Sabine B. Procher

Sanfter Missbrauch

Das schleichende Seelengift

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Procher, Sabine B.: Sanfter Missbrauch – Das schleichende

Seelengift, Hamburg, ACABUS Verlag 2012

1. Auflage

ISBN: 978-3-86282-164-8

Dieses Buch ist auch als ebook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

PDF-ebook: ISBN 978-3-86282-165-5

ePub-ebook: ISBN 978-3-86282-166-2

Lektorat: Inga Pöting, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: ds, ACABUS Verlag

Covermotiv: © fuxart - Fotolia.com, © Malena und Philipp K - Fotolia.com, © mirpic - Fotolia.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

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Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2012

Alle Rechte vorbehalten.

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
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Vorwort

Die meisten Schriftstücke, die ich bisher zum Thema Missbrauch gelesen habe, schildern in dramatischer Weise grausame Quälereien und Vergewaltigungen, die an Kindern begangen wurden. Sexueller Missbrauch von Kindern kann aber auch auf ganz andere Art und Weise stattfinden.

Gerade der so genannte „sanfte Missbrauch“ vergiftet die Seele, da er völlig unbemerkt stattfindet. Die Betroffenen trauen sich oft nicht, das Schweigen zu brechen. Die Zahl in der Statistik wird um ein erschreckend Vielfaches höher sein, wenn diese sich endlich auch zu Wort melden.

Dieses Buch habe ich all denen gewidmet, die als Kind missbraucht worden sind, egal ob dabei Gewalt im Spiel war oder nicht. Aber gerade, wenn die sexuellen Übergriffe schmerzfrei stattfinden, erkennen Kinder oft nicht, wenn die Erwachsenen sich an ihnen vergehen. Wenn ihnen irgendwann, wenn sie älter und verständiger geworden sind, zu Bewusstsein kommt, was passiert ist, schämen sie sich und entwickeln Schuldgefühle, die ihnen das Leben zur Qual machen. Ihre oft gravierenden körperlichen und seelischen Leiden im Erwachsenenalter werden meist nicht mit den frühen Erlebnissen aus der Kindheit in Zusammenhang gebracht. Wenn sie sich überhaupt offenbaren, vergehen oft Jahrzehnte, bis sie sich verschämt einem Therapeuten öffnen. Die wenigsten trauen sich, in aller Öffentlichkeit darüber zu reden.

An dieser Stelle möchte ich die Mitmenschen aufrütteln, genau zu überlegen, was sie demjenigen antworten, der ihnen so etwas Ungeheuerliches mitteilt. Mir ist doch tatsächlich vor zwanzig Jahren passiert, als ich einem damaligen Freund von meinem Kindheitstrauma berichtete, dass er mir antwortete: „Na, so schlimm ist das doch auch nicht. Es wird dir schon gefallen haben.“

Ich war entsetzt und enttäuscht zugleich. Meine Schuldgefühle wurden dadurch verstärkt und ich schwor mir, nie wieder ein Sterbenswörtchen darüber zu verlieren.

Doch so einfach ging das nicht. Mein Körper und meine verletzte Seele ließen sich nicht vorschreiben, was ich zu tun hatte. Es sollten aber noch über sechzehn Jahre des Leidens vergehen, bis ich mich näher mit meinem Schicksal auseinandersetzte. Und jetzt erst, nachdem ich mich endgültig entschlossen habe, alles, wirklich alles nach außen zu tragen, spüre ich, dass eine Last von mir abfällt. Natürlich stecke ich noch voller Ängste, ob ich es schaffen werde, mit eventuellen Anfeindungen fertig zu werden. Inzwischen habe ich aber etliche Menschen kennengelernt, die mich darin bestärken, dass die Zeit reif dafür ist.

Vielleicht erreiche ich ja mit meinem Buch, dass viele Betroffene endlich den Mut fassen, ihr Schweigen zu brechen. Ein Schweigen, das ihr Leben zur Qual werden lässt und die Täter schützt. Freunde, Bekannte und Verwandte sollen wachgerüttelt werden, damit nicht aus einem „falsch verstandenen Familiensinn“ alles verschwiegen beziehungsweise nicht anerkannt wird.

„Es ist doch alles so lange her. Was bringt es dir jetzt noch, damit an die Öffentlichkeit zu gehen?“

Bedenken Sie, dass Ihr Schweigen einen Täter schützt, der eigentlich ins Gefängnis gehört, denn seine Tat gleicht einem Mord. Er hat die Seele eines Menschen zerstört, was keine Therapie wieder in Ordnung bringen kann, und das ist kein Kavaliersdelikt. Damit künftig die Täter nicht unerkannt bleiben und die Umwelt noch mehr aufgerüttelt wird, sollten Sie den Opfern das Gefühl geben, auf ihrer Seite zu stehen, wenn Sie irgendwelche Anzeichen für einen Missbrauch bemerken. Bedenken Sie, dass Sie sich mitschuldig machen, wenn Sie die Täter schützen.

Dieses Buch habe ich auch für die Partner, Freunde und Familienangehörigen geschrieben, denn diese wissen oft gar nicht, was mit der Liebsten oder dem Liebsten los ist, wenn sie oder er aus heiterem Himmel einen Wutanfall bekommt oder völlig unvermittelt und scheinbar ohne Grund in Tränen ausbricht. Haben Sie Verständnis und suchen Sie in Ihrer Verzweiflung nicht die Schuld bei sich, auch wenn diejenige oder derjenige Sie angreift und Sie für sein Leid verantwortlich machen will. Sie sind nur der Blitzableiter für etwas, das an die Oberfläche drängt. Unterstützen Sie Ihr Gegenüber und versuchen Sie, die Hintergründe zu erfahren. Sie werden vielleicht entsetzt sein, welche Geister Sie plötzlich zum Leben erwecken. Aber gemeinsam können Sie es schaffen, den Betroffenen aus dem Dilemma herauszuholen, auch wenn dies sicher zusätzlich professioneller Unterstützung bedarf.

