Charles Dickens

Nikolas Nickleby

Roman

Mit den Illustrationen der
englischen Erstausgabe von Phiz

 

Aus dem Englischen
von Gustav Meyrink

 

Mit einem Nachwort und einer
Zeittafel von Rudolf Beck

 

 

2011 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© 2011 der deutschsprachigen Ausgabe:

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

 

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KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

 

eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40984 - 1 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 14043 - 0

 

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1. KAPITEL das alle übrigen einleitet

2. KAPITEL Handelt von Mr. Ralph Nickleby...

3. KAPITEL Mr. Ralph Nickleby erhält...

4. KAPITEL Nikolas und sein Onkel...

5. KAPITEL Nikolas begibt sich nach...

6. KAPITEL Der erwähnte Unfall gibt...

7. KAPITEL Mr. und Mrs. Squeers...

8. KAPITEL Der Haushalt in Dotheboys...

9. KAPITEL Von Miss Squeers, Mrs. Squeers...

10. KAPITEL Wie Ralph Nickleby für...

11. KAPITEL Mr. Newman Noggs führt...

12. KAPITEL Der weitere Verlauf der...

13. KAPITEL Nikolas bringt durch ein...

14. KAPITEL Handelt nur von ganz...

15. KAPITEL Was die Veranlassung der...

16. KAPITEL Nikolas sucht eine Anstellung...

17. KAPITEL Kate Nicklebys weitere Schicksale

18. KAPITEL Miss Knag faßt, nachdem...

19. KAPITEL Beschreibung eines Diners bei...

20. KAPITEL Nikolas trifft endlich mit...

21. KAPITEL Madame Mantalini gerät in...

22. KAPITEL Nikolas begibt sich in...

23. KAPITEL Handelt von dem Ensemble...

24. KAPITEL Miss Snevelliccis großes Benefiz...

25. KAPITEL Eine junge Dame aus...

26. KAPITEL Kate Nicklebys Seelenfrieden gerät...

27. KAPITEL Mrs. Nickleby wird mit...

28. KAPITEL Kate Nickleby sucht, durch...

29. KAPITEL on Nikolas’ weiteren Schicksalen...

30. KAPITEL Festlichkeiten, die Nikolas zu...

31. KAPITEL Handelt von Ralph Nickleby...

32. KAPITEL Eine höchst merkwürdige Unterredung...

33. KAPITEL Mr. Ralph Nickleby wird...

34. KAPITEL Besuch bei Mr. Ralph Nickleby

35. KAPITEL Smike wird Mrs. Nickleby...

36. KAPITEL Handelt lediglich von Familienangelegenheiten...

37. KAPITEL Nikolas wird bei den...

38. KAPITEL Ein Kondolenzbesuch. – Smike begegnet...

39. KAPITEL Ein anderer alter Freund...

40. KAPITEL Nikolas Nickleby verliebt sich...

41. KAPITEL Behandelt einen höchst romantischen...

42. KAPITEL Beleuchtet den alten Erfahrungssatz...

43. KAPITEL Versieht den Dienst eines...

44. KAPITEL Mr. Ralph Nickleby sagt...

45. KAPITEL Eine große Überraschung

46. KAPITEL Auf Nikolas’ Liebesangelegenheit fällt...

47. KAPITEL Mr. Ralph Nickleby hat...

48. KAPITEL Ein Benefiz Mr. Vincent...

49. KAPITEL Berichtet von weiteren Maßnahmen...

50. KAPITEL Eine Katastrophe

51. KAPITEL Der Plan Ralph Nicklebys...

52. KAPITEL Nikolas verzweifelt an Madeline...

53. KAPITEL Wie Ralph Nicklebys und...

54. KAPITEL Die Krisis und der...

55. KAPITEL Familienangelegenheiten, Sorgen, Enttäuschungen und Trübsal

56. KAPITEL Ralph Nickleby bietet sich...

57. KAPITEL Wie Ralph Nicklebys Bundesgenosse...

58. KAPITEL Eine Szene dieser Geschichte...

59. KAPITEL Die bösen Pläne drohen...

60. KAPITEL Die Gefahren häufen sich...

61. KAPITEL Nikolas und Kate verwirken...

62. KAPITEL Ein letzter Besuch bei...

63. KAPITEL Die Gebrüder Cheeryble geben...

64. KAPITEL Ein alter Bekannter taucht...

65. KAPITEL Schluß

NACHWORT

ZEITTAFEL

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|13|1. KAPITEL

das alle übrigen einleitet

In einem entlegenen Teil der Grafschaft Devonshire lebte einst ein braver Mann namens Gottfried Nickleby, der sich ziemlich spät noch in den Kopf gesetzt hatte, zu heiraten. Da er aber weder jung noch begütert war und daher nicht auf die Hand einer vermögenden Dame rechnen durfte, so verehelichte er sich lediglich aus Zuneigung mit einer alten Flamme, die ihn ihrerseits aus demselben Grunde nahm, – so wie etwa zwei Leutchen, die es sich nicht leisten können, um Geld Karten zu spielen, einander hin und wieder den Gefallen erweisen, mitsammen eine Partie »umsonst« zu machen.

Die Flitterwochen waren bald vorüber, und da Mr. Nicklebys jährliches Einkommen achtzig Pfund nicht überstieg, blickte das Ehepaar sehnsüchtig in die Zukunft und verließ sich in nicht geringem Maß auf den Zufall, der ihnen aufhelfen sollte.

Es gibt, der Himmel weiß, Menschen genug auf der Welt; und sogar in London, wo Mr. Nickleby in jenen Tagen wohnte, hört man nur wenig klagen, daß die Bevölkerung zu spärlich gesäet sei. Dabei aber – du lieber Gott – kann man lange suchen, bis man einen Freund entdeckt.

