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Kim Thúy

Die vielen Namen
der Liebe

Roman

Aus dem Französischen von
Andrea Alvermann
und Brigitte Große

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

Mekong – CỬU LONG – Neun Drachen

ICH WAR ACHT JAHRE ALT, als das Haus in Schweigen versank.

Unter dem zusätzlichen Ventilator an der elfenbeinfarbenen Wand des Esszimmers hing ein großer, fester, leuchtend roter Karton, der einen Block aus dreihundertfünfundsechzig Blättern hielt. Jedes Blatt zeigte das Jahr, den Monat, den Wochentag und zwei Daten: eins nach dem Sonnenkalender und eins nach dem Mondkalender. Sobald ich auf einen Stuhl klettern konnte, war mir die Freude vorbehalten, nach dem Aufstehen eine Seite abzureißen. Ich war die Hüterin der Zeit. Dieses Privileg wurde mir entzogen, als meine älteren Brüder Long und Lộc siebzehn Jahre alt wurden. Wir feierten ihren Geburtstag nicht, und meine Mutter weinte von da an jeden Morgen vor dem Kalender. Es war, als ob sie sich mit jedem Tagesblatt, das sie abriss, selbst zerriss. Das sonst so einschläfernde Ticktack der Standuhr zur nachmittäglichen Siesta klang auf einmal wie das Ticken einer Zeitbombe.

Ich war das Nesthäkchen, die kleine Schwester meiner drei großen Brüder, von allen beschützt wie ein kostbares Parfumfläschchen in einer Vitrine. Obwohl die Sorgen der Familie wegen meines Alters von mir ferngehalten wurden, wusste ich doch, dass die beiden Ältesten an ihrem achtzehnten Geburtstag in den Krieg müssten. Und egal, ob man sie nach Kambodscha in den Kampf gegen Pol Pot schicken würde oder an die Grenze zu China, auf allen Schlachtfeldern drohte ihnen dasselbe Schicksal, derselbe Tod.

Hanoi – HÀ NỘI – Binnenfluss

MEIN GROSSVATER VÄTERLICHERSEITS bekam von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hanoi ein Diplom »als Eingeborener« verliehen. Frankreich sorgte für die Bildung seiner Untertanen, Abschlüsse aus den Kolonien waren aber weniger wert. Vielleicht zu Recht, denn das wirkliche Leben in Indochina hatte nichts mit dem in Frankreich zu tun. Dafür waren Lehrpläne und Prüfungsfragen überall gleich. Auf die schriftlichen Abiturprüfungen, so hatte Großvater uns oft erzählt, folgte noch eine Reihe mündlicher Prüfungen. So übersetzte er etwa vor dem Kollegium ein Gedicht aus dem Vietnamesischen ins Französische und ein anderes andersrum. Auch mathematische Aufgaben musste er mündlich lösen. Die schwierigste Prüfung aber bestand darin, die Feindseligkeit derer auszuhalten, die über seine Zukunft entscheiden würden, und sich davon nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.

Die Unnachgiebigkeit der Lehrer wunderte die Schüler nicht, standen doch Intellektuelle, zu denen die Lehrer gehörten, in der sozialen Hierarchie an der Spitze der Pyramide. Dort thronten sie als Weise und ließen sich von ihren Schülern ihr Leben lang als »Professor« titulieren. Da sie die Hüter der absoluten Wahrheit waren, war es unvorstellbar, etwas, was sie sagten, in Zweifel zu ziehen. Deshalb hatte mein Großvater sich auch nie gewehrt, wenn ein Lehrer ihm einen französischen Namen gab. Von seinen Eltern hatte er aus Unkenntnis oder aus einer Art Protest keinen bekommen. Dafür erhielt er in der Schule Jahr für Jahr von jedem Lehrer einen neuen Namen: Henri Lê Văn An, Philippe Lê Văn An, Pascal Lê Văn An … Von all diesen Namen behielt er Antoine und machte Lê Văn An zu seinem Nachnamen.

Saigon – SÀI GÒN – Stadt im Wald – Baumwollbaum

MIT DEM DIPLOM IN DER TASCHE ZURÄCK in Saigon, wurde mein Großvater väterlicherseits zu einem geachteten Richter und äußerst wohlhabenden Grundbesitzer. Aus Stolz darauf, sich ein Reich und einen Ruf erschaffen zu haben, um die ihn viele beneideten, wiederholte er seinen Namen bei jedem seiner Kinder: Thérèse Lê Văn An, Jeanne Lê Văn An, Marie Lê Văn An … und auch bei meinem Vater, Jean Lê Văn An. Anders als ich war mein Vater der einzige Junge in einer Familie mit sechs Töchtern. Genau wie ich kam er als Letzter zur Welt, als schon niemand mehr auf einen Bannerträger gehofft hatte. Seine Geburt veränderte das Leben meiner Großmutter, die bis dahin tagtäglich die Kommentare der Lästermäuler ertragen hatte, weil sie ihrem Mann keinen Erben gebar. Sie war zerrissen zwischen dem Wunsch, seine einzige Frau zu sein, und der Pflicht, ihm eine Zweitfrau zu suchen. Zu ihrem Glück entschied sich ihr Mann für das monogame französische Modell. Oder vielleicht hat Großvater Großmutter, die in ganz Cochinchina für ihre anmutige Schönheit und Sinnlichkeit bekannt war, auch einfach geliebt.

