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Achim Votsmeier-Röhr, Psychologischer Psychotherapeut (Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Verhaltenstherapie) in eigener Praxis, Zusatzausbildung in Gestalttherapie (DVG) und Schematherapie (ISST), ist Dozent u. a. an der Süddeutschen Akademie für Psychotherapie, Bad Grönenbach, und an der Sigmund Freud Privatuniversität, Wien.

Rosemarie Wulf arbeitet als Gestalttherapeutin (DVG) in eigener Praxis in Berlin und als Ausbilderin am Gestaltinstitut Hamburg (GIH).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02686-9 (Print)

ISBN 978-3-497-60400-5 (PDF)

ISBN 978-3-497-60456-2 (EPUB)

© 2017 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

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Printed in Germany

Reihenkonzeption Umschlag: Oliver Linke, Hohenschäftlarn

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Satz: FELSBERG Satz & Layout, Göttingen

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

1

Einführung

2

Geschichte

2.1 Zeit- und ideengeschichtlicher Kontext

2.1.1 Gestaltpsychologie und Ganzheitsidee

2.1.2 Phänomenologie

2.1.3 Existenzphilosophie

2.1.4 Psychoanalyse

2.1.5 Schöpferische Indifferenz

2.2 Biografischer Hintergrund

2.2.1 Fritz und Laura Perls

2.2.2 Paul Goodman

3

Theorie

3.1 Die Grundlagen der Gestalttherapie

3.1.1 Erkenntnistheoretische Grundannahmen

3.1.2 Feldorientierung: Alles ist verbunden und in Wechselwirkung

3.1.3 Existentiell-phänomenologische Orientierung: Subjektives Erleben im Fokus

3.1.4 Dialogische Orientierung: Heilung aus der Begegnung

3.2 Die Person in kreativer Anpassung

3.2.1 Die Person existiert in einem Organismus-Umweltfeld

3.2.2 Die Person verwirklicht ihre Identität als Ganzheit

3.2.3 Die Person entfaltet sich in interpersonellen Beziehungen

3.2.4 Das vollständige Kontakt-Zyklus-Modell

3.3 Dysfunktionale Anpassungen

3.3.1 Allgemeine Störungslehre

3.3.2 Störungen des Kontakt-Zyklus

3.3.3 Spezielle Störungslehre

4

Der therapeutische Prozess

4.1 Behandlungsziele und Veränderungsstrategien

4.1.1 Leitideen gestalttherapeutischen Handelns

4.1.2 Behandlungsansätze im Vorkontakt

4.1.3 Behandlungsansätze im Vollkontakt

4.1.4 Behandlungsansätze im Nachkontakt

4.2 Die therapeutische Beziehung

4.2.1 Die dialogische Therapiebeziehung als wesentliche Stütze der Therapie

4.2.2 Merkmale einer dialogischen Beziehung

4.2.3 Störungen der therapeutischen Beziehung beheben

4.3 Therapeutische Interventionen

4.3.1 Phänomenologisches Explorieren / Basistechnik

4.3.2 Experimentelle Aufgaben

4.3.3 Übungen und Hausaufgaben

5

Evaluation

5.1 Die Entwicklung der empirischen Psychotherapieforschung

5.2 Forschung zur Wirksamkeit der Gestalttherapie

6

Zusammenfassung

Literatur

Sachregister

Personenregister

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Die Gestalttherapie ist eines der klassischen humanistischen Psychotherapieverfahren. Der Begriff „Gestalt“ ist an die Gestaltpsychologie angelehnt und bedeutet Ganzheit und steht für den Prozess, wie sich ganzheitliches Erleben und Verhalten organisiert. Wenn wir Organismen, (Öko-)Systeme, Paarbeziehungen oder Familien oder auch Subsysteme wie die Persönlichkeit eines Menschen als Gestalten betrachten, verstehen Gestalttherapeuten sie als „von innen her bestimmt“, als sich selbst organisierend, indem alle Teile des Ganzen miteinander vernetzt sind. Diese Konfiguration bestimmt, wie das Ganze als Einheit in Erscheinung tritt und sich verwirklicht. Alles, was in Erscheinung tritt, Figur wird, ist also immer in einen Hintergrund, einen Kontext, eingebettet. Figur und Hintergrund werden als Aspekte eines Feldes verstanden, in dem wechselseitige Beziehungen zwischen allen Aspekten des Feldes bestehen und aufeinander einwirken.

Um es einfacher zu sagen: Kein Mensch existiert isoliert für sich, sondern ist immer in einem Feld vernetzt mit anderen Menschen und Umständen seiner Lebensumwelt. Kein innerer Zustand wie z. B. eine Emotion existiert isoliert für sich, sondern immer in einem Feld vernetzt mit anderen inneren Reaktionen wie Gedanken, inneren Bildern und Körperempfindungen sowie mit den Prozessen des äußeren Feldes. Die Art und Weise, wie ein Mensch diese Zusammenhänge und wechselseitigen Prozesse organisiert, ist einzigartig und macht ihn unverwechselbar.

Wie ein Mensch seine psychische Aktivität, seine Wahrnehmung, sein Fühlen und Denken, die körperlichen Empfindungen und seine Beziehungen mit seinem Umfeld, insbesondere mit seinen Mitmenschen organisiert, kann sich in der Art und Weise, wie er im Leben zurechtkommt, mehr oder weniger adaptiv oder maladaptiv gestalten. Das Menschenbild der Gestalttherapie sieht den Menschen als nach kreativer Anpassung strebend, nach Verwirklichung seiner Fähigkeiten und Potentiale, nach Wachstum. Problematische Ereignisse in der Lebensgeschichte, die nicht optimal verarbeitet werden konnten, resultieren allerdings in einer maladaptiven Organisation der Erfahrungen und kommen in psychischem und körperlichem Leid, als Störungen, Symptome und Krankheiten zum Ausdruck.

Um einen Menschen in dieser Notsituation angemessen zu behandeln, sind Gestalttherapeuten davon überzeugt, dass dies ganzheitlich geschehen sollte, um dem Klienten in seiner einzigartigen Situation gerecht zu werden und alle oben genannten Aspekte zu berücksichtigen.

Dieser ganzheitliche Ansatz fächert sich in der Gestalttherapie auf in ihre Feld-Orientierung, die alle relevanten Wechselwirkungen im Leben und Umfeld des Klienten berücksichtigt, in ihre existentiell-phänomenologische Orientierung, die das einzigartige subjektive Erleben des Klienten berücksichtigt, und in ihre dialogische Orientierung, die diese Aspekte in der therapeutischen Beziehung berücksichtigt.