An dieser Stelle möchte ich meinem Ehemann, den ich erst vor wenigen Jahren kennengelernt habe, danken, dass er mich während der Aufarbeitung meines Missbrauchs so unsagbar liebevoll unterstützt hat und trotz seiner anfänglichen Verzweiflung über meine unerklärlichen Ausbrüche so treu zu mir gehalten hat. Ich habe das Gefühl, unsere Liebe ist trotz allem immer mehr gewachsen, und gerade diese schwierige Zeit hat uns erst richtig zusammengeschweißt.

Die folgenden Kapitel sollen den Leidtragenden Mut machen, dass man die Chance hat, aus dieser verfahrenen Situation herauszukommen. Auch wenn es denjenigen heute noch unmöglich erscheint, jemals darüber sprechen zu können, so sollten sie bedenken, dass auch ich einmal an diesem Punkt stand und es geschafft habe.

Einleitung

Manch einer wird bei dem Ausdruck „sanfter Missbrauch“ irritiert sein. Kann ein Missbrauch überhaupt zart und sanft sein? Verharmlost beziehungsweise verniedlicht das Wort nicht alles sofort wieder? Verlangen die Menschen nicht förmlich nach diesen reißerischen Darstellungen von Brutalität, oder weshalb gehen die Illustrierten mit diesen Berichten in solch hohen Auflagen über den Tresen? Wieso klicken unzählige Personen – nicht nur angeblich Perverse – die Internetseiten dieser Portale an? Was versteht die Mehrheit eigentlich unter Kindesmissbrauch? Ist es nur dann ein Missbrauch, wenn eine Vergewaltigung oder eine Quälerei stattfindet, oder fängt er schon viel früher an?

Haben Sie gewusst, dass die Kleinen bei den sexuellen Handlungen, wenn sie schmerzfrei sind, oft angenehme Gefühle empfinden, die sie allerdings noch nicht einordnen können? Täter haben dadurch oftmals ein leichtes Spiel, denn wie soll das Kind erkennen, dass etwas Schlechtes mit ihm passiert, wenn womöglich ein guter Bekannter oder Verwandter mit im Spiel ist? Oft ist es die Scham, der Respekt vor dem Erwachsenen, die Angst vor Verachtung oder vielleicht sogar die Liebe zum Täter, die ihnen in diesen Fällen den Mund verschließt. Diese Biographie soll den Betroffenen Mut machen, über alles zu reden und ihnen die Scheu vor einer Verurteilung durch die Gesellschaft nehmen.

Ich war schon 56 Jahre alt, als mir erstmalig bewusst wurde, dass meine Wut und die Aggression, die ich in mir spürte, ihren Ursprung in meiner Kindheit hatten. Jahrzehntelang hatte ich verdrängt, was ich damals erlebt hatte und, woran ich mir allein die Schuld gab. Erst als ich die seelischen und körperlichen Schmerzen nicht mehr ertragen konnte, setzte ich mich damit auseinander. Es sollten noch weitere zwei Jahre vergehen, bis ich wagte, mich meinem Mann und einer Freundin anzuvertrauen. Da ich merkte, dass die Reaktion der beiden völlig anders ausfiel, als von mir erwartet, sprach ich mit einer Therapeutin darüber, die mir riet, alles aufzuschreiben, was mir auf der Seele brannte. Dadurch ist dieses Buch entstanden.

Ich habe inzwischen erkannt, dass nicht ich Schuld habe, sondern die Erwachsenen, die damals meine kindliche Neugierde ausnutzten und mit mir Dinge taten, die meinem Alter nicht angemessen waren. Als ich dieses Buch schrieb, wurde mir bewusst, dass ich im Vorschulalter unmöglich wissen konnte, dass ich missbraucht wurde. Trotzdem schäme ich mich ab und zu sogar heute noch dafür, wenn ich daran denke. Allerdings bin ich jetzt in der Lage, zu erkennen, dass ich mich für die Täter schäme. Ich bin froh, dass ich die Scheu verloren habe, darüber zu reden. Inzwischen ist mir klar geworden, dass ich von niemandem verurteilt werde.

Ich hoffe, dass ich durch meinen Bericht anderen Betroffenen Mut machen kann, nicht länger über die Vergangenheit zu schweigen. Sie sollen erkennen, dass ihre körperlichen und seelischen Leiden womöglich mit ihren Kindheitserlebnissen in Zusammenhang stehen.

Viele wissen nicht, dass der wohlige Schauer, der den Säuglingen durch den Körper rinnt, wenn sie an der Brust der Mutter saugen oder sie zärtlich gestreichelt werden, schon einen Hauch Sexualität in sich birgt. Schon im Vorschulalter gehört das Erkunden des anderen Geschlechts zu einer normalen Entwicklung des Menschen dazu. Heutzutage weiß die Gesellschaft mehr darüber und man beginnt schon im Kindergarten mit der Prävention, um den Nachwuchs an diese Dinge heranzuführen.

Meine Generation wurde sehr prüde und verklemmt erzogen. Der Sex wurde den Frauen als notwendiges Übel zur Fortpflanzung geschildert, was letztlich zur Folge hatte, dass in den Schlafzimmern der Ehepaare nur wenig Leidenschaft anzutreffen war. Das war sicher auch einer der Gründe, weshalb die Männer ihr Sexualleben nach draußen verlagerten und sich eine jüngere Geliebte anschafften.

