Produziert mit Unterstützung der Stadt Wien / MA7
Wissenschafts- und Forschungsförderung

Sperl, Gerfried (Hg.): Flüchtlinge
Essays, Diskurse, Reportagen / Gerfried Sperl
Phoenix, Band 2
Wien: Czernin Verlag, 2016
ISBN: 978-3-7076-0578-5

© 2016 Czernin Verlags GmbH, Wien
Umschlaggestaltung: Sensomatic
Produktion: www.nakadake.at
ISBN E-Book: 978-3-7076-0578-5
ISBN Print: 978-3-7076-0576-1

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe
in Print- oder elektronischen Medien

Inhalt

Editorial

Ilija Trojanow: Migration über den Gartenzaun

Josef Haslinger: Die staatlichen Egoismen

Julya Rabinowich: Männer änderten meinen Blick

Bert Rebhandl: Warum gerade Deutschland?

Krasimir Yankov: Das Sprungbrett ins Herz Europas

Vladimir Vertlib: Was ist los mit Europa?

J. Olaf Kleist: Die Flüchtlinge und das Meer

Hazel Rosenstrauch: Eine Rückkehr als politischer Akt

Manfried Rauchensteiner: Fremd im eigenen Land

Anatol Stefanowitsch: Das »-ling« und andere Sprachprobleme

Wolfgang Weisgram: Die provenzalischen Schwaben

Aloysius Widmann, Markus Hametner, Michael Bauer: Das Geschäft mit der Flucht

Über die Autoren

Editorial

Das Flüchtlingsdrama 2015 hat sich wie nicht einmal die Jugoslawien-Kriege Anfang der 90er Jahren in die europäische Landschaft gegraben. Aus ihm ist eine Krise der Europäischen Union geworden.

Außereuropäische Kriege wie jener in Syrien haben zu Flüchtlingsströmen geführt, deren Wucht fast wöchentlich hunderte Tote fordert.

Innere Spannungen unter Überschriften wie »Überfremdung« oder »Islamisierung« stärken vor allem den rechtsgerichteten Populismus und zeitigen dementsprechende Wahlergebnisse. Figuren wie Viktor Orban in Ungarn haben ihre Kleider gewechselt und steuern autoritäre Machtverhältnisse an.

Politiker/-innen wie Angela Merkel hingegen geraten in eine merkbare politische Isolation, weil sie ihre eigene Vergangenheit (die von Fluchtbewegungen gekennzeichnet war) nicht beiseite schieben und religiös-weltanschauliche Positionen hochhalten. Das tun Figuren wie Horst Seehofer nicht und treiben Deutschland in einen Zustand der Spaltung.

Die Solidarität als einer der höchsten Werte der EU schwindet – besonders erkennbar an der Zustimmung der Mitgliedsstaaten zu Aufnahmequoten, deren Umsetzung dann nicht stattfindet. Vor allem die Oststaaten mit ihren markanten Flucht-Erfahrungen sind nicht bereit, Europa auch zu leben. Sie wollen von den Netto-Staaten abkassieren, ohne Gegenleistungen.

Der Ruf nach einer europäischen Armee spiegelt genau dieses Dilemma: Die Ost-Mitglieder verlangen sie lautstark, weil sie Angst vor Rußland und den Islamisten haben, würden bei ihrer Verwirklichung aber keinen finanziellen Beitrag leisten. Aber man kann und darf nicht mit Spatzen auf Kanonen schießen.

Die Behandlung dieser Aspekte, der eine mehr, der andere weniger, geschieht in diesem Reader der Buchreihe »Phoenix«. Versammelt sind darin neu geschriebene, aber auch aktualisierte, also bereits erschienene Texte. Berücksichtigt werden auch Blicke in die Vergangenheit, weil die heute Lebenden (nicht nur die jüngeren) gerne vergessen, was in der eigenen Familie geschehen ist. Flucht als Schicksal wird gerne ausgeklammert, die »gute alte Zeit« hat gedanklichen Vorrang.

Erstaunlich ist gleichzeitig, wie sich die Menschen trotz hoher Bildungsniveaus instrumentalisieren lassen. Galten Stacheldraht (Eiserner Vorhang) und Mauern (Berliner Mauer) vor wenigen Jahrzehnten noch als Inbegriff der Abschottung von Gewaltherrschaften gegenüber den westlichen Demokratien, stilisiert man sie jetzt zum Schutzmechanismus gegen Menschen aus anderen Kulturen. Die Vertauschung der Argumentation ist offensichtlich.

