Fröhliche Geschichten zum Vorlesen
für Menschen mit Demenz
© 2016 Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de
Lektorat: Eva-Maria Busch
Umschlagmotiv: Getty Images/Kathrin Ziegler
Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger
Satz: Die Feder GmbH, Wetzlar
ISBN 978-3-7655-7407-8
Vorlesen ist nicht nur eine prima Unterhaltung für Menschen mit und ohne Demenz. Gemeinsames Lesen stärkt die Beziehung. Die Zeit zusammen wird sinnvoll erfahren.
Nachfolgend einige Tipps, die sich in der Praxis bewährt haben. Setzen Sie sich dabei nicht unter Druck. Keiner wird alles auf einmal umsetzen können. Probieren Sie zunächst am besten nur einen dieser Ratschläge aus. Erst wenn Sie diesen einen Punkt eingeübt haben, wenden Sie sich dem nächsten Tipp zu. Als zusätzliche Hilfe steht bei den Geschichten in diesem Buch jeweils ein weiterer Tipp, der gleich umgesetzt werden kann.
• Sorgen Sie für eine ruhige Umgebung. Schalten Sie Fernseher und Radio aus. Schließen Sie das Fenster, wenn es draußen laut ist.
• Lesen Sie deutlich vor. Brüllen Sie Ihr Gegenüber nicht an. Versuchen Sie besser, deutlich und langsam zu sprechen. Sprechen Sie eher zu tief als zu hoch. Wiederholen Sie wichtige Worte oder einzelne Sätze.
• Suchen Sie immer wieder Blickkontakt. Es ist wichtig, dabei das richtige Maß zu finden. Wer zu lange fixiert wird, wird nervös. Findet kein Blickkontakt statt, kann das Vorlesen unpersönlich werden.
• Menschen mit Demenz sollten nicht überrumpelt werden. Das überfordert sie. Nähern Sie sich ihnen am besten innerhalb ihres Gesichtsfeldes.
• Kündigen Sie an, was Sie vorhaben: „Ich möchte Ihnen gerne eine Geschichte vorlesen.“ Oder: „Darf ich Ihnen eine Geschichte vorlesen?“
• Feste Rituale geben weitere Sicherheit. So kann es eine Hilfe sein, jeden Abend eine Gutenachtgeschichte vorzulesen.
• Gegenstände mit einem Bezug zur Handlung können bei Ablenkungen helfen, leichter zur Erzählung zurückzufinden. Warum nicht bei der Geschichte „Frieda Klein fällt’s wieder ein“ einen Koffer oder einen Stadtplan von Berlin mitbringen? Wenn der Zuhörer das Bedürfnis hat, über ein anderes Thema zu reden, können Sie ihm entspannt zuhören und auf ihn eingehen. Danach können Sie den mitgebrachten Gegenstand einbeziehen und damit natürlich und einladend zur Geschichte zurückfinden.
• Erinnerungen können durch unterschiedliche Abrufreize gefördert werden. Dies sind Gespräche über früher, Bilder, Musik oder unterschiedliche Gegenstände. Solche Reize können Betroffenen wiederum helfen, sich in einer Geschichte geborgen zu fühlen.
• Beim Vorlesen sind Pausen wichtig. Pausen tun Ihnen gut. So können Sie Veränderungen beim Zuhörer bemerken: Ist er müde, gelangweilt, unruhig, emotional berührt, aufmerksam, zufrieden, dankbar? Aber auch für Ihren Zuhörer sind Pausen hilfreich. Ihr letzter ausgesprochener Satz hängt noch in der Luft, klingt nach – und wirkt nach. Viel stärker, als wenn pausenlos weitergelesen wird.
• Berührungen sind etwas sehr Persönliches. In der Regel schätzen es Zuhörer, wenn man ihnen gelegentlich die Hand hält oder auf eine beiläufige und natürliche Art die Hände auf die Schultern legt. Allerdings ist hier das notwendige Gespür wichtig. Im Zweifelsfall ist es besser, wenn Sie eher zu wenig als zu viel berühren.
• Menschen mit Demenz merken, ob jemand Zeit für sie hat oder nicht. Achten Sie darauf, dass Sie beim Vorlesen nicht unter Zeitdruck stehen. Lesen ohne Zeit ist wie eine Rose ohne Duft.
• Auch Redensarten können Ihrem dementen Zuhörer ein Erfolgserlebnis verschaffen. Sie lesen die ersten Worte vor – Ihr Zuhörer rät das Ende mit. Zum Beispiel: „Wer andern eine Grube gräbt, … (fällt selbst hinein).“ Der Zuhörer blüht auf und merkt: Das kann ich ja noch. Ich weiß noch etwas!