Durch die Aufklärungskampagnen des Oswalt Kolle stand die nächste Generation der Liebe viel aufgeschlossener gegenüber. Natürlich ist inzwischen alles viel freier, und auch die Generation 50 Plus hat Lust am Sex. Trotzdem sind die Prägungen aus der Kindheit in den Köpfen eingebrannt und verhindern unbewusst, das Leben tatsächlich zu genießen. Sie kennen ja seit jeher nichts anderes und wissen nicht, wie gut man sich tatsächlich fühlen kann. Den meisten wird nicht klar sein, dass ihre körperlichen Beschwerden oft einen Zusammenhang mit dem haben, was ihnen die Eltern in der Kindheit eingebläut haben.

Auf den folgenden Seiten berichte ich, wie mir bewusst wurde, dass ich von etwas gesteuert wurde, was ich scheinbar nicht beeinflussen konnte. Ich erzähle von meinen frühkindlichen sexuellen Erfahrungen, erkläre, welche Auswirkungen sie auf mein späteres Leben hatten und zeige Ihnen, was meine Erziehung damit zu tun hatte. Sie werden erkennen, dass ich in einem annähernd normalen Elternhaus aufgewachsen bin. Meine Eltern konnten zwar kaum Gefühle zeigen, aber deshalb waren sie noch lange keine Rabeneltern. Ich wurde einfach zu früh in die Erwachsenenwelt hineingestoßen. Die Älteren erkannten damals nicht, was sie mir damit zumuteten.

Da in der heutigen Zeit viele Kinder durch die Berufstätigkeit beider Elternteile in eine ähnliche Situation geraten könnten, zielt mein Bericht auch darauf ab, die Erziehungsberechtigten hellhörig zu machen. Sie sollen wissen, dass ein Missbrauch auch andere Formen haben kann und nicht erst bei einer Vergewaltigung anfängt. Es ist in dieser hektischen Zeit oft nicht leicht, zur richtigen Zeit die Antenne auszufahren. Vor allem denken Sie immer daran, Ihr Kind mag noch so robust erscheinen, die Seele im Innern ist dagegen ein zartes Gebilde. Jedes falsche Wort macht eventuell das künftige Leben zur Qual.

Denken Sie immer daran, Ihr Kind liebt und bewundert Sie. Was Sie ihm sagen oder vorleben, ist Gesetz. Es will Ihnen gefallen, auch wenn Sie manchmal das Gefühl haben, Sie beide stehen mit ihren Ansichten meilenweit auseinander. Hören Sie zu, wenn ein Hilfeschrei in Ihr Unterbewusstsein dringt und vor allem, sagen Sie niemals zu Ihrer Tochter oder Ihrem Sohn: „Das hast du dir doch alles nur ausgedacht.“

1

Als ich gerade fünf Jahre alt war, machte ich mich auf die Suche nach einem Gefühl, das so schön sein sollte, dass man die Engel singen hören könnte. Ein Gefühl, dass man als Kind anscheinend nicht erleben durfte, denn die Erwachsenen redeten nur hinter vorgehaltener Hand darüber. Wenn ich doch einmal etwas aufschnappte und Fragen stellte, hieß es nur: „Dazu bist du zu klein. Das verstehst du nicht.“

Inzwischen war ich 56 Jahre alt und hatte eine etwaige Vorstellung von dem, was ich suchte. In den vergangenen Jahrzehnten glaubte ich manchmal sogar, es gefunden zu haben. Aber statt im siebten Himmel zu schweben, wanderte ich durch die Hölle.

Ich war nach einer kurzen, nur wenige Monate dauernden Ehe im Alter von 20 Jahren überzeugter Single. Natürlich hatte ich ab und zu einen Freund, aber länger als zwei Jahre hielten die Verbindungen nie. Angeregt durch einen Persönlichkeitstest, fragte ich damals eine Kollegin, welchem Tier sie mich zuordnen würde. Sie antwortete: „Du bist wie ein Schmetterling. So wie dieser von Blume zu Blume fliegt, hüpfst du von einem Mann zum nächsten.“

So hatte ich mich noch gar nicht gesehen. Aus meiner Perspektive hatte ich das Pech, immer an den Falschen zu geraten. Wenn ich in späteren Jahren sah, was aus meinen früheren Männern geworden war, war ich froh, dass es mit ihnen nicht geklappt hatte. Mir war sicher viel Ärger und Kummer erspart geblieben. Nach Ansicht meiner inzwischen verstorbenen Mutter, die sich einen wohlhabenden, beruflich erfolgreichen Akademiker als Schwiegersohn gewünscht hätte, verliebte ich mich entweder in Chaoten, Nichtsnutze oder Schwindler.

Schließlich fand ich sogar Gefallen an Affären mit verheirateten Männern, was meinem Drang nach Freiheit sehr entgegen kam. Irgendwann wurde mir aber klar, dass eine derartige Liaison auch nicht das Gelbe vom Ei war. Ich brauchte zwar für meine Liebhaber nicht kochen und waschen, aber Ärger und Stress gab es trotzdem.

