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Reinhardts Gerontologische Reihe Band 52

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Petra Fercher, Oberösterreich, ist diplomierte Validationslehrerin und Masterin nach Naomi Feil. Sie bildet Lehrerinnen für Validation aus, unterrichtet und berät in zahlreichen Einrichtungen. Weitere Informationen zur Autorin finden Sie unter: www.validation.or.at

Gunvor Sramek, Wien, ist diplomierte Validationslehrerin und Masterin nach Naomi Feil. Sie leitete zahlreiche Lehrgänge und ist Prüfungsvorsitzende für autorisierte Validationslehrgänge.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02841-2 (Print)
ISBN 978-3-497-61069-3 (E-Book)
ISBN 978-3-497-61070-9 (EPUB)
ISSN 0939-558X
3. Auflage

© 2018 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU
Coverfoto: © Herbert Kronsteiner, Wien
Satz: FELSBERG Satz & Layout, Göttingen

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Geleitwort von Naomi Feil

Einführung

Wie wir zur Validation kamen

Gewinnt Validation mehr und mehr an Bedeutung?

Für wen kann Validation in der alternden Gesellschaft von Nutzen sein?

1 Wie Validation im Alltag gelingt

1.1 Grundhaltung als Voraussetzung für gelingende Validation

1.2 Theoretische Grundlagen: Was Sie über Validation wissen sollten

1.3 Verbale und nonverbale Techniken gezielt einsetzen

2 Können wir Verhaltensweisen und Aussagen als Symbole verstehen?

2.1 Die Bedeutung von Symbolen in der Sprache und im Verhalten von mangelhaft orientierten und desorientierten alten Menschen

2.2 Symbole erkennen

2.3 Verluste und Bedürfnisse auf unterschiedlichen Ebenen

2.4 Wenn sich durch wachsende Desorientierung Bedürfnisse und deren symbolischer Ausdruck verändern

2.5 Die Sprache wird weniger, das Symbol bleibt, aber oft in veränderter Ausdrucksweise

2.6 Symbole und symbolische Aussagen in Bezug auf Sexualität

2.7 Exkurs: Wissen und Erfahrungen zum Thema Sexualität bei Menschen mit Demenz

3 So finden Sie Unterstützung

3.1 Die Rolle der pflegenden und betreuenden Angehörigen von Menschen mit Demenz

3.2 Angehörigenberatung und Kurse mit Validation

3.3 Validation in Pflege – und Senioreneinrichtungen

3.4 Ausblick: Tatsachen annehmen, gemeinsam Möglichkeiten finden und umsetzen

Danke

Autorisierte Validations-Organisationen (AVO) im deutschsprachigen Raum

Literatur

Bildnachweis

Sachregister

Geleitwort von Naomi Feil

Ich bin Gunvor Sramek und Petra Fercher sehr dankbar, dass sie dieses dringend benötigte Buch geschrieben haben, um allen Menschen ihr eigenes Älterwerden sowie die besondere Welt des desorientierten alten Menschen – dessen Diagnose oft „Alzheimer“ lautet – verständlich zu machen.

Gunvor Sramek und Petra Fercher arbeiten bereits seit vielen Jahren mit dieser Personengruppe, den sogenannten „De-menz“-Kranken.

In diesem Buch berichten die beiden Autorinnen von ihren jahrelangen Erfahrungen in der Anwendung verbaler und non-verbaler Validationstechniken, die bereits zahlreichen alten Menschen, deren Familien sowie dem Pflegepersonal beim Kommunizieren geholfen haben, um einem inneren Rückzug der alten Menschen vorzubeugen.

Die LeserInnen gewinnen einen Einblick in die Welt des desorientierten sehr alten Menschen, erkennen dessen intuitive Weisheit und lernen die Bedeutung seines Verhaltens und die darin ausgedrückten menschlichen Bedürfnisse verstehen. Sie können mit diesem Buch auch lernen, wie man mit Verständnis und Empathie zuhört.

Familienangehörige und Pflegekräfte erfahren außerdem, wie man die hochaltrige Person dabei unterstützen kann, in ihrem eigenen Zuhause so unabhängig wie möglich zu bleiben; wie man die Bedeutung hinter Symbolen versteht, die der ältere Mensch benutzt, um die Vergangenheit wiederherzustellen und das Leben im Angesicht des Todes aufarbeiten zu können.

Die Autorinnen werfen auch einen Blick in die Zukunft: Wie Einrichtungen zusammenarbeiten können, um Angehörigen dabei zu helfen, ihre eigenen Bedürfnisse zu verstehen und den alten Menschen so zu akzeptieren, wie er gerade ist: ein Stück weit „in seinen Schuhen zu gehen“.

Naomi Feil, Sozialwissenschaftlerin und Gerontologin; Direktorin des Validation Training Institute Cleveland.