• Ähnlich geht es dem Zuhörer mit Gedichten. Liest man ein Gedicht mit einem Paarreim vor (das Ende einer Zeile reimt sich auf das Ende der nächsten Zeile), legt man vor dem Reimwort eine kleine Pause ein. Ihr Zuhörer rät mit und freut sich über das, was er noch kann.
• Freuen Sie sich auch an kleinen Erfolgserlebnissen. Ein Kind lächelt, bevor es lacht. Umgekehrt verlernt ein Mensch mit Demenz erst das Lachen, dann das Lächeln. Erwarten Sie ab einem gewissen Zeitpunkt also kein schallendes Lachen mehr, wenn Sie fröhliche Geschichten vorlesen. Freuen Sie sich über ein Lächeln.
Tipp: Besorgen Sie den alten Reisepass oder Personalausweis Ihres Zuhörers. Zeigen Sie das Foto. Sprechen Sie über Länder, in die er oder sie schon gereist ist.
Frau Hild ist 85 Jahre alt geworden. Eines Tages stellt sie fest: Ihr Reisepass ist abgelaufen. Da Frau Hild noch einigermaßen rüstig ist, schlurft sie zum Amt. Sie sagt: „Ich brauche einen neuen Pass.“
Darauf erwidert die Dame im Passamt: „Dann lassen Sie ein neues Foto machen. Schauen Sie: Auf dem Bild im alten Pass haben Sie noch schwarze Haare.“
Frau Hild verschränkt ihre Arme: „Stimmt. Jetzt sind die Haare ganz weiß. Und so viele Falten hatte ich früher auch noch nicht. Also, dann gehe ich zum Fotografen.“
Der Fotograf geht mit Frau Hild ins Fotostudio. Dort steht eine Kamera mit einem großen Blitzgerät. Der Fotograf erklärt: „Bitte setzen Sie sich. Jetzt ein wenig zur Seite drehen. Dann in die Kamera lächeln.“
Es blitzt. Der Fotograf schaut das Foto an, schüttelt den Kopf und wendet sich an Frau Hild: „Wenn Sie lachen und dabei die Zähne zeigen, wirkt das verkrampft.“
Frau Hild wiegt ihren Kopf hin und her: „Was kann ich besser machen?“
Der Fotograf erklärt: „Grinsen Sie ganz breit ohne Zähne.“
Frau Hild schaut den Fotografen mit großen Augen an: „Ohne Zähne grinsen. Sind Sie sicher, dass das besser aussieht?“
Der Fotograf nickt: „Bestimmt.“
„Na, wenn Sie meinen.“ Frau Hild zuckt mit den Achseln. Dann öffnet sie ihren Mund. Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand packt sie ihr Gebiss und wackelt daran. Sie nimmt ihre Zahnprothese aus dem Mund und legt sie auf den Tisch. Dann lächelt sie in die Kamera.
Der Fotograf schaut verlegen: „So habe ich das nicht gemeint. Ich wollte nur sagen, dass Sie die Lippen für das Bild geschlossen lassen sollen.“
Frau Hild setzt ihre Zahnprothese wieder ein und nickt: „Ach so. Aber ab einem gewissen Alter kann man das auch falsch verstehen. Wie Sie gesehen haben.“
Frau Hild und der Fotograf lachen über dieses Missverständnis. Und in dem Moment kann der Fotograf ein Bild machen, auf dem Frau Hild richtig entspannt lacht. Dem neuen Reisepass steht damit nichts mehr im Wege.
Na, dann gute Reise, Frau Hild!
Tipp: Machen Sie die Bewegungen immer am Ende eines Absatzes gemeinsam mit.
Marianne Rundmann fährt in den Urlaub. Es scheint ein langer Winter zu werden – jedenfalls dann, wenn man der Wetterregel glaubt:
Fällt im Wald das Laub sehr schnell, ist der Winter bald zur Stell.
Weil die Bäume schon früh kahl geworden sind, reist Marianne einige Tage in ein Wellness-Hotel. Auf der Hinreise schaut sie sich alles genau an. Sie dreht den Kopf weit nach links und wieder nach rechts. So sieht sie die Landschaft genau. Schauen wir auch mal weit nach links und weit nach rechts. Dabei drehen wir den Kopf ganz vorsichtig so weit es geht.
Marianne lächelt: „Im Urlaub will ich verschiedene Sportarten ausüben.“ Zuerst geht sie schwimmen. Dabei zieht sie mit den Armen weite Kreise. Das können wir auch: Wir holen weit aus mit unseren Armen.
Danach muss sie erst einmal tief durchatmen: „Puh, war das anstrengend.“ Am nächsten Morgen will Marianne wandern gehen. Sie bückt sich und schnürt ihre Schuhe. Kommen wir so weit herunter?