Nachdem ich vor vierzehn Jahren erneut eine Enttäuschung erlitt, nahm ich mir vor, mich nie wieder auf einen Mann einzulassen. Ich kleidete mich möglichst unscheinbar, ging nicht mehr aus und stürzte mich vermehrt in die Arbeit, was den Vorteil hatte, dass ich mir im letzten Jahrzehnt ein ansehnliches finanzielles Polster erwirtschaften konnte. Ich dachte, wenn ich gar nicht erst in Versuchung gerate, wäre es am einfachsten, meinem Schwur treu zu bleiben. So war ich eine der vielen Singles, die sich mit ihrem „Los des Alleinseins“ arrangiert hatten und glaubte felsenfest daran, dass diese Lebensform das Ideal für mich wäre. Ich bewohnte eine luxuriöse Dreizimmerwohnung mitten in Berlin, konnte mir leisten, jeden Tag essen zu gehen und hatte mir den Traum erfüllt, schon mit Mitte 50 in den Vorruhestand zu gehen. Eigentlich hätte ich genug Zeit gehabt, das Leben endlich in vollen Zügen genießen zu können.

Ich wusste, dass mich meine Bekannten insgeheim beneideten, wenn sie meinten: „Jetzt fehlt dir nur noch der richtige Mann.“

„Weshalb soll ich etwas ändern und mir unnötig Ärger und Arbeit aufhalsen? Da wäre ich ja dumm. Außerdem habe ich ja noch Vasco“, lautete meine Antwort.

Vasco war seit 13 Jahren mein treuer Gefährte. Nachdem ich mich von der Männerwelt losgesagt hatte, war ich auf den Hund gekommen. Ihn konnte ich bemuttern und ihm meine Liebe zeigen, ohne enttäuscht zu werden. Seitdem ich den kleinen Dackel besaß, hatte ich mich nicht einen Moment einsam gefühlt und keinen Mann vermisst. Ausgerechnet Vasco sollte schuld daran sein, dass alles ganz anders kam, als ich es mir für meine Zukunft ausgemalt hatte.

2

Wenn an warmen Tagen die Türen der umliegenden Geschäfte offen standen, konnte ich meist nicht verhindern, dass Vasco dort hineinlief. In der Umgebung war der kleine Köter bekannt wie ein Filmstar. Ohne den Hund wurde ich manchmal gar nicht erkannt. Vasco flirtete mit jedem, der uns begegnete. Er hatte schnell heraus, wer ein Leckerli für ihn vorrätig hatte und richtete vermutlich seine Route danach aus.

Im Mai 2006 eröffnete in der Nähe meiner Wohnung eine Beratungsfirma. Natürlich lief Vasco bei seinem Rundgang schnurstracks in den offenen Laden hinein. Drei Herren waren damit beschäftigt, Umzugskartons auszupacken. Vasco beschnüffelte die Hosenbeine der Männer und legte sich schließlich vor Georg, dem älteren der Drei, auf den Rücken. Er zeigte durch die eindeutige Gestik mit seinen Pfoten, dass er gekrault werden wollte. Georg lachte und tat ihm den Gefallen. Man merkte, dass er mit Hunden umgehen konnte, und Vasco wollte gar nicht mehr aus dem Laden heraus kommen. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Tier auf den Arm zu nehmen und zurück auf die Straße zu tragen.

In den nächsten Wochen besuchte Vasco seinen neuen Freund regelmäßig. Meist fiel dabei ein Stückchen Wurst oder Käse für ihn ab. Die Gespräche mit den drei Männern wurden im Laufe der Zeit immer intensiver. Besonders der neunundfünfzigjährige Georg war mir sympathisch. Er war etwa fünfzehn Zentimeter größer als ich, hatte volles graues Haar, etwas Übergewicht, was aber zu seinem Typ passte, und wohlgeformte Gesichtszüge. Sein Auftreten war äußerst charmant und vornehm zurückhaltend, wodurch er ruhig, besonnen und sehr seriös wirkte. Er strahlte eine Wärme aus, die ihm eine ungeheure Anziehungskraft verlieh. Jedes Mal, wenn ich mit ihm sprach, brachte seine Stimme etwas bei mir ins Schwingen, was noch einige Zeit nachklang. So erwischte ich mich ab und zu dabei, dass ich an ihn dachte. Als ich Georg eines Tages darauf ansprach, dass er mit Vasco so gut umgehen könnte, antwortete er: „Wir hatten auch einen kleinen Dackel.“

Dabei betonte er besonders das „Wir“. Für mich war damit klar, dass er liiert war. Folglich benahm ich mich ihm gegenüber weiterhin distanziert. Wenn ich Georg manchmal allein auf der Straße traf, kam es mir zwar so vor, als ob er sich für mich interessieren würde, aber er benahm sich wahrscheinlich schon von Berufs wegen allen gegenüber charmant. Außerdem war es sowieso egal, denn ich legte ja keinen Wert auf einen neuen Partner, und eine Affäre mit einem verheirateten Mann wollte ich schon gar nicht.

Als es im Herbst kälter wurde, blieben die Türen der Geschäfte verschlossen, wodurch Vasco nicht mehr in die Läden hineinlaufen konnte, und die im Sommer geknüpften Kontakte schliefen ein. Auf der Straße hastete man meist nur mit kurzem Gruß aneinander vorbei. Georg traf ich nur noch einmal im Oktober, als er aus einer Apotheke kam. Er begrüßte mich mit Handschlag, wobei er meine Finger eine Spur zu lange festhielt. Wieder hatte ich das Gefühl, dass zwischen uns ein Funke übersprang. Wir sprachen aber nur wenige kurze Höflichkeitssätze miteinander, bevor er sich verabschiedete. Danach sah ich ihn drei Monate lang nur durch die Scheibe seines Büros, wenn ich nachmittags mit Vasco dort vorbeispazierte.