Mr. Nickleby spähte und spähte, bis ihn die Lider nicht weniger schmerzten als das Herz, aber nirgends wollte sich ein solcher blicken lassen. Wenn er dann die vom Ausschauen ermüdeten Augen seinem eigenen Herde zuwandte, so zeigte sich auch dort gar wenig, wo sie hätten ausruhen können.

Als schließlich Mrs. Nickleby nach fünf Jahren ihren Gatten mit ein paar Jungen beglückte, fühlte der tiefgedrückte Mann die Notwendigkeit, für seine Familie zu sorgen, immer mehr und mehr, und er war bereits nach reiflicher Überlegung zu |14|dem Entschluß gekommen, sich am nächsten Quartal in eine Lebensversicherung einzukaufen und dann ganz zufällig von irgendeinem Monument oder Turm herunterzufallen, als eines Morgens ein schwarzgesiegelter Brief mit der Nachricht anlangte, Mr. Ralph Nickleby, sein Oheim, sei gestorben und habe ihm sein ganzes kleines Vermögen von ungefähr fünftausend Pfund Sterling hinterlassen.

Da der Selige bei Lebzeiten keine weitere Notiz von seinem Neffen genommen, als daß er dessen ältestem Knaben, der infolge einer verzweifelten Spekulation den Namen seines Großonkels in der Taufe erhalten hatte, einen silbernen Löffel in einem Maroquinfutteral schickte, – was, da dieser nicht allzuviel damit zu essen hatte, fast wie eine Satire darauf aussah, daß das Kind nicht mit einem solchen nützlichen Artikel im Munde auf die Welt gekommen war –, so wollte Mr. Gottfried Nickleby im Anfang die freudige Botschaft kaum glauben. Bei weiterer Prüfung stellte sich jedoch heraus, daß sich die Sache wirklich so verhielt. Der wackere alte Herr hatte, wie es schien, zuerst beabsichtigt, seine ganze Habe dem allgemeinen Rettungsverein zu hinterlassen, und zu diesem Zwecke auch bereits ein Testament aufgesetzt. Aber dieser Verein hatte einige Monate vorher das Pech gehabt, das Leben eines armen Verwandten Mr. Nicklebys zu retten, dem dieser wöchentlich ein Almosen von sechs Schillingen und drei Pence auszahlte. Deshalb widerrief Mr. Ralph Nickleby in höchst gerechter Entrüstung das Vermächtnis durch ein Kodizill und setzte seinen Neffen Gottfried zum Universalerben ein, um dadurch seinen Unwillen sowohl gegen die Gesellschaft, die das Leben des armen Verwandten gerettet, als auch gegen den armen Verwandten selbst, der es sich hatte retten lassen, auszudrücken.

Mit einem Teile dieser Erbschaft kaufte Gottfried Nickleby ein kleines Landgut unweit Dawlish in Devonshire und zog sich dorthin mit seiner Gattin und seinen zwei Kindern zurück, |15|um von dem spärlichen Ertrage des Gütchens und den Interessen des ihm noch übrigbleibenden Kapitals zu leben. Als er nach fünfzehn Jahren, etwa fünf Jahre nach dem Tode seiner Gattin, starb, hinterließ er seinem ältesten Sohne Ralph dreitausend Pfund in barem Gelde und dem jüngeren, Nikolas, tausend Pfund und das Landgut, – wenn man anders ein Stück Feld ein Landgut nennen kann, das mit Ausnahme des Hauses und des eingeheckten Grasgartens keinen größeren Umfang hatte als der Russelplatz von Covent Garden.

Die zwei Brüder waren mitsammen in einer Schule in Exeter erzogen worden und hatten, da sie gewöhnlich wöchentlich einmal einen Besuch zu Hause machten, von ihrer Mutter oft lange Erzählungen über die Leiden ihres Vaters in den Tagen seiner Armut und der Wichtigkeit ihres verblichenen Onkels in den Tagen seines Wohlstandes mitangehört – Erzählungen, die auf die beiden Knaben einen sehr verschiedenen Eindruck hervorbrachten, denn während der jüngere, dessen Charakter schüchtern und begnügsam war, nur Winke darin sah, das Getriebe der Welt zu meiden und sein Glück in der Ruhe des Landlebens zu suchen, schöpfte Ralph, der Ältere, die zwei großen Lehren daraus, daß Reichtum die einzige Quelle von Glück und Ansehen sei und daß er zur Erwerbung desselben alle Mittel anwenden dürfe, sofern sie nicht durch das Gesetz mit Todesstrafe bedroht wären. »Wenn meines Onkels Geld auch keinen Nutzen brachte, solange er lebte«, folgerte Ralph weiter, »so kam es doch nach seinem Tode meinem Vater zugute, der jetzt den höchst lobenswerten Vorsatz hat, es für mich aufzusparen. Und was den alten Herrn anbelangt, so fand dieser doch auch seinen Genuß darin, sich sein Lebtag lang bewußt zu sein, daß ihn seine Familie deshalb beneide und in Ehren halte.« So kam Ralph immer bei derartigen Selbstgesprächen zu dem Schluß, daß auf der ganzen Welt nichts dem Gelde gleichkomme.

