Andreas Mayer
Schriftspracherwerbsstörungen
Ein Ratgeber für Therapeuten,
Pädagogen und Eltern
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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1. Auflage 2015
ISBN 978-3-8248-1148-9
eISBN 978-3-8248-9964-7
© Schulz-Kirchner Verlag GmbH, 2015
Mollweg 2, D-65510 Idstein
Vertretungsberechtigte Geschäftsführer:
Dr. Ullrich Schulz-Kirchner, Nicole Haberkamm
Titelfoto: © Kzenon - Fotolia.com
Fachlektorat: Dr. Christiane Lücking
Lektorat: Susanne Koch, Doris Zimmermann
Umschlagentwurf und Layout: Petra Jeck
Druck und Bindung:
TZ-Verlag & Print GmbH, Bruchwiesenweg 19, 64380 Roßdorf
Printed in Germany
| Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Welche Fähigkeiten braucht ein Kind, um einen gelesenen Text verstehen zu können?
Lesen- und Schreibenlernen ist ein Entwicklungsprozess
Schriftspracherwerbsstörungen (Lese-Rechtschreibstörungen)
Risikofaktoren für die Ausbildung einer Lese-Rechtschreibstörung
Ursachen von Lese-Rechtschreibstörungen
Spracherwerbsstörungen als Risikofaktor für die Ausbildung von Schriftspracherwerbsstörungen
Das Konstrukt der phonologischen Informationsverarbeitung
Die phonologische Bewusstheit
Die Benennungsgeschwindigkeit
Früherkennung und Diagnostik
Früherkennung von Risikokindern
Hinweise für Eltern und Erzieherinnen
TEPHOBE
Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (BISC)
Diagnostik schriftsprachlicher Kompetenzen
Salzburger Lese- und Rechtschreibtest II (SLRT II)
ELFE 1-6
Prävention von Schriftspracherwerbsstörungen
Literacy-Aktivitäten als präventive Maßnahmen im Vorschulalter und in Eingangsklassen
Übungen zum Aufbau einer impliziten phonologischen Bewusstheit auf Reim- und Silbenebene
Auf- und Ausbau einer expliziten Phonembewusstheit
Identifizieren auf Phonemebene
Synthetisieren auf Phonemebene
Segmentieren auf Phonemebene
Vermittlung der Graphem-Phonem-Korrespondenzen
Unterstützung beim Erlernen des synthetisierenden Lesens
Automatisierung des Leseprozesses
Rechtschreiben
Nachteilsausgleich
Literatur
Glossar
Die Erläuterungen der mit gekennzeichneten Begriffe finden Sie im Glossar ab Seite 71.
| Vorwort
Obwohl sich die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in Deutschland zwischen der ersten (2003) und bislang letztmaligen Erfassung (2012) der Lesekompetenzen in den von der OECD verantworteten internationalen Schulleistungsstudien PISA deutlich verbessern konnten, schneiden hierzulande immer noch 14 % aller Kinder und Jugendlichen auf einem Niveau ab, das ihnen nach der Einteilung des PISAKonsortiums nur basale Lesekompetenzen der Stufe 1 attestiert (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2006).
Diese Schülerinnen und Schüler sind ausschließlich in der Lage, mit Texten umzugehen, die ihnen in Inhalt und Form vertraut sind. Sie können die Kernaussage solcher Texte nur dann identifizieren, wenn die zentralen Informationen ausdrücklich benannt werden und sie nur wenig ablenkende Informationen enthalten.
Führt man sich in diesem Zusammenhang vor Augen, dass die selbstständige Informationsentnahme aus Texten in der Schule ein wesentlicher Bestandteil mehr oder weniger aller Fächer ist und ab der dritten Klasse als Kompetenz vorausgesetzt wird, die Arbeitswelt den versierten Umgang mit Schrift insbesondere im Zusammenhang mit elektronischen Medien in nahezu allen Berufen erwartet, wird deutlich, dass sich Lese-Rechtschreibschwierigkeiten negativ auf das schulische Lernen im Allgemeinen auswirken können und die vollständige gesellschaftliche Teilhabe betroffener Jugendlicher und Erwachsener gefährden.
Während lese-rechtschreibschwache Kinder bis heute oftmals in Schulen mit den Förderschwerpunkten Lernen und Sprache unterrichtet werden, ist in der Folge der Ratifizierung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen und der damit verbundenen schrittweisen Umsetzung eines inklusiven Schulsystems zu erwarten, dass ein Großteil dieser Schülerinnen und Schüler in Zukunft Regelschulen besuchen wird. Aus diesem Grund benötigen Pädagogen und Pädagoginnen an Regelgrundschulen ein differenziertes Wissen über die Hintergründe gestörter Schriftspracherwerbsprozesse. Dazu gehören diagnostische und präventive Kompetenzen, die es ihnen ermöglichen, Risikokinder für die Ausbildung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten frühzeitig zu erkennen und betroffenen Kindern die schriftsprachlichen Kompetenzen zu vermitteln, die für eine vollständige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben benötigt werden.