Dass sich hinter den Dramen und Tragödien eine Zivilgesellschaft formiert hat, die unbeirrt – aber auch durch wachsende Müdigkeit belastet – das tut, was Zäune und Mauern nicht vermögen, ist ein Zeichen der Hoffnung: Helfen, spenden, unterrichten sind drei der herausragenden Tugenden. Die sich freilich schwer tun angesichts von Hetze, Diffamierung und Ent-Solidarisierung in den (angeblich) sozialen Medien.

Gerfried Sperl*

* Dr. phil. Universität Graz. 1982–1987 Chefredakteur der Süd-Ost Tagespost, 1988 Mitglied der Gründungscrew des Standard, 1992–2007 dessen Chefredakteur. 2000–2007 Board-Mitglied der Internationalen Vereinigung der Chefredakteure, Paris. Autor der Bücher Machtwechsel (2000) und Die umgefärbte Republik (2003). 2009–2014 Herausgeber der Vierteljahreszeitschrift Phoenix.

Migration über den Gartenzaun

Die Politik würde eine Art Frühwarnsystem brauchen, um sich auf künftige Flüchtlingsströme vorzubereiten. Es gibt etliche Krisenherde, deren Ausweitung Europas Krise noch verstärken könnte.

von ILIJA TROJANOW

Wer selber mal Flüchtling war, der muss unweigerlich ein Spezialist für »Flucht« sein. Deswegen werde ich seit Wochen und Monaten bei jedem Interview und jeder Moderation auf dieses Thema angesprochen. Es brennt allen Bürgern und Bürgerinnen so sehr unter den Nägeln, dass ich immer wieder eindringlich gefragt werde: »Was denken Sie angesichts dieser Bilder?« Oder alternativ: »Was fühlen Sie angesichts dieser Massen?« Wäre man nicht so schrecklich gut erzogen, infiziert vom Virus des guten bürgerlichen Benehmens, müsste man die Fragenden entweder abwatschen oder grob darauf hinweisen, dass es dem Intellekt eigen ist, sich mit Phänomenen auseinandersetzen zu können, bevor die eigenen Sinne sie unmittelbar wahrnehmen.

Es ist geradezu verwerflich, Migration erst dann zu problematisieren, wenn sie über den eigenen Gartenzaun schwappt. Stattdessen versuche ich mich an einer halbwegs sinnvollen Antwort, die von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Denn das, was zu sagen wäre, mit lauter Stimme, was not täte, wäre ein Hinweis auf die komplexen Zusammenhänge und inneren Widersprüche unseres globalen Systems, die sich seit Jahren und Jahrzehnten zuspitzen. Man müsste einer genauen Weltkenntnis das Wort reden, man müsste das Fähnchen der hintergründigen Erkenntnis hochhalten.

Denn die Berichte über das Voranschreiten der Wüste in der gesamten Sahelzone, über Landgrabbing in vielen Regionen Afrikas, über Waffenlieferungen großen Stils seitens der Rüstungskonzerne in führenden Ländern der NATO und nicht zuletzt die Angriffskriege im Nahen Osten hätten uns schon früh auf die kommenden Fluchtbewegungen hinweisen müssen. Fast die gesamte Region von der Westsahara bis zum Horn von Afrika ist inzwischen ein einziges Bürgerkriegsgebiet. Übrigens haben die Konflikte in Syrien auch einen ökologischen Hintergrund – das Land hat eine schreckliche, fünfjährige Dürre durchlebt. Wir sollten also zum Beispiel darüber reden, was wir gegen den Klimawandel tun müssen, tun im Sinne von handeln, anstatt das dümmliche Mantra zu wiederholen: »Wir können doch nicht alle bei uns aufnehmen.« Das analytische Betrachten der Welt ist eine Art Frühwarnsystem.