Doch schon in frühen Jahren beschränkte sich der hoffnungsvolle |16|Knabe nicht auf Theorien und rein abstrakte Spekulationen, sondern eröffnete bereits in der Schule ein kleines Wuchergeschäft, indem er zuerst Schieferstifte und Marmeln auf gute Zinsen auslieh und dann allmählich auf Kupfermünzen überging. Er quälte aber dabei seine Schuldner nicht etwa mit umständlichen und verwickelten Zinseszinsberechnungen. Sein Satz: »Zwei Pence für jeden Halfpenny«, vereinfachte das Verfahren außerordentlich.

In gleicher Weise vermied der junge Ralph Nickleby alle umständlichen und verwickelten Berechnungen der einzelnen Tage – mit denen man, wie jeder weiß, der schon damit zu tun gehabt, selbst bei dem einfachsten Zinsfuße seine liebe Not hat –, indem er als allgemeine Regel feststellte, daß Kapital nebst Interessen immer am Taschengeldtage, das heißt am Samstag, zurückzuzahlen seien, wobei es sich gleichblieb, ob die Schuld am Montag oder am Freitag kontrahiert worden war. Er folgerte nämlich, und nicht mit Unrecht, daß die Zinsen eigentlich für einen Tag höher sein sollten als für fünf, da man annehmen könne, daß in ersterem Falle dem Borger aus einer besonders großen Verlegenheit geholfen werde, weil dieser sonst gewiß nicht unter solch drückenden Bedingungen Geld würde aufgenommen haben.

 

Nach dem Tode seines Vaters widmete sich Ralph Nickleby, der kurz zuvor in einem Londoner Handlungshaus untergebracht worden, seinem alten Hange, Geld zu erwerben, mit einer solchen Leidenschaft, daß er darüber seinen Bruder viele Jahre lang ganz und gar vergaß. Wenn auch hin und wieder ein Rückerinnern an seinen lieben alten Spielgefährten durch den Nebel, in dem er lebte, brach – denn das Geld umhüllt den Menschen mit einem Nebel, der auf die Gefühle der Jugendzeit weit zerstörender wirkt und einschläfernder als Kohlengas –, so tauchte damit doch immer zugleich der Gedanke auf, jener werde vielleicht, falls das gegenseitige Verhältnis |17|inniger wäre, Geld von ihm borgen wollen. Daher schüttelte Mr. Ralph Nickleby dann jedesmal die Achsel und sagte: »Es ist besser so, wie es ist.«

Nikolas seinerseits lebte als Junggeselle auf seinem Erbgute, bis er, der Einsamkeit müde, die Tochter eines Nachbars mit einer Mitgift von tausend Pfund zum Weibe nahm. Die gute Dame gebar ihm zwei Kinder: einen Sohn und eine Tochter, und als der Sohn ungefähr neunzehn Jahre und die Tochter etwa vierzehn zählte, sah sich Mr. Nickleby nach Mitteln um, sein Kapital wieder zu vergrößern, das durch den Zuwachs seiner Familie und die Kosten der Erziehung der Kinder sehr zusammengeschmolzen war.

»Spekuliere damit!« meinte Mrs. Nickleby.

»Spekulieren, mein Schatz?« entgegnete Mr. Nickleby bedenklich.

»Warum denn nicht?«

»Weil wir nichts mehr zu leben hätten, wenn wir es verlören«, antwortete Mr. Nickleby in seiner gewohnten bedächtigen Weise.

»Pah«, erwiderte Mrs. Nickleby.

»Man könnte es ja immerhin überlegen, meine Liebe«, meinte Mr. Nickleby.

»Nikolas ist schon ziemlich herangewachsen«, drängte die Gattin, »und es ist Zeit, daß er sich für einen Beruf entscheidet. Und was soll aus unserem Käthchen, dem armen Kind, werden, wenn wir ihr keinen Heller mitgeben können? Denk an deinen Bruder. Würde er das sein, was er ist, wenn er nicht spekuliert hätte?«

»Das ist freilich wahr«, gab Mr. Nickleby zu. »Also gut, meine Liebe. Ich werde spekulieren.«

 

Spekulieren ist ein Hazardspiel. Die Spieler sehen am Anfang wenig oder gar nichts von ihren Karten, und der Gewinn kann groß sein, aber ebenso auch der Verlust.

|18|Das Glück war gegen Mr. Nickleby. Die allgemeine Spekulationswut warf sich damals gerade wie toll auf eine bestimmte Aktienunternehmung; die Seifenblase barst, vier Faiseure kauften sich Landgüter in Florenz, und vierhundert arme Schlucker, darunter auch Mr. Nickleby, waren – ruiniert.

»Das Haus, in dem ich wohne«, seufzte der unglückliche Spekulant, »kann mir morgen genommen werden. Kein Stück unserer alten Möbel bleibt uns. Alles wird an Fremde versteigert werden!«

Und dieser letzte Gedanke war ihm so schmerzlich, daß er sich in sein Bett legte, augenscheinlich fest entschlossen, wenigstens dieses in keinem Falle aufzugeben.

»Kopf hoch, Sir!« riet der Arzt.

»Sie müssen sich nicht so niederdrücken lassen, Sir«, sagte die Krankenwärterin.

»Solche Dinge kommen alle Tag vor«, meinte der Advokat.

»Und es ist eine große Sünde, sich dagegen aufzulehnen«, ermahnte der Pfarrer.

»Ein Mann, der seine Familie hat, sollte so etwas nie tun«, fügten die Nachbarn hinzu.