Man hatte mir zu dieser Zeit mehrmals gesagt, dass ich in den letzten Monaten eine jugendlichere, weichere Ausstrahlung bekommen hätte. Ich bemerkte, dass mir die Männer nachblickten und versuchten, mit mir anzubändeln. Da ich schon immer gern geflirtet hatte, fand ich Gefallen daran. Ich ertappte mich sogar mehrmals bei dem Gedanken, dass es doch ganz schön wäre, nicht mehr allein zu sein. Ab und zu stieg in mir für einen Moment die Angst vor der Einsamkeit hoch, wenn Vasco, der ja inzwischen schon dreizehn Jahre alt war, eines Tages sterben würde. Im gleichen Moment kamen mir aber mehrere Gegenargumente in den Sinn, sodass ich den Wunsch nach einer Partnerschaft sofort wieder im Keim erstickte.

Einen Tag vor Heiligabend ging ich mit Vasco abends an Georgs Büro vorbei. Er saß dort allein an seinem Schreibtisch. So beschloss ich, ihm ein frohes Weihnachtsfest zu wünschen und betrat das Geschäft.

Georg strahlte mich an und ich spürte, dass er sich über mein Erscheinen freute. Er bat mich, Platz zu nehmen und verwickelte mich in ein längeres Gespräch. Durch die weihnachtliche Stimmung und den Umstand, dass wir zum ersten Mal völlig allein waren, wurden private Themen nicht nur oberflächlich angesprochen.

„Wie kommt es, dass Sie am Vorweihnachtsabend so spät noch arbeiten?“

„Mir ist überhaupt nicht nach Weihnachten zumute. Vor zwei Jahren ist meine Frau gestorben. Daran werde ich Weihnachten wieder erinnert.“

„Das tut mir leid. Ich habe im letzten Jahr meinen Vater verloren und bin nun auch allein. Deshalb kann ich verstehen, dass sie keine Freude mit den Feiertagen verbinden.“

„Ich bin froh, dass mich Freunde zum Fest eingeladen haben, sonst würde mir die Decke auf den Kopf fallen“, erwiderte Georg.

Er war um den Schreibtisch herum gekommen und hatte sich neben mich auf einen Sessel gesetzt. Seine Hand, die er auf die Armlehne meines Stuhls gelegt hatte, war keine fünf Zentimeter von meiner Hand entfernt. Ich spürte, wie es in meinem Bauch zu kribbeln anfing, und mein Herz zu rasen begann.

„Er ist also doch allein und dazu noch Witwer. Das habe ich mir doch immer gewünscht. Er sieht richtig gut aus, und vom Alter her würde er auch zu mir passen. Ob ich es wagen kann, ihm Avancen zu machen?“ Diese und ähnliche Gedanken schossen mir durch den Kopf. Gleichzeitig meldeten sich Zweifel, ob ich mich wirklich auf ihn einlassen wollte.

„Wenn Sie sich Weihnachten oder danach zufällig einsam fühlen, rufen Sie mich ruhig an. Vielleicht haben Sie ja Lust auf einen Ausflug zum Grunewaldsee mit Vasco“, schlug ich vor. Ich spürte, dass ich rot wurde. Umständlich schaute ich mich nach einem Zettel und einem Kuli um, um ihm meine Telefonnummer aufzuschreiben. Georg nickte und reichte mir lächelnd beides sowie seine Visitenkarte, auf die er noch seine Privatnummer schrieb. Nachdem ich den Laden verlassen hatte, spürte ich, dass er mir hinterher schaute, und als ich mich an der Ecke umdrehte, winkte er mir hinterher.

Ich fühlte im Innern ein lange nicht da gewesenes, wohliges Gefühl. Unzählige Gedanken gingen mir in den nächsten Tagen durch den Kopf. Ich hoffte, dass Georg sich bald melden würde, aber nichts dergleichen geschah. Auch am Silvestervorabend führte mein Weg an Georgs Büro vorbei. Da es Samstag war, hatte ich nicht damit gerechnet, dass er sich dort aufhielt. Als er mich bemerkte, winkte er mich herein.

„Na, haben Sie die Feiertage gut verlebt?“ Ich zog mir umständlich die Handschuhe aus, damit ich ihm die Hand reichen konnte.

„Ja, ich hoffe Sie auch.“

„Ganz geruhsam. Ich habe mit Vasco einige längere Spaziergänge gemacht, habe ferngesehen und gelesen.“

„Ich war bis zum zweiten Feiertag bei Freunden und habe mich von den Kochkünsten der Frau verwöhnen lassen. Ich genieße solche Einladungen, weil ich selbst nicht kochen kann.“

Ich hatte die Angewohnheit, mir zum Jahresende Nudelsalat zu machen. Schon beim Zubereiten hatte ich kurz daran gedacht, Georg etwas davon abzugeben. Mittags hatte ich mich extra hübsch angezogen und war an seinem Büro vorbeigegangen, aber ich wurde enttäuscht, denn der Laden war geschlossen.

Deshalb hatte ich nicht damit gerechnet, dass Georg ausgerechnet am Abend da sein würde. Das Gespräch entwickelte sich also genau in die richtige Richtung.

