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Prof. Dr. Stephan Sallat, Sonder- und Musikpädagoge, lehrt Pädagogik des Spracherwerbs unter besonderen Bedingungen an der Universität Erfurt. Er hält Fortbildungen zur Sprachförderung/-therapie mit Musik und war selbst mehrere Jahre als Musiklehrer an Förderschulen tätig.

Hinweis

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02642-5 (Print)

ISBN 978-3-497-60403-6 (PDF)

ISBN 978-3-497-60453-1 (EPUB)

© 2017 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

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Satz: SatzBild GbR, Ursula Weisgerber

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort

1      Grundlagen

1.1     Musikwirkungsforschung – Suche nach Transfereffekten und Evidenz

1.1.1   Schwierigkeit des Nachweises von Transfereffekten

1.1.2   Transfereffekte und Wirkungen: Hirnanatomische und funktionelle Befunde

1.1.3   Transfereffekte und Wirkungen: Emotion

1.1.4   Transfereffekte und Wirkungen: Kognition

1.1.5   Transfereffekte und Wirkungen: Sprachverarbeitung

1.2     Musiktherapie

1.2.1   Formen des Einsatzes von Musik mit zunehmender Einflussnahme des Therapeuten

1.2.2   Integrative Orientierung in der Musiktherapie

1.2.3   Musiktherapeutische Grundlagen

1.3     Sprache, Sprechen, Spracherwerb und Sprachstörungen

1.3.1   Phänomen, System, Modalität, Fertigkeit und Gebrauch

1.3.2   Bestandteile der Sprache, die linguistischen Sprachebenen

1.3.3   Spracherwerb

1.3.4   Systematik von Sprach- und Kommunikationsstörungen

1.4     Kommunikation

1.4.1   Kommunikationsformen und -modelle

1.4.2   Elemente und Dimensionen von Kommunikation

1.4.3   Gestörte Kommunikation

1.5     Vergleich von Sprache und Musik

1.5.1   Struktur

1.5.2   Sozialisation und Evolution

1.5.3   Entwicklungs- und Lernmechanismen

1.5.4   Melodie und Singen

1.5.5   Rhythmus

1.5.6   Wahrnehmung von Klang und Invarianz

1.5.7   Neurokognitive Verarbeitung

1.5.8   Kommunikation mit Sprache und Musik

1.5.9   Emotionen in Sprache und Musik

2      Störungsspezifisches Arbeiten in der Musiktherapie

2.1     Sprachentwicklungsstörungen

2.1.1   Phonetisch-phonologische Störungen (Aussprache)

2.1.2   Semantisch-lexikalische Störungen (Wortschatz)

2.1.3   Morphologisch-syntaktische Störungen (Grammatik)

2.1.4   Pragmatisch-kommunikative Störungen (Sprachgebrauch)

2.1.5   Erkenntnisse aus Musikpsychologie und Musiktherapie

2.1.6   Musiktherapeutische Möglichkeiten

2.2     Redeflussstörungen – Stottern

2.2.1   Klassifikation

2.2.2   Prävalenz und Ätiologie

2.2.3   Symptomatik

2.2.4   Sprachtherapeutische Intervention

2.2.5   Erkenntnisse aus Musikpsychologie und Musiktherapie

2.2.6   Musiktherapeutische Möglichkeiten

2.3     Autismus-Spektrum-Störungen

2.3.1   Klassifikation

2.3.2   Prävalenz und Ätiologie

2.3.3   Symptomatik

2.3.4   Sprachtherapeutische Intervention

2.3.5   Erkenntnisse aus Musikpsychologie und Musiktherapie

2.3.6   Musiktherapeutische Möglichkeiten

2.4     Psychogene Sprachstörungen – Mutismus

2.4.1   Klassifikation

2.4.2   Prävalenz und Ätiologie

2.4.3   Symptomatik

2.4.4   Sprachtherapeutische Intervention

2.4.5   Erkenntnisse aus Musikpsychologie und Musiktherapie

2.4.6   Musiktherapeutische Möglichkeiten

2.5     Neurologisch bedingte Sprachstörungen – Aphasie, Dysarthrie, Sprechapraxie

2.5.1   Klassifikation

2.5.2   Prävalenz und Ätiologie

2.5.3   Symptomatik

2.5.4   Sprachtherapeutische Intervention

2.5.5   Erkenntnisse aus Musikpsychologie und Musiktherapie

2.5.6   Musiktherapeutische Möglichkeiten

2.6     Hörstörungen

2.6.1   Klassifikation

2.6.2   Prävalenz und Ätiologie

2.6.3   Symptomatik

2.6.4   Sprachtherapeutische Intervention

2.6.5   Erkenntnisse aus Musikpsychologie und Musiktherapie

2.6.6   Musiktherapeutische Möglichkeiten

2.7     Exkurs: Musikalische Sprachförderung bei Mehrsprachigkeit

3      Bausteine und Anregungen für die musiktherapeutische Praxis

3.1     Handlungsleitende Reflexionen

3.1.1   Musiktherapie kann die Sprachtherapie nicht ersetzen

3.1.2   Musik hilft nicht von allein – Plädoyer für einen zielgerichteten Einsatz

3.1.3   Hilft Musik allen gleich?

3.2     Übungen

3.2.1   Elemente der rhythmisch-musikalischen Förderung

3.2.2   Kommunikation

3.2.3   Artikulation, Mundmotorik

3.2.4   Wortschatz

3.2.5   Wahrnehmung

3.2.6   Emotion

3.2.7   Soziabilität

3.2.8   Motorik

3.2.9   Kognition / Gedächtnis / Konzentration

3.2.10 Improvisation

3.2.11 Psychotherapeutische Techniken und ihre musiktherapeutische Umsetzung

Literatur

Anhang

Klassifikationskategorien für Sprach- und Sprechstörungen nach ICD-10197

Literaturtipps

Sachregister

Vorwort

Musik spielt im Leben vieler Menschen, auch in meinem eigenen, eine wichtige Rolle – mit dem Hören von Musik oder dem eigenen Musizieren sind viele positive, aber auch negative, Erinnerungen und Erlebnisse verbunden. Wenn wir allein oder in Gruppen singen, tanzen, musizieren oder Musik hören, werden Körper- und Wahrnehmungsfunktionen, Erinnerungen, Gefühle, Emotionen sowie die neurokognitive Verarbeitung auf ganz unterschiedliche Weise aktiviert. Diese Effekte machen sich Musiktherapie und rhythmisch-musikalische Förderangebote zunutze.

Auf der einen Seite haben die Disziplinen Musikpsychologie, MusikMedizin, Musikpädagogik und Musiktherapie in den letzten Jahren viele Belege für den engen Zusammenhang zwischen Sprache und Musik sowie für Transfereffekte auf die Sprachverarbeitung und beteiligte Prozesse aufzeigen können. Zudem ist Musik ein nichtsprachlicher Code, der andere Ausdrucks- und Kommunikationserfahrungen ermöglicht. Dialogische Erfahrungen in der Musik bieten durch die Verbindung mit auditiver, motorischer, emotionaler Aktivität und Empfindung Möglichkeiten, die über Ansätze der Sprach- und Kommunikationstherapie hinausgehen können.