CÁI BÈ – Bündel, Stängelstrauß

GROSSMUTTER UND GROSSVATER väterlicherseits waren einander frühmorgens auf dem schwimmenden Markt von Cái Bè begegnet, einem Distrikt, der, halb Land, halb Wasser, an einem der Arme des Mekong liegt. Seit 1732 bringen Händler Tag für Tag ihre Obst- und Gemüseernte in diesen Teil des Deltas, um sie an Großhändler zu verkaufen. Von fern erweckt das mit dem lehmigen Braun des Flusses verschwimmende Braun des Holzes den Eindruck, Melonen, Ananas, Pomelos, Kohl und Kürbisse schwebten von selbst über das Wasser bis zu den Männern, die sie ab Tagesanbruch am Kai erwarten, um sie im Flug zu fangen. Noch heute übergeben sie Obst und Gemüse von Hand zu Hand, als würde die Ernte ihnen anvertraut und nicht verkauft. Hypnotisiert von diesen wiederholten synchronen Bewegungen, stand Großmutter am Fähranleger, als mein Großvater sie erblickte. Erst blendete ihn die Sonne, dann das Mädchen mit den besonders ausgeprägten Kurven, betont vom Faltenwurf der vietnamesischen Tracht, die keine plötzlichen Bewegungen gestattet und schon gar keine taktlosen Absichten. Druckknöpfe an der Seite schließen das Kleid, ohne es zu befestigen. So führt eine einzige heftige oder schnelle Bewegung dazu, dass es sich plötzlich völlig öffnet. Deshalb mussten die Schülerinnen ein Leibchen darunter tragen, um versehentliche Unschicklichkeiten zu vermeiden. Aber nichts kann die zwei langen Schöße der Tunika daran hindern, dem Atem des Windes zu gehorchen und so die Herzen zu fangen, die der Macht der Schönheit nur schwer widerstehen.

Mein Großvater tappte in diese Falle. Bezaubert vom sanften Wirbeln dieser Flügel, erklärte er seinem Kollegen, er würde Cái Bè nicht ohne diese Frau verlassen. Bevor er die Hände meiner Großmutter berühren durfte, war er gezwungen, ein anderes Mädchen, das ihm versprochen war, zu kränken und sich mit den Älteren seiner Familie zu entzweien. Einige glaubten, er habe sich in ihre Mandelaugen mit den langen Wimpern verliebt, andere, es seien ihre vollen Lippen gewesen, und viele waren überzeugt, ihre runden Hüften hätten ihn verführt. Doch niemandem waren ihre schmalen Finger aufgefallen, mit denen sie ein Notizheft an die Brust drückte, außer meinem Großvater, der sie über Jahrzehnte beschrieb. Er erwähnte sie noch lange nachdem ihre welkende Haut die zarten, glatten Finger in ein Wunschbild der Fantasie verwandelt hatte oder allenfalls ein Liebesmärchen.

BIÊN HÒA

DIE SCHULE FÜR TRADITIONELLE KUNST in Biên Hòa war auf dem Höhepunkt ihres Ruhms, als meine Großeltern sie besuchten, um die siebte Keramik für ihr siebtes Kind zu kaufen. Sie schwankten zwischen einem blau gesprenkelten Kupferton und einer Seladonglasur, als Großmutter Fruchtwasser verlor. Ein paar Wehen später war mein Vater geboren. Wie ein Wunder empfing mein Großvater vierzehn Tage früher als vorgesehen einen Sohn. Seinen einzigen Sohn.

Großmutter trug meinen Vater mit ihren Feenfingern auf Händen. Das taten auch seine sechs älteren Schwestern. Und die sechsundzwanzig Ammen und Kinderfrauen, Köchinnen und Dienstmädchen. Nicht zu vergessen die sechshundert Frauen, die sein schön geschnittenes Gesicht, seine breiten Schultern, seine athletischen Beine und sein verführerisches Lächeln anbeteten und ihn mit offenen Armen aufnahmen.