„Ich habe mir für Silvester Nudelsalat gemacht. Allerdings habe ich derart viel zubereitet, dass ich ihn unmöglich allein aufessen kann. Haben Sie vielleicht Lust, eine Portion mitzuessen?“

Ich war es gewohnt, die Initiative zu ergreifen und unterbreitete ihm deshalb diesen Vorschlag. Falls er sich zieren sollte, mich zu Hause zu besuchen, hätte ich ihm ja immer noch sagen können, dass ich gemeint hätte, dass ich ihm eine Portion ins Geschäft bringen würde. Aber Georg erwiderte schnell: „Gerne, ich bin um 18 Uhr 30 bei Ihnen.“

„Ich freue mich. Dann bis gleich.“

„Ja, bis gleich.“

Georg hielt mir die Tür auf, und ich machte mich mit Vasco eilig auf den Heimweg. Bis 18.30 Uhr blieb mir nur noch eine Dreiviertelstunde, die ich dafür nutzen wollte, mich umzuziehen. Ich wählte allerdings nichts Aufreizendes, sondern zog mir Hose und Pulli an. Es sollte ja nicht zu aufdringlich aussehen. So impulsiv ich die Einladung ausgesprochen hatte, kamen mir nun Bedenken.

„Was denkt er womöglich von mir, dass ich ihn gleich nach Hause eingeladen habe?“

Schon früher hatte sich mancher Mann durch meine auffordernde Art mehr versprochen und war von meinem unnahbaren Auftreten wie vor den Kopf gestoßen, wenn er zu einem Treffen erschien. Georg schreckte regelrecht zusammen, als er von mir mit kühler Stimme empfangen wurde.

„Sie müssen aber Ihre Schuhe ausziehen. Darauf lege ich großen Wert.“

Leicht pikiert kam er der Aufforderung nach. Ich führte ihn ins Wohnzimmer, wo ich ihm am gedeckten Esstisch einen Platz zuwies. Er traute vermutlich kaum sich zu rühren, so geschäftsmäßig kühl trat ich ihm entgegen. Beim Essen tauten wir allerdings beide etwas auf, aber über einen belanglosen Smalltalk ging das Gespräch nicht hinaus. Gegen 22 Uhr verabschiedete sich Georg und trat den langen Heimweg ans andere Ende der Stadt an.

3

Vorm Einschlafen ließ ich den Abend nochmals Revue passieren. Ich musste zwar dauernd an Georg denken, aber andererseits hatte ich Angst bei der Vorstellung, dass er mir näher kommen könnte. Meine Gefühle rissen mich hin und her. Etwas Derartiges kannte ich schon aus früheren Zeiten. Wenn ich einen Mann kennenlernte, suchte ich einerseits seine Nähe, hatte aber gleichzeitig Angst davor. Manchmal geriet ich fast in Panik, wenn ich mir lange genug ausmalte, wie wohl eine gemeinsame Zukunft aussehen würde. Wovor ich eigentlich Furcht hatte, wusste ich selbst nicht, denn diese Gedanken hatte ich, bevor überhaupt etwas spruchreif war. Es war zu diesem Zeitpunkt ja noch gar nichts passiert, denn oft hatte man gerade mal drei Sätze miteinander gesprochen.

Meist sah ich den Menschen, über den ich mir solche Gedanken machte, sowieso kein zweites Mal. Ich hatte Bedenken wegen ungelegter Eier, wie ein Bekannter immer zu sagen pflegte. Wenn man sich doch näher kam, dauerte es lange, bis ich meine Gefühle endlich zuließ. Bis es allerdings soweit war, machte ich jedes Mal im Innern eine schlimme Zeit durch. Nun war ich nach vielen Jahren wieder einmal an diesem Punkt angelangt und spürte instinktiv, dass irgendetwas passierte, was mein Leben verändern würde. Ich wollte das nicht, aber andererseits sehnte ich mich danach. Es war zum Verrücktwerden. Nun war ich schon Mitte fünfzig, trotzdem bekam ich in dieser Hinsicht mein Leben nicht in den Griff.

„Worüber mache ich mir eigentlich Gedanken. Wir siezen uns sogar noch. Erst einmal abwarten, wie Herr Mansfeld sich verhält. Soll er doch eine Entscheidung treffen.“

Mit Gewalt riss ich mich in die Realität zurück.

Als sich Georg am ersten Januar nicht meldete, um ein frohes neues Jahr zu wünschen, war ich enttäuscht. Nachdem ich auch in den darauf folgenden zwei Tagen nichts von ihm hörte, war die Angelegenheit für mich erledigt. Einerseits wurmte es mich, andererseits war ich froh, dass auf diese Weise eine Entscheidung getroffen war. Mein Leben würde sich also nicht verändern. Trotzdem wusste ich nicht, was ich besser gefunden hätte.

Nachdem ich gar nicht mehr damit rechnete, rief Georg am Donnerstag an. Ein angenehmes Kribbeln rann durch meinen Körper. Wir sprachen fast eine Stunde miteinander. Obwohl wir beide erklärten, am Wochenende nichts vorzuhaben, schlug keiner von uns eine Verabredung vor.

Wie mir Georg später offenbarte, traute er sich nicht, die Initiative zu ergreifen, weil er Angst hatte, etwas verkehrt zu machen. Er hatte schon seit einigen Monaten Gefallen an mir gefunden und war enttäuscht, dass ich seit dem Herbst nicht mehr ins Büro gekommen war. Wir winkten uns zwar öfter zu, wenn ich mit dem Hund vorbeilief, aber er konnte ja nicht einfach zu mir heraus kommen, ohne dass er seinen Kollegen Gesprächsstoff geliefert hätte. Obwohl ich ihm in den letzten Monaten immer freundlich zugelächelt hatte, vermutete er, dass ich einen Partner hätte. Er wusste zwar seit Weihnachten, dass ich Single war, trotzdem konnte er mich nicht richtig einschätzen. Als er mich Ende Dezember besuchte, wirkte ich so kühl und distanziert, dass er sich nicht traute, von sich aus einen Annäherungsversuch zu starten, weil er sich nicht sicher war, ob ich überhaupt Interesse an ihm hätte. „Womöglich hätte ich zu diesem Zeitpunkt das zarte Pflänzchen, welches gerade zu wachsen begann, wieder zerstört, wenn ich zu forsch vorgeprescht wäre“, sagte er später zu mir.