Auf der anderen Seite ist mir als Experte für Sprachstörungen durch meine eigene intensive Beschäftigung mit Musik als Kunst, als Lern- und Entwicklungsaufgabe sowie als Therapieform bewusst geworden, dass Musik von vielen Fachleuten häufig sehr unreflektiert und zum Teil mit falschen Zielannahmen eingesetzt wird. Es besteht die Gefahr, der Musik aufgrund der gefundenen Transfereffekte und der eigenen musikalischen Biographie ein zu großes Potential beizumessen. Übersehen wird, dass die Studien mit gesunden Personen durchgeführt wurden – meist ein Vergleich von musikalischen Laien mit Profimusikern. Beide trennen viele tausend Stunden aktives Musizieren, verbunden mit der multisensorialen Integration von auditiven, motorischen, sozial-emotionalen und haptischen Informationen im Gehirn. Hinzu kommt, dass die Sprach- und Musikverarbeitung bei Menschen mit Sprach- und Kommunikationsstörungen je nach Störungsspezifik anders abläuft als bei Menschen mit typisch entwickelten Fähigkeiten. Damit können die Transfereffekte nicht einfach übertragen bzw. erwartet werden.

Das Buch setzt genau an dieser Stelle an. In der Verknüpfung des Wissens aus der Sprachtherapie mit den Erkenntnissen aus der Musikforschung sollen Wege für einen reflektierten Einsatz von Musik in der Sprach- und Kommunikationstherapie aufgezeigt werden. Je nach Störung muss und kann die Musik unterschiedliche Aufgaben übernehmen. Im Buch wird versucht, sowohl Musikexperten als auch Sprachexperten jeweils das grundlegende Wissen der anderen Bereiche für ein besseres Verständnis und für eine interdisziplinäre Interventionsplanung zu vermitteln. Musikexperten finden Informationen zu Sprachentwicklung / Sprachverarbeitung, zur Systematik / Symptomatik von Sprachstörungen sowie zu sprachtherapeutischen Vorgehensweisen. Sprachexperten erhalten Informationen zu musiktherapeutischen Prinzipien und Arbeitsweisen sowie zu den Besonderheiten der Musikverarbeitung bei bestimmten Störungsphänomenen.

Ich hoffe, dass das Buch mit dieser Verknüpfung eine gute Grundlage für den zielgerichteten, wissenschaftlich begründeten Einsatz von Musik in der Therapie von Sprach- und Kommunikationsstörungen bietet. Ebenso soll es einen verbesserten Austausch zwischen den Fachdisziplinen mit einer Abstimmung der sprach- und musiktherapeutischen Maßnahmen ermöglichen.

Erfurt, im Januar 2017

Stephan Sallat

1 Grundlagen

1.1 Musikwirkungsforschung – Suche nach Transfereffekten und Evidenz

Schon vor mehr als 3000 Jahren wurden in religiösen und philosophischen Schriften Transfereffekte beschrieben. Im Alten Testament, im 1. Buch Samuel (ca. 1050 vor Chr.), wird eine kathartische Wirkung von Musik im Harfenspiel von David beschrieben, welche König Saul von dessen Depressionen heilte. Das Hören des Harfenspiels „reinigte“ Sauls Geist (kathartische Wirkung – Befreiung von psychischen / seelischen Konflikten durch eine emotionale Handlung) und die Depression verschwand. Auch die griechischen Philosophen der Antike glaubten an die positiven Wirkungen der Musik und sahen in ihr ein Abbild kosmischer Ordnung. In der Katharsislehre von Aristoteles (384–324 vor Chr.) besaß Musik daher eine ordnende und harmonisierende Kraft, welche die Gefühle („affektuos“) beeinflussen kann. Diese philosophischen Sichtweisen wurden Anfang des 20. Jahrhunderts von den Begründern der Rhythmik wieder aufgegriffen, um den Menschen in der Zeit der Industrialisierung und Urbanisierung durch Musik und Bewegung zu einem neuen Freiheitsgefühl und einem besseren Leben zu verhelfen.

Wirkungen und Transfereffekte von Musik haben in den vergangenen Jahren in den Gebieten Musiktherapie, Musikpädagogik, Musikpsychologie / Psychologie und MusikMedizin zu einer Vielzahl an Veröffentlichungen geführt (Bernatzky / Kreutz 2015; Jäncke 2009; Koelsch 2012; Patel 2008; Spitzer 2002). Transfereffekte der Beschäftigung mit Musik finden sich dabei für allgemeine Entwicklungsbereiche und die Sprachverarbeitung. Diese Befunde sollen in der Folge als Grundlage für dieses Buch näher dargestellt werden. Es gibt jedoch immer wieder eine große Diskrepanz in der individuellen Wahrnehmung von Wirkungen und Transfer bei Musikpädagogen und Musiktherapeuten im Vergleich zu den tatsächlichen wissenschaftlich belastbaren Befunden. Daher erfolgt zunächst eine kritische Betrachtung des Themenfeldes mit der Benennung von möglichen Studienfehlern, Interpretationsfehlern und weiteren Einflussfaktoren.

1.1.1   Schwierigkeit des Nachweises von Transfereffekten

Im Rahmen der Konferenz Neuroscience and Music 2006 in Leipzig kam es zu einer Diskussion zwischen Musiktherapeuten und Neurokognitionsforschern. Die Musiktherapeuten waren sich sicher, dass die Musik zu Veränderungen bei den Klienten geführt hat, für die Wissenschaftler waren diese Veränderungen jedoch aufgrund verschiedener methodischer Mängel und hier vor allem aufgrund nicht kontrollierter Einflussfaktoren und fragwürdiger Messinstrumente nicht zweifelsfrei nachweisbar.

Diskussionen zu Transfereffekten werden im medizinisch-therapeutischen Bereich unter dem Stichwort Evidenzbasierung geführt. Für die Musiktherapie geht es dabei zusätzlich um die Anerkennung der Musiktherapie als medizinisch-therapeutische Leistung, die über die Krankenkasse abgerechnet werden kann. In der Wissenschaft bezeichnet Evidenz den zweifelsfreien Nachweis von Transfereffekten oder Wirkungen (Fachner 2005; Kiese-Himmel 2012; Plahl 2005). In einer Studie muss also gezeigt werden können, dass der therapeutische Erfolg unabhängig vom persönlichen Einfluss des Therapeuten oder der Intensität der Zuwendung, allein durch die Musik erreicht wurde. In der Musiktherapie wird, ebenso wie in der Rhythmik und Musikpädagogik, nicht nur musikalisch, sondern auch motorisch, sprachlich, visuell, verhaltens- oder psychotherapeutisch sowie pädagogisch gearbeitet. Somit können Effekte auch aus außermusikalischen Bereichen resultieren. Zusätzlich hat die Art der Musik (aktiv, passiv, singen, tanzen, trommeln, improvisiert, vorgegeben …) sowie die Methode und Vorgehensweise einen Einfluss auf die Ergebnisse (Kopiez 2008; Sallat 2014). Daher ist es sehr schwer, die Wirkungen der Musik zweifelsfrei nachzuweisen. In der Folge werden einige mögliche Fehler und Einflussfaktoren diskutiert, die aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.