Das Ziel dieses Ratgebers besteht deshalb darin, den Berufsgruppen, die sich um Kinder mit Problemen beim Lesen- und Schreibenlernen kümmern, theoretisches Hintergrundwissen zu Lese-Rechtschreibstörungen zu liefern und praktische Tipps zu geben, wie Risikokinder frühzeitig identifiziert und unterstützt werden können.
Je früher Kinder mit drohenden Lese-Rechtschreibschwierigkeiten erkannt und gefördert werden, desto erfolgversprechender sind die Aussichten.
Aber auch Eltern sollen von der Lektüre des Ratgebers profitieren, indem sie die Probleme ihrer Kinder besser verstehen lernen und erfahren, mit welchen Übungen und Spielen sie bereits im Vorschulalter im familiären Umfeld unterstützend wirksam werden können.
| Welche Fähigkeiten braucht ein Kind, um
einen gelesenen Text verstehen zu können?
Der Name der deutschen Hauptstadt stammt aus dem Slawischen und bedeutet „sumpfige Wildnis mit Lehm und Sand“. Das Tal der Spree war nämlich eine Sumpfwildnis. Da gab es auch wilde Bären. Weil „Berlin“ so ähnlich klingt wie „Bär“, wählten die Berliner den Bären als Wappentier aus.1
Bereits um diesen einfachen kurzen Text lesen und verstehen zu können, benötigen Kinder zahlreiche spezifisch schriftsprachliche, allgemein sprachliche und kognitive Fähigkeiten.
Wie bei allen höheren kognitiven Funktionen spielen auch bei der sinnentnehmenden Verarbeitung von Texten eher unspezifische Kompetenzen der Aufmerksamkeitslenkung, der Konzentrationsfähigkeit, der Motivation, der Gedächtniskapazität etc. eine wesentliche Rolle.
Von zentraler Bedeutung für das Verständnis schriftsprachlicher Beeinträchtigungen sind aber die spezifisch schriftsprachlichen Fähigkeiten im Bereich der ►Worterkennung und das allgemeine Hörsprachverständnis. Unter der Worterkennung versteht man die Fähigkeit, ein gedrucktes Wort in Lautsprache (beim leisen Lesen in innere Sprache) umzuwandeln. Dazu stehen kompetenten Lesern zwei Wege zur Verfügung. Wörter, die in der schriftsprachlichen Modalität noch nicht automatisiert erkannt werden können, können rekodiert werden, indem die einzelnen Buchstaben des Wortes in Laute umgewandelt und zu bedeutungstragenden Einheiten (Wörtern) synthetisiert werden (= ►phonologisches Rekodieren). Da Leseanfängern die wenigsten Wörter schriftsprachlich vertraut sind, wird diese indirekte Strategie insbesondere am Anfang des Lesen- und Schreibenlernens benutzt. Wörter, von denen eine Repräsentation im Langzeitgedächtnis gespeichert ist, können dagegen auf direktem Weg automatisiert erkannt werden, ohne dass eine bewusste Verarbeitung einzelner Buchstaben notwendig ist. Ein wesentliches Ziel des Unterrichts muss darin bestehen, den Kindern diese ►direkte Lesestrategie zu vermitteln, da sich das Lesen so schneller und müheloser gestaltet und so mehr kognitive Ressourcen für die Sinnentnahme zur Verfügung stehen.
Während die Umwandlung gedruckter Wörter in Sprache prinzipiell möglich ist, wenn das Kind die ►Graphem-Phonem-Korrespondenzen (Buchstaben-Laut-Zuordnungen) und die Synthese von Lauten beherrscht, ist ein Zugriff auf die Bedeutung des rekodierten Wortes – und damit ein Verstehen – nur dann möglich, wenn dieses zum Wortschatz des Kindes gehört, also wenn ein entsprechender Eintrag im ►mentalen Lexikon vorhanden ist. Neben den spezifischen schriftsprachlichen Fähigkeiten der Worterkennung spielen also auch der Umfang und die Differenziertheit des Wortschatzes eine wesentliche Rolle, um das Gelesene verstehen zu können. Damit aber nicht genug. Das Verstehen einzelner Wörter garantiert bei Weitem noch nicht das Satz- und Textverständnis. Um das Gesamtbild eines Textes konstruieren zu können, muss die grammatische Struktur der einzelnen Sätze verarbeitet werden, die Inhalte einzelner Sätze müssen aufeinander bezogen werden, Hintergrundwissen und im Text nicht explizit genannte Informationen müssen ergänzt werden.
Für das Leseverständnis müssen spezifisch schriftsprachliche und allgemein sprachlich-kognitive Fähigkeiten ineinandergreifen. Ist entweder die Worterkennung oder das allgemeine Sprachverstehen nicht intakt, muss darunter auch das Leseverständnis leiden.
Das intakte Zusammenwirken der Worterkennung und des Sprachverständnisses wird im angloamerikanischen Raum im Rahmen des Modells des „simple-view-of-reading“ (Hoover/Gough 1990, Abb. 1) beschrieben.
Abb. 1: Das „simple-view-of-reading“-Modell von Hoover und Gough (1990)
1 Vgl. http://www.sos-halberstadt.bildung-lsa.de/sagen/pdf/VondenAnfaengenderdeutschen HauptstadtBerlin.pdf