Christine Hewicker

 

 

 

Die Aussteigerin

 

Autobiografie einer ehemaligen

Rechtsextremistin

 

 

 

 

 

 

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Hewicker, Christine: Die Aussteigerin. Autobiografie einer ehemaligen Rechtsextremistin, Hamburg, ACABUS Verlag 2012

 

Originalausgabe

 

PDF-ebook: 978-3-86282-177-8

ePub-ebook: 978-3-86282-178-5

Print: ISBN 978-3-86282-176-1

 

 

Lektorat: Ann-Kathrin Balzer, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: Silke Meyer, ACABUS Verlag

Umschlagmotiv: © vege - Fotolia.com, © Marem - Fotolia.com

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

 

© ACABUS Verlag, Hamburg 2012

Alle Rechte vorbehalten.

 http://www.acabus-verlag.de

 

 

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Inhalt

 

 

Die Verhaftung

 

1. Kapitel Kindheit und Jugend

 

2. Kapitel Rechtsradikale Aktivitäten

 

3. Kapitel Der Oberstaatsanwalt – Der Richter – Der Prozess

 

4. Kapitel Leben im Gefängnis und Leben in Freiheit 

 

Nachwort

 

Schlussbemerkung

„Der Mensch muss oft umsteigen,

bis er in den Zug einsteigt,

der in die richtige Richtung fährt.“

 

„Nicht der ist ein Versager, der versagt,

sondern der, der aus seinem Versagen

nichts lernt,

nichts lernen kann oder will.“

Schwester Esther, Dominikanerin

 

„Die Menschen unterscheiden sich weniger durch

die Tatsache und Art ihrer Misserfolge,

als dadurch, wie sie darauf reagieren.“

Fritz Gleitsmann,

Richter am Bayer. Obersten Landesgericht

DIE VERHAFTUNG

Ich saß im Gebüsch und beobachtete die Umgebung. Der Abend dämmerte schon, aber die Gegend war hell erleuchtet. Überall fuhren Polizeiautos, überall liefen aufgeregte Polizisten herum. Ich verstand nicht alles, was sie sich zuriefen, denn sie sprachen flämisch – ich befand mich in Belgien. Und ich wusste nicht, wie ich mich nun verhalten sollte. Gerade wurde mein damaliger Mann Klaus-Dieter verhaftet, und nun suchte man mich. Anscheinend zwangen sie meinen Mann, mich aus meinem Versteck zu locken, denn er trat – umringt von schwerbewaffneten Polizisten – aus dem Haus. Die Arme hatte er hinter seinem Kopf verschränkt, und er rief nach mir. Vergeblich! Denn ich versteckte mich nur noch tiefer im Gebüsch und überlegte, was ich nun tun sollte. Zuerst kroch ich rückwärts, um den nahen Wald zu erreichen. Die Polizisten, die immer noch schwerbewaffnet herumliefen, ließ ich dabei nicht aus den Augen. Ich gelangte tatsächlich ungesehen an den Waldrand und lief nun gebückt ein ziemliches Stück in den Wald hinein. Leider erreichte ich das andere Ende des Waldes sehr schnell.

Voller Entsetzen musste ich feststellen, dass anscheinend das ganze Dorf von der Polizei umringt war. Mir wurde klar, dass ich wohl keine Chance hatte, den Beamten zu entkommen. Wohin auch? Ohne Geld, ohne Papiere, in einem fremden Land und alleine? Ich verhielt mich ruhig und überlegte. Ja, ich hatte auch Angst. Angst, erschossen zu werden. Aber was passierte, wenn ich mich stellte? Gefängnis! Viele Jahre vielleicht.

Wie viel Zeit wirklich vergangen ist, seit Klaus-Dieter verhaftet wurde, weiß ich heute nicht mehr. Es war jedenfalls mitten in der Nacht, als ich mich entschloss, umzukehren und mich zu stellen. Ich konnte unbemerkt wieder zu dem Gebüsch schleichen, in dem ich mich zuvor versteckt hatte. Ich hatte Angst, einer der Polizisten würde vielleicht die Nerven verlieren und auf mich schießen, wenn er mich bemerkte. Doch dann fasste ich allen Mut zusammen und rief den aufgeregten Männern zu: „Nicht schießen! Ich komme!“ Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie die Polizisten mich umringten. Ihre Schnellfeuergewehre waren auf mich gerichtet, als zwei der Männer mir sofort Hand- und Fußfesseln anlegten. An Ort und Stelle wurde ich von den Männern nach Waffen durchsucht. Ich war aber unbewaffnet. Dann wurde ich in das Haus gestoßen, auf dessen Grundstück wir uns befanden. Die Männer redeten mit barschen Worten auf mich ein, aber ich war viel zu aufgeregt, um alles zu verstehen. In der Küche des Hauses saß bereits Klaus-Dieter und sah mich zerknirscht an. Ich wurde auch auf einen Stuhl gestoßen.

Einer der Polizisten in Zivil sprach fast akzentfreies Deutsch. Er verlangte Auskunft darüber, was wir mit den Waffen vorgehabt hätten. Ich stellte auf stur und gab keinen Laut von mir. Auch Klaus-Dieter verhielt sich so.

Achselzuckend wurden wir nun in die Polizeiautos gebracht und in das Gefängnis nach Gent gefahren. Dort ließ ich meine Vergangenheit Revue passieren.

1. KAPITEL
KINDHEIT UND JUGEND

Geborgenheit in der Familie

Nachdem bereits fünf Jungs unsere Familie bevölkerten, war die Freude meiner Eltern riesig, als nun als sechstes ein Mädchen geboren wurde. Ich war in dieser Familie heißersehnt und wurde von jedem einzelnen Familienmitglied verwöhnt und vergöttert.

Meine Eltern waren sehr fleißige, ehrliche Leute, die uns Kinder liebevoll, aber mit strengen Regeln erzogen.

Von Politik wollten meine Eltern eigentlich nie viel wissen. Mein Vater schwieg über die politischen Ereignisse der Gegenwart genauso wie über die der Vergangenheit. Ich wusste nicht viel über meinen Vater und seine Kindheit, bis ich eines Tages – dank der von mir betriebenen Ahnen- und Familienforschung – Verwandte ausfindig machen konnte, die mein Vater, als er im jugendlichen Alter aus ostpreußischem Gebiet, nahe der russischen Grenze, in den Westen floh, völlig aus den Augen verlor. Mein Vater dachte, seine übrigen Verwandten seien in den Kriegswirren ums Leben gekommen; umgekehrt waren die Verwandten der Ansicht, meinen Vater habe dieses Schicksal ereilt. Als ich mit den Verwandten Kontakt aufnahm, konnten sie mir von dem Leben meines Vaters in Ostpreußen und aus der ersten Zeit der gemeinsamen Flucht berichten. Diesen Lebensabschnitt meines Vaters zu kennen, war mir unendlich wichtig, und ich konnte das stets introvertierte Verhalten meines Vaters von nun an verstehen.