Er hätte Naturwissenschaften studieren können oder Recht wie seine Schwestern. Doch die Zuneigung der einen und die Liebe der anderen lenkten ihn von den Büchern ab und erstickten jeden Wunsch. Wie soll man sich auch etwas wünschen, wenn alles im Voraus erfüllt ist? Bis zu seinem fünften oder sechsten Lebensjahr berührte stets der Sauger einer Flasche mit warmer Milch seine Lippen, bevor er die Augen aufschlug. Niemand wagte es, ihn zum Unterricht zu wecken, weil seine Mutter allen verboten hatte, seine Träume zu stören. Seine Amme brachte ihn zur Schule, wo sie mit ihm gemeinsam Lesen lernte. Während seiner Klavierstunden zankten sich die Hausmädchen darum, welche von ihnen mit dem Sandelholzfächer die Luft um ihn erfrischen und seinem Nacken Kühlung zufächeln durfte. Seinen Klavierlehrer gewann er, weil er beim Einspielen mitsang. Je mehr Jahre vergingen, desto mehr Menschen lauschten vor dem Haus den Melodien, die er für den Moment erfand, ohne den geringsten Ehrgeiz, etwas Unsterbliches zu schaffen. Anstrengung langweilte ihn, ebenso wie die Hände, die unaufhörlich Schweißtropfen von seiner Nase wischten. Dennoch traute er sich nicht, eine von all diesen Aufmerksamkeiten zurückzuweisen, weil in seinem Fall das Nehmen Geben war.

So wuchs mein Vater in der Leichtigkeit, aber auch in der Leere der Schwerelosigkeit auf. Seine Zeit bemaß sich nicht nach Stunden, sondern eher nach der Zahl seiner Züge auf dem chinesischen Schachbrett oder nach der Zahl der Strafen, die seine Mutter über die Dienstmädchen verhängte, wenn sie eine Schale oder einen Besen fallen ließen, während er ruhte, oder nach der Zahl der Liebesbriefe, die ohne Absender in den Briefkasten geworfen wurden.

Die Früchte des Lê-Văn-An-Imperiums hätten ihm ein müheloses Leben am Rand der Gesellschaft sichern können. Glücklicherweise liebt das Leben Überraschungen und die ständige Veränderung in der Ordnung der Dinge, um allen die Gelegenheit zu geben, seinen Bewegungen zu folgen und in ihm aufzugehen. Mein Vater war kaum zwanzig, als die Agrarreform die Erträge und den Grundbesitz des Lê-Văn-An-Imperiums halbierte. Zum ersten Mal hatten die Bauern die Chance, das Land, das sie beackerten, auch zu besitzen. Parallel zu dieser neuen Politik erlitt mein Großvater einen Herzinfarkt, der ihn selbst halbierte. Ohne diese Erschütterungen hätte mein Vater meine Mutter wohl nie geheiratet.

Dalat – ĐÀ LẠT – lateinisch: dat aliis laetitiam aliis temperiem

DIE MÄDCHEN AUS ĐÀ LẠT waren für ihren blassen Teint und ihre rosigen Wangen bekannt. Manche meinen, die frische Luft der Hochebenen lasse sie so strahlen, während andere ihre sanften Bewegungen dem Nebel zuschreiben, der über den Tälern liegt. Meine Mutter war eine Ausnahme von dieser Regel. Sehr schnell und sehr früh fand sie sich damit ab, dass nie ein Junge zu ihr sagen würde: »Du bist mein Frühling«, obwohl ihr Vorname Xuân Frühling bedeutete und sie an einem Ort lebte, der »Stadt im ewigen Frühling« genannt wurde. Meine Mutter hatte nicht die weiche, zarte Haut meiner Großmutter geerbt. Sie trug eher die Khmer-Gene ihres Vaters in sich, wovon ihr grobes Gesicht zeugte, das während der Pubertät außerdem noch von Akne verunstaltet wurde. Um die Blicke der Lästermäuler abzuwehren und deren Lippen zu verschließen, hatte sie beschlossen, eine wilde Frau zu werden, bewaffnet mit einem eisernen Willen und harten, männlichen Worten. Von der ersten Vorschulklasse bis zum letzten Schuljahr war sie immer die Beste. Ohne den Beginn ihres Wirtschaftsstudiums abzuwarten, übernahm sie schon in jungen Jahren die Führung der elterlichen Orchideenfarm, diversifizierte und reorganisierte die Produktion und machte daraus ein Unternehmen mit exponentiellem Wachstum.

Ihren Vater, einen hohen Beamten, bat sie um die Erlaubnis, die Villa, die sie an Feriengäste vermieteten, mit einigen Verbesserungen auszustatten. Bald hatte sie ihn auch davon überzeugt, weitere Häuser zu kaufen, um die starke Nachfrage zu befriedigen. Viele suchten nach einem Ort, der sie an Europa erinnerte, fern von einem Alltag, den tropische Hitze und die Spannungen zwischen Herrschenden und Beherrschten oft erstickend machten. Es hieß, dass Đà Lạt, wie sein Name verriet, die Macht habe, den einen Freude und anderen Frische zu schenken.