Einführung

Wie wir zur Validation kamen

Gunvor Sramek: Der dänische Großvater

Mein Großvater hatte eine beginnende Demenzerkrankung, aber damals erkannte das niemand. Er war, in meinen Augen als Kind, uralt. Wir wohnten alle in einem roten Backsteinhaus aus der Jahrhundertwende in Dänemark. Meine Eltern, meine beiden Brüder und ich wohnten im ersten Stock, der Großvater und seine unverheiratete Tochter lebten im Parterre. Großvater bewegte sich immer mit schlürfenden, kleinen Schritten vorsichtig vorwärts. Seinen rechten Arm hielt er dabei leicht vorgestreckt, schräg nach unten. Meistens begegnete ich ihm so im Treppenhaus. Wenn er in die Nähe der Treppe kam, suchten seine Fußspitzen sorgfältig nach dem Beginn der ersten Stufe. Seine Hand suchte gleichzeitig nach dem Beginn des Handlaufes. Während er ging, schnaufte und pustete er hörbar. Anscheinend war das Gehen eine mühsame Angelegenheit. Ich spürte instinktiv, dass es nicht richtig wäre, ihn zu stören, weil er sich bei den Stufen besonders konzentrieren musste. Aber auch sonst wäre es nicht ratsam gewesen, ihn anzusprechen. Er schien in einer eigenen Welt zu leben, in die er sich eingekapselt hatte. Er sprach kaum, und wenn, dann nur in ganz kurzen, knappen Sätzen. Seine Augen waren zunehmend schlechter geworden und das machte ihm sicherlich sehr zu schaffen, er klagte aber nie. Er litt einfach still vor sich hin. Aber vielleicht gab es auch andere Gründe für sein eigenartiges Verhalten. Sein jetziges Leben schien ihm auf jeden Fall zuwider zu sein. Er wirkte auf mich als Kind so, als ob er sich in einer latenten, inneren Protesthaltung befände. Niemand durfte ihm wirklich nahe kommen. Ich spürte das sehr deutlich. Er konnte seine Gefühle nicht zeigen, weder verbal noch nonverbal. Nur ganz selten sah ich ihn lächeln. Ich erinnere mich ganz deutlich an zwei solche besonderen Momente. Einmal, als mein kleiner Bruder auf seinem Schoß saß, und ein anderes Mal, als ich ihm einige Zeilen eines kleinen Gedichtes von mir vorlas, das sich lustig reimte. Da lachte er ganz kurz!

Großvater wirkte sonst stur und er war nicht flexibel, alles musste so gemacht werden, wie er es sagte. Leider verhielt er sich oft unfreundlich seiner erwachsenen Tochter gegenüber, die versuchte, den Alltag mit ihm gemeinsam zu gestalten. Er hatte natürlich immer Recht. Schon seit jeher wurde er als Autoritätsperson angesehen, und das hat er so beibehalten. Es wäre völlig sinnlos gewesen, wenn jemand von uns versucht hätte, mit ihm irgendeine Angelegenheit zu diskutieren oder ihn umzustimmen. Man hatte schon verloren, bevor man überhaupt ein solches Gespräch begonnen hatte. Diese starre Haltung war mir damals sehr vertraut.

Als ehemaliger Architekt trug er Tag ein Tag aus seinen weißen Arbeitsmantel, als ob er sich jeden Moment zu einem längst nicht mehr existierenden Zeichentisch begeben könnte, um dort mit seinen Plänen zu arbeiten. Er trug auch oft Pulswärmer oder gestrickte, graue Handschuhe, bei denen das vordere Ende der Finger fehlte. Das fand ich seltsam. Das Haus und den Garten verließ er so gut wie nie. Er war ein Einsiedler mitten unter uns.

Ich liebte es, ihn zu studieren. Ich schämte mich instinktiv dabei, weil ich wusste, dass er nicht sehen konnte, dass ich ihn so intensiv beobachtete. Aber ich konnte mich nicht beherrschen. Es war zu spannend, seine langsame Welt mitzuerleben. Manchmal, vor allem in der großen, hellen Werkstatt im Keller, hatte ich einen wirklich guten Zugang zu ihm. Da arbeitete er an seiner alten Hobelbank und ich durfte ihm das Werkzeug reichen. Ich fühlte mich wie seine Assistentin. Dieses fast wortlose Miteinander genossen wir beide sehr. Ich mochte den Geruch von Holz und Leim. Aber vor allem genoss ich die Art, wie Großvater immer wieder zärtlich mit den Fingerspitzen über das Werkstück strich. Er prüfte genau, was als nächstes zu geschehen hatte. Da war nichts von seiner üblichen Verschlossenheit zu spüren.

In seiner ersten Ausbildung war er gelernter Tischler und jetzt, in der Werkstatt, war er in seinem Element. Manchmal fing er plötzlich an, ganz zart wunderschöne Melodien vor sich hin zu pfeifen. Niemand konnte so pfeifen wie er. Es klang absolut rein, war wunderbar in der Betonung und genau im Takt. In der Jugend hatte er sich in seiner Freizeit zum lyrischen Tenor ausbilden lassen, er liebte die Lieder von Schubert. Aber das wusste ich damals nicht. Umso mehr wunderte es mich, wenn ich diese gelöste, fröhliche und zufriedene Seite von ihm erlebte. Es wurde mir klar, dass es hinter dem grimmigen alten Großvater einen gefühlvollen, kreativen und künstlerischen Menschen gab. Mich faszinierte, dass ein Mensch zwei so unterschiedliche Seiten haben kann. Ich brauchte keine Sprache, um solche Dinge mit großer Intensität und Treffsicherheit wahrzunehmen. Ich bin mir sicher, dass mein Interesse für alte Menschen mit Verhaltensveränderungen seinen Ursprung in diesen Kindheitserfahrungen hat. Heute, mit den Kenntnissen der Validation, liegen mir die alten Menschen, die sich ganz am Anfang einer möglichen demenziellen Erkrankung befinden, noch mehr am Herzen. Für ihr oft seltsames, schwer nachvollziehbares Verhalten gibt es noch sehr wenig Verständnis, und es mangelt an Informationen.

Petra Fercher: Die „grantigen“ alten Leute

Ich wohnte mit meinen beiden Kindern auf dem Land. Zu damaliger Zeit gab es keine freie Stelle als Kindergärtnerin, also machte ich zur beruflichen Umorientierung einen Universitätslehrgang für Tourismus. Im darauffolgenden Sommer arbeitete ich in einem Organisationsteam für eine Landesausstellung, die sich in einem Schloss befand. In einem der Schlossräume, gab es ein sehr schön eingerichtetes Informationsbüro, mit schweren alten Möbeln als Sitzgelegenheit für Gäste. In diesem schönen Ambiente war es angenehm kühl in diesen heißen Sommermonaten. Im Laufe der Ausstellung kamen immer wieder Reisebusse mit älteren Menschen an. Einige von ihnen waren hochbetagt und hatten durch die oft lange, für manche schon sehr beschwerliche Anreise, keine Lust mehr auf Hitze und komplizierte Gänge, die durch die Ausstellung führten. Sie sammelten sich auf einem Platz und ich hörte aus der Ferne, wie sie sich beschwerten. Sie wollten partout nicht in die Ausstellung und meistens wussten die zuständigen Reiseleiter nicht, wie sie damit umgehen sollten. Die alten Menschen behaupteten sogar manchmal, man habe sie gezwungen, hierher mitzufahren. Niemand habe ihnen gesagt, wo die Reise hingehe. Nun stünden sie hier, und wüssten nicht, was sie machen sollen. Man hätte sie belogen und dies sei eine Frechheit. Einige meinten, sie bräuchten erst einmal Schatten oder einen kühlen Raum. In diesem ablehnenden und aufgebrachten Zustand schickte man sie zu mir ins Schlossbüro.

