei einer Leiche.

Danach nahm sich der mürrisch wirkende Chef die Beine des Toten vor. Eines nach dem anderen. Er nickte zufrieden. „So, nun umdrehen.“ Die Männer taten, was ihnen befohlen. Auch die Rückseite des Toten wurde genau untersucht. „Sieht ordentlich aus, keine äußeren Verletzungen. Gut.“

James sagte: „War gar nicht so einfach, den Kerl unbeschadet hierher zu bringen. In dieser beinahe mondlosen Nacht mit dem Wagen über Stock und Stein und dann mit dem Kahn. Mussten ja aufpassen, dass dieser Kerl da“, und er zeigte flüchtig auf den Leichnam, „keine Schramme abbekommt. Und niemand sollte uns sehen. Gar nicht so einfach.“

„Außerdem stank er fürchterlich. Er hatte sich die Hosen voll gepisst und voll geschissen“, ergänzte Roger. „Zuerst hat er geschrien und gejammert, dann hat’s geknackt, dann war Ruhe. Nur ein wenig gezappelt hat er noch.“

„Na ja, und sich voll geschissen“, wiederholte James und hielt sich in Erinnerung an den Gestank die Nase zu.

„Und wo habt ihr seine voll geschissenen Kleider gelassen?“, wollte der Vorgesetzte von den beiden wissen.

„Mit Steinen beschwert in die Themse geschmissen“, antwortete Roger.

„Gut so!“

„Gar nicht so einfach. Den erst verstecken und dann den ganzen Transport an einem einzigen Nachmittag. Nur damit der Bursche noch warm ist, wenn er hier ankommt. Haben ihn ja auch schön warm in der Decke eingepackt.“

„Alles gut gemacht. Eben weil ich wusste, dass es nicht so einfach sein würde, habe ich ja auch euch beide aussuchen lassen für diese Aktion. Wirklich gut gemacht.“

„Und bis wir den abgeschnitten hatten“, bemerkte Roger und wedelte mit seinen Armen heftig in der Luft. „Der baumelte ganz schön hin und her. Der Wind war am späten Samstagnachmittag ziemlich heftig. Haben schon gedacht, es kommt ein Unwetter auf.“

„Das wär ‘ne schöne Scheiße gewesen“, meinte James.

„Da hatten wir ja schon genug Scheiße mit dem Galgenvogel da“, ergänzte Roger und deutete auf den Toten.

„Und euch hat niemand beobachtet?“

Roger und James schüttelten synchron verneinend ihre Köpfe.

„Und was soll jetzt mit ihm geschehen?“, fragte James und deutete auf den Toten.

„Einen Augenblick“, und ihr Vorgesetzter wandte sich um, ging einige Schritte in den Vorraum, bückte sich und kam mit einem größeren Weidenkorb zurück an den Tisch. „Hier sind einige Sachen. Die sollt ihr dem Toten anziehen. Damit sieht er dann ordentlich aus.“ Er stellte den Korb auf den Dielenbrettern des Fußbodens ab.

Als sie den Toten angekleidet, und ihn auf Geheiß des Vorgesetzten in einer Ecke auf einen Hocker gesetzt hatten, so dass der Tote an der Wand gelehnt wie ein Lebender aussah, meinte James: „Sieht richtig vornehm aus, der Kerl, mit der roten Samt-Weste und den feinen Stiefeln. Eigentlich schade um die schönen Stiefel.“

„Nichts für ungut, mach dir keinen Kopf um die Stiefel. Das muss sein“, meinte der mit dem langen grauen Umhang, und fügte hinzu: „Roger und James, nehmt euch je zwei der Becher von der Theke vorne im Schankraum, auch einige Krüge mit Bier, vielleicht auch ‘ne Flasche Gin und kommt damit hier zu dem Tisch, auf dem der Tote gelegen hat.“ Während die beiden den Anweisungen folgten, entnahm der geheimnisvolle Mann aus der Innentasche seines Umhangs einen Stapel leicht verdreckter Spielkarten. Er warf sie achtlos auf den Tisch. Einige flattern zu Boden.

Roger und James kamen mit Krügen, Bechern und der Flasche zurück. James wollte die Karten vom Dielenboden aufheben. „Lass sie liegen“, befahl der Vorgesetzte. „So, nun stellt Krüge, Becher und Flasche auf den Tisch. Füllt die Becher. Verschüttet dabei ruhig ein bisschen Bier und Gin. Schmeißt ein oder zwei Becher um. Einige kleine Bier- und Gin-lachen auf der Tischplatte und auf dem Boden machen sich gut. Es muss nach einem wilden Gelage und nach Streit aussehen.“

Nachdem alles so arrangiert war, wie es der Wortführer wünschte, sagte er: „Gut, geht jetzt. Nehmt die Pferdehaardecke mit, diesen Weidenkorb, lasst mir aber das Licht hier. Wartet draußen auf mich. Ich hab’ hier noch kurz was zu erledigen.“

Die beiden Untergebenen nickten verständnisvoll, nahmen die genannten Utensilien mit und verließen die Kneipe durch die Tür, durch die sie sie betreten hatten.