Mr. Nickleby aber schüttelte nur den Kopf dazu, bedeutete allen, das Zimmer zu verlassen, umarmte sein Weib und seine Kinder, drückte sie an das immer matter pochende Herz und sank dann erschöpft auf sein Kissen zurück. Bald sah die Familie zu ihrer großen Bestürzung, daß er irre zu reden begann, denn er sprach lange von der Großmut und der Güte seines Bruders und den schönen Tagen, die sie miteinander auf der Schule zugebracht hatten. Als der Anfall vorüber war, empfahl er sie feierlich dem Einen, der nie der Witwen und Waisen vergißt, lächelte matt, richtete das Gesicht zur Zimmerdecke empor und sagte, er glaube, jetzt einschlummern zu können.

|19|2. KAPITEL

Handelt von Mr. Ralph Nickleby, seinen Geschäften und Unternehmungen. Ferner von einer großen Aktiengesellschaft, die für das ganze Land von größter Bedeutung ist

Mr. Ralph Nickleby war im eigentlichen Sinne des Wortes weder Kaufmann noch Bankier noch Sensal noch Notar. Man hätte überhaupt seinen Beruf nicht leicht bestimmen können. Nichtsdestoweniger ließ sich aus dem Umstande, daß er in einem geräumigen Hause in Golden Square wohnte mit einer Messingplatte an der Eingangstüre, die die Aufschrift »Bureau« trug, entnehmen, daß er irgendein Geschäft betrieb oder zu betreiben vorgab. Die weitere Tatsache, daß zwischen halb zehn und fünf Uhr täglich ein Mann mit einem aschfahlen Gesicht und rostbraunem Anzug anwesend war, in einem speisekammerähnlichen Gemach am Ende des Hausflurs auf einem ungewöhnlich harten Stuhl saß – und stets eine Feder hinter dem Ohr hatte, wenn er auf den Ruf der Klingel die Haustüre öffnete, schien das zu bestätigen.

Golden Square liegt ziemlich abgelegen. Es hat seine Glanzzeit hinter sich und gehört nur mehr unter die herabgekommenen Plätze, so daß nur wenige Geschäftsleute hier ihren Aufenthaltsort wählen. Die Wohnungen werden meistens vermietet, und die ersten und zweiten Stockwerke gewöhnlich möbliert an ledige Herren abgegeben, die zugleich auch im Hause einen Kosttisch finden. Es ist vorzugsweise der Zufluchtsort der Fremden. Sonnverbrannte Männergestalten mit großen Ringen, schweren Uhrketten und buschigem Backenbart, wie sie sich zwischen vier und fünf nachmittags unter der Säulenhalle des Opernhauses versammeln, sobald geöffnet wird, um die Logenbillets auszugeben, leben in Golden Square oder dessen Nähe. Einige Violinisten und ein Trompeter der |20|Opernkapelle haben hier ihren Wohnsitz aufgeschlagen. In den Kosthäusern wird unaufhörlich musiziert, und die Töne der Klaviere und Harfen beleben die Abendstunden. In Sommernächten kann man aus den offenen Fenstern Gruppen von dunklen, schnurrbärtigen Gesichtern sehen, die fürchterliche Rauchwolken von sich blasen; und der Geruch aller möglichen Sorten von Tabak durchduftet die Luft.

Dem Anscheine nach eignet sich ein derartiger Platz nicht besonders für einen Geschäftsmann, aber Mr. Ralph Nickleby wohnte bereits seit vielen Jahren hier, ohne daß man je eine Klage von ihm gehört hätte. Er kannte niemanden in der ganzen Umgebung, und niemand kannte ihn, obgleich er in dem Rufe eines unermeßlich reichen Mannes stand. Die Handwerker und Kaufleute hielten ihn für eine Art von Rechtsgelehrten, und die übrigen Nachbarn meinten, er wäre Generalagent oder etwas dergleichen. Aber alle diese Vermutungen stimmten so wenig wie Mutmaßungen über anderer Leute Angelegenheiten meistens.

Mr. Ralph Nickleby saß eines Morgens, zum Ausgehen angekleidet, in seinem Bureau. Er trug einen flaschengrünen Spencer über einem blauen Leibrock, eine weiße Weste, graumelierte Beinkleider und Stulpenstiefel. Der Zipfel eines schmalgefältelten Busenstreifs drängte sich, als ob er sich mit Gewalt sehen lassen wollte, zwischen dem Kinn und dem obersten Knopf der Weste hervor, während der Spencer nicht weit genug schloß, um eine lange, aus einer Reihe von einfachen goldenen Ringen bestehende Uhrkette zu verbergen, die an einer goldenen Repetieruhr in Mr. Nicklebys Tasche entsprang und in zwei Schlüssel endigte, von denen der eine zur Uhr selbst, der andere offenbar zu irgendeinem Patentvorlegeschloß gehörte. Mr. Nickleby trug das Haar gepudert, als wünsche er, sich dadurch ein menschenfreundlich wohlwollendes Aussehen zu geben. Wenn er dies aber wirklich beabsichtigte, so hätte er vor allem auch sein Gesicht pudern |21|müssen, in dessen Falten, wie nicht minder in den kalten unsteten Augen, beständige Arglist lauerte.

Mr. Nickleby schlug ein vor ihm liegendes Kontobuch zu, warf sich in seinem Stuhl zurück und blickte mit zerstreuter Miene durch die glanzlosen Fensterscheiben. Häuser wie das seine pflegen in London einen trübseligen kleinen Hofraum zu haben, der gewöhnlich durch vier hohe weißgetünchte Mauern eingeschlossen ist und auf den die Schornsteine zürnend herabblicken. Auf solchen Erdflecken welkt alle Jahre ein verkümmerter Baum, der im Spätherbst, wenn andere Bäume ihre Blätter verlieren, so tut, als wenn er etwas Laub hervorbringen wollte, gar bald aber wieder von seiner Anstrengung abläßt, um bis zum nächsten Sommer dürr dazustehen, wo er dann den gleichen Prozeß wiederholt und vielleicht, wenn das Wetter besonders günstig ist, irgendeinen rheumatischen Sperling in Versuchung führt, auf seinen Zweigen zu zirpen. Man nennt diese dunklen Höfe bisweilen Gärten. Der Mieter wirft gewöhnlich gleich bei seinem Einzug einige Packkörbe und ein halbes Dutzend zerbrochene Gläser hinein, und da bleibt dann alles, bis wieder ausgezogen wird, liegen, um unter dem spärlichen Buxbaum, dem verkümmerten Immerbraun und den zerbrochenen Blumentöpfen in Schmutz und Kot nach Belieben zu modern.