Für eine umfangreiche Diskussion siehe Bortz / Döring (2006), Spychiger (2001), Kopiez (2008), Gembris et al. (2001), Kiese-Himmel (2012).

Fehler und Einflussfaktoren

Musik ist nicht gleich Musik: Je nachdem, ob wir tanzen, singen, ein Instrument spielen oder eine Geschichte szenisch und klanglich darstellen, sind andere Fähigkeiten und Verarbeitungsleistungen notwendig. Dadurch sind z. B. motorische und auditive Verarbeitungsleistungen in unterschiedlichem Ausmaß involviert. Beim Tanzen werden vorrangig die Beine bewegt, beim Geigespielen die Finger und beim Singen die innere und äußere Kehlkopfmuskulatur. Die akustische Analyse beim Tanzen bezieht sich vor allem auf den Rhythmus, während beim Singen und Geigespielen zusätzlich sehr stark auf die Intonation und Melodie geachtet werden muss. Zusätzlich erfolgt ein visueller Abgleich der Noten in der Partitur mit dem Klangeindruck und damit eine weitere kognitive Verarbeitung. Daher sollten in Abhängigkeit von Musik und musikalischer Tätigkeit jeweils andere Effekte einer musikalischen Intervention erwartet werden. Wird die Art der eingesetzten Musik und der musikalischen Tätigkeiten nicht genau beschrieben und kontrolliert, dann können Effekte nicht eindeutig belegt werden. Die häufig für Rhythmik und Musiktherapie als Grundprinzip propagierte Verbindung von Musik, Sprache und Bewegung stellt hierbei eine besondere Herausforderung dar.

Typische Entwicklung vs. gestörte oder verzögerte Entwicklung: Von Effekten bei Kindern und Erwachsenen mit einer unauffälligen Entwicklung kann nicht auf vergleichbare Transfereffekte bei Menschen mit Behinderungen oder Entwicklungsstörungen geschlossen werden, da bei ihnen kognitive, motorische und wahrnehmungsbezogene Verarbeitungsprozesse anders ablaufen.

Weitere Einflussfaktoren sind die Größe der Stichprobe sowie die Information zur Intervention und den Studienzielen gegenüber den Betroffenen und ihren Familien, die Zusammensetzung der Kontrollgruppe, die randomisierte (zufällige) Zuweisung zu den Gruppen, die Minimierung von Versuchsleitereffekten sowie der Einsatz vergleichbarer Diagnostik und Messverfahren (standardisiert, valide, reliabel). So können Effekte einer musikalischen Förderung oder Intervention nur nachgewiesen werden, wenn die Gruppen in Bezug auf bestimmte Eigenschaften (Alter, Kognition, Entwicklung) vergleichbar sind und wenn sich die Förderung zwischen den Gruppen nur im Faktor Musik (mit vs. ohne) unterscheidet. Die Zuweisung zu den Gruppen muss zufällig erfolgen. Des Weiteren sollte den Studien im Idealfall ein doppelt geblindetes Studiendesign zugrunde liegen. Dabei werden die Therapie und die Diagnostik nicht von der gleichen Person durchgeführt und beide Fachleute wissen nicht, welche Personen zur Untersuchungsgruppe und welche zu Kontrollgruppe gehören. Die in den Studien verwendeten Diagnostik- oder Messverfahren sollten standardisiert, valide und reliabel sein, damit eine zweifelsfreie Beurteilung der ausgewählten Fähigkeitsbereiche möglich ist.

Was unterscheidet den musikalischen Laien vom Profimusiker?

In musikpsychologischen Studien werden häufig Verarbeitungsleistungen von musikalischen Laien mit denen von Profimusikern verglichen. Diese Personengruppen unterscheiden sich sehr deutlich in der Kontaktzeit zur Musik. Damit können funktionelle und hirnorganische Unterschiede zwischen diesen Gruppen auf die Beschäftigung mit Musik zurückgeführt werden (Münte et al. 2002; Schlaug 2015). Daraus eine direkte Konsequenz für musiktherapeutische Intervention abzuleiten, ist jedoch nicht ohne Weiteres möglich. Wenn ein Mensch seit seinem fünften Lebensjahr ein Instrument spielt und in den ersten Jahren fünf Stunden pro Woche und ab dem Musikstudium vier Stunden am Tag Musik macht, dann hat er mit 30 Jahren über 20.000 Stunden an seinem Instrument verbracht. In dieser Zeit hat er nicht nur gespielt (Motorik), sondern gleichzeitig gehört (auditive Wahrnehmung) und visuell auf dem Notenblatt die Musik verfolgt (Lesen). Diese Leistungen (und es sind noch mehr als Motorik, auditive und visuelle Wahrnehmung eingebunden) hat er immer gemeinsam analysiert und integriert verarbeitet. Auch musste er sich dabei konzentrieren und aufmerksam sein sowie Motivation und Durchhaltevermögen zeigen. Zusätzlich verbindet der Profimusiker unzählige Erinnerungen (Auftritte, Lieblingsstücke, musiktheoretisches und musikgeschichtliches Wissen) sowie Emotionen mit der Musik. Es wird also deutlich, dass nicht nur die Kontaktzeit mit der Musik das Unterscheidungsmerkmal zwischen musikalischen Laien und Profis ist. Folglich sind von einer Intervention im Umfang von 20–30 Sitzungen keine Wunder zu erwarten.

1.1.2   Transfereffekte und Wirkungen: Hirnanatomische und funktionelle Befunde

Wie in Kapitel 1.1.1 beschrieben, verlangt die Beschäftigung mit Musik die integrierte Verarbeitung von motorischen, sensorischen und kognitiven Prozessen (Schlaug 2015). Als Folge von musikalischen Trainings- und Lernprozessen zeigen sich im Vergleich von Profimusikern und musikalischen Laien sowohl hirnanatomische als auch funktionelle Unterschiede (Gaser / Schlaug 2003; Jentschke / Koelsch 2006; Münte et al. 2002). So konnten Gaser / Schlaug (2003) bei Musikern eine Vergrößerung der für die motorische und auditorische Verarbeitung zuständigen Gehirnareale nachweisen. Ebenso waren Areale vergrößert, die der Integration von Informationen aus verschiedenen Sinnesbereichen dienen (z. B. Areale für visuell-räumliche Verarbeitung).