Also wartete er erst einmal ab und ließ mich das Tempo bestimmen. Eine derartige Zurückhaltung hatte ich noch nie erlebt. Nachdem er wieder fünf Tage nichts von sich hören ließ, rief ich bei ihm an und schlug eine Verabredung in einem Restaurant in der Nähe vor. Diesmal entwickelte sich schnell ein interessantes Gespräch, welches wir zu später Stunde noch in meiner Wohnung fortsetzten. Als Georg um 1 Uhr nachts meine Wohnung verließ, waren wir aber immer noch beim „Sie“. Diese Reserviertheit war ja eigentlich ganz in meinem Sinn, aber normal fand ich das nicht. Vielleicht musste ich gerade deshalb dauernd an ihn denken.

Nachdem ich in den nächsten Tagen wieder nichts von ihm hörte, rief ich bei ihm an und lud ihn für den nächsten Freitag zum Abendessen ein. Er erschien mit einem Blumenstrauß und einem Fotoalbum mit Bildern von seinen erwachsenen Kindern. Damit er mir die Fotos besser erklären konnte, setzte ich mich neben ihn auf die Couch. Er machte keinerlei Anstalten, die Situation auszunutzen. „Jetzt müsste er doch endlich einen Annäherungsversuch starten“, dachte ich.

Aber nichts dergleichen geschah. Schließlich wurde es mir zu bunt. Ich drückte mich an ihn und sagte: „Wollen Sie mich nicht endlich in den Arm nehmen?“

Im nächsten Moment schämte ich mich dafür und drehte den Kopf weg. Georg ließ sich das nicht zweimal sagen. Ich erschauerte am ganzen Körper, als der schüchterne Mann mich zärtlich an sich drückte. Da war es wieder, dieses angenehme Gefühl, das ich aus meiner Kindheit kannte, wonach ich mich immer sehnte, wofür man mich als kleines Mädchen aber bestraft hatte. Daran wollte ich aber in diesem Moment nicht denken, sondern es nur genießen.

Ich vermied es, Georg anzusehen. Mit abgewandtem Gesicht kuschelte ich mich in seinen Arm. Ich hatte Angst, er könnte mir den Zwiespalt meiner Gefühle ansehen und würde mich verachten. Nur einmal drehte ich mich für einen kurzen Moment zu ihm herum.

„Wir duzen uns jetzt“, sprudelte es aus meinem Mund, bevor ich mich in Windeseile wieder umdrehte. Wir genossen fast eine Stunde schweigend das Zusammensein, wobei wir den „Love Songs“ von Elvis lauschten, die in einer Endlosschleife immer wieder von Neuem spielten.

Als Georg merkte, dass ich fast einschlief, trat er den Heimweg an. Da ich mit Vasco sowieso noch vor die Tür musste, begleitete ich ihn bis zur nächsten Straßenecke. Dort hielt ich ihm zum Abschied den Mund entgegen, um ihm anzudeuten, dass er mich küssen dürfte. Georg verpasste mir mit spitzen Lippen ein „Kinderküsschen“. So hatte die Oma mich früher immer geküsst, erinnerte ich mich. Ich war völlig irritiert. Was war das nur für ein Mann? Einerseits gefiel mir seine Zurückhaltung, aber dass er nicht einmal richtig küssen konnte, fand ich sehr eigenartig.

4

Umso überraschter war ich, als Georg in den nächsten Tagen plötzlich die Initiative ergriff. Er rief dauernd bei mir an und lud sich in den nächsten Tagen sogar zweimal selbst bei mir ein. Ich fühlte mich überrumpelt, fand es aber trotzdem angenehm. Meist saß ich neben ihm auf der Couch, kuschelte mich in seinen Arm, hörte seinen interessanten Erzählungen zu und genoss seine zärtlichen Streicheleinheiten, die nie aufdringlich wirkten und mir Mut machten, mit Georg über einige intime Probleme zu reden.

Mit Schrecken dachte ich an die kleinen Wunden, die ich früher beim Geschlechtsverkehr an der Schleimhaut meiner Scheide bekommen hatte und mir den Spaß am Sex verdorben hatten. Da nicht vorauszusehen war, wie empfindlich ich nach den langen Jahren der Abstinenz sein würde, hatte ich Angst vor unserem ersten Mal. Ich befürchtete auch, durch die zwiespältigen Gefühle, die nach einem intimen Zusammensein meist auftraten, alles gleich wieder kaputt zu machen.

Mir schoss das Blut in den Kopf, als ich mit gesenktem Haupt Georg in meine intimsten Befürchtungen einweihte. Er reagiert sehr fürsorglich und versuchte, meine Bedenken zu zerstreuen. Als wir eine Woche nach unserem ersten „Du“ zum ersten Mal miteinander schliefen, waren wir schon so verliebt ineinander, dass ich meine Scheu verlor und glaubte, dass gar nichts mehr schief gehen könnte. Ich hatte ihn eingeladen, das Wochenende bei mir zu verbringen. Wir wollten die Zeit nutzen, um uns näher zu kommen, einander besser kennenzulernen und auszuprobieren, wie wir auf engstem Raum miteinander auskommen würden.