Dort angekommen und über den kühlen, schönen Raum angenehm überrascht, nahmen sie mein Angebot, sich zu setzen und erst einmal auszuruhen, gerne an. Ich sorgte für Getränke und war immer daran interessiert, mit diesen alten Menschen ins Gespräch zu kommen. Ich konnte mir nicht erklären, wieso manche bestimmte Dinge sagten und wusste nicht so recht, ob ich ihnen ihre Geschichten glauben sollte, oder ob sie einfach schon vergesslich waren. Aber auch das fand ich unschlüssig, da sie sich ja sonst orientiert verhielten. Gleichzeitig war es nicht wichtig für mich, das zu wissen, und ich habe viele nette und spannende Geschichten aus ihrem Leben gehört. Das Gefühl, dass es diesen alten Menschen besonders gut tut, wenn man aufmerksam zuhört, wurde auf meinem späteren Lebensweg durch die Validation bestätigt.

Damals ist mir aufgefallen, dass nach zehn Minuten der Schwall von Beschimpfungen und die Beschuldigung anderer Menschen in ein Ausatmen, Zurücklehnen, eine wohlwollende Haltung und Dankbarkeit mir gegenüber mündeten. Viele gingen entspannt und fast fröhlich zu ihren Reisebussen zurück, um die Heimreise anzutreten. Manche meinten plötzlich, welch schöner Ausflug dies heute war, im Gegensatz dazu, wie sie sich am Anfang beschwert hatten. Dabei hatten sie nicht einmal die Ausstellung besucht. Es war mein Umgang mit diesen speziellen Situationen, durch den ich bei den damaligen Kolleginnen den Ruf bekam, wenn alte „grantige“ Menschen kommen, könne man sie zu mir schicken. Ich könne besser damit umgehen als andere.

In mir entstanden das tiefe Interesse für diese seltsamen Verhaltensweisen und der Wunsch, deren Hintergründe besser verstehen zu wollen. Gleichzeitig wollte ich erfahren, warum der für mich sehr natürliche Zugang zu diesen Menschen zu häufiger Entspannung und nicht erwarteter Freundlichkeit bei diesen alten Menschen führte.

Ich entdeckte das Buch über Validation von Naomi Feil, begann es zu lesen, und im Anschluss an die Landesausstellung war mir klar, dass der Tourismus nur eine kurze Zwischenstation in meiner beruflichen Umorientierung war. Über einen Verein für Sachwalterschaft (Betreuungsverein) orientierte ich mich noch einmal neu und begann, alte Menschen in vier verschiedenen Pflegeheimen zu besuchen. Mein Interesse wuchs weiter und ich begann mit der Ausbildung zur Validationsanwenderin, um eine Stelle in einem Alten- und Pflegeheim anzutreten. Meine Aufgabe in diesem Heim war die Organisation und der Aufbau von Beschäftigung und Betreuung alter Menschen, in Verbindung mit der Koordination eines ehrenamtlichen Teams. Damals, 1999, wohnten in etwa 80% orientierte alte Menschen in diesem Altenheim. Nur ca. 20% waren desorientiert und an einer Demenz erkrankt, allerdings war diese Erkrankung oft nicht diagnostiziert.

Viele dieser alten Menschen hatten noch selbst entschieden, ihren Lebensabend in einem Altenheim zu verbringen. Als ich Ende 2008 wegen meiner Selbstständigkeit als Validationstrainerin diese Stelle verließ, war es genau umgekehrt. Es lebten nur noch 20% orientierte alte Menschen in dem mittlerweile umbenannten Pflegeheim. Ca. 80% waren desorientiert und litten unter einer mehr oder weniger genau diagnostizierten senilen Demenz vom Alzheimer Typ. Immer seltener erfolgte die Aufnahme in dieses Pflegeheim aufgrund eigener Entscheidung der alten Menschen. Die heutige Situation ist daher eine ganz andere als damals zur Jahrtausendwende!

Gewinnt Validation mehr und mehr an Bedeutung?

Es gibt immer mehr Menschen mit Demenz. Deutschland (2018): rund 1,7 Mio. (www.deutsche-alzheimer.de/fileadmin/alz/pdf/factsheets/infoblatt1_haeufigkeit_demenzerkrankungen_dalzg.pdf, 1.8.2018), Österreich (2015): 130.000 (www.bmgf.gv.at/home/Gesundheit/Krankheiten/Rueckschau_Auftaktveranstaltung_Gut_leben_mit_Demenz_im_Februar_2015, 1.8.2018), Schweiz (2018): 148.000 Menschen mit Demenz (www.alz.ch/index.php/zahlen-zur-demenz.html, 1.8.2018).

Fast 80% der Menschen mit Demenz müssen beim Fortschreiten der Krankheit in einer Pflegeeinrichtung versorgt werden, das heißt, dass fast alle dort sterben. Viele alte Menschen stürzen zu Hause und ziehen sich einen Schenkelhalsbruch oder einen Hüftbruch zu. Sie kommen in ein Krankenhaus, welches aufgrund der ungewohnten Umgebung die Verwirrung fördert. Anschließend ist es häufig nicht mehr möglich, in das bisherige zu Hause zurückzukehren. Wenn die Versorgung durch Angehörige, mobile Dienste oder sonstige Unterstützung nach dem Krankenhaus nicht mehr oder nicht mehr ausreichend gegeben ist, werden diese alten Menschen direkt in ein Pflegeheim gebracht, das von ihnen oftmals ganz unvorbereitet als zu Hause, als „Daheim“ angenommen werden muss.