Allein mit der Leiche im Raum angelte der Geheimnisvolle mit der auffällig weißen Perücke ein Stilett aus der Innentasche seines weiten Umhangs, packte des Toten Haarschopf, hielt den Kopf fest, nahm mit dem Stilett kurz Maß und stieß den spitzen scharfen Stahl nahe beim Auge in den Kopf der Leiche. Mit einem Knacken durchbrach die spitze Schneide den Augenbogenknochen und drang bis ins Gehirn vor. Dann zog der Täter das Stilett heraus. Augenflüssigkeit, Blut und etwas Gehirnmasse klebten an der Scheide. Der Leichenschänder wischte das Stilett nicht ab, sondern ließ es zu Boden fallen. Dann stieß er den Toten um. Der fiel zur Seite, lag nun da mit wie beim Sitzen angewinkelten Beinen.

Der Mann bückte sich und hielt die Laterne dicht an den Kopf des auf dem Dielenboden Liegenden. Einen Augenblick dachte er nach, dann griff er erneut in die Innentasche seines Umhangs, holte eine kleine Ampulle heraus und zog den Stöpsel ab. Wieder packte er den nun geschändeten Leichnam an dessen Haaren, hob ein wenig den Kopf an und ließ etwas Stier-Blut zuerst auf die Wunde am Auge und dann auf den Dielenboden tropfen. Indem er die Ampulle wieder verschloss, richtete sich er sich auf und betrachtete sein Werk. Er war mit seiner Arbeit zufrieden. Er nahm die Laterne in die linke Hand, setzte sich mit der anderen einen weit krempigen Hut auf, den er auf einem seitlichen Stuhl deponiert hatte, fasste dann seinen Umhang und hielt ihn eng umschlungen. Er ging zur Eingangstür der Kneipe, die direkt auf die Gasse führte, öffnete sie und vollführte mit der Laterne in die Dunkelheit hinaus dreimal eine Kreisbewegung. Danach verdeckte er das Laternenlicht kurz mit seinem Umhang und wiederholte das Zeichen.

Auf der Gasse vor dem Prize hatte den ganzen Abend ein scheinbar betrunkener Seemann herum gelungert. Jetzt, als er das Lichtsignal sah, rappelte er sich auf und trotte davon. Der, mit dem grauen Umhang im Türrahmen der Kneipe Stehende, nickte zufrieden und schloss die Tür. Gut gelaunt wandte er sich um, durchquerte den Schankraum und verließ die Kneipe durch die flussseitige schmale Tür. Er ging hinaus auf den Anleger und sprang mit jugendlichem Elan zu den beiden Wartenden in den Kahn. „Ihr wisst, was ihr zu tun habt?“, wandte er sich an Roger und James.

„Keine Bange. Alles hier drin“, antwortete James und klopfte sich dabei an die Stirn.

„Gut“, lächelte sein Vorgesetzter zufrieden und ließ sich von seinen beiden Untergebenen in die Stadt zurück rudern. Im Osten dämmerte bereits der Morgen.

 

Der 31. Mai versprach ebenso schön zu werden wie der vorausgegangene Tag, schöner jedenfalls als der Samstag, da hatte es am Nachmittag einen heftigen Sturm gegeben. Als sich die Tore des Gefängnisses öffneten, blinzelte Arnold Brokman in den gerade im ersten kalten Licht beginnenden Morgen. Er gähnte. Während der Nacht hatte er kein Auge zugetan. Sein rechtes Bein schmerzte. Und die Narbe auf seinem kahlen Schädel hinter dem linken Ohr machte sich auch wieder bemerkbar.

Arnold Brokman war an Aufenthalte hinter Gittern gewöhnt, schon öfter hatte man ihn eingesperrt. Meistens wegen Schlägereien und Messerstechereien, einige Male auch wegen Schmuggels und Hehlerei. Aber dieses Mal war seine Verhaftung doch sehr merkwürdig verlaufen. Dieser Umstand hatte ihn verunsichert und ihn nicht schlafen lassen, denn diese Verhaftung entsprach so ganz und gar nicht dem üblichen Schema. Und auch fand er es äußerst merkwürdig, dass er nach nur zwei Nächten und ohne ein weiteres Verhör nun einfach das Gefängnis verlassen konnte.