Dann marschiert sie los. Links, rechts, links, rechts, links.
Am Abend strahlt sie: „Das hat richtig gutgetan. Die Natur ist so schön.“
Am nächsten Morgen tun ihr alle Glieder weh. Sie stöhnt: „Puuuh! Muskelkater! Tut das weh … überall! Heute mache ich gar nichts. Ich werde mich erholen. Den ganzen Tag.“ Und so streckt sie Arme und Beine weit von sich, atmet tief durch und genießt den Tag. Das können wir auch: Wir atmen tief aus – und wieder ein.
Am nächsten Tag strahlt Marianne: „Und jetzt ist es Zeit zum Fahrradfahren.“ Sie tritt in die Pedale. Bergauf muss sie stärker treten. Und bergab muss sie nicht so schnell treten. Wie schnell können wir treten? Versuchen wir es einmal.
Am letzten Urlaubstag klappt Marianne den Sonnenschirm auf und setzt sich darunter. Sie sagt: „Jetzt habe ich viel Bewegung im Urlaub gehabt. Das hat gutgetan.“
Tipp: Lesen Sie die Geschichte vorher zur Probe, um nicht über unbekannte Dialekte zu stolpern. Vielleicht können Sie noch Wörter aus Ihrem eigenen Dialekt oder aus dem Dialekt des Zuhörers ergänzen.
Heinz ist in einem Hotel im Urlaub. Im Hotel trifft er viele Menschen. Sie sprechen unterschiedliche Dialekte. Heinz gefällt, wenn jeder redet, wie ihm der Schnabel … (gewachsen ist).
Der Gast Herr Schäufele fragt Heinz beim Essen auf Schwäbisch: „Sind Sie au scho in Stueget gwäa?“ Das heißt auf Hochdeutsch: Waren Sie auch schon in Stuttgart? Den Schwaben sagt man ja nach, dass sie sparsam und fleißig sind. Eine schwäbische Redensart lautet: Schaffe, schaffe, Häusle … (baue).
Herr Obermoser aus Bayern wohnt ebenfalls im Hotel. Er verwendet bayerische Wendungen wie: „A so a Schmarrn.“ Das heißt: So ein Schmarren. Und ein Schmarren ist ein Unsinn. Oder er ruft aus: „Da legst di nieda.“ Und auf Hochdeutsch heißt das: Da legst du dich nieder. Wer das sagt, ist erstaunt. Manchmal fragt Herr Obermoser auch: „Host mi?“ Das bedeutet: Verstehst du mich?
Eines Abends unterhält sich Heinz mit Oskar aus Sachsen. Auch sein Dialekt gefällt Heinz. Wenn jemand den Mund weinerlich verzieht, bezeichnet Oskar das als „Flunsch“. Wenn Oskar die Augen meint, sind das die „Glubschn“. Wenn Heinz sein Bier schnell und hastig trinkt, fragt ihn der sächsische Oskar, warum er das so schnell „runterkuttelt“. Und der Weihnachtsstollen heißt in Sachsen „Striezel“. Gar nicht so einfach, stimmt’s?
Ingeborg macht im selben Hotel Urlaub wie Heinz. Sie kommt aus der Pfalz und da reden die Leute noch anders. Einmal sagt Ingeborg: „Der hot Glick im Uglick kat.“ Das bedeutet: Er hatte Glück im Unglück. Ein anderes Mal sagt die Pfälzerin: „Do war ich schun emol.“ Auf Hochdeutsch heißt das: Da war ich schon mal. Lustig klingt auch Ingeborgs Ausspruch: „Ich kennt mich uffreesche iwwer demm sei dumm Gebabbel.“ Also: Ich könnte mich aufregen über sein dummes Gerede.
Ein anderer Urlaubsgast ist Jupp Schmitz aus Köln. Er redet auch einen typischen Dialekt: Kölsch. Zu einem Butterbrot sagt Jupp „Botteramm“. Die Schweinshaxe heißt bei ihm „Hämmche“. Zur Kartoffel sagt der Kölner „Äädappel“. Und wenn jemand Kinder hat, sind das die „Pänz“.
Dialekte sind etwas Schönes. Wenn jemand Dialekt redet, schwingt dabei immer auch Heimat und Geborgenheit mit. Weitere Dialekte sind zum Beispiel Fränkisch, Badisch, Hessisch und Plattdeutsch. Auch in der Schweiz und in Österreich spricht man urige Dialekte.
Tipp: Bringen Sie einen Koffer oder einen Stadtplan von Berlin mit und beziehen Sie sich beim Vorlesen darauf.