Meine Mutter hingegen konnte immer viel aus ihrer Kinder- und Jugendzeit erzählen und ließ auch Fragen über meine Großeltern und Onkel und Tanten nicht offen. Erlebnisse während der Kriegszeit erzählte sie stets sachlich oder mit einem Hauch von Trauer, wenn es um den Verlust von Freunden und Schulkameraden ging.

Dass mein Großvater, der ein sehr gebildeter Mann mit vielen wichtigen Funktionen im Berufsleben war, sich – gepeinigt durch die Folgen der Gefangenschaft – eines Tages, schon vor meiner Geburt, erhängt hatte, bewegte mich sehr. Mein Großvater hatte schon als junger Mann den Hang zu Abenteuern gehabt und ließ sich – ähnlich wie ich es später tat – von nichts und niemandem abschrecken, wenn er etwas Neues erleben wollte. So wanderte er beispielsweise für einige Jahre nach Argentinien aus, um dort als Cowboy zu leben und zu arbeiten. Mein Großvater muss mir die Fähigkeit vererbt haben, stets die Herausforderung zu suchen, nach Niederlagen immer wieder mit noch mehr Stolz aufzustehen und von vorn zu beginnen. Von ihm habe ich wohl auch mein vielseitiges Interesse für alle Dinge der Welt und meine Liebe zur Natur. Da er sehr gebildet war und große menschliche Qualitäten besaß, hatte er es stets dazu gebracht, sich gewisse hochgestellte Positionen auch in Notzeiten zu sichern (vielleicht ähnlich, wie ich es im Gefängnis auch immer schaffte). Nach dem Krieg war er derjenige, der den Dorfbewohnern half, sich wieder Existenzen aufzubauen, und der zwischen ihnen und den englischen und russischen Besatzern vermitteln konnte. Mein Großvater sprach fünf Sprachen perfekt und hatte dadurch keine Mühe, sich bei ausländischen Behörden durchzusetzen, was den niedersächsischen Dorfbewohnern damals zugute kam.

Die Seidenraupenzucht, die mein Großvater betrieb, wurde schon vor und während des Krieges von Behörden und Schulen aufs äußerste begrüßt, genauso wie seine Leidenschaft, Schmetterlinge und Käfer zu sammeln, die er später – fein säuberlich geordnet – Lüneburger Museen vererbte.

Wenn ich heute meine Verwandten über meinen Großvater sprechen höre, denke ich, er war ein großartiger, gutherziger und genauso verrückter Mann, mit großen Plänen für sein Leben und dem ständigen Willen, Gutes zu tun, was aber auch ihm nicht immer gelang. Vieles davon hatte er an mich weitergegeben. Schon als Kind ließ ich nicht locker, immer wieder Geschichten über diesen Menschen zu erfahren. Bedingt durch meine Familienforschung, hatte ich irgendwie eine richtig feste Beziehung zu meinem Großvater – der zu dem Zeitpunkt bereits über 40 Jahre tot war – aufgebaut. Ich fand mich in vielen Schilderungen über ihn wieder, und ich wünschte mir immer, ich hätte diesen Menschen kennenlernen dürfen, vielleicht hätte ich auch mich selbst dann besser verstehen können.

Meine arbeitsamen Eltern waren wohl hauptsächlich dahingehend orientiert, uns Kindern eine vernünftige Erziehung und eine gute Schul- und Berufsausbildung zu ermöglichen. Sie bauten ein Haus, um sich und ihren Kindern ein sicheres Heim zu bieten, und versuchten alles, um uns eine gewisse finanzielle Sicherheit zu schaffen.

Wenn einer Großfamilie in der damaligen Zeit nicht allzu viel finanzielle Unterstützung seitens des Staates geboten wurde, so kann ich doch sagen, dass ich eine glückliche Kindheit ohne viele Entbehrungen hatte, und dass ich von meiner gesamten Familie sehr geliebt wurde.

Meine Mutter achtete stets darauf, dass wir Kinder regelmäßig in den sonntäglichen Kindergottesdienst gingen, der in dem Schulgebäude unseres kleinen Dorfes abgehalten wurde, und sie legte großen Wert darauf, dass wir ein ausgeprägtes christliches Denken bekommen würden. Und so hatte die Konfirmation für mich nicht nur den Hintergrund, Geschenke zu bekommen und ein hübsches Kleid zu tragen, sondern mir erschien dieser Schritt in Gottes Richtung durchaus sehr wichtig. Die Lehren des Jesus hatten mich schon damals sehr beeindruckt, und ich glaubte an die Bibel, die ich mit meinem kindlichen Verstand zu begreifen versuchte.

Ich hatte gleichermaßen viele Jungen und Mädchen als Freunde. Ich kletterte genauso gerne auf Bäume oder über Zäune, spielte Räuber und Gendarm oder Krieg, wie ich auch liebend gerne mit meinen Freundinnen den Puppenwagen durch den Ort schob oder auf dem Heuboden „Familie“ mit Puppen und Teddys spielte.

Dass meine beste Freundin Pia aus einem etwas wohlbegüterten Hause stammte als ich, störte uns und unsere Familien keineswegs. Wir waren unzertrennlich vom Tage der Einschulung an bis in die heutige Zeit. Ich glaube, wir teilten alles miteinander: Freude, Leid und viele Dinge, die unser Leben beeinflussten.

Hatte ich vorwiegend Schmalz- oder Marmeladenbrote mit in die Schule genommen, so war es völlig normal, wenn Pia mir ihre Schinkenbrote gab und sie dafür meine Schulbrote aß. Mein erstes Fahrrad bekam ich von Pia geschenkt, als sie ein neues bekommen hatte. Alle Geheimnisse teilten wir miteinander, und große Klasse waren wir im Lästern. Unsere chaotischste Zeit hatten wir, als wir im Alter von etwa 13 oder 14 Jahren wegen unseres auffälligen, albernen Benehmens sogar aus den Einkaufsläden geworfen wurden.

Pia und ich beaufsichtigten schon als neunjährige Mädchen gerne die Babys aus der Nachbarschaft oder Verwandtschaft, die wir in ihren Kinderwagen stolz durch die Gegend schoben, oder wir beschäftigten uns stundenlang mit den Kleintieren meiner Freundin.

Oft gingen wir in die Reitställe von Hermann Schridde, einem Turnierreiter, der in der damaligen Zeit Goldmedaillen für die Bundesrepublik errang und in unserem Dorf wohnte, und fütterten die Pferde oder halfen beim Stallausmisten. Bestimmte Pferde, Ponys oder den störrischen Esel Fridolin durften wir sogar reiten.