Vorgestern gegen Mittag, als Arnold aufgestanden war und sich vor seine Kneipe in die Sonne gesetzt hatte, waren zwei Schergen vom Sheriff zum Prize gekommen, hatten ihn geschnappt und fort geschleppt. Und das alles ohne auch nur ein Wort zu sagen. Und dann der Schnellrichter, der gleich los brüllte: „Falschspielerei, Hurerei. Eine Laster-Höhle!“

Ich denke, überlegte Arnold, als er nun langsam in Richtung Deptford humpelte, da hat mich einer meiner Konkurrenten aus Neid bös angeschwärzt. Dabei läuft bei denen doch dasselbe Spiel, verkehren dieselben Leute. Meistens, das muss ich zugeben, Gesindel. Aber bei mir immerhin, auch der eine oder andere Herr aus besseren Kreisen. Die wollen schließlich auch mal Vergnügen haben, wollen ihr Glück beim Kartenspiel oder beim Würfeln versuchen. Und manch einer möchte einen hübschen Knaben vernaschen. Willige Weiber gibt’s ja überall. Doch so Burschen, die sich für ein Techtelmechtel mit einem Mann während nur einer oder zwei Stunden ein paar Münzen verdienen möchten, die laufen nicht einfach so herum. Burschen vor allem, die keine Fragen stellen, sich im Nachhinein nicht aufdrängen und irgendwelche weiteren unverschämten Gefälligkeiten einfordern. Ich kann solche Burschen vermitteln. Und wenn einer von denen doch frech kommt, dann schneide ich ihm die Eier ab, darauf kann er sich verlassen. Das wissen diese Burschen und das weiß auch deren Kundschaft. Ich bekomme einen angemessenen Anteil von den Freiern. Die verziehen sich dann mit ihrem jeweiligen Lover diskret in die Kammern unterm Dach. Da sind diese Paare dann ungestört. Und sie bleiben auch im Nachhinein ungestört, weil ja niemand ihren wirklichen Namen kennt. Weder die feinen Herrschaften, noch die Burschen nennen ihren wahren Namen. Und natürlich weiß niemand, nicht einmal ich, und ich will es auch gar nicht wissen, was für einen Posten solch ein Nobler bekleidet, oder gar wo er wohnt. Alles läuft anonym ab. So ist es also durchaus verständlich, wenn diese Vornehmen zu mir kommen. Was sie da bei mir treiben, im Geheimen treiben, ist zwar verboten, aber wovon, bitte, soll unsereins leben? Doch auf genau diese bei mir einkehrende bessere Kundschaft, die ja auch ordentlich Geld da lässt, auf die sind die anderen Kneipenwirte neidisch. Und sie denken, dass ich mich nicht wehren kann, weil ich allein und inzwischen auch schon ein älterer Bock bin.

Nach seiner Zeit als Seemann hatte Arnold diese damals doch sehr heruntergekommene Bude im Hafenviertel im Glücksspiel gewonnen. Er hatte dieses Drecksloch Prize genannt und nach und nach eingerichtet und aufgepäppelt. Und der Laden lief recht gut. Seither hielt Arnold sehr viel von Glücksspielen.

Dann lernte Arnold Mary kennen, sie heirateten, bekamen einen Sohn und seine Frau starb an Schwindsucht. Seinen Sohn Walter, der derzeit zur See fährt, hat Arnold seit vier Jahren schon nicht mehr gesehen.

Eigentlich schade, dachte Arnold, Walter könnte diese Pinte prima übernehmen und ich könnte mich auf die faule Haut legen, wäre langsam Zeit.

Diese Kneipe Prize im Hafenviertel sicherte seit etlichen Jahren Arnold ein leidlich gutes Auskommen und würde auch seinen Sohn und dessen Familie ernähren. Aber Walter fuhr zur See und hatte bisher noch nicht einmal eine Frau.

Na ja, als Seemann ist es halt schwierig, ein Weib für ´ne Hochzeit zu finden, wusste Arnold. Dennoch dachte er gern an die Zeiten zurück, als er selbst noch zur See gefahren war.

Ach, stöhnte Arnold, ist das schon lange her, als ich meine erste Heuer nahm: siebenundzwanzig Jahre! Am 9. November 1566, kann mich noch genau erinnern, es war ein saumäßig trüber Tag, da hab ich als junger Kerl auf dem Schiff angefangen, auf dem Francis Drake als Offizier Dienst tat. Wir waren los gesegelt um Sklaven aus Afrika in die Karibik zu bringen. Das waren herrliche, wilde Zeiten gewesen. Aber dann, eines Tages, brachte uns eine spanische Galeone auf, und im darauf folgenden Gefecht wurde ich schwer verletzt. Und aus war’s für mich mit der Seefahrt.