In einen derartigen Raum schaute Mr. Ralph Nickleby hinaus, als er, die Hände in den Taschen, durch das Fenster sah. Die Aussicht hatte gerade nichts Einladendes, aber Mr. Nickleby war in düstere Gedanken verloren, und seine Augen wanderten schließlich zu einem kleinen schmutzigen Fenster linker Hand, durch das das Gesicht des Schreibers nur undeutlich sichtbar war, und da der Mann gerade aufblickte, so winkte er ihm, einzutreten. Sofort erhob sich der Schreiber von seinem hohen Sessel, der von dem ewigen Auf- und Abrutschen wie poliert aussah, und erschien in Mr. Nicklebys Zimmer. Er war ein großer Mann in mittleren Jahren mit ein paar Glotzaugen, |22|von denen das eine unbeweglich war, einer Karfunkelnase, einem leichenfahlen Gesicht und einem Anzug, der aufs äußerste abgetragen, viel zu kurz und zu knapp und mit so wenig Knöpfen versehen war, daß man sich wundern mußte, wie es ihm gelang, seinem Eigentümer nicht vom Leibe zu fallen.

»War das halb ein Uhr, Noggs?« fragte Mr. Nickleby mit scharfer, unangenehmer Stimme.

»Nicht mehr als fünfundzwanzig Minuten nach der …« Noggs wollte sagen, »nach der Wirtshausuhr«, besann sich jedoch rechtzeitig und ergänzte: »… nach der Sonne.«

»Meine Uhr ist stehengeblieben«, sagte Mr. Nickleby, »kann mir nicht erklären, warum.«

»Nicht aufgezogen«, meinte Noggs.

»Doch, doch«, versetzte Mr. Nickleby.

»Vielleicht die Feder überdreht.«

»Kann nicht gut sein.«

»Muß wohl«, beharrte Noggs.

»Na, meinetwegen«, sagte Mr. Nickleby und steckte seine Repetieruhr wieder in die Tasche. »Vielleicht ist’s so.«

Noggs gab einen eigentümlich grunzenden Ton von sich, wie er es gewöhnlich am Schlusse eines jeden Wortwechsels mit seinem Herrn zu tun pflegte, um dadurch anzudeuten, daß er recht behalten habe, und versank, da er selten zu sprechen wagte, ohne gefragt zu sein, in ein grämliches Schweigen, wobei er sich langsam die Hände rieb, an den Fingern knackte und sie auf jede mögliche Art verrenkte. Dabei gab er seinem gesunden Auge denselben starren und ungewöhnlichen Ausdruck, den das andere besaß, so daß es unmöglich war, zu erkennen, wohin er eigentlich blicke. Es war dies eine von den zahlreichen Eigentümlichkeiten Mr. Noggs’, die jedem, selbst dem gleichgültigsten Beobachter, auf den ersten Blick auffallen mußte.

»Ich will jetzt nach der London-Tavern gehen«, sagte Mr. Nickleby.

|23|»Öffentliche Versammlung?« fragte Noggs.

Mr. Nickleby nickte.

»Ich erwarte einen Brief von meinem Sachwalter betreffs Ruddles Pfandverschreibung. Wenn das Schreiben überhaupt eintrifft, so muß es um zwei Uhr hier sein. Ich werde um diese Zeit aus der City nach Charing Cross gehen. Wenn also Briefe kommen, so werden Sie mir sie entgegenbringen.«

Noggs nickte. In diesem Augenblick wurde die Bureauklingel gezogen. Mr. Nickleby blickte von seinen Papieren auf, und sein Schreiber blieb unbeweglich stehen.

»Man hat geläutet«, sagte Noggs, als halte er es für nötig, seinen Gebieter darauf aufmerksam zu machen. »Zu Hause?«

»Ja.«

»Für jedermann?«

»Ja.«

»Auch für den Steuereinnehmer?«

»Nein. Er soll ein andermal wiederkommen.«

Noggs ließ sein gewohntes Grunzen hören, was soviel bedeuten sollte wie »Ich dachte es ja«, und ging, da sich das Läuten wiederholte, zur Türe. Bald darauf kehrte er mit einem blassen Herrn namens Bonney zurück, der, eine schmale weiße Halsbinde nachlässig umgebunden, mit wirrem Haar hastig und unruhig ins Zimmer trat und überhaupt ganz so aussah, als habe man ihn in der Nacht aus den Federn geholt, ohne daß er sich zum Ankleiden hätte Zeit nehmen können.