Bei Annette oder Helga sprang ich mit großer Vorliebe auf den Bauernhöfen umher, kletterte auf Heuballen herum oder half auch mal im Sommer auf den Feldern.

Schon in der Schule konnte ich es nicht ertragen, wenn andere Kinder über schwächere oder ärmere Kinder lästerten, und ich prügelte mich regelmäßig für die Unterdrückten. Da mein jüngster Bruder, der immerhin ein Jahr älter war als ich, als Leukämie-Erkrankter immer ziemlich schwach und bleich war und deshalb oft gehänselt wurde, sah ich es als meine vorrangige Aufgabe an, mich mit den Jungs auch aus den höheren Klassen zu prügeln, um so die Ehre meines Bruders wiederherzustellen. Ich hatte es immer geschafft, mir Respekt zu verschaffen, auch wenn einige Lehrer und meine Eltern mein Verhalten nicht immer gutheißen konnten. Bei den Schülern war ich sowohl bei den Jungen als auch bei den Mädchen gleichermaßen anerkannt. Hatte ich tatsächlich einmal größere Probleme, so hatte ich noch einige ältere Brüder und einen Nachbarsjungen, die gerne für mich eintraten.

Meine Eltern standen meinen Eskapaden, denen ich mich schon als Kind gerne auslieferte, stets hilflos gegenüber, und sie hofften wohl immer, dass ich eines Tages vernünftig werden würde.

Ich war zwar eine ruhige Schülerin, die sich in den ersten Jahren der Schulzeit kaum zu melden traute, aber andererseits hatte ich auch mit großer Regelmäßigkeit die Repressalien der Lehrer ertragen müssen. Oft genug saß ich auf dem „Podium“, einer erhöhten Sitzgruppe, auf der auffällig gewordene Kinder während des Unterrichts sitzen mussten, oder stand hinter meinem Stuhl oder in der Ecke des Klassenraumes. Einmal schlug mich eine Lehrerin, weil ich mich nicht ihren Anweisungen fügen wollte.

Meine Kindheit war aber eigentlich nur sehr selten mit Schatten versehen. Dass ich nach Schulschluss hin und wieder die schwer an Kinderlähmung erkrankte Giesela zu Hause besuchte, war für mich selbstverständlich. Giesela war schon über 20 Jahre alt und an den Rollstuhl gefesselt. Sie konnte kaum sprechen und auch kaum etwas mit den Händen ergreifen. Aber ich mochte sie und ihre Mutter sehr. Manchmal nahm ich meinen Bruder Lars mit zu ihr, und wir verbrachten so manche Zeit bei Giesela in ihrem Zimmer, während ihre Mutter uns mit Saft und Keksen versorgte. Manchmal las ich ihr aus Büchern oder Zeitungen vor oder erzählte ihr einfach nur aus der Schule oder von Freunden. Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, ob sich Giesela vielleicht einsam und unglücklich fühlen könnte. Und für mich war sie keine Last, sondern eine Freundin.

Ich war wohl gerade 14 Jahre alt, als ein ehemaliger Mitschüler meines ältesten Bruders aus Berlin in unser 2000-Seelen-Dorf in Niedersachsen zurückkehrte und dort die NPD publik machte. Eckhart war nach der Schulzeit für einige Jahre nach Berlin gegangen und kam mit seinen 21 Jahren als überzeugter NPD-Mann in unser kleines Dorf zurück. Meine Brüder ließen sich auch gleich in seinen Bann ziehen wie noch etliche weitere Jugendliche und auch ein paar ältere Leute aus unserem Ort. Von nun an beteiligten sich meine Brüder regelmäßig an den politischen Aktivitäten, und über dem ganzen Dorf lag ein gewisser Hauch rechtspolitischer Ideologie.

Die Besatzer

Es war ein ganz normales Bild, wenn sich englische Soldaten in unserem Dorf aufhielten und während der Manöver auch die Grundstücke der Anwohner bevölkerten. Dann mussten die „Belagerten“ den Besatzern Strom und Wasser abtreten, und wir Kinder sahen dem Treiben fasziniert zu.

Außerhalb der Ortschaft war ein größerer Hügel aufgeschüttet: der „Goldberg“. Auf der Spitze des Goldberges war ein Fahnenmast aufgestellt, auf den wir immer blickten, bevor wir im Wald „Soldat“ oder „Verstecken“ spielten.

War die rote Fahne gehisst, durften wir den Wald nicht betreten, weil sich das Militär dort austobte und mit scharfer Munition schoss. Meine Brüder und ihre Freunde sammelten gerne bereits abgeschossene Munition im Wald, wenn die Fahne nicht gehisst war.

In Manöverzeiten schossen die britischen Militärs direkt über unser Dorf, weshalb nicht selten aufgrund der Detonationen die Fensterscheiben in den Häusern barsten.

Außerhalb der Ortschaft – und zu Manöverzeiten auch innerhalb des Dorfes – zerstörten britische Panzer, an denen mein Schulweg vorbeiführte, fast die gesamte Natur. Ganze Flächen wurden umgepflügt und als Kraterlandschaft hinterlassen. Dass heute noch eine sehr schöne Heidelandschaft die Gegend prägt, hat man nur dem unermüdlichen Einsatz der Anwohner zu verdanken, die immer wieder versuchten, das ursprüngliche Erscheinungsbild zu erhalten oder wiederherzustellen.

Wenn ich mit meinen Brüdern zu Fuß die sechs Kilometer zur Schule ging, führte der Weg immer direkt durch das von Militärs besiedelte Gebiet. Die Soldaten kannten uns bereits und winkten uns nicht selten heran, um uns Schokolade und Kekse zu schenken. Die Männer verstanden kein Deutsch, und wir Kinder verstanden kein Englisch, aber wir nahmen freudig die Geschenke an.

Unser kleines, sehr idyllisch mitten in der Heide gelegenes Dorf hatte für die Jugend der „wilden Siebziger“ nicht viel zu bieten. So waren die neuen Geschehnisse, die die NPD mit sich brachte, bald zum Lebensinhalt mancher Teenager geworden. Die älteren Einwohner des Dorfes hatten an dem neuen Treiben auch nichts auszusetzen.

Erste Gedanken über Politik

Ich verstand überhaupt noch nichts von Politik und fand, dass die Politiker ausnahmslos Egoisten seien, die sich auf Kosten der Bevölkerung Geld und Macht ergaunerten. Ich interessierte mich allerdings schon damals für die Belange der Menschheit.