Heutzutage ein Buch zu schreiben, das die Gestalttherapie angemessen und einheitlich darstellt, ist keine geringe Herausforderung. Wie in jeder Therapieschule gibt es unterschiedliche Positionen, Strömungen und Perspektiven, die mehr oder weniger miteinander vereinbar sind. Unser Anliegen ist es nicht, all diese Positionen in diesem Buch abzubilden. Wir werden zwar den Mainstream wiedergeben, aber durch eigene Akzentuierungen anreichern an Punkten, an denen wir der Meinung sind, dass hier aufgrund von einem allgemeinen Erkenntniszuwachs im Feld der Psychotherapie oder neuen, zeitgemäßen Anforderungen an die Psychotherapie eine Weiterentwicklung der Gestalttherapie erforderlich ist. Dabei muss sorgfältig geprüft werden, welche Elemente aus dem Umfeld der Gestalttherapie in diese assimilierbar sind, d. h. kompatibel mit ihrer feldtheoretischen, phänomenologischen und dialogischen Grundorientierung. Die von uns vorgenommenen Akzentuierungen sollen an dieser Stelle kurz skizziert werden:

An den Beginn der Beschreibung der Grundlagen der Gestalttherapie stellen wir Aussagen zu den erkenntnistheoretischen Grundannahmen der Gestalttherapie. Die Darstellung der Prämissen, die dem Erkennen und Handeln zugrunde liegen und unser Erkennen und Handeln im Hintergrund leiten, wird bei diesem und anderen Therapieverfahren viel zu selten vorgenommen. Insbesondere das Verständnis von objektiver Realität und subjektiver Wirklichkeit ist für die Psychotherapie höchst relevant. Unklarheit über die zugrundeliegenden Vorannahmen führt zu Widersprüchen, wenn beispielsweise therapeutische Techniken nicht mit den Grundannahmen eines Verfahrens übereinstimmen.

Ein Aspekt der Feldorientierung in der Gestalttherapie ist die Frage, wie sich Wahrnehmungen bilden, was überhaupt wahrgenommen wird. Neben den bewusstseinsnahen Bedürfnissen und Wünschen sind es implizite organisierende Hintergrundprozesse, die unsere Erwartungen an die Umwelt und damit unsere Wahrnehmung und unser Handeln bestimmen. Um diese Art von Bereitschaften begrifflich zu fassen, verwenden wir in diesem Buch das allgemein-psychologische Schema-Konzept, da es in der Psychologie sehr gut erforscht und kompatibel mit der Gestalttherapie ist. Schemata sind ganzheitlich, haben Gestaltqualität, d. h. sie organisieren unser Wahrnehmen, körperliches Erleben, Fühlen, Denken, Handeln und unsere Beziehungsgestaltung. In ihren maladaptiven Formen entsprechen Schemata fixierten Hintergrundprozessen. Näheres wird in Kapitel 3.1.2 erläutert.

In den letzten Jahrzehnten haben sich Vertreter einer dialogischen Gestalttherapie intensiv mit ähnlichen Entwicklungen im psychotherapeutischen Umfeld auseinandergesetzt, besonders mit Forschungen zur Intersubjektivität in der modernen Entwicklungspsychologie und Säuglingsforschung sowie in der Psychoanalyse. Durch ihre intersubjektive Wende ist die Psychoanalyse der dialogischen Gestalttherapie näher gerückt, hat aber auch neue Erkenntnisse gewonnen, die unser eigenes Verständnis sowohl einer Ich-Du-Beziehung, als auch unser Verständnis von Störungen in Beziehungen bereichern. Dies gilt gerade auch für die therapeutische Beziehung und dem Verständnis davon, was zu Störungen der therapeutischen Beziehung führt und was zu deren Wiederherstellung nötig ist. Dies explizieren wir an entsprechenden Stellen im Buch.

Die Art und Weise, wie eine Person sich in dem Feld, in das sie eingebettet ist, dem sogenannten Organismus-Umweltfeld, selbst reguliert, wird in der Gestalttherapie als ein Prozess der kreativen Anpassung verstanden. In einem Kontaktzyklus-Modell, das eine Vorkontakt-, eine Vollkontakt- und eine Nachkontakt-Phase unterscheidet, werden die Abläufe detailliert beschrieben, ebenso wie die Störungen und Unterbrechungen des Zyklus, die zu chronischen Mangelzuständen führen. In seiner klassischen Form liegen dem Kontaktzyklus-Modell einfache kybernetische Gedanken zugrunde, wie ein Organismus mit Mangelzuständen umgeht und eine physiologische Homöostase aufrechterhält. Das Bemühen, dieses physiologische Modell auch auf andere, höhere Funktionen der Regulierung von Emotionen, Kognitionen und von interpersonellen Prozessen zu übertragen, hat deutlich gemacht, dass es in seiner Einfachheit nicht ausreicht, all diese komplexen Regulationsprozesse zu erklären. Insbesondere Störungen, die auf eingeschränkten Funktionen der Selbststützung beruhen, die auch als strukturelle Störungen bekannt sind, lassen sich in diesem Modell nicht befriedigend darstellen. Auch beinhaltet das einfache Kontaktzyklus-Modell eine Logik von Subjekt-Objekt-Relationen, die der intersubjektiven Verfasstheit des Menschen in Subjekt-Subjekt-Relationen nicht gerecht wird. Wir verwenden in diesem Buch daher das Konzept eines erweiterten Kontaktzyklus, das auch diese komplexeren Aspekte umfasst.

Das erweiterte Kontaktzyklus-Modell ist Grundlage des gestalttherapeutischen Störungsverständnisses, das wir gegenüber der kreativen Anpassung als dysfunktionale Anpassung konzipieren. Aufgrund der Tatsache, dass in der Literatur zur klinischen Gestalttherapie meist sehr heterogene Erklärungsmuster für psychische Störungen vorliegen, ist es in diesem Buch unser Anliegen, ein einheitliches Erklärungsmuster anzubieten, das auch Nicht-Gestalttherapeuten eine klare Orientierung über das gestalttherapeutische Störungsverständnis ermöglicht. Alle beispielhaft vorgestellten Störungsbilder werden in folgender Weise konzipiert:

images das unbefriedigte ursprüngliche Bedürfnis;

images die Kontaktunterbrechung aufgrund der Frustration oder Erschütterung;

images die unerledigte Gestalt, repräsentiert in einem dysfunktionalen Schema;

images die fixierte Anpassung als Bewältigungsversuch und Blockierung;

images die Symptome als Ausdruck der fixierten Anpassung oder deren Dekompensation.

Ausführlich wird auf Defizite der Stützfunktionen eingegangen, die bei strukturellen Störungen, wie Borderline-Störungen, somatoformen Störungen etc. vorliegen.