Wir dürfen uns nicht wundern, wenn viele alte Menschen in Pflegeeinrichtungen besonders zu Beginn häufig mit der Aussage vor uns stehen: „Ich muss nach Hause“, uns bitten, ihnen zu helfen, oder mehr und mehr aggressives Verhalten entwickeln, weil sie sich in ihrer Situation gefangen fühlen und keinen anderen Weg finden, als einfach raus zu gehen. Für so ein Verhalten gibt es viele Gründe. Es kann sein, dass ein alter Mensch in die Vergangenheit zurückgeht und seine Mutter sucht oder, dass er mit dieser unerträglichen Realität hier zu sein einfach nicht zurechtkommt.

Wir tun gut daran, uns Gedanken zu machen, Methoden zu lernen und uns weiter zu entwickeln, um diesen Herausforderungen im Alltag besser begegnen zu können. Validation kann sehr viel dazu beitragen. Alten Menschen Wertschätzung, Respekt und mehr Verständnis für ihr Verhalten und ihre Situation entgegen zu bringen, dies ist ein gesellschaftspolitischer Auftrag, der sich heute nicht mehr abwenden lässt. Durch jahrelange Erfahrungen mit Validation, ob im Unterricht oder in der direkten Praxis, ist uns bewusst geworden, wie wichtig es ist, Validation für alle zugänglich zu machen und weiter damit zu arbeiten. Validation ist ein wertvoller Beitrag für die alternde Gesellschaft, der wir alle angehören. Alte Menschen haben keine Lobby, jetzt sind wir es, die für sie oder gegen sie sprechen, die versuchen für eine andere Kultur im Umgang mit ihnen einzutreten, nicht zuletzt, um auch den nächsten Generationen ein würdevolles, gelingendes Altern zu ermöglichen.

Die Kritik mancher Fachleute, dass die Effektivität von Validation bis heute nicht ausreichend wissenschaftlich belegt werden kann, wird mehr und mehr zurück genommen. Es gibt neue Auswertungen und Studien zum Thema Einzel- und Gruppenvalidation, die die positiven Auswirkungen dieser Methode für alle Beteiligten sehr deutlich aufzeigen (Feil/de Klerk-Rubin 2017, IFF- PalliativeCare und OrganisationsEthik 2012). Wechselnde menschliche Reaktionen, Verhaltensweisen und veränderte Gefühlszustände sind nicht objektiv erfassbar und schwer messbar. Es finden sich jedoch immer wieder beeindruckende Beispiele für Verhaltensänderungen bei desorientierten alten Menschen, die mit Validation begleitet wurden. Vergleiche von Verhalten und Befinden „vorher und nachher“ aus der Arbeit in Gruppenvalidation wurden mehrmals schriftlich dargelegt, und zeigten eindeutig positive Ergebnisse. Validation wird von Fachleuten als eine sehr zu empfehlende Methode für die Arbeit mit demenzerkrankten alten Menschen erwähnt. Der erfahrene Wiener Neurologe und Psychiater, Dr. Georg Psota, sagte in einem Interview im österreichischen Fernsehen im Mai 2011, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass Wissen und Anwenden von Validation das Verzweifeln der Angehörigen von an Demenz erkrankten alten Menschen eindeutig reduziert.

Im österreichischen Demenzbericht 2014 (www.bmgf.gv.at/home/Gesundheit/Krankheiten/Demenz/Oesterreichischer_Demenzbericht, 1.8.2018) wird Validation nach Naomi Feil im Kapitel 6.3.8 S. 77 unter Kommunikation im Bereich Pflege und Betreuung (P. Fercher/M. Hoppe) beschrieben. 2015 wurde Validation in die daraus entstehende österreichische Demenzstrategie als Fortbildungsmaßnahme zur Kommunikation für Menschen mit Demenz miteinbezogen und dringend empfohlen.

Für wen kann Validation in der alternden Gesellschaft von Nutzen sein?

Dieses Buch ergänzt die drei bekannten Standardwerke über Validation von Naomi Feil und Vicki de Klerk-Rubin. Wir wollen in erster Linie über unsere langjährigen Erfahrungen mit Validation berichten und unsere stets wachsenden Erkenntnisse nicht nur Kursteilnehmern, sondern einer größeren Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Weiter möchten wir Einblicke in mehr oder weniger schwierige Alltagssituationen von alten, desorientierten Menschen und ihren Betreuern geben. Situationen, die erfahrungsgemäß viele erleben, die mit verwirrten alten Menschen zu tun haben. Egal, ob zu Hause, in einer Pflegeeinrichtung oder im Akutbereich. Wir hören von den Schwierigkeiten durch Pflege- und Betreuungsgruppen, von Ärzten, Therapeuten, sowie von Angehörigen und ehrenamtlichen Mitarbeitern. Selbst Freunde, Bekannte und Nachbarn berichten immer wieder von ihren Erfahrungen. Manchmal sind es sogar Begegnungen auf der Straße mit sich sehr seltsam verhaltenden alten Menschen, die uns staunen lassen. Polizeibeamte sind nicht selten mit beschuldigenden oder sich verirrenden alten Menschen konfrontiert. Bankangestellte und Geschäftsmitarbeiter kommen im Berufsalltag ebenso in die Lage, dass manche alte Menschen mit Verhaltensweisen an sie herantreten, die sie nicht zu- und einordnen können.