In der Studie von Sluming et al. (2002) fanden sich bei männlichen Orchestermusikern im Vergleich zu männlichen Nichtmusikern anatomische Unterschiede im Broca-Areal. Weitere Studien belegen unterschiedliche neuronale Aktivierungsmuster zwischen diesen Gruppen, zum Beispiel für die Rhythmusverarbeitung (Herdener et al. 2014), die Tonhöhenverarbeitung (Habibi et al. 2013) sowie für das Arbeitsgedächtnis für Töne und Sprache (Schulze et al. 2011). Diese geänderten vernetzten Aktivierungsmuster scheinen sich durch ein gezieltes Training auch bei Laien bereits nach wenigen Wochen etablieren zu lassen. Bangert und Altenmüller (2003) trainierten erwachsene musikalische Laien am Klavier. Als Trainingseffekt zeigte sich infolge der Sitzungen eine stärkere Aktivierung und Vernetzung von Arealen, die der Integration auditorischer und motorischer Informationen dienen. Diese Aktivierungen waren bereits nach fünf Wochen Training stabil und konnten auch nach einigen Wochen Ruhephase nachgewiesen werden. Bereits wenige Minuten Klaviertraining reichen demzufolge aus, um ähnliche funktionelle Kopplungen (Kohärenz) beteiligter Hirnareale zu erzeugen (Bangert et al. 2001). Bei Schulkindern zeigen sich die Aktivierungsmuster in Abhängigkeit von der Art des musikalischen Lernens bzw. Trainings: Eine Gruppe von Kindern mit traditionellem, verbalem Musikunterricht wies eine Mehraktivierung linkshemisphärischer Stirnhirn- und Schläfenregionen auf. Bei der Gruppe mit Schwerpunkt Improvisation zeigte sich eine Mehraktivierung des rechtsseitigen Stirnhirns und beidseitiger Scheitelregionen (Altenmüller et al. 2000; Gruhn 2005). In der linken Hemisphäre wird eine strukturell-analytische Verarbeitung von Musik geleistet (Altenmüller 2002) (vergleichbar zur Sprachstrukturverarbeitung: Grammatik / Syntax) und durch den traditionell verbalen Musikunterricht gefördert, währenddessen in der rechten Hemisphäre Musik ganzheitlich verarbeitet wird (Altenmüller 2002), was durch den Schwerpunkt Improvisation besonders angesprochen wurde.

1.1.3   Transfereffekte und Wirkungen: Emotion

„Music cannot communicate human emotions directly in a semantic system, unless it is connected to emotional experiences, through associative learning following the principles of classical conditioning“ (Thaut / Wheeler 2011, 837).

Wahrnehmungen und Wirkungen von Emotionen in der Musik werden von der aktuellen Stimmungslage, den Persönlichkeitsmerkmalen und Vorlieben des Hörenden ebenso beeinflusst wie von der Art der Aktivität beim Musikhören / Musizieren, den unterschiedlichen Anforderungen der Musik (z. B. Komplexität), individuell-lebenszeitlichen sowie historisch-kulturellen Schwankungen (Hunter / Schellenberg 2010). Das Hören von angenehmer und unangenehmer Musik aktiviert über das limbische System spezifische Areale im Gehirn, die in Abhängigkeit von der Konstitution sowie von Erfahrungen, Prägungen und Lernprozessen zur Verstärkung / Belohnung oder Hemmungen sowie zu körperlichen Reaktionen (z. B. Herzschlagrate, „Gänsehaut“, Muskeltonus, Erregung, Beruhigung) und Gefühlsregungen (z. B. Angst, Trauer, Freude) führen (Hunter / Schellenberg 2010; Juslin / Västfjäll 2008; Peretz 2011). Da Emotionen einen starken Einfluss auf kognitive Leistungen und Lernprozesse haben, sind die im Kapitel 1.1.4 geschilderten Transfereffekte im kognitiven Bereich immer auch durch die mit dem Musikhören verbundenen Emotionen erklärbar (Jäncke 2009; Kreuz 2008). Bestimmte Reizreaktionen (z. B. Erschrecken, Zucken bei lauter Musik) scheinen biologisch vorbereitet zu sein und sind daher elementare Reaktionen. Der größte Teil der Reaktionen, auch das Empfinden von Konsonanz und Dissonanz, scheint dagegen eher auf Erfahrungen und Lernprozessen zu beruhen. Altenmüller et al. vermuten aufgrund von Befunden einer EEG-Studie, dass als angenehm empfundene Musik (positiv valent) eher linkshemisphärisch und als unangenehm empfundene Musik (negativ valent) eher rechtshemisphärisch verarbeitet wird (Altenmüller et al. 2002; Peretz 2011).

Die Zusammenhänge, Wirkungen und Transfereffekte zwischen Musik und Emotion sind eine der Grundlagen musiktherapeutischen Arbeitens (Thaut / Wheeler 2011). So wird die musikalische Affektebene, die in Kompositionen durch ein unterschiedliches Maß an Spannung (tension) und Energie (energy) gekennzeichnet ist (resultierend aus Harmonie, Klangfarbe, Rhythmus, Tempo, Melodie, Lautstärke, Taktart etc.) mit der persönlichen Interpretationsebene zusammengebracht (Zentner / Eerola 2011). Juslin et al. (2008) konnten die Interpretationsaspekte (Merkmale) von Emotionen in der Musik dem Affektmodell von Russell (1980) zuordnen, das durch die Ausprägung von Valenz (positiv / negativ) und dem Grad an körperlicher Aktivierung (z. B. Trauer ist nach innen gekehrt, Wut richtet sich nach außen) gekennzeichnet ist (Abb. 1, Posner et al. 2005). Für weitere Informationen zu Emotionsreaktionen und dem Chill-Erleben musikalischer Affekte siehe Kapitel 1.5.9.

Eine Aufstellung von musikalischen Parametern und dazugehörigen Emotionen findet sich im Abschnitt zu musiktherapeutischen Bausteinen (Kap 3).

1.1.4   Transfereffekte und Wirkungen: Kognition

Viele populäre Studien zu Wirkungen von Musik auf die Intelligenz, z. B. durch verstärkten Musikunterricht oder durch den „Mozarteffekt“, also das Hören von Klaviersonaten W. A. Mozarts, haben die Öffentlichkeit erreicht und werden politisch genutzt, um den Nutzen künstlerischer Fächer zu untermauern. Ihre Schlussfolgerungen sind bei genauer Analyse und objektiver Betrachtung der Ergebnisse jedoch nicht haltbar (Bruhn 2001; Chabris 1999; Spychiger 2001). Es zeigen sich Probleme der Validität, Präsentation und Interpretation, welche eine Verallgemeinerung der Resultate nicht zulassen. Im Falle des „Mozarteffektes“ konnte gezeigt werden, dass die kurzfristig verbesserten Intelligenzleistungen nicht auf Mozart beruhen, sondern darauf, dass das Hören jeglicher (Lieblings-) Musik zu einer positiven Stimmung und neuronalen Aktivierung führt, die sich positiv auf die kognitiven Leistungen auswirken kann. Eine solche Aktivierung kann aber auch ohne Musik, z. B. durch Lob und Zuwendung, erreicht werden (Altenmüller 2006; Jäncke 2009; Schumacher 2006).