Aber ich glaube, meine eigentliche Meinung bildete sich eher aus dem Inhalt des Neuen Testaments als aus irgendwelchen politisch angehauchten Büchern. Meine wohl ziemlich vagen „politischen“ Vorstellungen liefen darauf hinaus, dass jeder einzelne Mensch das Recht auf absolut freie Entfaltung hat, dass Männer und Frauen absolut gleichberechtigt sind, dass der Abstand zwischen armen und reichen Menschen möglichst klein ist, dass Menschen in den Dritten Ländern nicht verhungern müssen, während hier Überschüsse vernichtet werden, dass etwas gegen die Umweltverschmutzung getan werden muss, und vor allem, dass die Menschlichkeit nicht zu kurz kommen darf bei all dem Profitdenken in der sogenannten zivilisierten Welt.

Gegen Ausländer hatte ich im Grunde gar nichts einzuwenden. Ich fand es lediglich amüsant, wie diese Menschen angezogen waren, als die ersten türkischen Gastarbeiter meine Heimatstadt besiedelten. Völlig fremd waren uns Deutschen die grellbunten Farb- oder extremen Musterzusammenstellungen. Dass Mädchen über einer langen Trainingshose einen karierten knielangen Rock und dazu ein geblümtes Oberteil trugen, belustigte meine Schulkameraden und mich zusehends. Diese fremden Mädchen sahen doch zu komisch aus in ihrem Aufzug, trug man doch in den Siebzigern superkurze Miniröcke oder knapp sitzende Hot Pants mit Stiefeln, die bis unters Knie gingen. Unsere mindestens schulterlangen Haare versteckten wir auch nicht unter einem Kopftuch.

Ich lerne die NPD kennen

Aber dass Ausländer daran schuld sein sollten, dass Arbeitsplätze und Wohnungen für uns Deutsche knapp wurden, hörte ich erst bei der NPD.

Belastet hat mich schon vor dem Kennenlernen der NPD das Verhältnis zwischen der DDR und BRD. Es machte mich oft zutiefst traurig, dass ein Land geteilt wurde und dadurch ganze Familien zerstört waren. Ich wollte immer, dass diese Familien wieder zusammenkommen dürfen, und fand hierin meine Meinung durch die NPD gestärkt.

Anfangs verstand ich den Inhalt der Zeitungen und Werbeplakate überhaupt nicht, fühlte mich aber im Kreise der NPD-Kameraden sehr wohl. Schon bald gab es eine NPD-Ortsgruppe, in der auch meine Brüder sehr aktiv mitwirkten.

Schule und Freunde

Nach der Schule traf ich mich mit anderen Teenagern im Schlosspark. Wir gammelten dort herum und tranken Wein – den billigsten Fuselwein, den auch die Stadtstreicher zu trinken pflegten. Für mehr reichte unser weniges Geld nicht. Wir waren oft acht bis zehn Leute, und da reichte die Zweiliterflasche nicht aus, um angetrunken zu sein. Es wurde auch das eine oder andere Zeug geraucht, aber das interessierte mich nie. Ich nahm nicht einmal normale Zigaretten an, wenn mir welche angeboten wurden.

Aber wir hatten einen riesigen Spaß und vertrieben so unseren Nachmittag, bis wir abends mit dem Linienbus wieder nach Hause fuhren. Dort lernte ich dann meistens bis Mitternacht für die Schule, bis meine Mutter mir die Bücher wegnahm und mich ins Bett schickte.

Ich war immer von dem starken Ehrgeiz gepackt, eine vernünftige Ausbildung haben zu müssen, war aber auch nicht bereit, für die Schule meine Freizeit und Freunde aufzugeben. Ich wollte alles – und möglichst alles auf einmal. So konnte ich mein Leben ganz gut so einteilen, dass ich sowohl Platz für die „normalen“ Freunde hatte als auch gleichzeitig aktiv in der NPD mitwirkte und immer noch soviel Zeit und Kraft in die Schule steckte, dass ich einen guten Abschluss der Mittleren Reife erreichte. Das änderte sich erst, als ich mit meiner Lehre begonnen hatte und so nachmittags keine Zeit mehr hatte.

Ich traf mich immer seltener mit meinen Freundinnen, die sich nach wie vor unserem Hobby Reiten widmeten oder sich an unserem Lieblingstreffpunkt an der Bushaltestelle im Ort oder im Schlosspark in der Stadt trafen und dort die Zeit totschlugen. Stattdessen wurde ich immer aktiver in der NPD.

Aber der Kontakt zu meinen ehemaligen Schulfreundinnen riss nie vollständig ab.

Schule und das Dritte Reich

In der Schule interessierte mich das Unterrichtsfach Geschichte sehr. Aber das Thema „Drittes Reich“ wurde nur kurz berührt. Ich erinnere mich eigentlich nur daran, dass von dem Autobahnbau, der Verbesserung der bisher katastrophalen Arbeitslage und von Konzentrationslagern die Rede war. Dann sahen wir uns noch den Film „Die Brücke“ an, und ich glaube, das war’s dann auch schon. Jedenfalls wurde das Thema „Adolf Hitler“ nicht so intensiv behandelt, dass man sich eine politische Meinung hätte bilden können, um die Politik des Dritten Reiches bewusst ablehnen zu können.

Also machte ich mir meine eigene „politische“ Meinung: Arme Menschen sollten den Reichen gleichgestellt sein; die Ausländer, die den Deutschen die Arbeit und Wohnung wegnehmen, sollten das Land verlassen; die geldgierigen Juden sollten raus aus Deutschland, und die 6-Millionen-Lüge (sechs Millionen tote Juden in den Gaskammern und KZs des Dritten Reiches) sollte richtiggestellt werden.

Meine Geschwister

Wenn ich mit meinen Brüdern zu Singabenden bei der Wiking-Jugend fuhr, hatten meine Eltern eigentlich nichts dagegen einzuwenden. Ich glaube, meinen Eltern war gar nicht wirklich bewusst, wie gefährlich diese Seite der Freizeitgestaltung ihrer Kinder werden konnte und würde. Sie fingen erst an zu reagieren, als bereits ein Teil meiner Geschwister sich von der NPD wieder abgewandt hatte und ich immer radikaler wurde. Meine Eltern begannen, in ihrer Hilflosigkeit zu schimpfen und Verbote auszusprechen, und merkten nicht, dass sie damit genau das Gegenteil erreichten.

Zwei meiner Brüder, die Zwillinge, blieben aktive Mitglieder in der JN (Junge Nationaldemokraten) und NPD. So fand ich in meinem Verhalten auch Unterstützung bei ihnen.

Kai war, ähnlich wie ich, ein immer stärker werdender Gegner der linken Szene. Irgendwann schaffte er sich eine Gaspistole an, die ich eine Zeit lang für ihn versteckte, nachdem meine Mutter die Pistole in seinem Zimmer gefunden hatte. Nach einiger Zeit gab ich sie ihm zurück und kümmerte mich nicht weiter darum. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt war ich schon ein gewisses Stück abgestumpft, denn die Tatsache, eine Pistole zu verstecken, schreckte mich überhaupt nicht.