Wir konzentrieren uns in diesem Buch auf die Veränderungen bei Menschen mit spät einsetzender Alzheimer Demenz, also jene, die wir im Sinne der Validation als mangelhaft orientierte und desorientierte alte Menschen bezeichnen, und auf die Möglichkeiten, diese alten Menschen mit der Methode der Validation einzuschätzen, und einfühlsam, urteilsfrei und respektvoll zu begleiten. Durch die Anwendung der Validation entsteht die Möglichkeit, Verhaltensweisen besser zu verstehen, sowie eigene Handlungen und eigenes Verhalten müheloser zu verändern. Es wird außerdem leichter, Schritt für Schritt mit dem Fortschreiten der Desorientierung umzugehen. Es ist uns ein großes Anliegen, dabei mitzuwirken, dass die Bedürfnisse der alten Menschen besser erkannt werden, damit rascher, gezielter und mit weniger Kraftaufwand reagiert werden kann. Dadurch können alle Beteiligten erheblich entlastet werden.

Wir haben oft zu wenig Vertrauen in die Lebenserfahrung alter Menschen, die in ihrem Verhalten nicht immer gleich erkennbar, aber, tief im Inneren verborgen, stets vorhanden ist. Sie sind durch das Leben gegangen, häufig mit viel Mühsal und in schwierigen Zeiten. Wir sollten ihnen mit Respekt und Wertschätzung begegnen.

Das erste Prinzip in der Validation nach Feil lautet: Alte, sehr alte Menschen sind einzigartig und wertvoll. Wir begegnen alten Menschen mit Achtung und jeder Person individuell (Feil /de Klerk-Rubin 2010). Durch die Tatsache, dass Menschen sehr viel älter werden und es dadurch in naher Zukunft sehr viel mehr ältere Menschen geben wird, betrifft dieses Thema die gesamte Gesellschaft. Wenn wir bedenken, dass mittlerweile bereits jeder vierte über 80-Jährige an einer Demenz erkrankt (Welt-Alzheimertag 2012), heißt das nicht unbedingt, dass wir selbst betroffen sein werden, aber in unserem Umfeld kann das sehr schnell passieren.

Dieses Buch wurde aufgrund einer aktuellen und weitreichenden gesellschaftlichen Situation geschrieben und es wird Zeit, dass wir aufhören, im Hinblick auf die Pflege zwischen Professionellen und Privatpersonen zu unterscheiden. Auch professionell Pflegende haben außerhalb ihres beruflichen Tätigkeitsbereiches, in ihrem privaten Umfeld, Eltern, Großeltern oder Bekannte, die betroffen sein können. Wir Pflegende oder Betreuende ergänzen uns gegenseitig mit unserer Kompetenz, unserem Fachwissen und unserer Erfahrung im jeweiligen Bereich. Die Zusammenarbeit zwischen Medizinern, Pflegekräften, Sozialarbeitern, Therapeuten, Wissenschaftlern, Freiwilligen, Angehörigen und allen anderen privaten Personen ist unumgänglich, um dem Altern in Zukunft besser begegnen zu können.

Alle Personen, die sich mit der Thematik Demenz befassen, oder sich generell für alte Menschen und deren Bedürfnisse und Verhaltensweisen interessieren, können von diesem Buch profitieren. Durch das Lesen des Buches eröffnet sich vielleicht die eine oder andere Möglichkeit, auf das eigene Altern besser vorbereitet zu sein. Aber vor allem geht es darum, besser auf das Altern anderer Menschen eingehen zu können. Einen würdevollen Umgang mit alten Menschen zu pflegen und dabei freudvoll und entspannt zu sein, ist ein schönes Ziel, das wir und viele andere durch die Methode der Validation erreicht haben. Wer immer diesen Weg gehen möchte, wird in diesem Buch einen Teil an Unterstützung finden.

1 Wie Validation im Alltag gelingt

In der Validation gibt es drei wichtige Ebenen:

Die eigene Grundhaltung, einfühlsame, urteilsfreie Einstellung,

theoretische Grundlagen und Wissen der Validation,

verbale und nonverbale Techniken gezielt einsetzen.

Erst wenn diese drei Ebenen zusammenwirken, sprechen wir von Validation. Eine gute Grundhaltung alleine ist zwar gut, aber nicht ausreichend. Kenntnisse in der Theorie sind sehr wichtig, alleine sind sie aber zu wenig. Auswendig gelernte Techniken ohne Grundhaltung und Hintergrundwissen helfen nicht weiter.

Wie man es also dreht und wendet, wir brauchen alle drei Ebenen, um gelingende Validation zu ermöglichen und für alte Menschen und uns selbst erfahrbar zu machen.

Diesen drei Ebenen liegen die Prinzipien der Validation zugrunde, die von Naomi Feil in Bezug auf mangelhaft orientierte und desorientierte alten Menschen entwickelt wurden. Die Prinzipien bestimmen die Grundhaltung und unterstützen die Anwendung von Techniken in der Validation. Eine Auflistung der Validationsprinzipien finden sie im Buch Validation (Feil/ de Klerk-Rubin 2017).

1.1 Grundhaltung als Voraussetzung für gelingende Validation

Von welcher Haltung gehen wir aus, wenn wir von Kommunikation mit validierender Grundhaltung sprechen? Validieren heißt: „Etwas oder jemanden für gültig erklären“. Wir sprechen davon, dass wir die aktuelle Gefühls- und Erlebniswelt, der jeweiligen Person respektieren, anerkennen und akzeptieren. Wir bestätigen sozusagen keine Fakten, die die Person äußert, aber mittels wiederholen und re-formulieren gehen wir mit unterschiedlichen, der Situation angepassten verbalen und nonverbalen Möglichkeiten sehr wohl auf die Gefühlsebene ein. Dafür ist es unumgänglich, eine grundlegend wertschätzende, urteilsfreie Haltung einzunehmen, der Person empathisch, also einfühlsam zu begegnen und sie beim Ausdruck ihrer Gefühle und Bedürfnisse zu unterstützen. Es ist wichtig, das Tempo und die Ziele die uns der alte Mensch vorgibt, zu beachten. Es geht nicht um unsere Ziele, sondern um die des alten Menschen. Wenn wir Validation vermitteln, hören wir von pflegenden und betreuenden Menschen häufig folgende Aussagen:

Diese empathische Haltung ist doch eine Voraussetzung um mit alten Menschen zu arbeiten.