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Abb. 1: Musikalische Interpretationsmerkmale zum Ausdruck verschiedener Emotionen (modifiziert nach Kreuz 2008, 560)

Auch wenn es, wie oben beschrieben, den Mozarteffekt nicht gibt, zeigten sich in einigen Studien infolge einer intensiven Beschäftigung mit Musik bessere kognitive Verarbeitungsleistungen. Zum einen ist hier die bessere vernetzte, multimodale neuronale Verarbeitung zu nennen. So sind beim Hören von Musik größere Hirnregionen vernetzt aktiv: Die motorischen Areale für die Finger sind bei einem Pianisten, der Klaviermusik hört, ebenso aktiviert, wie Regionen, die für Emotion, Interpretation oder den Abruf musikhistorischen Wissens zuständig sind. Möglicherweise sind auch Erinnerungen mit dem Ort verknüpft, an dem der Pianist das Stück das erste Mal gehört, gespielt oder konzertant vorgetragen hat. Es zeigen sich des Weiteren sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern bessere Leistungen des Arbeitsgedächtnisses, z. B. das Erinnern und Wiederholen von Wortfolgen (Ho et al. 2003; Chan et al. 1998). Schellenberg (2004) konnte darüber hinaus zeigen, dass sich bei Kindern, die über 36 Wochen hinweg an einer musikalischen Förderung teilnahmen, ein höherer IQ zeigte. Dieser war in der Gesangsgruppe wiederum höher als in der Klaviergruppe. Die Generalisierbarkeit der Studie ist aufgrund von Problemen mit der Kontrollgruppe jedoch eingeschränkt (Jaschke et al. 2013).

Weitere Transferbefunde gibt es im Bereich des Mathematiklernens. Doch auch hier sind die Ergebnisse uneinheitlich. So fanden die Gruppen um Rickard und Courey bei Schulkindern positive Transfereffekte auf mathematische Fähigkeiten (Courey et al. 2012; Rickard et al. 2012). Im Gegensatz dazu zeigten sich in der Langzeitstudie von Costa-Giomi (2004) nach drei Jahren Klavierunterricht bei Kindern zwischen acht und zwölf Jahren sogar negative Effekte auf die Mathematikleistungen. Es finden sich aber auch Transfereffekte / Korrelationen zwischen Verarbeitungsgeschwindigkeiten und musikalischen Fähigkeiten bei Kindern (Gruhn et al. 2003).

1.1.5   Transfereffekte und Wirkungen: Sprachverarbeitung

Transfereffekte von Musik auf den sprachlichen Bereich zeigen sich im Bereich des Arbeitsgedächtnisses, der Grammatik, der Prosodie, der phonologischen Bewusstheit sowie der schriftsprachlichen Fähigkeiten. Wie bereits in der Darstellung zur Kognition erwähnt zeigen sich in Folge der Beschäftigung mit Musik sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern bessere sprachliche Arbeitsgedächtnisleistungen (Ho et al. 2003; Chan et al. 1998). Des Weiteren reagiert das Gehirn von Profimusikern und Kindern mit musikalischem Training bei einer sprachlichen Syntaxverletzung (grammatisch falscher Satz) mit einer stärkeren Negativierung der Hirnströme (Jentschke / Koelsch 2009; Koelsch et al. 2002b). Weitere positive Einflüsse der Beschäftigung mit Musik konnten bei der Prosodieverarbeitung (Konturverläufe, Erkennen von Emotionen) nachgewiesen werden (Moreno et al. 2009; Thompson et al. 2004) sowie beim Erkennen von Phrasengrenzen in Sprache und Musik (Magne et al. 2006; Schön et al. 2004).

In einem engen Zusammenhang stehen Fähigkeiten zur phonologischen Bewusstheit und schriftsprachliche Fähigkeiten (Steinbrink / Lachmann 2014). Für beide konnten Zusammenhänge mit Musik aufgezeigt werden. In Folge eines Musikprogramms verbesserte sich die phonologische Bewusstheit bei Kindern, ebenso konnten Zusammenhänge mit Lesefähigkeiten aufzeigt werden (Degé / Schwarzer 2011; Gromko 2005; Tsang / Conrad 2011). Über die Transfereffekte im Bereich der Rehabilitation von Klienten mit Aphasie (Melodic Intonation Therapy – MIT) (Norton et al. 2009; Schlaug 2015) wird im zweiten Teil des Buches berichtet.

Die Verbesserung im sprachlichen Bereich scheint aber von der Art der musikalischen Förderung abhängig zu sein. So fanden Thompson et al. (2004) bei sechsjährigen Kindern nach einem Jahr Training die Fähigkeit zur Einschätzung der Emotion eines Satzes (fröhlich, traurig etc.) nur bei Kindern mit Instrumental- oder Schauspielunterricht verbessert, nicht aber bei jenen, die Gesangsunterricht erhalten hatten.

Shahin (2011) vermutet, dass die Transfereffekte darauf beruhen, das bei der Beschäftigung mit Musik die gleichen Hirnstrukturen und hierarchischen Netzwerke, die auch der auditiven Verarbeitung Sprache zugrunde liegen, aktiv sind. Ähnlich argumentieren Wan / Schlaug (2010) in Bezug auf die Neuroplastizität. Durch ein langjähriges musikalisches Training zeigt sich eine crossmodale Plastizität von Hirnregionen, die für die integrierte Verarbeitung zuständig sind. Dadurch kommt es auch zu besseren Leistungen in außermusikalischen Bereichen.

1.2 Musiktherapie

„Musiktherapie ist die gezielte Verwendung des Mediums Musik oder seiner Elemente zu therapeutischen Zwecken. Sie ist immer in eine bewusst gestaltete therapeutische Beziehung eingebunden und verwendet sprachliche und nichtsprachliche Kommunikation sowie psychologische Mittel und Techniken“ (Oberegelsbach 2012, 18).

Musik spricht uns nicht nur über die auditive Wahrnehmung an, sondern sie beeinflusst unsere physischen, psychischen und emotionalen Zustände. Ebenfalls sind mit dem Hören von Musik und dem eigenen Musizieren Erinnerungen an und Erfahrungen mit Personen, Situationen und Orten verbunden. Dadurch werden Menschen über unterschiedliche Kanäle angesprochen und berührt. Der Umgang mit Musik ist demzufolge ein zentrales Wahrnehmungs-, Begegnungs-, Erlebnis- und Gestaltungsfeld, in dem Veränderung, Reifung und Wachstum ermöglicht werden sollen (Kasseler Konferenz musiktherapeutischer Vereinigungen in Deutschland 2004: Spezifische Merkmale).