In der Beschreibung des therapeutischen Prozesses folgen wir der Logik des Kontaktzyklus-Modells und ordnen die verschiedenen Behandlungsansätze der Vorkontakt-, Vollkontakt- oder Nachkontakt-Phase zu. Dies ist nicht statisch zu verstehen, sondern als Orientierungshilfe gedacht. „Bewusstheit und Einsicht fördern“ ist beispielsweise nicht auf die Vorkontakt-Phase beschränkt, sondern durchzieht alle Kontaktphasen. An manchen Stellen wird die Verbesserung von Stützfunktionen betont: Kontakt ist nur so gut wie die Stützung, die für diesen Kontakt fortlaufend vorhanden ist – wobei damit Selbstunterstützung und äußere Unterstützung gemeint ist. Störungen der organismischen Stützfunktionen beeinträchtigen guten Kontakt und gute Beziehungsgestaltung. Dies ist bei strukturellen Störungen besonders augenfällig. Die therapeutische Verbesserung von Stützfunktionen erfordert auch stützende, übende und psychoedukative Vorgehensweisen, die in der klassischen Gestalttherapie nicht beschrieben werden. Die Darstellung der dialogischen Therapiebeziehung wird durch intersubjektive Aspekte angereichert.

Die Evaluation des gestalttherapeutischen Ansatzes ist von besonderer und brisanter Bedeutung, da sich die Gestalttherapie in Deutschland zum Zeitpunkt der Erstellung des Buchmanuskripts in einem Prozess der Anerkennung durch den wissenschaftlichen Beirat für Psychotherapie befindet und diese Anerkennung zur Ausübung von Psychotherapie im krankenkassengestützten Gesundheitssystem berechtigt. Auf die politischen Implikationen dieses Anerkennungsprozesses soll hier nicht eingegangen werden. Allerdings möchten wir zur Bedeutung der Studien des Psychotherapieforschers Leslie Greenberg und seiner Forschungsgruppe einige Anmerkungen machen. Seit der Jahrestagung der Society for Psychotherapy Research im Jahre 2000 sind die Autoren persönlich mit Leslie Greenberg bekannt. In vielen Gesprächen hat er immer wieder betont, dass er sich mit der klientenzentrierten Therapie wie mit der Gestalttherapie gleichermaßen identifiziert. In seinen Forschungsbemühungen sieht er sich als hybrid, als Zwitter, der beide Ansätze beforscht und sie in ihrer Wirksamkeit bestätigt hat. Es ist also abwegig, wenn von klientenzentrierten Interessensvertretern diese Studien ausschließlich für sich reklamiert werden.

Gegen Ende der Erstellung des Buchmanuskripts haben wir eine Skala von Madeleine Fogarty zur Verfügung gestellt bekommen, die aus einer Konsensus-Studie unter Experten darüber entstanden ist, was Gestalttherapie ist und was nicht. Wir kommentieren diese Skala im letzten Kapitel dieses Buches als Zusammenfassung und nochmaligen Überblick über die Schlüsselkonzepte der Gestalttherapie und deren Operationalisierung in beobachtbares Therapeutenverhalten.

Manch gestalttherapeutischer Leser mag in diesem Buch die gestalttherapeutische „Theorie des Selbst“ aus dem Ursprungstext von Perls, Hefferline und Goodman vermissen. Wir haben sie absichtlich herausgelassen. Sie wird in gestalttherapeutischen Kreisen kontrovers diskutiert, ist schwer verständlich und unseres Erachtens Nicht-Gestalttherapeuten schwer vermittelbar. Sie umfasst Begrifflichkeiten wie „Es-“ und „Ich-Funktionen“, die historisch der psychoanalytischen Terminologie nahestehen und durch die Vermischung triebtheoretischer und Ich-psychologischer Kategorien für den uninformierten Leser verwirrend wären.

Gestalttherapie ist ein ganzheitliches Therapieverfahren. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in ihm auch psychodynamische, behaviorale oder systemische Aspekte erkennbar sind. Dies sind Teilaspekte des Ganzen. Sollte jemals die Vision des Psychotherapieforschers Klaus Grawe von einer Integration aller bedeutenden Psychotherapieverfahren Wirklichkeit werden, wäre die Gestalttherapie ein guter Kandidat, weil sie viele Wirkfaktoren abdeckt. Bislang profitieren andere Verfahren von der Gestalttherapie, indem sie Elemente ihrer Theorie und Praxis in den eigenen Ansatz übernehmen, teilweise unter Benennung der Quelle, teilweise leider auch nicht.

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2.1 Zeit- und ideengeschichtlicher Kontext

Die Gestalttherapie ist eine Form der Psychotherapie, die sich aus einer Vielzahl von Einflüssen zu einer neuen Gestalt gebildet hat. Es wird hier die zeit- und ideengeschichtliche Entwicklung nachgezeichnet und der Frage nachgegangen, mit welchen Konzepten und Ideen die Gründer der Gestalttherapie Laura und Friedrich S. Perls sowie Paul Goodman in Kontakt kommen, welche Theorien und Anregungen sie aufnehmen und von welchen sie sich abgrenzen.

Wo finden sie die Ideen und Antworten auf die grundlegenden Fragen, die implizit in jeder Psychotherapie enthalten sind: Wie ist der Mensch zu verstehen? Gibt es einen Sinnzusammenhang im Leben? Wie wollen und können Menschen (zusammen) leben? Wie entwickelt sich Leiden in einer Gesellschaft?

Es wird zunächst ein allgemeiner Überblick auf die ideengeschichtliche Entwicklung um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert gegeben, um dann die Denktraditionen und Erkenntnisse der Hintergrundwissenschaften zu beschreiben, die zu den grundlegenden Quellen der Gestalttherapie gehören: die Gestaltpsychologie, die Phänomenologie und die Existenzphilosophie mit der Dialogphilosophie, die Psychoanalyse und die philosophischen Ideen der schöpferischen Indifferenz. Alle haben um die Jahrhundertwende einen großen Einfluss auf die Entwicklung der psychologischen und philosophischen Themen gehabt. Sie haben auch die Gestalttherapie, wie sie von den Gründern verstanden wurde und wie sie auch heute noch im Wesentlichen verstanden wird, beeinflusst.

Das ausgehende 19. Jahrhundert und das beginnende 20. Jahrhundert sind gekennzeichnet durch eine explosionsartige Entwicklung in den Naturwissenschaften und der Technik. Die neuen Techniken nehmen umwälzenden Einfluss auf die Wirtschaft und die Gesellschaft. Enormer Fortschritt und Entdeckungen sind in fast allen wissenschaftlichen Disziplinen zu erkennen, ob Biologie, Chemie oder Medizin. Auch im politischen Denken entwickeln sich revolutionäre Elemente. Sozialismus, Marxismus und Anarchismus werfen einen neuen und gewichtigen Blick auf den Menschen und das gesellschaftliche Leben.