Wir könnten damit beginnen, die eigene Politik unter die Lupe zu nehmen. Eine aktuelle Analyse des Instituts für Welternährung zeigt auf, wie die gegenwärtige Entwicklungspolitik der Bundesregierung, schönfärberisch »New Alliance for Food Security and Nutrition« genannt (ein Bündnis der führenden Industriestaaten mit den multinationalen Konzernen der Agrar-, Chemie- und Lebensmittelindustrie, u.a. Cargill, Dupont, Danone, Monsanto, Nestle, Swiss Re, Syngenta, Unilever), die Flüchtlingsströme aus Afrika verstärken wird. Denn der angestrebte Strukturwandel in der dortigen Landwirtschaft – industrielle Massenbewirtschaftung unter der Kontrolle internationaler Konzerne – wird unzählige Kleinbauern ihrer Existenz berauben.

Wie wir schon in Staaten wie Indien erfahren haben, strömt in Folge die Landbevölkerung in die Städte, landet in den Slums und findet kaum ein Auskommen. Sie ist entwurzelt und entrechtet: »überflüssig« aus Sicht der neue Allianzen. Nach Schätzungen des Instituts wird diese von der Bundesregierung unterstützte Politik in den kommenden Jahren mehr als 100 Millionen Kleinbauern in Afrika vertreiben! Würden wir nicht die Flucht, sondern die Fluchtursache bekämpfen, könnten wir die falsche Entwicklungspolitik leicht ändern.

Stattdessen tun Politiker und Kommentatoren so, als seien sie überrascht worden von dem Ansturm der Menschen, die sich vor Klimawandel, Gewalt und sozialer Marginalisierung zu retten versuchen.

Weil wir derart überrumpelt worden sind (was implizit natürlich die Schuld der Flüchtlinge ist), müssen wir diesen unkontrollierten, unregulierten Strom irgendwie in Griff kriegen, ohne »unsere« Menschenrechte völlig aufzugeben (obwohl manche, etwa der brandstiftende Kasperl von »Spiegel Online« namens Jan Fleischhauer oder einige der führenden CSU-Politiker schon Vorschläge in diese Richtung unterbreiten). Also sollen wenigstens die Schlepper militärisch bekämpft werden (das sind angeblich die größten Verbrecher), damit die Flüchtlinge möglichst keine Chance haben, zu uns zu gelangen, damit sie also zu ihrem eigenen Wohl und Gedeih in ihren Heimatländern bleiben und dort verhungern oder verdursten oder erschossen werden. Wie kann es sein, dass kaum jemand darauf hinweist, wie absurd ein Asylrecht bei gleichzeitiger Abschottung ist?

Besonders verblüffend ist in diesem Zusammenhang das Attribut »geldgierig«, das benutzt wird, um die Schlepper zu dämonisieren.

Als übrigens meine Eltern mit mir geflohen sind, hier kommt ausnahmsweise die eigene Lebenserfahrung zum Tragen, hießen die beiden Studenten, die uns den Weg über den Eisernen Vorhang gezeigt haben (gegen Geld!), »Fluchthelfer« und galten, nicht nur in unserer Familie, als Helden. Ist nicht die Geldgier laut neoliberaler Theorie die gesegnete Kraft, die zu gesunder Konkurrenz führt, die wiederum Wohlstand schafft, weil jeder gegen jeden um den besten Platz und das prallste Konto kämpft? Verzeihung, ihr öffentlichen Heuchler, aber ein Geschäftsmann, der in Landgrabbing investiert, oder ein Shell-Manager, der in der Arktis drillen lässt, ist genauso ein Verbrecher wie die Schlepper, die gegenwärtig das Böse schlechthin darstellen. Sie alle akzeptieren für ein wenig Profit das Leiden oder gar Sterben von Menschen und die schweren Schäden an der Gesellschaft. Was ist der moralische Unterschied zwischen dem Inhaber einer Textilfabrik, der den Tod seiner Arbeiterinnen in Kauf nimmt, und einem Schlepper, der den Tod der Flüchtlinge in Kauf nimmt?

Wir erleben dieser Tage und Wochen wie wirr der moralische Kompass ausschlägt, wenn man absehbare Probleme aus ideologischen oder egoistischen Gründen nicht an der Wurzel behandelt. In diesem Wirrwarr haben leider die allerwirrsten Stimmen die besten Chancen gehört werden.