Die Zugänge zum therapeutischen Einsatz von Musik sind sehr vielfältig (Abb. 2). So gibt es in der Musiktherapie tiefenpsychologische, verhaltenstherapeutisch-lerntheoretische, systemische, anthroposophische und ganzheitlichhumanistische Ansätze mit unterschiedlichen Bezügen zu Menschenbild, Medizin, Psychologie, Philosophie und Humanismus, aus denen unterschiedliche Vorgehensweisen und Methoden erwachsen (Bruhn 2000; Decker-Voigt 2001a).

Daher gibt es innerhalb der musiktherapeutischen Berufsgruppen intensive Diskussionen zum Selbstverständnis (Bruhn 2000; Decker-Voigt 2001b; Decker-Voigt et al. 2012; Kraus 2002). In den meisten Richtungen wird Musik als Psychotherapie in der Abgrenzung zu pharmakologischer und physikalischer Therapie verstanden. Dafür werden psychotherapeutische Techniken auf die musiktherapeutische Praxis übertragen und die meisten Musiktherapieschulen (tiefenpsychologisch orientierte, psychoanalytische, morphologische, gestalttherapeutische) arbeiten dafür nach der Freudschen Grundformel: erinnern – wiederholen – durcharbeiten. Musiktherapie wird in diesem Verständnis überall dort eingesetzt, „wo psychotherapeutische Behandlung bzw. psychohygienische Begleitung krankheits-, behinderungs-, störungs- oder krisenbedingter seelisch-geistiger Zustände und Prozesse am wirkungsvollsten unter dem Einbezug des Mediums Musik geschehen kann“ (Timmermann / Oberegelsbacher 2012, 21). Es gibt aber ebenso den Einsatz von Musik und Musiktherapie als entwicklungs- und persönlichkeitsfördernde Methode (z. B. in Heil- und Sonderpädagogik und in der Neurorehabilitation) sowie Psycho- und Kunsttherapien, die Musik vorübergehend und fallbezogen einbeziehen und Maßnahmen, die der MusikMedizin zuzuordnen sind (Bruhn 2000).

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Abb. 2: Hintergründe von Musiktherapie-Richtungen (Decker-Voigt 2001a, 20)

Des Weiteren sind die Einsatzbereiche und Tätigkeitsfelder von Musiktherapeuten sehr unterschiedlich. So sind sie im kurativen, rehabilitativen und präventiven Bereich tätig und arbeiten institutionell eingebunden oder selbständig in Einrichtungen des Gesundheits-, Sozial-, Bildungs- und Beratungswesens. Die Arbeitsweise kann übungszentriert / funktional, erlebniszentriert / kreativ oder konfliktzentriert-aufdeckend sein. Die Musiktherapie findet in Einzel- und Gruppentherapien statt, ggf. auch unter Einbezug des sozialen Umfeldes (Kasseler Konferenz musiktherapeutischer Vereinigungen in Deutschland 2004: Berufsbild).

In einer groben Einteilung kann Musiktherapie in rezeptive Musiktherapie (therapeutisches Arbeiten mit dem vorbereiteten Hören gezielt herausgesuchter Musik) und in aktive Musiktherapie (therapeutisches Arbeiten durch gemeinsames Spielen von Instrumenten und / oder Einsatz der Stimme) unterschieden werden. Durch den gezielten Einsatz der Musik sollen bei den Klienten neue Erfahrungs- und Verhaltensweisen / -möglichkeiten durch Probehandeln aufgebaut werden, die dann in das Alltagshandeln der Personen übertragen werden können. Als Hauptziele von Musiktherapie benennt Oberegelsbacher (2012, 19):

images Anbahnung von Kommunikation und Beziehung

images Öffnung von psychovegetativen Kommunikationskanälen

images Offenlegung und Veränderung sozialer Interaktionsmuster

images Nachreifung krankheitswertiger früher Defizite

images Probehandeln im Dienste von Problemlösung

Vor allem das Verständnis des therapeutischen Einsatzes von Musik im heil- und sonderpädagogischen Kontext führt zu einigen Problemen für die Definition und das Verständnis von Musiktherapie als psychotherapeutische Maßnahme. So wurden verschiedene Begriffe und Richtungen im Spannungsfeld von Heil-, Sonder- und Musikpädagogik postuliert, z. B. heilpädagogische Musiktherapie (Goll 1993), pädagogische Musiktherapie (Günther 1992; Kemmelmeyer / Probst 1981), Musiksonderpädagogik (Lumer-Henneböle 1993), musiktherapeutische Methoden in der Pädagogik (Hortien 2005) und Musiktherapie in schulischen Praxisfeldern (Huser-Schwarz et al. 2014).

Für Tischler (Tischler 1983; Tischler / Moroder-Tischler 1998) sind die Unterschiede zwischen Musikpädagogik, Musik in der Sonderpädagogik und Musiktherapie in der Zielgerichtetheit des Einsatzes von Musik auf eine Störungsspezifik hin zu sehen. Bereits in der Musikpädagogik werden psychoprophylaktische, psychohygienische und gesundheitsrelevante Ziele verfolgt, z. B. im Gruppenmusizieren, beim gemeinsamen Singen oder durch stimmbildnerische Übungen. Je stärker der Einsatz von Musik auf spezifische Förder- und Therapieziele bei einer Störung bezogen wird, desto stärker verändern sich die musikpädagogischen und musiktherapeutischen Anteile (Abb. 3). In diesem Sinne ist Musiktherapie nicht in einer Abgrenzung zur Pädagogik zu verstehen, sondern über die Zielorientierung der therapeutischen Intervention, also nach dem Zentrum des therapeutischen Arbeitsschwerpunktes (Bruhn 2000, 4).

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Abb. 3: Musik im Schnittfeld von Pädagogik, Sonderpädagogik und Therapie (Tischler 1983, 93)

1.2.1   Formen des Einsatzes von Musik mit zunehmender Einflussnahme des Therapeuten

Wurde eben die Berücksichtigung des Störungsbildes als wesentliche Grundlage von Musiktherapie herausgearbeitet, so ist die Einflussnahme des Therapeuten auf die Art der Musik und den Austausch mit dem Klienten ein weiteres Unterscheidungsmerkmal bei musikalischen Interventionen im medizinisch-therapeutischen Kontext. Der rezeptiven und aktiven Musiktherapie, bei der es zu einem intensiven musikalischen und verbalen Austausch zwischen dem Musiktherapeuten und dem Klienten kommt, stehen sich mit der MusikMedizin und der funktionellen Musik zwei Ansätze gegenüber, bei denen ein direkter reflexiver Austausch über und durch die Musik nicht in gleichem Maße vorgesehen ist.