In der Kunst und der Literatur beginnt die Suche nach neuen Ausdrucksformen, die u. a. im Expressionismus (z. B. Otto Dix, Toulouse-Lautrec, Edvard Munch, Van Gogh) die alten bürgerlichen Normen und Fortschrittsgedanken überwinden wollen. Die Katastrophe des Ersten Weltkrieges mit Millionen Toten und dem Elend der Überlebenden, der Angriff auf die Menschlichkeit ist das drängendste Thema. Es führt zu dem Versuch, eine neue Vision vom Menschen zu entwickeln, in der soziale Verantwortung und Mitgefühl verankert sind. Neu hinzu kommt die Auseinandersetzung mit Intuition, subjektiver Erfahrung, Phantasie und Gefühl: Themen, die auch immer wieder in der Gestalttherapie anklingen.

Die Psychologie, die bis dahin eng mit der Philosophie verbunden war, beginnt sich als eine eigenständige Wissenschaft zu etablieren und von der Philosophie abzugrenzen (Bruder 1991).

Ihr Forschungsgebiet sind zunächst noch das menschliche Bewusstsein und erkenntnistheoretische Fragestellungen. Die Methodik orientiert sich jedoch zunehmend an den erfolgreichen Naturwissenschaften. Nunmehr richtet sich der Blick auf die Physiologie, die Sinnesorgane und Sinnesempfindungen, vor allen Dingen auf Optik und Akustik, um nachzuweisen, wie sich Sinnesreizungen in Bewusstseinsinhalte verwandeln, um damit die Grundlage der Erscheinungen des Seelenlebens zu erforschen. Die Naturwissenschaften und ihre Methoden bestimmen, was als „wissenschaftlich“ und „objektiv“ anerkannt wird. Diese Entwicklung geht vor allem von dem von Wilhelm Wundt (1831–1920) geleiteten Institut in Leipzig aus. Die „Neue Psychologie“ wie Wundt sie nennt, bemüht sich, auf experimentellem Weg neues Wissen zu gewinnen.

Es gibt jedoch bereits zur Zeit Wundts Stimmen, die sich kritisch gegenüber der experimentellen und einseitig naturwissenschaftlich orientierten Psychologie äußern. Den Untersuchungen im Labor entgleite der Mensch als „Kulturwesen“, in seiner individuellen und geschichtlichen Natur so lautet die Wissenschaftskritik an der naturwissenschaftlich orientierten und sich neu institutionell etablierenden Psychologie.

Zu den Kritikern gehört Wilhelm Dilthey (1833–1911). Er betont die Notwendigkeit einer verstehenden und deutenden Psychologie gegenüber einer naturwissenschaftlich experimentellen, die er als „Psychologie ohne Seele“ bezeichnet. Nach seiner Auffassung müsse die Psychologie als Wissenschaft der „inneren Erfahrung“ mit den Methoden des geisteswissenschaftlichen Verstehens arbeiten und dürfe nicht analysierend, kausal erklärend und mit naturwissenschaftlich experimentellen Methoden arbeiten. Diltheys Anliegen ist es, die Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften zu erweisen und methodisch zu sichern. Er will die „geschichtlichen Seelenvorgänge“ durch Verstehen erfassen. Entgegen der naturwissenschaftlich orientierten „erklärenden“ Psychologie begreift er den Menschen als ein wollendes, fühlendes Wesen. Das Ziel der Wissenschaft sieht er darin, auf der Grundlage der Erfahrung zur Erkenntnis des Wirklichen zu gelangen. Alle psychischen, kulturellen und sozialen Erscheinungen müssen demnach mit einer eigenen Methode bearbeitet werden. Auf dem Vorgang des Verstehens fußt die hermeneutische Wissenschaft als Auslegungslehre oder Deutungskunst. Da sich Natur und geistige Welt wesensmäßig unterscheiden, muss daher auch die Psychologie vom Erleben ausgehen, denn naturwissenschaftlich lassen sich keine Gewissheiten über das Seelische gewinnen gemäß dem viel zitierten Satz von Dilthey: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“. So fordert er für die Psychologie eine Methodik, die sich aus der Natur des Seelischen begründet (Dilthey 1957, zit. nach Eberwein 2009, 11).

Bis heute sind in der Psychologie sowohl geisteswissenschaftliche Denkweisen als auch die naturwissenschaftliche Methodik erhalten, die ihren Ursprung in den damaligen Abgrenzungsversuchen von der geisteswissenschaftlichen Philosophie haben. Die Gestalttherapie versteht den Menschen in seiner Doppelnatur mit einer leiblich-körperlichen und geistig-bewussten Seite und die menschliche Erfahrung in einer Sowohl-als-auch-Perspektive, mit subjektivem Erleben, mit kulturellen und geschichtlichen Einflüssen und dem Verständnis des Menschen als einem biologischen Wesen.

Auch Franz Brentano (1838–1917), der in Wien Philosophie lehrt, will die Philosophie mit der Psychologie verbinden. In seiner Kritik an Wundts Ansatz bezweifelt er, dass psychologische Phänomene angemessen durch physiologische Tatsachen erklärt werden können. Psychisches und Physisches unterscheidet er anhand des Kriteriums der Intentionalität. Intentionalität, die Ausrichtung des Bewusstseins auf die Dinge, die Welt, gilt für ihn als das wesentliche Merkmal des menschlichen Bewusstseins, das sich darin vom Materiellen grundlegend unterscheidet. Er vertritt eine phänomenologische Psychologie, die sich methodisch auf die unmittelbare innere Erfahrung bezieht. Der Begriff der Intentionalität hat starken Einfluss auf später berühmt gewordene Schüler wie Edmund Husserl. Die Vorlesungen Brentanos hören neben Edmund Husserl und Sigmund Freud auch Christian von Ehrenfels (Lutz / Retlich 1995). Alle drei haben einen entscheidenden Einfluss auf das gestalttherapeutische Denken. Der Leitgedanke des gerichteten Bewusstseins ist für die therapeutische Methode ein bedeutendes Kriterium.

2.1.1 Gestaltpsychologie und Ganzheitsidee

Auf der Suche danach, wie die Komplexität des Seelischen und des Bewusstseins zu erfassen ist, stehen sich konkurrierend die grundlegenden Auffassungen gegenüber, wie das Verhältnis vom Gesamt und Einzelteil, von „Teil“ und „Ganzem“ zu klären ist. Der Vorstellung, dass sich das Seelische in seiner Komplexität aus einzelnen Teilen bzw. Elementen zusammensetzt – wie es die Assoziationspsychologie versteht – wird ein ganzheitliches Denken entgegengesetzt. Dieses Denken kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Schon Aristoteles betont das einheitliche Ganze und verdichtet es in dem berühmten, jedoch verkürzten Satz sinngemäß: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile (Aristoteles 1994). Auch im deutschen Idealismus, z. B. in Goethes Farbenlehre werden dem reduktionistischen Denken ganzheitlich-holistische Ideen und Begriffe wie „Ganzheit“ oder „Einheit der Natur“ entgegengesetzt.