Gern wär Arnold weiterhin zur See gefahren, vor allem nachdem Francis Drake zum Kapitän avancierte und sein eigenes Schiff kommandierte. Aber das ging nach seiner schweren Verletzung nicht mehr. Und dann gewann Arnold hier in Deptford, dort wo er mit Drake Jahre zuvor abgesegelt war, diese Kneipe.

Noch ganz in die Gedanken an seine früheren Jahre als junger Seemann, an die mühevollen Anfänge und Schwierigkeiten als Kneipenwirt, an seine Frau Mary, an deren frühen Tod, an die Geburt von Walter und daran wie er seinen Sohn nach dem Tod seiner Frau allein hatte aufziehen müssen; in all diese mehr oder weniger schönen Erinnerungen vertieft, betrat Arnold sein Prize.

Er wollte in seinen hinteren Verschlag unter der Treppe kriechen und sich hinlegen, denn er war müde. Aber dann sah er im kleineren Nebenraum, dort wo sonst immer die Glücksspieler ihre meist lauten Gelage abhalten, etwas in der Ecke liegen. Arnold ging näher heran. Im diffusen Licht, das durch die schmalen Fensterschlitze herein fiel, erblickte er einen zusammen gesunkenen Körper. Offensichtlich war dieser Kerl volltrunken. Und als sich Arnold genauer umsah, auf dem Tisch Bierkrüge, Becher, eine halb leere Gin-Flasche und herumliegende Spielkarten entdeckte, schüttelte er fassungslos und verärgert den Kopf. Hier muss, überlegte er, in meiner Abwesenheit gestern Abend ein wildes Saufgelage stattgefunden haben.

Arnold stand zunächst wie benommen da: Wer mochte wohl hier gewesen sein und wer hat sich erdreistet, sich an diesem Wochenende auf meine Kosten voll laufen lassen? Und wer liegt da auf dem Boden?

Arnold bückte sich. Er rüttelte den Besoffenen. Aber dessen Körper war merkwürdig steif. Er schaute in das Gesicht, genauer auf das Profil, denn der Kopf des Trunkenen lag mit der rechten Backe auf den Dielen. Arnold konnte nur die linke Seite sehen. Dieser Typ, so meinte Arnold, war noch nie in meiner Kneipe.

Zumindest konnte sich Arnold an dieses Gesicht nicht erinnern. Aber eigentlich erinnerte er sich an überhaupt kein Gesicht seiner Kundschaft. Wie die Leute aussahen, die zu ihm kamen, interessierte ihn nicht. Vorsichtig fasste er nun den Haarschopf des Besoffenen und versuchte den Kopf des leblos Daliegenden etwas anzuheben. Aber noch bevor Arnold das Gesicht genauer studierte, zuckte er zurück. Erst jetzt nahm Arnold mit Entsetzen die schreckliche Wunde am Auge war und das geronnene Blut. Und seitlich auf den Bodendielen erblickte er ein blutverschmiertes Stilett. Mit einem Fluch auf den Lippen richtete sich Arnold auf. „Das fehlt mir noch. In meiner Kneipe einer abgemurkst!“

Eine Zeitlang stand er bewegungslos. Er überlegte, ob er nicht alle Spuren beseitigen und den Toten einfach in die Themse schmeißen sollte. Aber dann betrachtete er die auf dem Dielenboden liegende Leiche genauer. Die edle Kleidung des Toten ließ auf eine vornehme Herkunft schließen: Einmal die feine Weste, das Hemd aus edlem Stoff, und die gelben Beinkleider dieses jungen Mannes. Sie steckten in gut gearbeiteten, blank gewienerten Stiefeln.

Und wer weiß, grübelte Arnold, ob diesen feinen Herrn nicht irgendein Hafenarbeiter oder ein Seemann in meine Kneipe hat gehen sehen. Und dann, na ja die, die bei ihm gewesen sein mussten, seine Kumpanen, darunter wohl auch sein Mörder.

Arnold fiel ein, dass er durchaus nicht sicher sein konnte, ob man den Getöteten nicht suchen würde. Schließlich war der ja nicht irgend so ein daher gelaufener Bursche, sondern einer aus besseren Kreisen. Man würde des Toten Spur verfolgen und so auch sicherlich dessen letzten Aufenthalt feststellen.

Diese Erkenntnis und ein Gedanke, ein fürchterlicher Gedanke, der plötzlich durch Arnolds Gehirnwindungen kroch wie ein drohendes Ungeheuer, bewirkten, dass Arnold seine Meinung änderte:

Was auch immer hier geschehen ist, ich war nachweislich das Wochenende über nicht hier. Das steht fest. Mir kann also eigentlich nichts passieren. Und, kam es Arnold in den Sinn, vielleicht will mir jemand Ärger machen mit diesem Toten. Es muss einer sein, der weiß, dass ich verhaftet war. Einer, der mich mit all dem hier – und Arnold schaute sich noch einmal in aller Ruhe um – mich mit all dem hier auf hinterhältigste Weise in allergrößte Schwierigkeiten bringen will.