Einfühlungsvermögen hat man, oder hat man nicht.

Das hat mit Bauchgefühl zu tun, das kommt dann, wenn ich es brauche.

Ist das in der Praxis aber tatsächlich so einfach, wie es sich hier anhört? Wie leicht ist es, mit einer empathischen Grundhaltung auf die alten Menschen zuzugehen:

Wenn alte Menschen uns beschuldigen und beschimpfen, sind wir dabei urteilsfrei? Nehmen wir das nicht persönlich?

Wenn sie ständig weg oder nach Hause gehen wollen? Können wir dieses Bedürfnis akzeptieren und einfühlsam begleiten?

Wenn sie immer wieder dasselbe erzählen und das zigmal am Tag? Wie steht es dabei mit Wertschätzung und Respekt?

Wenn sie ständig „Hallo, Hilfe“ oder sonst etwas schreien? Wie einfühlsam begegnen wir Menschen mit diesem Verhalten?

Wenn sie nicht mehr sprechen und sich mit wiederholenden Bewegungen auszudrücken versuchen, wie sich wiegen, ständig klopfen, wischen, auf und ab gehen? Weiß man immer aus dem Bauch heraus, wie man dieses Verhalten einer Person anerkennen und das Bedürfnis dahinter begleiten kann?

Wie hilflos fühlen wir uns, wenn alte Menschen später nur noch in ihren Betten liegen und wir nicht mehr einschätzen können, in welchem psychischen Zustand sie sich gerade befinden? Schaffen wir es dabei tatsächlich, einfühlsam in Kontakt mit der Person zu kommen, wenn es keine Reaktionen gibt?

Egal, ob wir diesen alten Menschen als MitarbeiterIn in einer Einrichtung, im mobilen Dienst, als ehrenamtliche Person, als Arzt oder Ärztin oder als Angehörige gegenüber stehen, es ist immer eine immense Herausforderung eine validierende Grundhaltung einzunehmen. Diese alten Menschen mit all ihren Verhaltensweisen, Gefühls- und Erlebniswelten so anzunehmen, wie sie gerade sind, nicht einfach weg zu gehen, sie zu ignorieren, sondern – wenn auch nur für ganz kurz – empathischen Kontakt mit ihnen aufzunehmen, das ist im Alltag oftmals schon eine Form der Kunst.

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Empathie/Einfühlungsvermögen, ist eine wichtige Voraussetzung für Validation.

Und – man kann Empathie lernen.

„Hallo – Hallo“

Eine alte Dame saß in ihrem Zimmer in einer Senioreneinrichtung und rief Tag ein Tag aus: „Hallo, Hallo, Schwester, Schwester“. Die Betreuer versuchten, so gut sie konnten, sie zu beruhigen, aber nichts half. Alle waren erschöpft und völlig ratlos. Als ich die alte Dame besuchte, reagierte sie gut auf einen langanhaltenden Augenkontakt, auf frontale Nähe, eine längere Berührung mit beiden Händen im Nacken und an der rechten Schulter. Sie konnte ein wenig sprechen und klammerte sich an mich. Ich wiederholte: „Hallo, Hallo Frau S., haben Sie so lange gewartet? Ja? Ist niemand gekommen? Waren Sie ganz alleine?“ Wir schauten uns die ganze Zeit sehr ernst in die Augen und ich konnte nachempfinden, wie es ist, wenn man sich ganz verlassen fühlt. Nach ca. einer Minute in dieser ruhigen „Halteposition“ entspannte sie sich ein wenig, ihre Muskeln wurden lockerer, ihr Mund formte ein leichtes Lächeln. Ich sagte: „Ist es besser, wenn jemand da ist? Sie bejahte das und nickte zufrieden. Wir haben ein wenig gemeinsam genickt und gelächelt. Erst jetzt drückte ich sie mit meinen Händen sanft und ließ dann behutsam los. Ich konnte mich herzlich verabschieden. Dieser Besuch dauerte ca. 2–3 Minuten. Im Anschluss daran übten wir den validierenden Umgang mit Frau S. mit dem Pflegeteam. Nachdem die Betreuer ca. 3 Wochen lang diese kurze Validation konsequent 6–8 Mal am Tag wiederholt hatten, wurde das Rufen langsam weniger und verschwand dann für immer. Trotzdem wurde die Dame weiterhin ab und zu „extra besucht“ und kurz validiert.

Kommunikation und Kontakt mit Validation

Es geht um eine andere Art der Kommunikation. Wir suchen einen Weg, bei dem das Akzeptieren und Respektieren eines alten Menschen in seinem „So-Sein“ und das Einfühlen in seine Welt, im Vordergrund stehen. Alte Menschen mit demenziellen Veränderungen können sich nicht anders verhalten, als sie es jetzt im Moment tun, auch wenn wir das noch so gerne hätten. Durch Validation verändert man die eigene Sichtweise und das eigene Verhalten, was wiederum dem alten Menschen eine Verhaltensänderung ermöglicht. Validation wird in erster Linie dann angewendet, wenn gängige Kommunikationsformen und andere Methoden nicht mehr oder nicht mehr so gut greifen und ein Kontakt zum alten Menschen erschwert oder eben gar nicht möglich ist. Man versucht, für kurze Zeit, die Gefühle und die jeweilige Erlebniswelt mit dem alten Menschen zu teilen, ohne dabei eine eigene Meinung zu äußern. Es geht darum, zu beobachten, wahrzunehmen, zu erkennen und mit Fragen auf das einzugehen, was den Betreffenden gerade beschäftigt.

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Die Gefühle der alten Menschen werden geteilt und bestätigt. Sachliche Inhalte werden dagegen weder bestätigt, noch angezweifelt, sondern es wird in respektvoller Weise nachgefragt.