Mit seinem Aufsatz „Über Gestaltqualitäten“ greift Christian von Ehrenfels (1859–1932) diese Gedanken auf und bringt sie erneut in die philosophisch-psychologische Diskussion über Bewusstseinsprozesse und die phänomenalen Gegebenheiten vom Erleben. Damit gibt er den nachfolgenden Gestaltpsychologen einen entscheidenden Anstoß (Ehrenfels 1890).

Christian von Ehrenfels ist, wie bereits erwähnt, ein Schüler der Philosophie von Franz von Brentano in Wien. In dem erwähnten Aufsatz „Über Gestaltqualitäten“ zeigt er am Beispiel der Melodie, dass diese nicht aus der Summe ihrer einzelnen Töne erklärt werden kann, sondern dass ein und dieselbe Melodie auch in einer anderen Tonart wiedererkannt werden kann, sie besitzt eine ganzheitliche Struktur. Diese Eigenschaften, transponierbar und übersummativ zu sein, nennt er „Gestaltqualität“. „Gestalt“ oder Ganzheit hat eine jeweilige Eigenschaft, die sich aus dem System der Beziehungen der einzelnen Teile zueinander bestimmt, sei es eine seelische Gegebenheit – Gestalten werden von von Ehrenfels als in sich gegliederte Grundeinheiten des Seelenlebens verstanden – oder eine Melodie. Alle Bewusstseinsphänomene bilden Ganzheiten, deren Wesen man nicht erfasst, wenn man sie immer weiter und feiner in ihre Bestandteile zerlegt. Die Welt oder sich selbst zu erfahren, ist nur in Gestalten möglich: Eine Erkenntnis, die für die Gestalttherapie grundlegend ist.

Auch für die Gestaltpsychologen gilt seitdem im Zusammenhang mit dem Gestaltbegriff der nun grundlegende Satz: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“, bzw. „Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile“.

Mit seinen Schriften argumentiert von Ehrenfels als einer der ersten gegen die bis dahin geltenden sensualistischen Auffassungen und elementaristischen Konzeptionen, die Erkenntnis als abhängig von der Wahrnehmung verstehen. Die Grundgedanken, die von Ehrenfels als Philosoph beschreibt, werden von den gestaltpsychologischen Schulen, die sich in Leipzig und Berlin bilden, aufgegriffen. In der Folge bestätigen die experimentellen Untersuchungen von Gestaltpsychologen in Leipzig und die als „Berliner Schule“ bekannt gewordenen Gestalttheoretiker Max Wertheimer (1880–1943), Kurt Koffka (1886–1941), Wolfgang Köhler (1887–1967) und Kurt Lewin (1890–1947) diese Annahmen.

Ihre ersten Studien sind experimenteller Art und beziehen sich vor allem auf die Wahrnehmung. In der „Berliner Schule“ wird in revolutionärer Weise das Verhältnis von Teil und Ganzem neu bestimmt. Die Forschungen beziehen sich zunächst auf Wahrnehmung, Lernen und Denken. Später werden die Ergebnisse auch auf die Affekt- und Handlungspsychologie sowie die Persönlichkeitstheorie ausgeweitet. Mit ihrem Ansatz stehen sie ganz im Gegensatz zu dem elementaristischen Denken, das Wundt in Leipzig vertrat. Die Frage heißt nun, aus welchen Elementen sind Ganzheiten zusammengesetzt: „Es gibt Zusammenhänge, bei denen nicht, was im Ganzen geschieht, sich daraus herleitet, wie die einzelnen Stücke sind und sich zusammensetzen, sondern umgekehrt, wo – im prägnanten Fall – sich das, was an einem Teil dieses Ganzen geschieht, bestimmt ist von den inneren Strukturgesetzen dieses Ganzen“ (Wertheimer 1925, 43, zit. nach: Tholey 1992, 249).

Im Laufe ihrer Forschungen formulieren die Berliner Gestalttheoretiker zahlreiche Gestaltgesetze, nach denen sich das Wahrnehmungsfeld in Gestalten strukturiert: Z. B. gilt nach Wertheimer das Gesetz der Nähe, das Gesetz der Ähnlichkeit, das Gesetz der guten Gestalt (Prägnanz), das Gesetz der Geschlossenheit, das Gesetz der guten Fortsetzung usw. Köhler entwickelt den Begriff der Isomorphie, der die Gestaltgleichheit beschreibt. Physikalisch-physiologische und Erlebnisprozesse verhalten sich zueinander isomorph, d. h. dass sich körperliche und physiologische Prozesse auch im Erleben abbilden.

Für die Gestalttherapie sind die hier bereits betonten Zusammenhänge von körperlichen Prozessen und Erlebnisprozessen ein zentrales Anliegen, auf das in der psychotherapeutischen Praxis Bezug genommen wird.

Die Theorie der Gestalttherapie verdankt vor allem der Feldtheorie Kurt Lewins einen wesentlichen Impuls. Die Grundgedanken seines feldtheoretischen Ansatzes beziehen sich auf den dynamischen Zusammenhang von Wahrnehmung, Erleben und Verhalten, die einen ganzheitlichen Charakter haben. Lewin hat den ganzheitlichen Charakter nicht nur in der menschlichen Wahrnehmung gesehen, sondern auch im menschlichen Handeln. Handlungen drängen auf Vollendung, auf geschlossene Gestalten. Bleiben sie unerledigt, werden sie im Gedächtnis gespeichert und drängen weiterhin nach Abschluss (Zeigarnik-Effekt). Diesen Effekt nutzt die Gestalttherapie, indem sie in der therapeutischen Praxis Bezug nimmt auf „unerledigte Gestalten“ des Klienten, die nach Abschluss drängen. Im Kern seiner Feldtheorie beschreibt Lewin, wie die Umgebung auf uns wirkt: Manche Dinge ziehen uns an, sie haben eine „Wertigkeit“, einen Aufforderungscharakter, andere Dinge stoßen uns ab. In seinem psychologischen Ansatz beschreibt Lewin das Feld, durch welches ein Individuum bestimmt wird, nicht in objektiven, physikalischen Begriffen, sondern er beschreibt es in der Art und Weise, wie es für das Individuum zu der gegebenen Zeit subjektiv existiert. Das Verhalten eines Individuums beschreibt er als eine Funktion des je gegenwärtigen Feldes, mit der Kurzformel auf den Punkt gebracht: V = f(F). Auch Aspekte der Vergangenheit fließen in das gegenwärtige Verhalten ein. Das psychische Gesamterleben des Individuums, das auch von seinen physiologischen Bedürfnissen bestimmt ist, ist immer ausschlaggebend dafür, wie das Feld im jeweiligen Augenblick erlebt wird. In einer traurigen Stimmung nimmt man das Feld, die Umwelt, anders wahr als in einer fröhlichen Stimmung. Die gegenwärtige psychologische Umwelt, so wie sie subjektiv erlebt wird, bestimmt das Verhalten des Menschen im Hier und Jetzt. Diese Leitformel übernimmt die Gestalttherapie im Anschluss an Lewin, der die gestaltpsychologischen Betrachtungen auf das menschliche Handeln allgemein ausgedehnt hat.