Er prügelte sich auch ungemein gern, und ich unterstützte ihn stets, indem ich Schmiere stand, ihn deckte, oder sonst irgendwie schützte. Ab und zu – aber nicht allzu oft – traf auch mich bei diesen Schlägeraktionen ein Schlagstock oder eine Faust. Dies schreckte mich aber nicht sonderlich ab.

Uwe dagegen war ein Theoretiker. Er beschränkte sich darauf, bei Plakataktionen und Demos unauffällig mitzuwirken (er schlug sich eigentlich nie), war aber ansonsten bei allen „amtlichen“ Tätigkeiten stets in erster Reihe.

Uwes schlimmste Tat bestand darin, dass er dabei war, als wir nach einer Demo von einem Kriegsgräberdenkmal eine Deutschlandfahne stahlen. Irgendein Passant hatte meinen Bruder inmitten unserer Gruppe erkannt und bei der Polizei verpfiffen. Uwe nannte die Mittäter nicht, sondern nahm die gesamte Schuld auf sich und wurde auch dafür bestraft.

Als er einige Jahre später bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, den ein englischer „Besatzungssoldat“ unter Alkoholeinfluss verursacht hatte, steigerte dies meine Abneigung gegen die „Besatzer“ nur noch stärker.

Zur Beerdigung erschienen neben unserer sehr großen Verwandtschaft und der Belegschaft des Betriebes, in dem er zuletzt gearbeitet hatte, so viele Kameraden aus dem gesamten niedersächsischen Umkreis, dass die kleine Friedhofskapelle schon bald überfüllt war. Auf dem gesamten Friedhofsgelände befanden sich die Trauernden, und eine Musikkapelle spielte auf dem Gang von der Friedhofskapelle zur ausgehobenen Grube „Ich hatt’ einen Kameraden …“

Lars, mein ein Jahr älterer Bruder, war wohl von uns Geschwistern am wenigsten an Politik interessiert. Er begleitete uns aber überall hin, weil er die Kameradschaft genoss und genauso gerne bei den Kameradschaftsabenden mit soff.

Meine ältesten Brüder Heiko und Gero betätigten sich überhaupt nicht politisch.

Zu Anfang meiner „politischen Karriere“ gab es fast ständig diese Kameradschaftsabende. Es wurde gewandert und bei Lagerfeuer und Gitarrenmusik wurden Volkslieder gesungen.

In der Schule hatte ich wegen meiner neuen Aktivitäten und meiner neuen Freunde keine nennenswerten Probleme. Meine Leistungen wurden eher besser. Besonders in den Sachkundefächern wurde ich immer stärker.

Erste Freunde

Gemeinsam mit meinen älteren Brüdern besuchte ich ab meinem 15. Lebensjahr Discos und Veranstaltungen der NPD oder der Wiking-Jugend im regelmäßigen Wechsel – bis mir eines Tages die Kameradschaft in der Partei wichtiger wurde als das Herumtreiben in irgendwelchen Diskotheken. Immer öfter ging ich auch ohne Begleitung meiner Brüder auf politische Veranstaltungen.

Gerade 15 Jahre alt geworden, lernte ich Gerald auf einer NPD-Kundgebung in Hamburg kennen. Gerald war schon 19 und überzeugter NPD-Mann. Wir verknallten uns ineinander und verbrachten in den kommenden eineinhalb Jahren fast jedes Wochenende miteinander. Wir schliefen sogar bald miteinander, und ich dachte, das sei der Mann meines Lebens. Bei Ulf, seinem älteren Bruder, nahm ich Englischnachhilfe. Das war eine Gelegenheit, Gerald noch öfter zu sehen und gleichzeitig meine Englischkenntnisse aufzubessern, schließlich stand ich in Englisch gerade zwischen vier und fünf. Nach den Nachhilfestunden ging ich also zu Gerald auf das Zimmer, um mit ihm zu schmusen oder anstehende politische Tätigkeiten zu besprechen.

Von Demos hielt Gerald nicht viel. Er scheute die Gewalt, die Schlägereien mit den „Linken“ und die Auseinandersetzungen mit der Polizei. Ich fühlte mich dagegen in meiner Abneigung gegen staatliche Einrichtungen und „politisch Andersgeartete“ nur um so mehr bestätigt, je stärker die Auseinandersetzungen wurden.

Aber die Streitereien, die ich unter anderem deswegen mit Gerald hatte, nahmen zu. Irgendwann hatten wir uns so zerstritten, dass wir uns trennten. Ich nannte ihn Spießer und spielte die Überlegene, obwohl ich todtraurig war.

2. KAPITEL
RECHTSRADIKALE AKTIVITÄTEN

Ich werde in der NPD aktiv

Meine Mitarbeit bei der JN wurde immer intensiver. Ich verteilte Handzettel in Fußgängerzonen in norddeutschen Städten und diskutierte mit den Passanten, wenn man das „diskutieren“ nennen konnte. Ich war noch nicht so wortgewandt, dass ich alleine eine echte Diskussion hätte führen können. So stellte ich mich immer neben einen Kameraden, der hierin perfekt war. Wie wichtig kam ich mir vor, wenn ich etwas „Intelligentes“ mit einwerfen konnte. Ja, ich war Wer!

Genau genommen, verstand ich nicht einmal, was die NPD eigentlich wollte. Ich kannte das Programm dieser Partei im Prinzip überhaupt nicht. Aber ich glaube, das fiel niemandem auf.

Das Bauernhaus in Rinteln

In Rinteln erstanden mehrere Mitglieder der Partei einen fast verfallenen Bauernhof, den wir in mühevoller Arbeit renovierten. An den Wochenenden, an denen keine Kundgebung stattfand, richteten Mitglieder und Freunde der NPD aus dem niedersächsischen Raum diesen Bauernhof wieder her. Hier trafen wir uns von nun an ständig. Wenn ich nicht mit meinen Brüdern oder Gerald dorthin fahren konnte, verabredete ich mich mit Monika und deren Schwester Gertrud, beide zwar Sympathisantinnen, aber keine aktiven Mitglieder der NPD, die auch dorthin fuhren. Ich quetschte mich in Monikas kleinen, schon total überladenen VW-Käfer und freute mich wieder auf die Kameradschaftsabende. Meistens wurde nur zusammengesessen oder gearbeitet, abends gefeiert und gesoffen. Oft wurde dem Alkohol dermaßen zugesprochen, dass einige der Kameraden sprichwörtlich unter dem Tisch lagen. Nicht selten wurden – wenn keine Führungspersonen anwesend waren – dann auch Hakenkreuzfahnen und andere faschistische Utensilien hervorgeholt. Man begann im Suff auch Nazilieder zu singen und – für mich zunächst erschreckende – Naziparolen zu grölen. Damit konnte ich mich zu der damaligen Zeit überhaupt nicht anfreunden. Ich hatte meine eigenen Vorstellungen davon, wie man die bundesdeutsche Bevölkerung vom Unrecht befreien konnte. Ich glaubte noch an die Überzeugungsarbeit, die man mit Hilfe des Verteilens von Handzetteln, mit Diskussionen oder Kundgebungen leisten konnte. Gewalt verband ich nur mit dem Zusammentreffen mit den Linken. Aggressionen, die man mit Gewalt abbauen musste, hatte ich keine und konnte sie auch nicht verstehen.