MusikMedizin

MusikMedizin ist der funktional-therapeutische Einsatz von Musik in der Schulmedizin (präventiv, therapeutisch, rehabilitativ) ohne einen Austausch über die Musik zwischen Patient / Klient und Arzt / Therapeut. Durch das Hören von Musik können in Anästhesie und Schmerztherapie (z. B. durch das Abspielen von Musik im Aufwachraum oder im OP) Narkose- und Schmerzmittel reduziert und Angstzustände verringert werden. In der Rehabilitation nach Schlaganfällen kann Musik den Klienten aktivieren und seinen Antrieb fördern. Dadurch machen z. B. physiotherapeutische Übungen mehr Spaß oder haben ein höheres Anregungspotential. Auch in der Geburtshilfe (im Kreißsaal) wird Musik im Sinne der MusikMedizin eingesetzt um die Atmosphäre zu verbessern oder die werdende Mutter zu entspannen.

Wirkungen des Hörens von Musik in der Medizin:
(Spintge 2001; Trappe / Breker 2014)

images angst- und schmerzlindernde sowie muskelentspannende Wirkung

images Senkung des Stresshormonspiegels / Sauerstoffverbrauchs

images Harmonisierung des Atemrhythmus

images Regulierung von Stoffwechsel, Herzfrequenz und Blutdruck

images Reduzierung von Schmerzempfindungen und Angst

images Aktivierung, Antriebsförderung

Funktionelle Musik

Funktionelle Musik ist keine selbständige Therapie, sondern der gezielte Einsatz von Musik zur Unterstützung oder Ergänzung von verbalen und physikalischen Therapien (Nöcker-Ribaupierre 2002). Die Musik wird durch den Therapeuten / Arzt zielgerichtet ausgewählt, eventuell auch in Absprache mit dem Klienten. Es erfolgt allerdings kein reflexiver Umgang oder eine gemeinsame Auswertung mit dem Klienten. Zum Beispiel kann man Meditationsmusik hören, Entspannungsübungen mit Musik durchführen oder Gruppenerfahrungen durch gemeinsames Trommeln, Singen oder Tanzen ermöglichen. Anwendung findet diese Form häufig in der Psychosomatik, der Rehabilitation (z. B. bei Herz-Kreislauf-Patienten), der Langzeitpsychiatrie, der Geriatrie sowie bei Stimm- und Sprachstörungen (Rhythmustherapien), bei aggressiven und hyperaktiven Jugendlichen (Trommeltherapien) und in der heilpädagogischen Betreuung geistig behinderter Menschen. Während des gemeinsamen Umgangs mit Musik können Gefühle, Wünsche, Ängste, Sorgen etc. des Klienten zu Tage treten, die in der Folge in Gesprächen oder weiteren Musiksessions aufgearbeitet werden müssen. In diesem Fall würde es zu einem Wechsel von funktionaler Musik hin zu Musiktherapie kommen, in diesem Fall dann muss der Therapeut über entsprechende Qualifikationen verfügen.

Rezeptive Musiktherapie

Bei der rezeptiven Musiktherapie geht es um das Hören von Musik und die Aufnahme von Schwingungen und Emotionen. Auf der Grundlage gesprächspsychotherapeutisch orientierter Verfahren arbeitet der Therapeut meist problemzentriert und versucht, die emotionale Befindlichkeit des Klienten zu erkunden und innere / verborgene Konflikte herauszuarbeiten (Nöcker-Ribaupierre 2002; Timmermann 2012c). Die Musik wird durch den Therapeuten gezielt ausgewählt, um physische und / oder psychische Prozesse in Gang zu setzen. Sie wird von ihm gesungen, gespielt oder abgespielt. Man geht davon aus, dass anhand dieses Settings subjektiv bedeutsame Erinnerungen und Assoziationen wachgerufen werden können. Es folgt ein Gespräch über die Gefühlszustände und Wirkungen. Anwendung findet die rezeptive Musiktherapie beispielsweise bei Herz-, Kreislauf- oder Magenbeschwerden ohne organische Ursache (Psychosomatik), in der Suchttherapie, bei Wachkomapatienten und in der Sterbebegleitung (Frohne-Hagemann 2004, 2009; Timmermann 2002).

BEISPIELE FÜR REZEPTIVE MUSIKTHERAPIE  

Regulative Musiktherapie (Schwabe), Guided Imagery and Music (Bony), Musiktherapeutische Tiefenentspannung (Decker-Voigt)

Aktive Musiktherapie

Unter dem Sammelbegriff aktive Musiktherapie werden alle Arten der Musiktherapie verstanden, bei denen der Klient aktiv am Instrument oder mit der eigenen Stimme beteiligt ist (Eschen 2009). Dies geschieht vorrangig durch gemeinsames Improvisieren (frei, strukturiert; Kap 3.2.10) mit dem Musiktherapeuten. In der gemeinsamen Interaktion mit verschiedenen Instrumenten und / oder körpereigenen Instrumenten sowie der Stimme, werden Gefühle und Gedanken auf nonverbaler Ebene vermittelt, erlebt und für das eigene Selbst neu entdeckt. Der Therapeut bekommt über die Improvisation und die Analyse des Klientenverhaltens einen Zugang zu den Bedürfnissen, Ressourcen und Problematiken des Klienten. Wesentlich ist auch hier, dass nach Möglichkeit im Anschluss über das Erlebte gesprochen wird (Timmermann 2002, 2012b).

 BEISPIELE FÜR AKTIVE MUSIKTHERAPIE  

Orff-Musiktherapie (Orff), Anthroposophische Musiktherapie (Steiner), Schöpferische Musiktherapie nach Nordoff/Robbins (Komponist/Pianist Nordoff & Sonderpädagoge Robbins), Psychoanalytische Musiktherapie (M. Priestley), Morphologische Musiktherapie (Grootaers, Tüpker, Weber, Weymann)

1.2.2   Integrative Orientierung in der Musiktherapie

Die bisher vorgestellte Einteilung von Musiktherapie wird dem tatsächlichen Handeln der Musiktherapeuten nicht gerecht. Die Unterscheidung der Musiktherapie in rezeptiv / aktiv oder in spezifische Musiktherapieschulen oder die ausschließliche Verwendung einer bestimmten Art von Musik oder bestimmter Instrumente ist wenig zielführend, da in der tatsächlichen Arbeit mono-methodische Herangehensweisen den Bedürfnissen der betroffenen Personen in der Regel nicht gerecht werden (Frohne-Hagemann 2001; Müller / Petzold 1997). Zusätzlich besteht die Gefahr, dass ein einseitig vertretenes und zugrunde gelegtes Menschenbild oder Therapieverständnis zu Fehlinterpretationen bezüglich der Symptomatik führt. Dies verlangt auch einen kritisch-reflexiven Umgang mit den eigenen musikalischen Präferenzen und möglichen Grenzen (persönlich, methodisch, theoretisch).

Demzufolge wird für die Musiktherapie zunehmend ein mehrperspektivisches theoretisches und praktisches Vorgehen gefordert. Dabei sollten die Bedürfnisse und Indikationen des Klienten schulenübergreifend und theorieübergeifend analysiert und in interdisziplinärer Kooperation besprochen werden. In der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Interpretationsfolien für die Pathogenese spezifischer Krankheitsbilder können dann die Therapieziele und Methoden festgelegt werden. Auch für die Sprachtherapie werden solche interdisziplinären Herangehensweisen gefordert (Sallat / Siegmüller 2016), die beispielsweise durch den Fokus der Musiktherapie eine Erweiterung finden können.