Diese letzte Vermutung vor allem ließ Arnold zu dem Schluss kommen: Ich gehe zum Sheriff und melde den Toten.

Aber bevor er das tat, kniete sich Arnold vor der Leiche nieder. Er befühlte das Leder der Stiefel. Sie hatten einen halbhohen Schaft, der bei dem Toten bis gerade an die Waden reichte. Zuerst strichen Arnolds Finger über den weit geschnittenen weich welligen Schaft, dann prüfte er die Stiefelsohle. Sie war fest und zeigte kaum Spuren von Verschleiß. Auch war an der Unterseite von beiden Stiefelsohlen keinerlei Straßenschmutz.

Ist der Kerl etwa getragen worden, dass er keinen einzigen Dreckkrümel an den Sohlen hat?, wunderte sich Arnold. Hat man ihn wo anders umgebracht und dann hier her geschleppt? Warum?

Noch während Arnold diesen Überlegungen nach hing, fiel ihm freudig auf, dass diese halbhohen Stiefel des Toten so gut wie neu zu sein schienen und darüber hinaus aus bestem Rindsleder gefertigt waren.

Arnold zog dem Toten die Stiefel aus. Er nahm sie und trug sie hinüber in den Schankraum. Dort unter dem Tresen verbarg sich eine Falltür, die von einem Fass verdeckt wurde. Arnold rollte das Fass beiseite, hob die Falltür an und kletterte hinab. In diesem kleinen Keller versteckte Arnold all die Dinge, die nicht notwendigerweise von jedermann gesehen werden sollten. So manches Diebesgut und die eine oder andere Schmugglerware lagerten dort. Jetzt deponierte Arnold die Stiefel in seinem Versteck.

Anschließend kehrte Arnold noch einmal zu dem Toten zurück und durchsuchte dessen Taschen. Aber er fand weder Geld noch sonst irgendwelche Wertsachen, auch nicht einen einzigen Hinweis, was diese Person betraf. Der Tote hatte keinen Brief bei sich, keine Quittung oder einen anderen Beleg, auf dem sein Name oder eine Adresse verzeichnet gewesen wären.

 

„Wie, ihn noch nie gesehen?“, zweifelte der Sheriff von Surrey, „das kann doch gar nicht sein. Hier hat doch gestern noch ein ordentliches Saufgelage stattgefunden. Und der da“, der Sheriff zeigte auf den Toten, „wurde in deiner Bruchbude abgestochen.“

„Ja, leider. Aber ich war ja nicht da.“

„Ich weiß, warst im Loch. Und du behauptest, du hast diesen Burschen noch nie gesehen?“

„Ich kann mich nicht genau erinnern“, stotterte Arnold, „kann sein, dass er schon mal hier war, kann aber auch nicht sein. Sind schon so viele bei mir gewesen. Guck mir die Leute auch nicht so genau an. Mir ist auch völlig egal wie sie aussehen, oder wie sie heißen. Ich frage nicht nach ihrem Namen. Hauptsache, sie zahlen.“

In dem Moment betrat William Danby, der Untersuchungsrichter, mit zwei Zeugen den Tatort. „Hier, die beiden haben sich gemeldet. Sie waren am gestrigen Abend hier. Sie können bezeugen, wer der Tote ist.“

„Und ihr beide seid sicher, dass dieser Tote Christopher Marlowe ist“, wandte sich der Untersuchungsrichter nun an die zwei, die, wie er inzwischen wusste, und wie sie es auch vor ihm zugegeben hatten, am gestrigen Abend mit dem Ermordeten und einem dritten Mann hier gewesen waren.

„Ganz sicher, da besteht überhaupt kein Zweifel“, bestätigte Roger geflissentlich. Und er erzählte, wie es zu dem tödlichen Stich nahe Christophers Auge kam. „Wir beide wollten gar nicht hier her, eigentlich. Weil hier ja alles dunkel war und wir in dieser Kneipe auch noch nie waren. Aber Ingram Fraser wollte unbedingt und Christopher auch. „Das macht doch nichts, dass keiner da ist, ich bin öfter hier. Ich kenne den Arnold, den Wirt. Vielleicht ist er ja auch nur kurz weg und kommt gleich wieder“, so hat der Christopher gesagt. Ja, und so sind wir dann doch rein. Haben getrunken und Karten gespielt und da kam´s dann zwischen Christopher und Ingram zum Streit.“

„Streit – worüber?“

„Nun, es ging um Geld“, antwortete James, „wie meistens. Ingram behauptete, Christopher schulde ihm eine größere Summe. Da ist Christopher auf den Hocker gesprungen und hat gelacht und gesungen.“

„Er hat gesungen?“

„Ja, so aus Spaß, wohl auch um Ingram zu ärgern, glaub’ ich.“

„Und Ingram hat die wilde Wut gepackt. Er zog seinen spitzen Dolch“, ergänzte Roger.