»Mein lieber Nickleby«, rief der Herr, seinen weißen Hut abnehmend, der mit Papieren so vollgepfropft war, daß es ein Wunder schien, wie er ihn hatte auf dem Kopf tragen können, »es ist kein Augenblick zu verlieren, ich habe einen Wagen vor der Türe. Sir Matthew Pupker übernimmt den Vorsitz, und auf drei Parlamentsmitglieder können wir mit Bestimmtheit rechnen. Ich habe selbst zwei von ihnen aus den Betten geholt, und der Dritte, der die ganze Nacht durch im Crockfordklub am Spieltisch gesessen hat, ist eben nach Hause gegangen, um |24|seine Wäsche zu wechseln und ein paar Flaschen Sodawasser zu trinken. Er wird aber zur rechten Zeit dort sein, um vor der Versammlung seine Rede zu halten. Die durchwachte Nacht hat ihn zwar ein wenig hergenommen, aber das hat nichts zu sagen, er pflegt in solchen Fällen mit besonderem Nachdruck zu reden.«

»Es scheint also alles gutgehen zu wollen?« versetzte Mr. Ralph Nickleby, dessen Kaltblütigkeit in scharfem Gegensatz zu der Lebhaftigkeit seines Geschäftsfreundes stand.

»Gutgehen?« rief Mr. Bonney. »Es ist die feinste Idee, die je ausgeheckt worden ist. Vereinigte, verbesserte, hauptstädtische Warme-Semmeln- und Kuchenbäckerei und pünktliche Ablieferungsgesellschaft. Kapital fünf Millionen mit fünf mal hunderttausend Aktien à zehn Pfund. Ha, schon der Name wird machen, daß die Aktien in zehn Tagen über pari stehen.«

»Und wenn’s soweit ist?« entgegnete Mr. Ralph Nickleby lächelnd.

»Wenn’s soweit ist, so wissen Sie so gut wie irgendeiner, was dann zu geschehen hat und wie man sich beizeiten ruhig aus der Affäre ziehen kann«, versetzte Mr. Bonney und klopfte dem Geldmann vertraulich auf die Schulter. »Apropos, Sie haben da einen seltsamen Menschen zum Schreiber.«

»Hm, ein armer Teufel«, brummte Ralph und zog seine Handschuhe an. »Und doch hat Newman Noggs seiner Zeit Pferde und Hunde gehalten.«

»Was Sie nicht sagen«, warf der andere gleichgültig hin.

»Ja, ja. Und zwar vor nicht allzulanger Zeit. Aber er hat sein Geld durchgebracht. Legte es leichtsinnig an, borgte auf Zinsen und wurde, mit einem Wort, in kurzer Zeit zum Bettler. Er ergab sich dem Trunk, wurde vom Schlag gerührt und kam dann zu mir, um mich um ein Pfund anzupumpen. Und da ich, als er noch in besseren Verhältnissen war …«

»In Geschäftsverbindung mit ihm stand«, ergänzte Mr. Bonney mit einem bedeutsamen Blick.

|25|»Ganz recht. So konnte ich ihm natürlich nichts leihen.«

»Natürlich nicht.«

»Aber ich brauchte gerade einen Schreiber und Bedienten zum Türöffnen usw. und nahm ihn deshalb aus Barmherzigkeit auf. Und seitdem ist er hier. Ich glaube zwar, daß es in seinem Kopf nicht ganz richtig ist«, fügte Mr. Nickleby mit einem Blick, der mitleidig sein sollte, hinzu, »aber ich kann den armen Kerl zur Not schon gebrauchen.«

Der weichherzige Mr. Nickleby vergaß hinzuzusetzen, daß der gänzlich mittellose Newmann Noggs einen geringeren Lohn bezog, als ihn etwa ein dreizehnjähriger Knabe bekommen haben würde, und daß die außergewöhnliche Schweigsamkeit des Mannes ihn zu einem sehr wertvollen Diener an einem Orte machte, wo soviel Geschäfte abgewickelt wurden, an deren Geheimhaltung Ralph außerordentlich viel liegen mußte. Die beiden Herren hatten indes große Eile, brachen daher ihr Gespräch ab und verfügten sich zu der bereitstehenden Droschke.

Als sie in der Bishopsgatestreet anlangten, herrschte dort ein sehr bewegtes Treiben. Es war ein sehr windiger Tag, und ein halbes Dutzend Männer durchzogen die Straßen mit ungeheuren Ankündigungen, auf denen in riesigen Buchstaben zu lesen war, daß Punkt ein Uhr eine öffentliche Versammlung stattfinden werde, um die Zweckmäßigkeit einer Petition an das Parlament hinsichtlich der »Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen Warme-Semmeln- und Kuchenbäckerei und pünktlichen Ablieferungs-Gesellschaft« zu erörtern, deren Kapital auf fünf Millionen zu fünf mal hunderttausend Aktien à zehn Pfund veranschlagt sei. Die genannten Zahlen waren, wie es sich gehört, in gewaltigen schwarzen Ziffern auf den Plakaten verzeichnet.

Mr. Bonney brach sich unter den tiefen Bücklingen der Diener, die ihm die Treppe freimachten, mit den Ellenbogen Bahn und betrat mit Mr. Nickleby eine Reihe von Komiteezimmern, |26|in deren zweitem sich ein für eine Sitzung hergerichteter Tisch befand, um den mehrere geschäftsmäßig aussehende Personen versammelt waren.