Nachdem die Freundschaft mit Gerald beendet war, suchte ich stets die Nähe zu Fritz. Er war Anfang 20 und bekleidete den Vorsitz bei der JN in Stade. Fritz war ein selbstbewusster junger Mann, der sich nicht an den versteckten Hitler-Aktionen beteiligte. Leider wollte Fritz nichts von mir als Frau wissen, sondern hatte nur Augen für Monika, die jedoch mit Eckhart, unserem Kreisvorsitzenden der NPD, verlobt war. Monika genoss es aber auch, von Fritz verehrt zu werden. Fritz sah in mir hingegen nur eine aktive Mitstreiterin. So blieb ich erst einmal solo und vergrub mich immer tiefer in meine politischen Aktionen.

Hin und wieder wurden auf dem Bauernhof auch Kampfsituationen geprobt, Nachtwanderungen gestartet oder politische Schulungen über die Wiedervereinigung Deutschlands und die üblichen Hetzen gegen Ausländer abgehalten. Mir gefiel diese Art von „Freizeitgestaltung“, denn immer wieder wurde mir die Zusammengehörigkeit, der feste Zusammenhalt in der Gruppe deutlich.

Im Verlauf dieser Zeit machte ich, glaube ich, die rechtsideologischen Prognosen zu meiner Meinung.

Noch ein letzter Bund mit dem „Normalen“

Irgendwann lernte ich während meiner immer seltener werdenden Diskothekenbesuche Frank-Gerrit kennen. Meine Brüder, mit denen ich mitgefahren war, gingen mir an diesem Abend ziemlich auf die Nerven, denn sie meinten stets, auf mich aufpassen zu müssen. Sie ließen mich kaum aus den Augen, jeder Junge, der sich mir näherte, wurde unter die Lupe genommen. Frank-Gerrit, der Sohn einer Deutschen und eines englischen Besatzers, schaffte es irgendwie, mich unbemerkt aus der Diskothek zu bringen. Zunächst trieben wir uns in anderen Kneipen herum und amüsierten uns. Schließlich fuhren wir auf ein einsames Feldstück, zum Knutschen und Schmusen. Als es bereits zwei Uhr nachts war, traute ich mich nicht mehr nach Hause. Aber Frank-Gerrit versprach mir, mich bei meinem schweren Gang zu begleiten. Ich starb mehrere Tode, als ich im Esszimmer noch Licht brennen sah. Als wir die Tür öffneten, saß meine gesamte Familie mit finsteren Mienen am Tisch. Mein ältester Bruder wetterte schon los, noch bevor meine Mutter oder mein Vater etwas sagen konnten. Frank-Gerrit versuchte, meinen Bruder zu beschwichtigen, was ihm aber nicht gelang. Kai sprang auf, schrie mich an und wollte mir eine schmieren, als sein Zwillingsbruder ihn gerade noch davon abhielt. Irgendwann verabschiedete sich Frank-Gerrit – nicht, ohne zu versprechen, dass er wiederkommen würde. Noch in dieser Nacht wurde ich von meiner Mutter mit einem Teppichklopfer aus Bast verprügelt, während meine Brüder wiederum versuchten, meine Eltern zu beruhigen.

Vorerst hatte ich eine Weile Hausarrest, aber Frank-Gerrit durfte mich wenigstens zu Hause besuchen. Wir sahen uns von nun an sehr regelmäßig – und wir stritten uns auch regelmäßig. Frank-Gerrit hatte überhaupt kein Verständnis für meine politischen Aktivitäten. Er nannte die Nationaldemokraten Nazis oder Faschisten und verurteilte meine Ablehnung der britischen Besatzung in Norddeutschland. Als ich mich, nach Aufhebung meines Hausarrests, wieder vermehrt zu politischen Treffen aufmachte und ich sogar über ganze Wochenenden wegblieb, zerstritten wir uns eines Tages endgültig.

Kurz danach kam ich wieder für ein paar kurze Wochen mit Gerald zusammen.

Eine neue Liebe bestimmt mein Leben

1977 lernte ich auf einer NPD-Gedächtnisfeier anlässlich des Mauerbaus in Stade Klaus-Dieter kennen. Er war zu dieser Zeit NPD-Kreisvorsitzender in Wolfsburg. Eigentlich gefiel er mir nicht besonders. Klaus verstand sich aber sehr gut mit meinem Bruder Kai. Sie hingen sehr viel zusammen, tranken und grölten irgendwelche Volkslieder. Irgendwann im Laufe des Abends – wir übernachteten alle in einer riesigen Scheune – saßen Klaus und ich allein in einer Ecke und unterhielten uns. Wir unterhielten uns stundenlang über dies und das, über Politisches und Nichtpolitisches. Wir wurden nicht müde, uns über das Leben und die Menschen zu unterhalten, und stellten immer wieder fest, dass wir auf derselben Wellenlänge lagen. Zum Schlafen kamen wir in dieser Nacht nicht mehr, und als wir am nächsten Tag abreisen mussten, war uns klar, dass wir uns wiedersehen würden. Als wir uns trennten, versprach Klaus, er würde sich am Wochenende bei mir melden.

Von nun an sahen wir uns mindestens jedes Wochenende, manchmal auch an Tagen mitten in der Woche.

… und nebenbei die Berufsausbildung

Ich hatte bereits meine Lehre als Bäckereifachverkäuferin in einem Café begonnen. Eigentlich hatte ich mir früher immer vorgestellt, Kriminalpolizistin zu werden und auf diesem Wege etwas Gutes für die Menschheit zu leisten. Das Böse und die Ungerechtigkeit bekämpfen – das war schon immer mein Ziel. Leider hatte ein diensthabender Beamte mir berichtet, ich müsse erst einmal eine andere Ausbildung haben und solle mich dann noch einmal bewerben.