Empathie – Einfühlungsvermögen

Wenn wir empathisch sind, heißt das, wir sind im Moment, im Hier und Jetzt mit einer Person. Wir müssen lernen, unsere eigenen Gefühle gut zu kennen und für diese kurze Zeit „hinten an“ zu stellen, um uns in die andere Person wirklich einfühlen zu können. Wir fühlen dann auch tatsächlich das, was die Person fühlt und brauchen den Abstand zu unseren eigenen Gefühlen, damit wir nichts vermischen. Es sind die Gefühle der anderen Person und nicht unsere eigenen. Das ist im Alltag oft nicht leicht zu unterscheiden.

In der Pflege und Betreuung geht es allzu oft darum, Tätigkeiten und Verpflichtungen auszuführen. Alles, was man dazu im Kopf hat, betrifft die Funktion an sich. Man denkt: „Oh, die schwierige Dame hat sich gestern schon nicht duschen lassen, es wird wieder schwierig werden, wer weiß, was ihr heute einfällt, sich dagegen zu wehren.“

Mit diesen oder ähnlichen Gedanken begegnet man der Person und ist häufig nicht mehr offen für die Wahrnehmung, wie es heute oder gerade jetzt ist. Blockiert von den Erfahrungen (von gestern), entstehen Gefühle, die man jetzt nicht draußen lassen kann und versperren, meist nicht einmal gewollt oder bewusst, den Weg dahin, die Person in ihrer Welt wahrzunehmen und dort abzuholen, wo sie sich gerade befindet. Natürlich kann es auch umgekehrt sein und wir sind überrascht, wenn eine Situation, die gestern noch sehr gut funktioniert hat, plötzlich heute ganz anders ist.

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Abbildung 1: Empathisch sein heißt: sich einfühlen können. Dazu muss man aufmerksam in Kontakt sein. Es braucht Konzentration und Energie.

„Auffälliges Verhalten“

In einer Pflegeeinrichtung lebte eine mobile, relativ orientierte alte Dame, die sich sehr auffällig benahm. Es war ein täglicher Kampf. Die Pflegenden waren längst an ihre Grenzen gekommen. Sie schimpfte mit ausfälligen Worten, kratzte, biss und schlug um sich, wenn man versuchte, sie dazu zu bewegen aufzustehen, sich anzuziehen oder sie ins Badezimmer zu begleiten, um sie zu duschen. Das Essen wurde ihr direkt ans Bett gestellt, weil sie oftmals das Aufstehen verweigerte. Keiner wollte mehr mit der Frau Kontakt aufnehmen, es lief alles sehr funktionell ab. Kein Wunder, es war täglich das gleiche Muster. In einer Validationssupervision mit dem ganzen Team und der Stationsleitung legten die Pflegenden ihre eigenen Gedanken und Gefühle zu diesen Situationen offen. Sie entschlossen sich, den Versuch zu wagen, diese alte Dame vollkommen in Ruhe zu lassen und sich über nichts mehr zu wundern. Das heißt, sie legten ihre eigenen Gefühle und die persönliche Wertungen zu diesem Verhalten beiseite. Alle waren gespannt, was passieren würde. Es braucht viel Verständnis und Einigung in einem Team, um so etwas zu versuchen. Am nächsten Tag kam die Dame erst am frühen Nachmittag aus ihrem Zimmer und fragte in einem neutralen Ton, ob sie ein Frühstück bekommen könnte. Sie bekam eine freundliche Antwort, und man bot ihr ein Mittagessen an, als ob das eine ganz normale Angelegenheit wäre. Sie nahm es dankend an. Da sie weiterhin die Hilfe beim Waschen ablehnte und meinte, sie könne dies alleine, ließ man sie auch damit in Ruhe. Nach drei Tagen fragte sie plötzlich: „Kann ich duschen, aber ich will nicht meine Haare waschen!“ Das Verhalten veränderte sich zusehends und die Dame wehrte sich nicht mehr in dieser auffälligen Art gegen irgendetwas. Zudem sagte sie manchmal sogar „bitte“, wenn sie etwas wollte.

Es ist sehr wichtig, erkennen zu können, wann ich wirklich frei von eigenen Gefühlen und Ideen bin, um für den anderen voll und ganz da zu sein. Erst dann wird es möglich, die herausfordernden Verhaltensweisen nicht persönlich zu nehmen und in die Welt der alten Menschen mit zu gehen. Wenn man von Anfang an in einer Begegnung wirklich achtsam und bewusst ist, wird man fähig, genau wahrzunehmen, was in einer Situation zu tun oder nicht zu tun ist. Es fällt einem leichter, eine Haltung anzunehmen, die es ermöglicht, genau auf das einzugehen, was gerade gebraucht wird. Dadurch kommt man in die Lage, die eine oder andere Validationstechnik mitunter auch mühelos und ganz natürlich anzuwenden.

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Wer Validation lernen will, muss lernen, sich zu zentrieren, sich zu erden.

Zentrieren als Vorbereitung für Empathie bei jeder Validation

Zentrieren bedeutet, frei zu sein von seinen eigenen Gefühlen. Es bezieht sich auf den Moment mit der betroffenen Person. Man atmet bewusst, tief über die Nase in seine Körpermitte ein und langsam durch den Mund wieder aus. Dadurch kann man sich erden und hat Energie und Konzentration für Präsenz. Zentrieren kann man üben, um eine Art Gewohnheit darin zu entwickeln. Erst wenn wir unsere eigenen Gefühle, für die Zeit, in der wir mit einem alten Menschen zusammen sind, draußen lassen können, werden wir die Qualität eines empathischen Zugangs erfahren. Für diesen Moment gibt es kein Urteil, keine Wertung, ob etwas gut oder schlecht ist, es ist einfach wie es ist.

Eine empathische Haltung erfordert Konzentration und Energie.

Man beobachtet, nimmt die Person wahr und passt sich dem Gefühlsrhythmus, dem Tempo und dem Ton der Stimme an.

Man ist mit Achtsamkeit und Präsenz in Kontakt mit seinem Gegenüber.