In Frankfurt vertritt Kurt Goldstein (1878–1965), der dort als Leiter des Neurologischen Institutes mit dem Gestaltpsychologen Adhémar Gelb (1887–1936) zusammenarbeitet, ebenfalls den gestaltpsychologischen Ansatz. Er erweitert ihn, indem er die Gestaltgesetze auf den Organismus in seiner Ganzheit bezieht. Der Organismus als Ganzes tendiert in einem Ausgleichsprozess immer wieder zu einem mittleren Zustand der Erregung, der dem Wesen des Organismus adäquat ist, worin sich die „Tendenz zur guten Gestalt“ ausdrückt und die Goldstein als Verwirklichungstendenz des Organismus bezeichnet. Dieser Beitrag der Funktionsweise der organismischen Selbstregulation und die Ganzheitstheorie des Organismus werden von Fritz Perls, der als Assistent an dem Institut von Goldstein arbeitet, für die Konzipierung der Gestalttherapie zum integralen Bestandteil. Der menschliche Organismus tendiert als Teil des Feldes zur schöpferischen Anpassung, diese kreative Anpassung liegt in der grundsätzlichen Tendenz zur Selbstaktualisierung bzw. Selbstverwirklichung (Votsmeier-Röhr 1995, 2004).

Die Feldtheorie ist neben der phänomenologischen Methode und dem dialogischen Prinzip eine der drei Säulen, auf der die Theorie der Gestalttherapie beruht. Die Gestaltpsychologie gilt Fritz und Laura Perls als allgemeines organisierendes Prinzip und als integrierender Rahmen für ihren Ansatz der Gestalttherapie (Yontef 1983).

2.1.2 Phänomenologie

Edmund Husserl (1859–1938) studiert in Leipzig Mathematik und Philosophie und besucht auch die Vorlesungen von Wilhelm Wundt. Nachdem er allerdings von der Idee der Intentionalität durch Franz Brentano in Wien gehört hat, wechselt er begeistert vollständig zur Philosophie. Die Frage nach dem Wesen des Bewusstseins und wie der Mensch Zugang zur Welt erfährt, beschäftigt ihn ein Leben lang. Im Anschluss an seinen Lehrer Brentano versteht er das Bewusstsein als ein immer auf einen Gegenstand Gerichtetes (Intentionalität).

Husserl gilt als der eigentliche Bewusstseinsphilosoph und Begründer einer neuen erkenntnistheoretischen Richtung: der Phänomenologie. Er begründet die Phänomenologie als eine eigenständige philosophische Richtung und Methode, mit der er sich gegen die in seiner Zeit vorherrschenden Versuche wendet, Erkenntnisfragen auf Psychologie zu reduzieren.

In Bezug auf die menschliche Erfahrung geht Husserl davon aus, dass wir die Welt nie so erfahren, „wie sie ist“, sondern gefiltert durch unsere Sinneswahrnehmung und unser Vorverständnis von der Welt. Wir können die Welt nicht „objektiv“ erfahren, sondern nur, wie sie unserem Bewusstsein erscheint (als Phänomen): Das Bewusstsein ist der Ort der Aneignung der äußeren Wirklichkeit. Dennoch ist das Bewusstsein nicht etwas, was „drinnen“ ist, sondern „draußen“ bei dem, von dem es Bewusstsein ist. Bewusstsein ist immer intentional, gerichtet auf einen gemeinten Gegenstand oder auf ein beabsichtigtes Tun, es ist nie mit sich allein befasst.

Den Zusammenhang zwischen Welt und Subjektivität kann Husserl nun mit dem intentionalen Bewusstsein erklären: Das Erscheinen eines Gegenstandes ist immer ein Erscheinen von etwas für jemanden. Ich liebe etwas, ich sehe etwas, ich glaube etwas, ich bewerte etwas usw. Die Welt, wie sie uns erscheint, ist für den Phänomenologen die einzig wirkliche Welt (Zahavi 2007), nur so ist der Zusammenhang zwischen der realen Welt „da draußen“ und unserer bewussten Erfahrung zu verstehen. Es ist widersinnig, von einer subjektunabhängigen Wirklichkeit zu sprechen (Zahavi 2007).

Um die Wirklichkeit, wie sie einem erscheint, herauszuarbeiten, um also den Inhalt des eigenen Bewusstseins zu ermitteln, schlägt Husserl das Verfahren der phänomenologischen Reduktion vor. Dazu fordert er, die „natürliche Einstellung“ zur Welt aufzugeben, in der wir das Gegebene als Realität betrachten, und zunächst die Existenz der Welt einzuklammern. Husserl spricht von der „Epoché“, griechisch für „Zurückhaltung“, sich des Urteils enthalten. Sodann beschränken wir uns in der Reduktion nur auf die unmittelbar gegebenen Bewusstseinsinhalte, so dass die individuellen subjektiven Zustände übrigbleiben. In diesen phänomenologischen Reduktionen, Husserl nennt sie eidetische und transzendentale Reduktion, schalten wir den „natürlichen“ Weltglauben aus und werden auf das Wesenhafte der Dinge, das durch die sinnlich-konkrete Ansicht hervortritt, zurückgeführt, um zu der originären Erfahrung zu gelangen. Originär nennt Husserl eine Erkenntnis dann, wenn sie durch den eigenen Vollzug „leibhaft“ ausgewiesen auf der ursprünglichen Erfahrung beruht (Husserl 1980).

Für die Gestalttherapie ist die phänomenologische Methode fundamental, um so der subjektiven Erfahrung des Klienten möglichst nahezukommen. Heute wird die Gestalttherapie als „klinische Phänomenologie“ betrachtet (Yontef 1983). Eine Annäherung an das, was sich offensichtlich in einer Situation zeigt, gelingt nur, wenn die Vor-Urteile und Vor-Annahmen außer Acht gelassen werden (Epoché, Einklammerung) und nur das unmittelbar Beobachtete und Erlebte berücksichtigt wird. Die Annäherung an diese subjektive Erfahrung, was und wie jemand etwas erfährt, ist der Ausgangspunkt der gestalttherapeutischen praktischen Arbeit.

2.1.3 Existenzphilosophie

Die Phänomenologie Husserls wird zur Quelle für viele Geistesströmungen. Sie wird zu einer Denkform, die nicht nur weit über ihre Fachgrenzen hinauswirkt, sondern sowohl in Deutschland als auch in Frankreich in die Philosophie hineinwirkt. Husserls phänomenologische Methode beeinflusst unter anderem auch die Existenzphilosophie. Ihr geistiger Vater ist Søren Kierkegaard (1813–1855), dem Karl Jaspers (1883–1969), Martin Heidegger (1889–1976), Gabriel Marcel (1889–1973), Albert Camus (1913–1960) und Jean-Paul Sartre (1905–1980) folgen.