Meine Mutter war fünfzehn, als mein Vater zum ersten Mal in die Villa in Đà Lạt kam. Er bemerkte sie nicht, denn wenn er vorbeiging, senkte sie den Blick, um sich nicht zu verraten. Während dieses ersten Aufenthalts der Familie des Richters Lê Văn An beobachtete sie ihn nur von fern. Ab dem folgenden Jahr bestand sie darauf, sich an der Zubereitung des Essens zu beteiligen, und überwachte jedes Detail, von den zu feinen Blüten geschnitzten Karotten in den Saucen bis zu den Wassermelonenstücken, deren Kerne einzeln mit einem Zahnstocher entfernt wurden, um das Fruchtfleisch nicht zu verletzen.

Der Morgenkaffee musste aus den Exkrementen der Zibetkatze zubereitet werden, eine Spezialität, die ihm das Bittere nahm und ihm einen Karamellgeschmack verlieh. Den brachte sie meinem Vater persönlich auf die Terrasse, in der Hoffnung, ihm dabei zusehen zu können, wie er seine ebenholzfarbenen Haare à la Clark Gable mit Brillantine frisierte. Es verschlug ihr jedes Mal den Atem, wenn er den Kamm umdrehte und mithilfe seines spitzen Stiels eine kleine s-förmige Locke modellierte und in die Stirn fallen ließ. Doch obwohl sie nur wenige Schritte neben ihm stand, während der Kaffee Tropfen für Tropfen durch den Filter direkt in eines der vier kostbaren Baccarat-Gläser der Familie fiel, war sie für seine Augen unsichtbar. Sie verlängerte die Freude, sich in seiner Gesellschaft zu befinden, indem sie den Deckel des Filters zupresste und so das Durchlaufen des heißen Wassers durch die sehr kompakte Kaffeeschicht verlangsamte. Am Ende hielt sie einen Löffel mit der gewölbten Seite unter den Filter, was das Tropfen versiegen ließ. Wie alle Vietnamesen süßte mein Vater seinen Kaffee mit gezuckerter Kondensmilch, außer dem ersten Schluck, den er am liebsten schwarz trank. Und nach diesem ersten Schluck war es, dass er endlich meine Mutter ansprach.

BUÔN MÊ THUỘT

ÜBERRASCHT VON DEM BESONDEREN, samtigen Geschmack des Kaffees, schaute er meine Mutter an. Sie verriet ihm das Geheimnis, indem sie ihm eine unförmige kleine Kugel mit Kaffeebohnen darin zeigte, wie sie in der Gegend der Plantagen von Buôn Mê Thuột gesammelt werden. Diese Kugeln sind der Kot der wilden Zibetkatzen, die reife Kaffeekirschen fressen und die Bohnen nach der Verdauung vollständig ausscheiden. Da die Kulis kein Recht auf die Früchte hatten, die sie auf Rechnung der Grundbesitzer pflückten, nutzten sie die Bohnen aus diesen Exkrementen, die sich als köstlicher und vor allem seltener als die normal geernteten erwiesen. Mein Vater verfiel diesem Kaffee sofort. Meine Mutter diente sich ihm freiwillig als Lieferantin an und erläuterte ihm detailliert die während der Röstung sparsam hinzugefügten Aromen, darunter kostbare, aus Frankreich importierte Butter. Alle zwei Wochen packte sie gewissenhaft ein Säckchen voll Kaffee, das sie oder ein Angestellter meinem Vater zu seinen Händen übergab. Diese Gewohnheit behielt sie auch in der Regenzeit bei, während der Demonstrationen in den Straßen Saigons, nach der Ankunft der Sowjets im Norden und dem Einmarsch amerikanischer Soldaten im Süden.

Wenn die Familie Lê Văn An nach Đà Lạt kam, kümmerte sich meine Mutter weiter um die Bedürfnisse meines Vaters, vom Kaffee morgens bis zum Moskitonetz, das man zwischen Bett und Matratze stecken musste. Nach dem Herzinfarkt meines Großvaters väterlicherseits luden die Eltern meiner Mutter ihn ein, öfter mit seiner Familie zu kommen, denn die Luft in Đà Lạt war für ihre wohltuende Wirkung bekannt. Nach und nach wurde eine der Villen zum Wohnsitz der Familie meines Vaters, auch wenn ihr nun die Mittel fehlten, sich diesen Aufenthalt zu leisten. Meine Mutter war glücklich, wenn sie die Spuren meines Vaters auf den Wegen des Rosengartens sah oder nachts seine Stimme zwischen den Pinien erklingen hörte.