Die staatlichen Egoismen

Unter dem Titel »Mein Traum von Europa« hielt der Schriftsteller im Wiener Burgtheater am 11. Oktober 2015 eine Rede bei einer Flüchtlingsmatinee. Geprägt war sie von der Kritik an den herrschenden Zuständen, aber auch von der Hoffnung auf die »Willensstärke der Völker«.

von JOSEF HASLINGER

Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden. Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit. Durch den Mut von Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker und die Kraft der Ideen der Schlußakte von Helsinki bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit an.«

Was hier so hymnisch klingt, als wäre es eine politische Paraphrasierung von Schillers »Ode an die Freude«, war in der Tat ein Jubelchor. Das war vor genau 25 Jahren. Der Wortlaut ist schriftlich dokumentiert in der Charta von Paris vom November 1990. Unterzeichnet wurde dieses Dokument von den Staats- und Regierungschefs von 35 Staaten, darunter allen europäischen Staaten samt dem damals noch existierenden Jugoslawien, sowie zusätzlich von den Präsidenten der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken sowie der Vereinigten Staaten von Amerika.

Dieses Dokument erklärt nicht nur den Kalten Krieg für beendet, es beinhaltet darüber hinaus ein umfassendes Bekenntnis zu Menschenrechten, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und friedlicher Zusammenarbeit. In dieser Beschwörung eines neuen Zeitalters der Demokratie, des Friedens und der Einheit spiegelt sich der kurze historische Moment der Euphorie nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs. Es schien, als würden wir in ein neues Jahrhundert gehen, mit zehnjähriger Verfrühung, so eilig hatten wir es damals, so müde waren wir der alten Geschichten des 20. Jahrhunderts.

Ein halbes Jahr später begannen, nach der Unabhängigkeitserklärung von Slowenien und Kroatien, die Balkankriege. Es gelang uns, das neue Jahrhundert zu verspielen, noch bevor es begonnen hatte. Und dann folgte ein Krieg nach dem anderen. Wir waren dabei, einmal mehr, einmal weniger, einmal offener, einmal schamhafter, während an den Außengrenzen Europas langsam ein neuer eiserner Vorhang hochgezogen wurde, einer, der nun auch von jenen europäischen Staaten begrüßt wurde, die dem alten Eisernen Vorhang gerade erst entkommen waren. Sie begrüßten ihn, weil er nicht einsperren, sondern nur aussperren sollte.

Seither war die europäische Flüchtlingspolitik gekennzeichnet von nationalen Rangeleien, bei denen die Staaten einander die Flüchtlinge zuzuschieben versuchten. Um Ordnung in diesen Wahnsinn zu bekommen, wurde in Dublin ein Abkommen getroffen, das es erlaubte, sich für unzuständig zu erklären und Flüchtlinge wie Frachtgüter durch Europa zu karren. Die meisten Flüchtlinge endeten dort, wo sie die europäische Grenze überschritten hatten, in völlig überforderten Ländern, in denen Asylsuchende, selbst wenn sie minderjährig waren, eingesperrt wurden.

Die europäische Flüchtlingspolitik war eine Politik der Abschottung, der fehlenden Solidarität und, nach dem Dublin-Abkommen, auch der festzementierten ungerechten Verteilung des Aufwands, der mit der Aufnahme von Flüchtlingen verbunden ist.

Waren die Menschen schließlich in Ländern angekommen, die sie auf Grund der geltenden Verträge nicht mehr loswurden, begannen die Rangeleien auf nationaler Ebene, zwischen den Bundesländern, Bezirken und Gemeinden. Wir haben diesem beschämenden politischen Wettbewerb, aus dem derjenige als Sieger hervorzugehen meint, dem es gelingt, sich am wenigsten an die internationalen Vereinbarungen und menschenrechtlichen Verpflichtungen zu halten, nun jahrzehntelang zugesehen. Auch der Ruf des UNHCR, dass man in den Flüchtlingslagern des Libanon, Jordaniens und der Türkei das Ernährungsprogramm herunterfahren und Zehntausende aus der Versorgung entlassen müsse, verhallte ungehört. Bis sich die Flüchtlinge auf den Weg machten.

Was Europa derzeit zusammenrücken lässt, ist nicht die Not der Flüchtlinge, sondern die eigene Not, damit nicht mehr zurande zu kommen. Die Not der Flüchtlinge hat vor allem zu Abwehrmaßnahmen geführt, so lange und so systematisch, bis es für Flüchtlinge keinen legalen Weg mehr nach Europa gab. Den Bootsflüchtlingen über das Mittelmeer, von denen Tausende ertranken, haben wir keine Alternative geboten, es sei denn im Leben nach nichts mehr zu streben.