»Hört, hört!« rief ein Herr mit einem Doppelkinn, als sich Mr. Bonney vorstellte. »Einen Stuhl, meine Herren, einen Stuhl!«

Die neuen Ankömmlinge wurden mit allgemeinem Beifall begrüßt, Mr. Bonney trat rasch an das Ende des Tisches, nahm seinen Hut ab, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und schlug mit einem kleinen Hammer kräftig auf den Tisch, worauf mehrere Herren »Hört« riefen und sich gegenseitig zunickten, als wollten sie ihre Bewunderung über dieses geistvolle Benehmen ausdrücken. In diesem Augenblick riß ein Diener in fieberhafter Erregung die Tür auf, stürzte herein und schrie: »Sir Matthew Pupker.«

Das Komitee stand auf und klatschte vor Freude in die Hände. Gleich darauf trat Sir Matthew Pupker ein, begleitet von zwei Parlamentsmitgliedern in Lebensgröße, einem irischen und einem schottischen. Alle drei lächelten, verbeugten sich und benahmen sich so obligeant, daß es ein wahres Wunder gewesen wäre, wenn jemand den Mut gehabt hätte, gegen sie seine Stimme zu erheben. Besonders Sir Matthew Pupker, der auf dem Scheitel seines kleinen runden Kopfes ein Flachstoupet trug, war von einem solchen Verbeugungsparoxismus befallen, daß ihm die Perücke jeden Augenblick herunterzufliegen drohte. Als sich diese bedrohlichen Symptome einigermaßen gelegt hatten, drängten sich die Herren, die mit Sir Matthew Pupker und den Parlamentsmitgliedern näher bekannt waren, in kleinen Gruppen um sie, während diejenigen, die sich einer solchen Ehre nicht zu erfreuen hatten, sich sehnsüchtig heranschlichen und sich lächelnd die Hände rieben in der Hoffnung, etwas anbringen zu können, was die Aufmerksamkeit auf sie lenken könnte. Inzwischen gaben Sir Matthew Pupker und die beiden anderen Parlamentsmitglieder |27|die Ansichten zum besten, die die Regierung hinsichtlich der Annahme der Bill hege, berichteten ausführlich, was ihnen die Minister, als sie das letztemal bei ihnen gespeist, zugeflüstert und welche bedeutungsvollen Winke sie dabei hätten fallenlassen. Aus all dem könnten sie nur die Folgerung ziehen, daß, wenn der Regierung irgendein Thema besonders am Herzen läge, dieses kein anderes sein könne als das Gedeihen der »Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen Warme-Semmeln- und Kuchenbäckerei und pünktlichen Ablieferungs-Gesellschaft«.

Das Publikum hatte inzwischen auf den Galerien lebhafte Ungeduld an den Tag gelegt, und es war bereits zu einigen Scharmützeln gekommen, als plötzlich ein lauter Ruf die allgemeine Aufmerksamkeit erregte. Durch eine Nebentür trat jetzt eine lange Reihe von Herren mit entblößten Häuptern auf die Tribüne.

Der Lärm verstummte, und Sir Matthew Pupker übernahm den Vorsitz. In schwungvoller Rede gab er kund, welche Gefühle ihn im gegenwärtigen Augenblick bewegten, was der gegebene Zeitpunkt in den Augen der Welt bedeute und welch wichtigen Einfluß auf den Wohlstand, das Glück, die Bequemlichkeit, die Freiheit und sogar auf die ganze Existenz eines freien und großen Volkes ein Institut üben müsse wie das der »Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen Warme-Semmeln- und Kuchenbäckerei und pünktlichen Ablieferungs-Gesellschaft«.

Sodann stand Mr. Bonney auf, um die erste Resolution zu beantragen, fuhr sich mit der Rechten durch die Haare, pflanzte die Linke zierlich in die Hüfte, vertraute seinen Hut der Sorgfalt des Herrn mit dem Doppelkinn an, der außerdem auch noch die Weinflaschen für die Redner bereithielt, und erklärte, daß die anwesende Versammlung nur mit Besorgnis und Unruhe auf den gegenwärtigen Stand des Semmelhandels in der Hauptstadt und deren Nachbarschaft blicken könne, – |28|daß die Semmeljungen, wie sie gegenwärtig beschaffen seien, das Vertrauen des Publikums ganz und gar nicht verdienten, und daß überhaupt das ganze Semmelsystem ebenso nachteilig für die Gesundheit und Sittlichkeit des Volkes wie verderblich für die höchsten Interessen einer Großstadt wären. Die Rede des ehrenwerten Herrn entlockte den zuhörenden Damen reichlich Tränen und weckte bei allen Anwesenden die lebhaftesten Empfindungen. Er hatte, wie er sagte, die Wohnungen der Armen in den verschiedenen Distrikten Londons besucht und auch nicht die mindesten Spuren von Semmeln daselbst aufgefunden, weshalb er sich zur Annahme berechtigt glaube, daß so mancher Bedürftige jahraus, jahrein keine solchen zu kosten bekäme. Er hätte ferner bemerkt, daß unter den Semmelverkäufern Hang zu Trunksucht und Ausschweifungen aller Art herrschte, was er der entsittlichenden Natur ihres Geschäftes bei dem gegenwärtigen Betrieb zuschreibe. Dieselben Laster habe er unter der ärmeren Klasse des Volkes, die doch auch am Semmelkonsum teilnehmen sollte, entdeckt, und er glaube, den Grund dazu in der Verzweiflung zu finden, die diese Leute antreibe, ein schädliches Reizmittel in berauschenden Getränken zu suchen, da sie nicht in der Lage seien, sich ein so ungemein kräftigendes Nahrungsmittel zu kaufen wie die Semmel. Er wolle es auf sich nehmen, vor einem Komitee des Unterhauses zu beweisen, daß eine geheime Verbindung bestehe, die den Preis der Semmel in die Höhe schraube und den Austrägern ein Monopol sichere, und er erkläre sich bereit, dies durch die eigenen Aussagen der Verkäufer vor den Schranken dieses Hauses zu beweisen. Er wolle auch dartun, daß diese Sorte Menschen sich durch geheime Worte und Zeichen miteinander verständige. Die Gesellschaft beabsichtige nun, diesem betrübenden Stand der Dinge abzuhelfen, indem sie erstlich beantrage, daß aller und jeder Privatsemmelverkauf bei schwerer Strafe verboten werde, und zweitens, daß sie selbst das Publikum ausschließlich |29|mit dieser Ware versehen wolle, und zwar so, daß auch die Armen in ihren eigenen Häusern mit Semmeln von vorzüglicher Güte zu herabgesetzten Preisen versorgt werden könnten. Der patriotische Präsident dieser Gesellschaft, Sir Matthew Pupker, habe bereits eine Bill im Parlament eingebracht, zu deren Unterstützung das gegenwärtige Meeting einberufen worden sei. Und wer diese Bill unterstütze, helfe mit, unsterblichen Ruhm und Glanz über England zu bringen durch Förderung der »Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen Warme-Semmeln- und Kuchenbäckerei und pünktlichen Ablieferungs-Gesellschaft« mit einem Kapital von fünf Millionen zu fünf mal hunderttausend Aktien à zehn Pfund.