„Und hat Christopher erstochen!“, vollendete der Sheriff den Satz.

„Nein“, schüttelte Roger seinen Kopf. „Es war anders. Christopher, wie wir anderen ja auch, wir waren ja doch ziemlich besoffen. Und da ist Christopher, als er so sang, und weil er ja auch wie wild herumgefuchtelt hat, ins Wanken geraten, schwankte und stürzte vom Hocker und fiel mit seinem Gesicht genau in den gezückten Dolch von diesem Ingram. So war es.“

Der Untersuchungsrichter nickte zufrieden und schwieg einen Augenblick. Er betrachtete noch einmal den Toten, der jetzt auf einer provisorischen Holzpritsche gebettet war.

„Also noch mal von vorne und etwas präziser, wenn ich bitten darf“, forderte ungehalten, aber durchaus nicht unfreundlich, der Untersuchungsrichter die beiden Tatzeugen auf. „Mir scheint da einiges unklar. Zunächst einmal: Ihr sagt“, und damit deutete er auf James und Roger, „dass der Tote da Christopher Marlowe ist. Und Arnold Brokman“, er stieß mit dem Zeigefinger in Richtung des Kneipenwirts, „behauptet, er weiß nicht, ob er ihn überhaupt schon mal gesehen hat. Und ihr“, er wandte sich wieder an die beiden Tatzeugen, „sagt weiter, dass Christopher gesagt hätte, dass er hier schon öfter war. Was soll ich nun glauben?“

„Vielleicht hat Christopher Marlowe ja gelogen“, fiel James als Erklärung ein.

„Gelogen?“

„Ja, dass er schon öfter hier war und den Wirt, den Arnold, kennt.“

Der Untersuchungsrichter winkte ungehalten ab. „Und kann mir einer sagen, warum der Tote da keine Stiefel an hatte als man ihn fand?“

Zunächst herrschte beklommenes Schweigen. Roger und James schüttelten verlegen ihre Köpfe und blickten sich mit fragenden Blicken an. Arnold schaute starren Blicks auf die Zimmerwand. Er biss sich auf die Lippen. Bedächtig drehte er sein Gesicht zunächst kurz der Leiche zu, dann wandte er sich an den Untersuchungsrichter. „Kann doch sein, dass dieser Fraser ihm die Stiefel abgenommen hat. Als Bezahlung so zu sagen.“

„Holt mir den Fraser herein“, befahl der Untersuchungsrichter und ignorierte den Einwand von Arnold. Einer der Schergen vom Sheriff ging hinaus und führte den gefesselten Ingram Fraser herein.

Ein breitschulteriger Kerl von vielleicht Dreißig oder auch schon Mitte Dreißig mit krausem blonden Haar und ungepflegtem spärlichen Bart wurde vom Wachmann mit Schlägen auf Rücken und Schultern vor den Untersuchungsrichter und den Sheriff getrieben. Mit hängendem Kopf stand der Übeltäter da. Er trug eine bis zu den Knien reichende lederne Hose, darüber ein blaues gestreiftes Hemd. Er war barfuß.

„Du also hast den da“, und der Sheriff zeigte auf den Toten, „abgestochen!“

Nachdem Arnold beim Sheriff den Toten in seiner Kneipe gemeldet, der Untersuchungsrichter verständigt, ein Sergeant zunächst den Tatort eingehend untersucht, der Sheriff alle Spuren genau betrachtet, danach das Blut weggewischt und das Stilett sicher gestellt hatte, war die Leiche entkleidet und auf weitere Verletzungen hin untersucht worden. Anschließend hatte man den Leichnam, so weit es die einfachen Verhältnisse in der Kneipe zuließen, gereinigt, ihr ein Totenhemd übergestreift und auf die Pritsche zum Abtransport bereit gelegt.

„Ich wollte ihn nicht abstechen, bestimmt nicht“, jammerte der Angeklagte und schaute flüchtig, aber mit einem gleichgültigen Gesichtsausdruck zum Toten auf der Pritsche hin.