Da Physik, Chemie und Biologie Schulfächer waren, in denen ich sehr gern mitgearbeitet hatte, stellte ich mir auch eine Ausbildung als Laborantin in einem Krankenhaus vor. Ich bewarb mich in der folgenden Zeit in wohl fast allen niedersächsischen Krankenhäusern, aber Ende der Siebziger war eine Zeit des großen Lehrstellenmangels. Ich hatte keine Chance, in meinen Traumberufen unterzukommen.

Eines Tages rief meine Mutter mich in der Schule an und berichtete mir davon, dass ein Bäcker in der Nachbarortschaft einen Lehrling im Verkauf ausbilden wollte. Gleich nach der Schule ging ich hin und stellte mich in der Bäckerei vor. Eigentlich kannte ich die Leute schon, denn ich ging ja mit der ältesten Tochter des Chefs in dieselbe Klasse. Herr Wilhelm sagte mir gleich die Lehrstelle zu, und ich war auch halbwegs zufrieden. Zwar hätte ich mit meiner Mittleren Reife „mehr“ werden können als Bäckereifachverkäuferin, aber das war immer noch besser, als nach der Schulzeit arbeitslos zu Hause herumzuhängen.

Am 31.3. wurde ich – auf meinen Antrag hin – vorzeitig mit dem Abschluss der Mittleren Reife aus der Schule entlassen und begann gleich am nächsten Tag mit meiner Ausbildung.

Zunächst verbrachte ich meine Arbeitstage damit, für die Chefin einkaufen zu gehen, in der Backstube Bleche zu putzen oder andere Handlangerarbeiten zu erledigen. Irgendwann gegen Ende des ersten Lehrjahres traute man mir auch zu, selbständig im Laden zu arbeiten. Ich erledigte von nun an alle Arbeiten, die auch eine ausgelernte Verkäuferin verrichtete: Bedienen, in Café und Imbiss servieren; hinzu kamen die „Sklavenarbeiten“ (so nannte ich sie immer für mich selbst) wie Ware verpacken, Fenster und Regale putzen und allerlei Botengänge erledigen, vor allem aber immer wieder Bleche in der Backstube putzen. Dennoch hatte ich Freude an meiner Arbeit.

Ich verstand mich bestens mit meinem Lehrherrn und meiner Chefin und fühlte mich bald so, als sei ich ein Teil ihrer Familie. Wenngleich diese Leute nur verständnislos den Kopf über meine Art von Freizeitgestaltung schüttelten, hatten sie mich – glaube ich – trotzdem in ihr Herz geschlossen, denn auch heute noch werde ich sehr herzlich von der gesamten Familie aufgenommen und zur Begrüßung umarmt, wenn ich meinen ehemaligen Ausbildungsbetrieb in Norddeutschland wieder aufsuche. Mein früherer Chef betont heute noch – immer wieder kopfschüttelnd –, dass er es nie verstanden hatte, wie es mit mir so weit hatte kommen können.

Er ließ mich nur schweren Herzens gehen, als ich damals meinen Lehrvertrag brach, um mit Klaus zusammenzuziehen. Er hätte mir gerne seine Hilfe angeboten, wieder auf den geraden Weg zurückzufinden. Aber ich stieß ihn nur vor den Kopf und ging.

Irgendwann hatte ich mir von meinem Lehrlingsgehalt den Führerschein finanziert und 900 DM für mein erstes Auto zusammengespart. Ich klebte sofort „Laßt-Hess-frei“-Aufkleber auf das Heck des weißen VW-Käfers und fuhr damit stolz durch die Gegend. Einer der Bäcker klebte in großer Regelmäßigkeit CDU-Aufkleber über meinen „Laßt-Hess-frei“-Aufkleber. Genauso regelmäßig klebte ich ihm NPD-Aufkleber aufs Auto, worüber er sich allerdings ziemlich aufregte.

Ich machte im Betrieb keinen Hehl daraus, was ich in meiner Freizeit trieb, aber alle nahmen es eigentlich ziemlich gelassen hin. Ich hatte ein wohl überdurchschnittlich gutes Verhältnis zu meinem Lehrherrn und meiner Chefin, weshalb ich mir politisch gesehen ziemlich viel erlauben konnte, obwohl mein Chef aktives Mitglied in der CDU war. So erntete ich auch keinerlei Widerspruch, als ich auf die Küchentür des Geschäfts einen „Laßt-Hess-frei“-Aufkleber pappte.

Herr Wilhelm lernte eines Tages auch meinen damaligen Freund Klaus-Dieter kennen. „Mädchen, las die Finger von dem. Mit dem nimmt es kein gutes Ende!“, warnte er mich.

Wie recht er doch hatte! Aber davon wollte ich nichts wissen. Stattdessen wurde ich immer trotziger, und bald nach dem 18. Geburtstag fand ich einen Anlass, sowohl Elternhaus als auch Lehrstelle zu verlassen. Ich zog nach Wolfsburg zu Klaus-Dieter in die obere Wohnung im Hause seiner Eltern. Und ich suchte und fand einen Betrieb, in dem ich meine begonnene Lehre beenden konnte.

Allerdings machte ich es mir und meinem Lehrherrn nicht ganz einfach. Oft kamen wir von den politischen Veranstaltungen – und manchmal auch von den Saufgelagen – erst in aller Frühe zurück, so dass mir zum Schlafen keine Zeit mehr blieb. Ich ging direkt von den Veranstaltungen unter die Dusche und dann zur Arbeit oder zur Berufsschule.

Manchmal schwänzte ich die Schule einfach, bis mir eines Tages ein Bäckerlehrling aus unserem Betrieb im Vorübergehen zuraunte: „Schönen Gruß von Herrn Frühauf (so hieß der Berufsschullehrer)! Wenn du am Montag nicht zur Schule kommst, wirst du nicht zur Abschlussprüfung zugelassen.“ Ich schluckte nun doch ein bisschen und nahm meinem Kollegen das Versprechen ab, unserem Chef nichts zu sagen. Obwohl ich mich bereits nur noch als tapfere Systemgegnerin sah, die gegen alles ankämpfte, hatte ich immer noch einen gewissen Hang zur „Bürgerlichkeit“. Ich arbeitete sehr gerne und gut und wollte unbedingt meine Ausbildung zu Ende machen.

Am kommenden Montag erschien ich also ausgeruht und pünktlich in der Schule und tat so, als sei nichts Besonderes los. Aber noch vor dem Unterricht beorderte mich Herr Frühauf vor das Klassenzimmer und fragte, was mit mir los sei. Es würde ihm sehr leid tun, wenn ich nicht zur Prüfung zugelassen würde, denn ich sei doch eine gute Schülerin. Er, Herr Frühauf, wolle mir aber auf jeden Fall die Chance geben, meine Lehre zu beenden. Er habe von den Mitschülern gehört, dass ich mich in der rechtsextremen Szene herumtreiben würde, und er wolle wissen, was daran wahr sei. Ich stritt – warum, weiß ich eigentlich gar nicht – erst mal meine Zugehörigkeit zu den Neonazis ab. Ich glaube, ich tat es, weil ich Angst um meine Zulassung zur Prüfung hatte. Jedenfalls ging ich ab jetzt wieder jeden Montag zur Berufsschule. Herr Frühauf hielt sein Wort und teilte seine Beobachtungen meinem Lehrherrn nicht mit.