Ich erfuhr, dass Georg schon zwei Ehen hinter sich hatte. Mit seiner ersten Frau hatte er zwei Kinder, mit denen er nach der Scheidung regelmäßigen Kontakt pflegte. Nachdem auch eine zweite Ehe in die Brüche ging, ließ er sich auf eine Lebensgemeinschaft mit einer acht Jahre älteren Frau ein, mit der er sehr harmonisch zusammenlebte, bis ihr plötzlicher Tod ihm den Boden unter den Füßen wegriss. Er brauchte fast zwei Jahre, um darüber hinwegzukommen. In dieser Situation war er mir über den Weg gelaufen.

Ich war überrascht, wie gut wir miteinander harmonierten, und wie wenig ich mich durch Georgs Anwesenheit gestört fühlte. Natürlich konnte ich mich ihm gegenüber nicht völlig frei benehmen, dazu war ich innerlich viel zu verklemmt. Da meine Mutter mir beigebracht hatte, niemals Schwäche zu zeigen, verstand ich es, dies geschickt zu überspielen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, Georg hätte schon immer in mein Leben gehört.

Georg wohnte immer noch in der Vierzimmerwohnung, in der er mit seiner verstorbenen Lebensgefährtin gelebt hatte. Er plante schon seit Längerem, sich eine kleinere Wohnung in der Nähe seiner Arbeit zu suchen und hatte vor einigen Tagen eine Zweiraumwohnung direkt über seinem Büro besichtigt. Als wir an unserem ersten Wochenende miteinander essen gingen, sprachen wir darüber.

„Welche Möbel willst du aus deiner jetzigen Wohnung mitnehmen?“

„Dort stehen fast nur Antiquitäten. Die hat der Sohn meiner verstorbenen Lebensgefährtin geerbt. Bei meinem Auszug wird er die Sachen übernehmen.“

„Was hast du dir vorgestellt?“

„Von einigen Dingen werde ich mich trennen, weil zu viele Erinnerungen daran hängen. Ich nehme nur einen Sekretär, ein Schränkchen, etwas Hausrat und meine persönlichen Sachen mit.“

In den nächsten Minuten schoss mir ein Gedanke nach dem anderen durch den Kopf. „Wenn er die Wohnung anmietet, habe ich bestimmt das Einräumen am Hals. Außerdem müssen zwei Wohnungen sauber gehalten werden. Bestimmt sind wir immer nur bei mir. Er kann doch erst einmal bei mir wohnen. Wenn es nicht klappt, kann er sich immer noch ein Appartement einrichten.“

Eine Eingebung wiederholte sich immer wieder: „Greif zu! Dann bist du gezwungen, mit deinen zwiespältigen Gefühlen klarzukommen. Dann kannst du nicht mehr vor irgendwelchen Problemen davonlaufen.“

Ich traute meinen Ohren kaum, als ich mich sagen hörte: „Was hältst du davon, wenn du vier Monate zur Probe bei mir einziehst? Wenn es nicht klappt, kannst du immer noch eine Wohnung mieten. Da du dich sowieso neu einrichten willst, ist das doch gar kein großes Risiko.“

Für einen Moment herrschte Stille. Georg sah mich an und fragte: „Bist du dir sicher?“

„Sonst hätte ich es nicht vorgeschlagen.“

Ich hatte nicht einen Moment ein ungutes Gefühl, als Georg, ohne weitere Bedenken anzumelden, zustimmte. Nun gab es für mich kein Halten mehr. Den ganzen Nachmittag plante ich im Kopf, wie alles vor sich gehen sollte. Georg ließ mich machen, und ich war in meinem Element.

„Warum bist du nicht schon vorher umgezogen? Die Wohnung ist so weit weg und viel zu groß für dich allein.“

„Ich weiß, aber ich habe mich einfach nicht aufraffen können. Der plötzliche Tod meiner Lebensgefährtin hat mich in ein tiefes Loch gerissen. Ich war anfangs wie gelähmt und konnte überhaupt nicht klar denken.“

Ich nickte, konnte es aber trotzdem nicht nachvollziehen. Ich hätte in einer solchen Situation ganz anders gehandelt.

„Lass mich alles organisieren. Ich habe in den letzten Jahren einige Umzüge über die Bühne gebracht. Darin habe ich Übung.“

Wie immer, wenn ich etwas in die Hand nahm, musste es möglichst gestern schon fertig sein. Georg sortierte seine Sachen aus, Freunde halfen uns beim Packen, und ich räumte einige Fächer in meinen Schränken um. Den Rest übernahm eine Umzugsfirma. So kam es, dass Georg einen Monat später bei mir einzog. Meine Nachbarn hatten sich schon an seinen Anblick gewöhnt, da er nach unserem ersten Mal jeden Abend bei mir übernachtet hatte.

Natürlich ging nicht alles ohne Schwierigkeiten über die Bühne. Ich war mit Georg gerade erst vier Wochen zusammen, als ich mich zum ersten Mal nicht beherrschen konnte. Ich fühlte, wie aus heiterem Himmel eine nicht bezähmbare Wut in mir aufstieg. Ich hatte das Bedürfnis, mich auf Georg zu stürzen und ihn zu schlagen, konnte mich aber gerade noch zurückhalten.

„Du bist auch nicht anders als die anderen Männer“, herrschte ich ihn stattdessen an. Georg stand wie ein begossener Pudel im Türrahmen und wusste wahrscheinlich gar nicht, warum er so unvermittelt diese kalte Dusche bekam. Er hatte doch nur auf meine Frage geantwortet und erzählt, wie er seine erste Frau kennengelernt hatte. Mir war selbst nicht klar, warum ich so reagierte, als er mit fröhlichem Unterton antwortete: „Ich bin mit einer Bekannten in Urlaub gefahren und mit einer anderen Frau zurückgekommen.“