„Aber das hier“, und der Sheriff hielt ihm die Mordwaffe vors Gesicht, „das ist dein Stilett. Und du hattest Streit mit dem Toten. Richtig?“

„Ja richtig, Streit ja, oder so. Na ja, und das Ding gehört mir. Richtig. Und, na ja, Streit hatten wir öfter mal so.“ Ingram lächelte, als ob ihn die ganze Sache amüsiere und eigentlich nichts anginge. Er blickte fragend den Untersuchungsrichter an. Der nickte ihm aufmunternd zu. Dann schien sich Ingram zu besinnen. Er holte tief Luft und erklärte im Ton eines Unschuldigen: „Wenn ich ihn hätte umbringen wollen, dann hätte ich ihm doch nicht ins Gesicht gestochen, ins Gesicht! So was gibt´s doch gar nicht. Das ist doch blöd. Man sticht doch in die Brust, ins Herz, irgendwie in den Körper oder so.“

„Du sagst, ihr hattet schon öfter Streit. Also kennst du den Toten da gut“, setzte der Untersuchungsrichter sein Verhör fort, ohne auf Ingrams Argument einzugehen.

„Ja, wir waren oft in der einen oder anderen Kneipe unterwegs. Haben Karten gespielt und so.“

„Also ihr hattet Streit. Ging es um Geld?“

„Ja.“

„Und hat er“, mischte sich der Sheriff ein und blickte kurz zu der Leiche hinüber, „hat er dir das Geld gegeben?“

Ingrim Fraser schüttelte den Kopf. „Wie denn? War ja tot.“

„Und als Bezahlung hast du dann seine Stiefel genommen?“ Das war zwar eine Frage, die der Untersuchungsrichter stellte, aber für Ingrim klang es eher wie eine endgültige Feststellung. So nickte er nur zustimmend.

Nun wandte sich der Untersuchungsrichter an den Kneipenwirt. „Also noch mal, kennst du den Toten, ja oder nein?“

Arnold merkte, dass es für ihn besser sei, zu behaupten, er kenne den Ermordeten. Dann würde der Sheriff mit seinen Schergen und dem Untersuchungsrichter schneller verschwinden. Und ihm würden weitere lästige Fragen erspart, und man würde nicht auch noch auf die Idee kommen, im Prize eine Durchsuchung zu machen. Und außerdem, so schien es ihm, war man geradezu erpicht darauf, dass dieser Tote da jener Christopher Marlowe sein solle. So antwortete Arnold: „Ich sagte doch, es könnte sein, dass ich ihn kenne. Ich hab mir sein Gesicht nur kurz angesehen. Seine grässliche Verletzung, schrecklich“, er riss, wie in Erinnerung an diesen Anblick, seine Hände hoch, hielt sie sich vor die Augen. Dann ließ Arnold seine Hände wieder sinken. „Das hat mich beinahe umgehauen. Außerdem war’s hier drin ziemlich dunkel.“

„Also, du kennst ihn. Es ist Christopher Marlowe.“

„Ja“, bestätigte Arnold. Er hätte in dieser Situation jeden gewünschten Namen genannt. Wahr oder unwahr, Recht oder Unrecht – das waren Kriterien, nach denen Arnold ohnehin niemals handelte.

„Na endlich.“ Offensichtlich erleichtert drehte sich der Untersuchungsrichter dem Sheriff zu. Er nickte. „Die Untersuchung ist beendet. Der Tote da ist Christopher Marlowe.“

Der Sheriff befahl daraufhin seinen Leuten: „Männer, packt alle Beweisstücke zusammen und nehmt die Kleider des Toten mit. Dieser üble Bursche“, und er deutete auf Ingram Fraser, „wird uns begleiten. Ab mit uns. “

„Der Leichnam dieses Marlowe wird hier in Deptford im Friedhof zu St. Nicholas bestattet. Sorgt dafür, dass ein Priester vor Ort ist“, ordnete der Untersuchungsrichter an und verließ hastig die Kneipe.

 

Die Beerdigung fand, wie vom Untersuchungsrichter bestimmt, am folgenden Montag auf dem genannten Friedhof statt und das in aller Eile und ohne Beteiligung irgendwelcher Freunde oder Angehöriger.

Der überraschende und gewaltsame Tod dieses 29jährigen Christopher Marlowe, dieses beliebten Dramatikers, bedeutenden Dichters und hoch angesehenen Bühnenautors wurde erst am darauf folgenden Tag bekannt gegeben.

Viele waren von dieser Nachricht schockiert, andere verunsichert und so einige gar erfreut. Auch der des Mordes verdächtige Ingram Fraser konnte sich glücklich schätzen, denn er wurde schon am 28. Juni, so als sei nichts geschehen, und ohne jedes weitere Verhör, auf Grund eines königlichen Straferlasses auf freien Fuß gesetzt.