Mr. Ralph Nickleby unterstützte den Antrag, und nachdem ein anderer Herr den Zusatzantrag gestellt hatte, an jeder Stelle in dem Entwurfe an das Parlament, wo das Wort »Semmeln« vorkäme, auch das Wort »Kuchen« hinzuzufügen, ging die Resolution einstimmig durch. Nur ein einziger Mann im dichtesten Gedränge rief »Nein«, wurde aber sofort festgenommen und hinausgeführt.

Die zweite Resolution galt der Ausrottung aller Kuchen- und Semmelverkäufer, mochten sie nun Männer oder Weiber, Knaben oder Erwachsene sein, und wurde durch einen weinerlichen Herrn in einer Art Geistlichenhabit vorgebracht, der mit einem so ergreifenden Pathos sprach, daß er sogar den ersten Redner in Schatten stellte. Man hätte eine Stecknadel, ja sogar eine Feder fallen hören können, als er die Grausamkeit schilderte, mit der die Semmeljungen von ihren Herren behandelt würden, – was, wie er hervorhob, an sich schon ein hinreichender Grund wäre, um die beantragte, nicht genug zu schätzende Gesellschaft ins Leben zu rufen. Die unglücklichen Jungen würden alle Nacht, selbst in der rauhesten Jahreszeit, auf die nassen Straßen hinausgestoßen, um stundenlang ohne Obdach, Nahrung und warme Bekleidung durch Finsternis und Regen, Hagel und Schnee umherzuwandern, während |30|man die Semmeln fürsorglich in heiße Tücher einschlage. (Ausrufe: »Schändlich«.)

Die Wirkung der Rede auf die Zuhörer war durchschlagend. Die Männer riefen Beifall, und die Damen weinten ihre Taschentücher naß und schwenkten sie dann wieder trocken. Die allgemeine Aufregung war außerordentlich, und Mr. Nickleby flüsterte seinem Freunde zu, die Sache stehe so günstig, daß sie jetzt schon fünfundzwanzig Prozent Agio so gut wie sicher in der Tasche hätten.

Der Antrag ging natürlich unter lautem Beifall durch, und man würde in der Begeisterung wahrscheinlich nicht nur die Arme, sondern sogar die Beine in die Höhe gestreckt haben, wenn das angegangen wäre.

Sodann stand der Herr auf, der die ganze Nacht über im Spielklub zugebracht hatte und daher etwas hergenommen aussah, und erklärte seinen Mitbürgern, welche Glanzrede er zugunsten der Petition zu halten gedächte, wenn sie im Unterhaus zur Sprache käme, und mit welch grausamem Hohn er das Parlament überschütten wolle, wenn es diesem beifallen sollte, den Antrag zu verwerfen. Er bedaure nur, daß der hochgeschätzte Vorredner in den Entwurf nicht eine Klausel aufgenommen habe, nach der es allen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft zur zwingenden Aufgabe gemacht sei, Semmeln und Kuchen zu kaufen, denn er sei kein Freund von halben Maßregeln und huldige dem Prinzip: Aut Caesar aut nihil.

Als die Petition endgültig verlesen war, ließ das irische Parlamentsmitglied, ein temperamentvoller junger Mann, eine Rede vom Stapel, wie sie eben nur ein irisches Parlamentsmitglied zu halten imstande ist. Sie war ganz Poesie und rauschte in einem solchen Glutstrom dahin, daß man sich schon erwärmt fühlte, wenn man den Sprecher nur ansah. Sie gipfelte darin, daß der Redner die Ausdehnung der »Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen Warme-Semmel- und Kuchenbäckerei |31|und pünktlichen Ablieferungs-Gesellschaft« auch für sein grünes Vaterland fordern werde, auf daß das Geläute der Semmelglocke dessen reiche Täler durchtöne.

Den Schluß machte das schottische Parlamentsmitglied mit verschiedenen erfreulichen Hinweisen auf die voraussichtliche Rentabilität des Unternehmens, was die frohe Stimmung, die der dichterische Schwung des Irländers geweckt hatte, noch erhöhte. Kurz, sämtliche Reden bewirkten gerade das, was sie erzielen sollten, und brachten den Zuhörern die felsenfeste Überzeugung bei, daß keine Spekulation so vielverheißend und risikolos wie die gegenwärtige sei.

So ging denn die Petition zugunsten der Bill einstimmig durch, und die Versammlung trennte sich unter Beifallsrufen. Mr. Nickleby und die anderen Direktoren verfügten sich nach einem Speisehaus, wo sie einen Lunch einnahmen und ihn, da die Gesellschaft ja erst im Entstehen war, mit nur je drei Guineen pro Kopf für ihre Bemühungen in Anrechnung brachten.