Die Existenz des Menschen und seine Stellung in der Welt stehen in der Philosophie der Existenzphilosophen im Mittelpunkt. Vor dem Hintergrund der Schrecken der zwei Weltkriege werden die Themen wie „Sinn“ und „Sinnlosigkeit“, „Verzweiflung“ und „existentielle Angst“ wieder zu zentralen Themen. Als existentiell-phänomenologisches Verfahren hat die Gestalttherapie ein Verständnis vom Menschen, das in diesen existenzphilosophischen Gedanken entscheidende Anregungen findet.

„Existenz“ bezieht sich auf die Seinsweise des Menschen, Existenz ist immer eine individuelle. Kierkegaard und danach alle Existenzphilosophen richten den Blick auf den einzelnen Menschen und die jeweilige konkrete Situation. Es gilt, zu dem Einzelnen zu werden, der sich um sein eigenes Existieren kümmert. Dieses menschliche Existieren ist verbunden mit einer Erfahrung der inneren Zerrissenheit und der Fremdheit in der Welt, die unfasslich ist und nicht rationalisierbar. Existenzphilosophen kreisen um Themen wie Einsamkeit des Menschen, Angst als Grundtatbestand des Daseins. Die Freiheit der Selbstgestaltung und der Entscheidung ängstigt den Menschen. Der Mensch ist, wie Sartre sagt, „zur Freiheit verurteilt“. Existenz kann sich nur verwirklichen in existentieller Verbundenheit mit anderen. In der gestalttherapeutischen Praxis müssen wir uns ebenso diesen menschlichen Themen stellen, die um Angst, Einsamkeit, Fremdheit, aber auch Sehnsucht nach Dauerhaftigkeit, Gemeinschaft und Struktur kreisen (Yalom 2010).

Der Existenzialismus, wie Sartre ihn vertrat, betont die Bedeutung der freien Entscheidung und der Verantwortung des Einzelnen. Existenz ist der Schlüsselbegriff, „Existenz geht vor Essenz“. Seine Themen der menschlichen Existenz sind Freiheit, Verantwortung, Tod, Einsamkeit. Auch in der Kunst und Literatur dieser Zeit wurden diese Themen aufgegriffen und spiegeln sich in den Arbeiten z. B. von Samuel Beckett, Albert Camus, Simone de Beauvoir und Sartre wider. Trotz der Bedeutung, die der Existentialismus für Fritz und Laura Perls hat, werden sie sich nicht für den ursprünglich vorgesehenen Namen „Existenztherapie“ entscheiden. Der Nihilismus in den Schriften von Sartre lässt sie schließlich davon Abstand nehmen (L. Perls 2005, 133).

Im Anschluss an die existentielle Perspektive betont die Gestalttherapie besonders die Einzigartigkeit der menschlichen Existenz und die Besonderheit der individuellen subjektiven Erfahrung. Die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen, das Bewusstmachen der eigenen Verantwortung im Denken und Handeln und wie jeder seinem Erleben Bedeutung gibt, das sind zentrale Punkte im praktisch-therapeutischen Prozess, die Freiheit des Einzelnen, aber auch die damit verbundene Angst.

Martin Buber (1878–1965) gehört ebenfalls zu den Philosophen, die direkten Einfluss auf die Gründer der Gestalttherapie, besonders auf Laura Perls ausgeübt haben.

Obwohl es auch ihm um das konkrete Dasein des Einzelnen geht, so kritisiert er doch die fehlende Perspektive auf das Dasein des Mitmenschen und entfaltet die zwischenmenschliche Beziehung und das dialogische Prinzip, das von den Gestalttherapeuten der nachfolgenden Generation zur Grundlage des Verständnisses der therapeutischen Beziehung wird. Seine Philosophie des Dialogs als Prinzip menschlicher Existenz geht von zwei fundamentalen „Grundhaltungen“ zur Welt aus, die gleichzeitig auch Haltungen zum eigenen Ich sind (Buber 1984, 7; Werner 1994). Die Grundformen des Verhältnisses zwischen Ich und Welt führt er mit den beiden Grundworten als Wortpaare Ich-Du und Ich-Es ein. Die Ich-Es-Beziehung ist die zweckgerichtete Beziehung des Menschen zur Welt, zu den Dingen, die ihn umgeben und auch zu den Menschen während die Ich-Du-Beziehung zweckfrei ist.

Für die Gestalttherapie wird Bubers Dialogphilosophie zur Grundlage der Betrachtung der therapeutischen Beziehung. In den Grundlagenwerken von Fritz Perls’ „Ich, Hunger und Aggression“ und in dem von Perls, Hefferline und Goodman verfassten Band „Gestalttherapie“ wird Buber zwar nicht namentlich erwähnt. In der folgenden Generation der Gestalttherapeuten aber wird Bubers Bedeutung hervorgehoben, und es erfolgt eine Ausarbeitung seiner Dialogik für das gestalttherapeutische Handeln (Yontef 1983; Hycner 1995; Jacobs 2009; Portele 1992; Fuhr / Gremmler-Fuhr 2002; Staemmler 1993, Votsmeier-Röhr 2007).

2.1.4 Psychoanalyse

In der Zeit der oben beschriebenen Auseinandersetzung zwischen einer naturwissenschaftlich ausgerichteten experimentellen Psychologie und einer sich gegen sie wendenden geisteswissenschaftlichen Psychologie (Brentano, Dilthey) brachte Sigmund Freud (1856–1939) um die Jahrhundertwende ein bahnbrechendes neues Thema in die Diskussion, das nun gar nicht experimentell zugänglich war: das Unbewusste. Allerdings verstand Freud seine neue Theorie und Methode einer „Wissenschaft von den unbewussten seelischen Vorgängen“ als eine eher dem naturwissenschaftlichen Zweig der Psychologie zugehörende Theorie und Methode.

Freud erklärt in seiner Theorie nicht nur menschliches Erleben und Handeln, sondern entwickelt auch eine umfassende Methode der Behandlung menschlicher Konflikte. Er zeigt darin, wie das Unbewusste die bewussten Prozesse beeinflusst und entwickelt seine Methode des Analysierens und Deutens, vor allen Dingen der Träume, um die seelischen Prozesse ins Bewusstsein zu führen. Nach Freud ist die Traumdeutung die „Via regia“ zur Kenntnis des Unbewussten im Seelenleben (Freud 2014). Mit Freud wird die Behandlung seelischer Krankheiten, vor allem die Psychotherapie nun als Teil der medizinischen und psychologischen Behandlung bekannt gemacht.

Die Gründer der Gestalttherapie Fritz und Lore Perls werden noch zu Lebzeiten Freuds als Psychoanalytiker – er als Mediziner, sie als Psychologin – ausgebildet. Beide identifizierten sich sehr stark mit der Psychoanalyse, die sie fast zwei Jahrzehnte praktizieren. Dennoch sind sie nach der eigenen psychoanalytischen Erfahrung mehr von den sich entwickelnden philosophischen (phänomenologischen) und psychologischen Ideen überzeugt, distanzieren sich von der Psychoanalyse und beginnen an einer Erneuerung zu arbeiten.