Sehr unglücklich allerdings schien der Cousin des ehemaligen Botschafters in Paris, des vor drei Jahren verstorbenen Geheimdienstchefs Francis Walsingham, Thomas Walsingham zu sein. Er machte deutlich, wie betroffen er war, ja verzweifelt. Hatte er doch einen engen Freund und Vertrauten verloren, wie er laut betonte. Er schämte sich nicht, seine Trauer zu zeigen. Als er von der Ermordung Christophers erfuhr, kleidete er sich in Schwarz. Schließlich, und das war allenthalben bekannt, seit ihrer Studienzeit waren er und Christopher gute Freunde gewesen.

Thomas war aber nicht nur traurig, sondern vor allem wütend auf sich selbst und seine blöde Eifersucht auf den jungen Kyd. Dieser Bursche hatte in London mit Christopher zusammen eine Wohnung geteilt. Und allein diese Tatsache war für ihn, für Thomas, Grund genug gewesen, eifersüchtig zu sein, eifersüchtig auf diesen Kyd. Und das, obwohl Christopher ihm immer wieder versichert hatte, dass dazu keinerlei Anlass gegeben sei. Aber dennoch hatte es darüber zwischen ihnen Streit gegeben. Und dabei hätte er, Thomas, verhindern können, dass man diese ketzerischen Flugblätter in der Wohnung von Christopher fand. Er hatte durchaus von diesen Blättern gewusst und auch von der Gefahr, die von ihnen ausging, falls man sie fände. Aber er hatte nicht eingegriffen, er war leichtsinnig gewesen. Er hätte diese verräterischen Schriftstücke einfach verschwinden lassen können.

Dann war Christopher, weil die Pest in London wütete, aufs Land ins Haus der Witwe Eleanor Bull geflohen. Und als er am 20. Mai zurück kam, wurde er aufgrund von Anschuldigungen eben dieses seines Mitbewohners verhaftet, von Männern einer kirchlichen Institution und in Anwesenheit von Lorg Burghley verhört.

Denn in der gemeinsamen Wohnung hatte man ketzerische Schriften und Flugblätter mit dem Aufruf zu Rebellion gegen die Macht der Kirche gefunden. Alle diese den Staat und die Kirche gefährdenden Blätter, so hatte Kyd unter Folter beteuert, seien einzig und allein Eigentum von Christopher Marlowe. Der arme Kyd erkrankte an den Folgen der Folter und sollte sich nicht mehr davon erholen.

Man verhaftete Christopher also und warf ihm vor, solche aufrührerischen Schriften und Hetzblätter gegen Kirche und Krone nicht nur zu besitzen, sondern sie auch in der Öffentlichkeit verbreitet zu haben. Denn an vielen Stellen der Stadt, vor allem in den Theatern, hatte man solche gefährlichen Flugblätter entdeckt, wobei man davon ausging, dass diese Hetzschriften ebenfalls von Christopher angefertigt worden waren. Und die Verbreitung solcher Hetzblätter war Landesverrat. Allein dafür drohte ihm der Galgen. Darüber hinaus wurde Christopher angeklagt, auch noch „The School of Night“ zu besuchen. (Eine Geheimloge, die okkulte Riten zelebrierte und sich kritisch mit der herrschenden Gesellschaftsordnung und der Kirche auseinander setzte).

Christopher kam jedoch, trotz dieser ungeheuerlichen Anschuldigungen ein Umstürzler zu sein, durch die Fürsprache einflussreicher Freunde bei Hofe auf freien Fuß; allerdings unter der Auflage, sich täglich außer Sonntags beim Kronrat zu melden.

Und dann, plötzlich, war er ermordet worden. Ermordet durch einen dummen Streit in einer obskuren Kneipe, wie es allgemein hieß. Und er, Thomas, hatte sich mit seinem Freund nicht mehr versöhnen können. Laut verkündete Thomas seinen Kummer und beklagte sich bei allen möglichen Bekannten. „Soviel hätte ich meinem liebsten Freund noch sagen wollen. Ach, und was hätten wir uns für eine glückliche Zukunft ausgemalt, eine vielversprechende Zukunft für ihn wie für mich.“ Wobei offen blieb, was er mit einer vielversprechenden Zukunft seine Person betreffend meinte. Denn in seiner Position, bei seinem Vermögen, hätte es ihm nie besser gehen können.

Und nun des herzlich Vertrauten früher Tod. Der unsinnige Tod eines gebildeten, intelligenten Menschen voller Sprachwitz, Fantasie und Humor.

Für immer würde dieser kluge Mund aus England verbannt sein. Nimmer würden diese von Ironie blitzenden Augen ihn, Thomas, ansehen. Diese tiefgründigen Augen, diese von Leidenschaft und Entschlossenheit glühenden Augen würden ihn niemals mehr neckisch herausfordern.