Vorschläge für eine integrative Orientierung wurden von Petzold (1993) gemacht und von Frohne-Hagemann (2001) ergänzt. Sie ordnen die Grundorientierungen musiktherapeutischer Verfahren und Methoden in:

images Tiefenpsychologisch-fundierte Therapien: Analytische Musiktherapie, Morphologische Musiktherapie, Integrative Musiktherapie, Guided Imagery and Music (GIM), Regulative Musiktherapie, Aktive Gruppenmusiktherapie nach Schwabe, Sozialmusiktherapie nach Schwabe

images Verhaltenstheoretisch fundierte (behaviorale) Therapieformen: Nordoff / Robbins-Musiktherapie, Regulative Musiktherapie, Sozialmusiktherapie, Aktive Gruppenmusiktherapie, Entwicklungsorientierte Musiktherapie nach Orff, MusikMedizinische Therapie

images Phänomenologisch-hermeneutisch fundierte Therapieverfahren: Integrative und konzentrative Bewegungstherapie, Integrative Musiktherapie, Gestalt-Musiktherapie, Morphologische Musiktherapie, Regulative Musiktherapie, GIM, Aktive Gruppenmusiktherapie, Sozialmusiktherapie, Nordoff / Rob-bins-Musiktherapie

images Systemisch fundierte Therapien: Systemische Musiktherapie, Integrative Musiktherapie, Aktive Gruppenmusiktherapie, Sozialmusiktherapie

images Integrative, Mehr-Ebenen-Konzepte: Integrative Musiktherapie, Analytische Musiktherapie, Sozialmusiktherapie

images Klinisch-entwicklungspsychologische Konzepte: Integrative Musiktherapie, Beziehungs- und entwicklungsorientierte Musiktherapie, Entwicklungsorientierte Musiktherapie nach Orff

images (Heil-)pädagogische Konzepte: Entwicklungsorientierte Musiktherapie nach Orff, Sozialmusiktherapie

images Künstlerische Konzepte: Nordoff / Robbins-Musiktherapie, Musiktherapie nach Hegi, Anthroposophische Musiktherapie

images Spirituelle und / oder esoterische Konzepte: Anthroposophische Musiktherapie, Altorientalische Musiktherapie

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Abb. 4: Musiktherapien vor dem Hintergrund von Methoden, Verfahren und Grundorientierungen (Frohne-Hagemann 2001, 173)

Unter diesen Grundorientierungen finden sich Verfahren und Methoden mit gemeinsamen Leitkonzepten oder vergleichbaren Handlungsheuristiken. In dieses Raster lassen sich aber ebenso die nichtmusikalischen Psychotherapien einordnen. Damit werden Überschneidungsbereiche und Anknüpfungspunkte deutlich. Einige der musiktherapeutischen Verfahren sind mehrfach zuordenbar.

In der Abbildung 4 sind beispielhaft die Überschneidungen bei unterschiedlichen musiktherapeutischen Sichtweisen und Methoden in den Orientierungen Psychoanalyse, Verhaltenstherapie und humanistische Therapie grafisch dargestellt.

1.2.3   Musiktherapeutische Grundlagen

Musiktherapeutische Improvisation

„Die Improvisation als ein zentraler Bestandteil aktiver Musiktherapie-Formen stellt einen symbolischen Raum dar, der die Handlungs- und Ausdruckstendenzen, Affekte, Interaktionsmodi auf eine andere Weise als das System der Sprache aufnehmen kann“ (Weymann 2001, 81).

Bezugnehmend auf psychoanalytische Vorgehensweisen spricht man in diesem Zusammenhang von einem musikalischen Handlungsdialog (Jochims 2005a). Die Methode der Improvisation hat ihren Ursprung im anthroposophischen Musizieren und in der Musikpädagogik. Man unterscheidet zwischen freier und strukturierter Improvisation. Die biologischen, psychischen und sozialen Krisen und Probleme einer Person drücken sich in ihrer musikalischen Äußerung in der Improvisation aus (z. B. Wahl der Instrumente, gespielter Rhythmus, Metrum, gespielte Melodien, Lautstärke, Länge, Akzentuierung etc.). Ein geschulter Musiktherapeut versucht, diese Hinweise zu erkennen und sie durch die Variation von Freiheit und Struktur sowie von Reaktion und Interaktion (Partner, Gruppenspiel) musikalisch sowie durch Mimik, Gestik und Körperkommunikation aktiv zu bearbeiten. Wichtig ist aber ebenso die ergänzende Bearbeitung in Gesprächen.

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Strukturierte Improvisation: Vorgabe musikalischer Themen / Melodien / Rhythmen, Rollenspiele, Regeln, Beschränkung der Instrumente

Freie Improvisation: im Hier und Jetzt ohne Vorgaben, freies Spiel

Das Anwendungs- und Wirkungsspektrum von musikalischen Improvisationen ist sehr vielfältig. Je nach therapeutischer Notwendigkeit werden sie berücksichtigt und können einzeln oder gleichzeitig stattfinden, einander ergänzen oder ineinander übergehen.

Der Therapeut verfügt für die Improvisation über unterschiedliche Arbeitstechniken, um auf die musikalischen Äußerungen des Klienten zu reagieren. In der musikalischen Interaktion bekommt er auf diese Weise Einblicke in psychische Vorgänge des Klienten und kann diese im Handlungsdialog bearbeiten (Bruhn 2000, 56 ff.):

images Imitating: Der Therapeut versucht, den Gefühlsinhalt der Improvisation nachzuahmen und möglichst genau zu treffen.

images Synchronising: Der Therapeut spielt gleichzeitig mit dem Klienten.

images Incorporation: Der Therapeut übernimmt ein Spielmotiv des Klienten und entwickelt es weiter.

images Placing: Der Therapeut versucht, sich dem Klienten in der Spielart anzupassen (wörtlich: Schritt halten).

images Reflecting: Der Therapeut spiegelt dem Klienten wider, wie er dessen Stimmung wahrnimmt.

images Clarifying: In der Improvisation vermittelte Informationen werden verbal überprüft.

images Confronting: Der Klient wird auf Diskrepanzen zwischen musikalischem Spiel und verbaler Aussage aufmerksam gemacht.

images Connecting: Zwischen der Improvisation und realen Lebensereignissen werden verbal Beziehungen hergestellt.

images Summarising: Die Erlebnisse einer Therapiesitzung werden rekapituliert.

Eine andere Beschreibung von Vorgehensweisen wählt Hochreutener für die Darstellung der musiktherapeutischen Improvisation mit Kindern (Lutz Hochreutener 2009Für-SpielVor-SpielEinzel- oder SolospielZweierspiel / PartnerspielGruppenspiel / Gruppenimprovisation