Ich stellte bald darauf den Antrag auf vorzeitige Beendigung der Ausbildung. Tatsächlich wurde ich aufgrund meiner schulischen und praktischen Leistungen zur nächsten stattfindenden Prüfung zugelassen. Ich bestand die Abschlussprüfung sowohl praktisch als auch theoretisch mit einer 2,0 als Durchschnittsnote. Und ich wollte schon gehen, als mich Herr Frühauf noch einmal zurückrief. Erst gratulierte er mir zu meiner Prüfung, dann redete er mir noch einmal ins Gewissen. Ich würde nur meine Zukunft kaputt machen. „Welche Zukunft?“, fragte ich ihn herausfordernd. Eine genaue Antwort hatte er auch nicht: „Ihnen stehen doch alle Wege offen. Aus Ihnen kann noch was werden.“ „So, und was?“, fragte ich. Durch meine Uneinsichtigkeit war unser letztes Gespräch sehr schnell beendet.

Abrutschen in die ANS

Mit meiner Freundschaft zu Klaus änderte sich mein Leben dann sehr. Es war gekennzeichnet von ständiger Geldnot, und immer öfters bekamen wir des Nachts Besuch von Kriminalpolizisten, die bei uns Hausdurchsuchungen durchführten oder einen von uns vorübergehend verhafteten.

Immer seltener beteiligte ich mich an legalen Aktivitäten der NPD und der JN oder der Wiking-Jugend. Dafür trafen wir uns immer öfter mit Mitgliedern der ANS (Aktionsfront Nationaler Sozialisten). Michael Kühnen und Christian Worch kannte ich schon von meiner NPD-Zeit her. Sie waren allerdings bei der NPD nicht sehr beliebt gewesen, fielen sie doch zu sehr durch das Tragen von Springerstiefeln, schwarzen Hosen und Jacken auf und durch ihr nationalsozialistisches Gerede. Die NPD bezeichnete Michael und seine Freunde als Verräter und schloss die jungen Männer aus der Partei aus.

Mir gefielen die Kameraden jedoch sehr. Michael Kühnen und Christian waren zielstrebig und wussten, was sie wollten. Sie waren nicht so spießig und ängstlich wie die meisten in der NPD, und sie nahmen mich gerne in die Gruppe auf, die sie jetzt mit anderen Freunden bildeten.

Aktive weibliche Mitglieder gab es sowieso kaum. Mädchen hatten eigentlich in der rechten Szene eine untergeordnete Rolle zu spielen: „Eine deutsche Frau hat für das Wohl der Familie zu sorgen und nicht zu kämpfen.“ Das war wohl das einzige Thema, bei dem ich den Männern nicht zustimmen konnte. Ich war als typische Widder-Frau keinesfalls bereit, mich irgendjemandem unterzuordnen. Ich hatte es auch überhaupt nicht nötig, auf Emanzipation zu pochen. Ich wusste um meine Stärken und zeigte dies auch – ich war von vornherein gleichberechtigt. Und wehe, wem das nicht passte!

Ich konnte mich ganz gut durchsetzen und war bald als gleichwertiges Mitglied unter den Männern anerkannt.

Zudem war es auch ganz nützlich, aktive Frauen in den Reihen zu haben, denn Frauen sind im Ernstfall unauffälliger als Männer. So hatte ich oft genug die Aufgabe, als „Vermittler“ oder „Überbringer“ zu fungieren. Unser später ausgeführter Bankraub wäre wahrscheinlich nicht so problemlos gelungen, hätte nicht eine Frau bestimmte Arbeiten erledigt.

Ich bewundere Michael Kühnen

Michael Kühnen sollte später zu den führenden Köpfen der neonazistischen Szene werden. Und ich hatte ein gutes Verhältnis zu ihm, was mich auch irgendwie mit Stolz erfüllte. Niemand hätte damals gedacht, welches Schicksal ihn schlussendlich noch ereilen würde. Wohl kaum jemand hatte von seinen homosexuellen Neigungen gewusst. Viel zu sehr wahrte er den Schein eines gestandenen deutschen Mannes, ohne Fehler und Makel. Obwohl mir persönlich eine solche sexuelle Neigung des jungen Mannes nicht viel ausgemacht hätte, war ich doch ziemlich irritiert, als ich nach Jahren davon erfuhr.

Michael Kühnen war ein hochgebildeter junger Mann und äußerst wortgewandt. Ich erkannte von Beginn unseres Kennenlernens an seine Führungsqualitäten und seine menschlichen Werte, die er zweifellos hatte, an.

Nach seinem Mitwirken in der NPD, das für ihn enttäuschend enden sollte, gründete er mit einigen anderen Kameraden in Hamburg den „SA-Sturm 8. Mai“ (Tag der deutschen Niederlage war der 8.5.45). Hier konnte Kühnen seine Forderungen verwirklichen, dass „Nationalsozialisten in eine nationalsozialistische Organisation“ gehörten.

Kühnen übernahm auf Wunsch der Kameraden die Führung der Organisation und verschaffte sich durch die eiserne Disziplin, die in der Gruppe herrschte, und durch medienwirksame Auftritte sowie durch die bisher unvorstellbaren politischen Forderungen sehr schnell Gehör in der Öffentlichkeit im In- und Ausland. Nachdem er seine Organisation in die „Aktionsfront Nationaler Sozialisten“ umbenannt hatte, erreichte er einen bisher nicht dagewesenen Bekanntheitsgrad eines Rechtsextremisten in der Nachkriegszeit, bis über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus.

Der studierte Bundeswehrsoldat war ein von all seinen Kameraden anerkannter und bewunderter und von der bundesdeutschen Justiz und Presse gleichermaßen gefürchteter Mensch, der seinen Idealen bis zu seinem Tod treu geblieben ist, auch wenn er sein Ziel, „Die Neugründung der NSDAP als legale Partei“, nicht mehr erreichte.

Klaus war schon längst wegen seiner uniformähnlichen Kleidung, also wegen der schwarzen Hosen, schwarzen Jacke und Springerstiefel sehr umstritten in der Wolfsburger NPD. Und wenn wir zu Treffen mit der ANS unterwegs waren, zog ich mir der BDM-Uniform nachgemachte Kleidung an.