Man fühlt sich in die Person ein.

Nach dem Kontakt mit der Person, kommt man zu seinen eigenen Gefühlen zurück.

Man muss also auch gut auf sich selber achten. Die eigenen Gefühle, wie Wut, Zorn, Verzweiflung, etwas persönlich nehmen …, bleiben für die Zeit der Begleitung eines alten Menschen draußen! Später, nicht im Beisein der betroffenen Person, kommt man jedoch auf seine eigenen Gefühle zurück! Sonst kann es passieren, dass man sich selbst verliert. Dieses Zurückkommen zu sich selbst ist sehr wichtig und wird manchmal zu wenig beachtet.

Es ist nicht immer leicht, empathisch zu sein und eine validierende Grundhaltung einzunehmen. Der Alltag bringt uns oft an unsere Grenzen. Wenn man jedoch übt, und sich immer wieder vor Augen hält, dass man dadurch auch selbst zu mehr Freude, Sicherheit und Leichtigkeit im Umgang mit sehr alten desorientierten Menschen kommen kann, ist es jede Minute wert, daran zu wachsen und für beide Seiten mehr Lebens- und Arbeitsqualität zu ermöglichen.

Hier ein Beispiel, wie eine Kursteilnehmerin ihre persönlichen Erfahrungen mit Zentrieren beschreibt:

Für mich ist Zentrieren einer der ersten und wichtigsten Schritte, die man tun muss, wenn man mit der Haltung von Validation arbeiten möchte.

Hat man die Bedeutung der Methode Validation verstanden und ist wirklich gut zentriert, nimmt man die Situationen und ebenso die aktuellen Emotionen der Person anders wahr, weil wir eben nichts beurteilen und uns ganz darauf einlassen können.

Ich persönlich empfinde, dass ich, wenn ich zentriert bin, Persönlichkeit, Energie, Freundlichkeit, Vertrauen, Stärke und Sicherheit ausstrahle. Es tut auch mir sehr gut, ich fühle mich damit auch freier, kompetenter und aufnahmefähiger. Ich bemerke, dass sich die Menschen dadurch wohl und verstanden fühlen. Wenn ich zentriert bin, gelingt es mir meistens, dem anderen aufmerksam zuzuhören, ihm das Gefühl zu geben, jetzt bin ich nur für ihn da, die Person ist mir wichtig. Obwohl ich auch täglich in Stress gerate, durch Zentrieren bin ich trotzdem offener und aufnahmefähiger. Wenn ich an meiner Dienststelle im Krankenhaus zum Beispiel von aufgebrachten, verzweifelten Patienten oder Angehörigen Vorwürfe bekomme oder mich ungerecht behandelt fühle, bin ich früher oft verärgert, verletzt und enttäuscht gewesen. Seit ich Validation und vor allem das Zentrieren gelernt habe, kann ich anders damit umgehen. Ich nehme es jetzt oft nicht mehr so persönlich und bin kooperativer. Dadurch können viele Missverständnisse gleich wieder aus dem Weg geräumt werden und alle fühlen sich leichter und wohler. Ich bekomme sehr viel wertschätzendes Feedback von Patienten und auch Angehörigen.

Selbstreflexion, Motivation, Haltung, eigene Ideen und Gefühle!

Wie weiter oben erwähnt, geht es nicht um unsere Ziele, sondern um die des alten Menschen. Daher ist ein weiterer, wichtiger und unerlässlicher Schritt notwendig, um in seiner empathischen Grundhaltung sicher zu werden. Es ist die Reflexion der eigenen Gefühle, aber auch die Reflexion der Handlungen, die wir ausführen. Damit ist ein Anschauen und Wahrnehmen der eigenen Motivation und Haltung in den verschiedenen Situationen gemeint. Allzu oft haben wir die Vorstellung zu wissen, was dem Anderen gerade jetzt gut tut. Wir können genau sagen, wann jemand etwas zu trinken und zu Essen braucht. Es wäre aber oftmals effizienter, mit einem alten Menschen mit einem Glas anzustoßen, als diesem ständig zum so wichtigen Trinken aufzufordern. Wir wissen ganz genau, wenn die Sonne in der warmen Jahreszeit scheint, braucht man keinen Mantel oder eine Mütze, auch wenn die demente Person noch so oft ausdrückt, dass es draußen kalt ist. Anstatt einfach einmal mit nach draußen zu gehen und auf die Wahrnehmung der Person zu vertrauen, diskutieren und argumentieren wir, ohne in der besagten Situation gewesen zu sein. Dass Diskussion auch Zeit kostet und am Ende oft nichts bringt, außer vielleicht noch mehr Ablehnung, ist bekannt. Im zweiten Prinzip der Validation heißt es:

Mangelhaft orientierte und desorientierte alte Menschen sollten akzeptiert werden wie sie sind. Wir versuchen nicht, sie zu verändern. Das heißt, wir versuchen, die individuellen Bedürfnisse, die mit einem Verhalten ausgedrückt werden, zu erfüllen. (Feil /de Klerk-Rubin 2017)

Oft sind es die Strukturen einer Institution oder Organisation, die es erschweren, den Bedürfnissen der alten Menschen und auch den eigenen natürlichen Handlungen frei folgen zu können. Immerhin hat man Verantwortung, und es ist manchmal nicht so leicht, gute Argumente zu finden, um die Ziele der alten Menschen zu vertreten. Natürlich müssen Sicherheit und Gesundheit gewährleistet sein. Aber dabei entdecken wir zwischen verschiedenen Einrichtungen erstaunliche Unterschiede. In der einen ist mehr und in der anderen ist eben weniger Handlungsspielraum möglich. Naomi Feil sagte 2010 in einem Interview: „Wenn ein Pflegeteam Validation anwendet, erkennt man das unter anderem an der Flexibilität der Tagesgestaltung in Bezug auf Essen, Pflege und das Eingehen auf Bedürfnisse.“

„Die rote Weste“