Ein Schüler von Sigmund Freud, Wilhelm Reich (1897–1957), übt einen wichtigen Einfluss auf das Denken von Fritz Perls aus, der sich in Berlin bei Reich persönlich behandeln lässt. Reich legt im praktischen Arbeiten die Betonung auf Affekte und körperliche Aspekte, betont den Zusammenhang körperlicher Verspannungen („Muskelpanzer“) mit dem Widerstand und empfiehlt, den Patienten mit seinem Charakterwiderstand zu konfrontieren, damit er den Widerstand körperlich selbst erfahren könne. So achtet Wilhelm Reich besonders auf das „Wie“ einer Erfahrung in der Haltung, den Gesten und der Sprachqualität, was auf Perls überzeugende Wirkung hat. Dieser Aspekt hat sich bis heute in der Gestalttherapie erhalten, während Perls die von Reich entwickelte Methode des gewaltsamen Lösens von Verkrampfungen ablehnt (Sreckovic 1999).

Die Gestalttherapie bleibt trotz aller Revisionen und Neubestimmungen sowohl in der Theorie, als auch in dem praktischen therapeutischen Vorgehen, wie sie von den Gründern der Gestalttherapie formuliert wurde, in einigen grundlegenden Ideen über die innerpsychische Dynamik der Psychoanalyse verbunden. Die wesentlichen Aspekte werden hier kurz zusammengefasst:

images Die Gestalttherapeuten haben den Grundgedanken des psychoanalytischen Verständnisses von den inneren seelischen Konflikten erhalten, diese jedoch konsequent in einen feldtheoretischen Zusammenhang gestellt.

images Das Verständnis von Bewusstsein und Unbewusstem ändert sich in der Gestalttherapie zu einem dynamischen Verständnis des Bewusstseins und wird unter dem meist im Original verwendeten Begriff „Awareness“ zu einem zentralen Begriff der Gestalttherapie.

images Bedeutend bleibt auch die Dimension der therapeutischen Beziehung in der Übertragung und Gegenübertragung, auch wenn in der Gestalttherapie eine phänomenologische und dialogische Form des Umgangs benutzt wird, in der das Kontaktgeschehen und das phänomenologische Fokussieren die Grundlage bilden. Dennoch bleibt auch in der Gestalttherapie die therapeutische Beziehung das tragende Element eines psychotherapeutischen Prozesses.

images Das Phänomen Widerstand wird auch in der Gestalttherapie in seiner Bedeutung als sinnvolle Schutzfunktion verstanden, was im therapeutischen Prozess in seiner ursprünglich sinnvollen und seiner aktuellen – vielleicht sogar behindernden – Bedeutung bewusstgemacht wird (Hartmann-Kottek 2004).

2.1.5 Schöpferische Indifferenz

Salomo Friedlaender (1871–1946), lebt als Philosoph in Berlin bis er vor den Nationalsozialisten nach Paris flieht und dort im Exil in völliger Armut stirbt. In der Philosophie ist sein Werk fast in Vergessenheit geraten. Erst 2005 wird mit der Herausgabe einer Gesamtausgabe seiner Werke begonnen.

Die Bedeutung des Philosophen Salomo Friedlaender für Fritz Perls und damit auch für die Gestalttherapie wird in seinem Buch „Das Ich, der Hunger und die Aggression“ deutlich, in dem er differenzierendes Denken im Sinne Friedlaenders für seine Revision der Psychoanalyse anwenden will (Perls 1978, 18). In seiner Autobiografie spricht Perls von Salomo Friedlaender als seinem „Guru“ und betont dessen Einfluss. In dem erst 2015 erschienenen Buch „Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie“ (Frambach / Thiel 2015) wird die philosophische Bedeutung Friedlaenders gewürdigt und das Prinzip der „Schöpferischen Indifferenz“ ausführlich als Quelle der Gestalttherapie vorgestellt. In seinem Werk „Schöpferische Indifferenz“ schreibt Friedlaender:

„Das allerallgemeinste Merkmal jedes irgend möglichen Phänomens ist der Unterschied, die Differenz, welche bis ins Extreme gehen kann“ (Friedlaender 1926 XV, zit. nach Frambach 1996, 299).

Es ist die Polarität, der Ur-Gegensatz, der diese Differenz der Phänomene strukturiert. Erst in der polaren Gegensätzlichkeit kann ein Phänomen sichtbar werden:

„In polarer Gegensätzlichkeit tritt das als Phänomen in Erscheinung, was in seiner Identität, seiner Einheit und Ganzheit nicht wahrnehmbar, da nicht unterscheidbar ist. Es ist zum Beispiel immer relativ hell im unterscheidenden Verhältnis zum polaren Gegensatz dunkel. Die Einheit, Identität, von hell und dunkel ist nicht als unterscheidbares Phänomen erkennbar. Die Einheit einer polaren Differenzierung ist gleichsam ihre Mitte, die Indifferenz.“ (kursiv im Text, Friedlaender 1926, 337 zit. nach Frambach 1996, 299).

Um diese indifferente Mitte kreist Friedlaenders Denken:

„Seit alters her hat man beim Polarisieren mehr auf die Pole als auf deren Indifferenz geachtet. In dieser aber steckt das eigentliche Geheimnis, der schöpferische Wille, der Polarisierende selber, der objektiv eben gar nichts ist. Ohne ihn aber gebe es keine Welt“ (Friedlaender 1926, zit. nach Frambach 1996, 299).

Das zentrale Thema für Friedlaender ist immer wieder die Dualität: Leib und Seele, Einheit und Vielfalt, Absolutes und Relatives, Transzendenz und Immanenz. In dieser Dualität sucht Friedlaender die Mitte der Polaritäten, deren Indifferenz. Der „Grund“, das Ganze oder Absolute ist „kein mit dem unterscheidenden Intellekt erkennbares Phänomen“ (Frambach 2015, 45). Es ist das, was sich für Gestalttherapeuten in Vordergrund und Hintergrund differenziert (Frambach 2015, 45). „Mitte! Das ist ein Zauberwort“ (Frambach 2015, 46), was sich im Ziel der Therapie bei Perls wiederholt, wenn er vom „Finden einer Mitte“ spricht. Auch das „Hier und Jetzt“ ist im Sinne einer Zentrierung, als Mitte, als Nullpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft, zu verstehen (Frambach 2015, 52).

In den Texten von Fritz Perls findet man an vielen Stellen Begriffe wie „Mitte“, „Zentrum“, „Polarisieren“ usw., die auf das Denken von Friedlaender hinweisen.

2.2 Biografischer Hintergrund

2.2.1 Fritz und Laura Perls