Der Bergpfarrer – 154 – Altes Unrecht gegen neues Glück

Der Bergpfarrer
– 154–

Altes Unrecht gegen neues Glück

Im Schatten des silbernen Medaillons

Toni Waidacher

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-000-5

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Der Wagen des Bergpfarrers bog in die Einfahrt des Hirschlerhofes und hielt vor dem Bauernhaus. Sebastian Trenker stieg aus und schaute sich um. Er entdeckte den Sohn des Altbauern, der am Stall stand und irgend etwas auszumessen schien.

»Grüß dich, Vinzent«, rief der Geistliche und ging zu ihm hinüber.

»Grüß Gott, Hochwürden«, erwiderte der Bauer. »Was führt Sie zu uns?«

»Ich wollt’ eigentlich mit dem Vater sprechen. Ist er daheim?«

»Der ist heut’ schon in aller Frühe aus dem Haus«, erklärte Vinzent Hirschler. »Ein bissel wandern.«

Sebastian sah ihn ein wenig verwundert an. Hubert Hirschler, Altbauer und ehemaliger Besitzer des Hofes, war nicht mehr der jüngste.

»Wandern? Wohin hat er denn gewollt?« erkundigte er sich.

»Den Jägersteig weiter hinauf. Aber warum fragen S’ das?«

Plötzlich ging ein Zucken durch das Gesicht des Bauern.

»Ist vielleicht was passiert?« fragte er erschrocken. »Sind S’ gekommen, weil…«

»Nein, nein«, Sebastian schüttelte den Kopf. »Net, was du denkst. Ist der Vater allein unterwegs?«

»Nein, er begleitet den Herrn Hinzmann«, antwortete Vinzent.

»Aha. Und wer ist das?«

»Ach, irgend so ein Tourist. Wohnt mit seiner Frau in einer der Pensionen drunten im Dorf. Aber die fühlt sich net ganz wohl und hat net viel Lust zu einer Wanderung. Deshalb ist der Vater mit dem Georg losgegangen.«

»Dann heißt dieser Herr Hinzmann also Georg mit Vorname?«

Vinzent nickte.

»Ja, Vater hat ihn vorigen Sonntag kennengelernt. Ist ein ganz netter Mensch, interessiert sich für alte Bauernhöfe. Er war schon einige Mal bei uns.«

Der junge Bauer lächelte.

»Gehört schon fast zur Familie«, setzte er hinzu.

Aber dann blickte er den Bergpfarrer forschend an.

»Sagen S’, Hochwürden, haben S’ einen bestimmten Grund für Ihren Besuch?«

Sebastian Trenker erwiderte den Blick.

»Ja, den hab’ ich«, erwiderte er. »Allerdings möcht’ ich darüber erst einmal mit deinem Vater reden. Aber etwas anderes, kennst du einen Mann namens Franz Gruber? Hat er euch mal aufgesucht?«

Vinzent Hirschler runzelte die Stirn.

»Franz Gruber?« antwortete er. »Freilich kenn ich da jemanden, der so heißt. Eigentlich sind’s sogar mehrere. Ist ja kein ungewöhnlicher Name.«

»Nein, hier in der Gegend ist er weit verbreitet«, bestätigte der Geistliche. »Aber der, den ich meine, spricht hochdeutsch.«

Der Bauer schürzte die Lippen und schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Nein«, antwortete er schließlich. »So einen Franz Gruber kenn’ ich net.«

Pfarrer Trenker nickte.

»Dann nix für ungut, Vinzent«, sagte er. »Ich muß jetzt wieder weiter. Grüß mir die Familie. Und ich komm’ mal wieder vorbei.«

Während er zu seinem Auto ging, schaute ihm der junge Bauer nachdenklich hinterher.

Genauso nachdenklich fuhr der gute Hirte von St. Johann ins Dorf hinunter. Sein Besuch auf dem Hirschlerhof war anders verlaufen, als er es sich vorgestellt hatte. Schade, daß der Altbauer nicht daheim gewesen war. Sebastian Trenker hätte ihm schon einige Fragen zu stellen gehabt.

Da war vor allem Huberts Verbindung zu einem gewissen Josef Gruber, einem Mann aus St. Johann, der vor mehr als fünfzig Jahren in einen Diebstahl verwickelt war. Ein wertvolles Medaillon soll er gestohlen und dafür im Gefängnis gesessen haben. Nach seiner Haftentlassung war Gruber nicht wieder nach St. Johann zurückgekehrt. Erst vor kurzem hatte Max Trenker herausgefunden, daß der Mann vor einigen Jahren in Norddeutschland verstorben war, in der Nähe von Hannover hatte er bis dahin gelebt.

Vor kurzem war dann ein Franz Gruber in St. Johann aufgetaucht, hatte sich in der Pension von Marion und Andreas Trenker eingemietet und sich in auffälliger Weise nach einem Brandnerhof erkundigt. Davon gab es allerdings eine ganze Reihe im Wachnertal, denn auch der Name Brandner war nicht ungewöhnlich für diese Region.

Nachdem der Bergpfarrer diesen Herrn Gruber mehrere Male angesprochen hatte, dieser sich ihm gegenüber aber wortkarg gab, hatte der Geistliche schließlich seinen Bruder gebeten, darüber nachzuforschen. Heraus kam eben die Geschichte von dem Diebstahl des wertvollen Schmucks, und Sebastian vermutete, daß Josef der Vater von Franz Gruber war. Max forderte daraufhin die Prozeßakte an, und mit ihrer Ankunft eröffnete sich für den Pfarrer ein ganz neuer Aspekt.

Wie sich herausstellte, war Hubert Hirschler seinerzeit als Zeuge gegen Josef Gruber aufgetreten und hatte diesen schwer beschuldigt. Hubert Hirschlers Aussage gab damals den Ausschlag dafür, daß Josef Gruber verurteilt wurde! Da wurde dem Bergpfarrer klar, welche Verbindung es zwischen dem Namen Hirschler und dem ominösen Brandnerhof gab: Hubert Hirschler hatte, kurz nachdem der Prozeß vorüber war, eine junge Frau geheiratet. Die Tochter eines Bauern und Alleinerbin des Hofes – ihr Name war Maria Brandner.

Und so hatte der Hirschlerhof früher Brandnerhof geheißen!

*

Hubert Hirschler blieb einen Moment stehen und holte tief Luft.

»Sollen wir eine Pause machen?« fragte sein Begleiter.

Der Altbauer schüttelte den Kopf.

»Net nötig, Georg«, erwiderte er, »wir sind ja gleich da.«

Der Mann, der sich Georg Hinzmann nannte, in Wirklichkeit aber Franz Gruber hieß, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war früher Vormittag, und die Sonne stand am strahlend blauen Himmel. Kein Lüftchen regte sich, und die Temperatur mußte wohl an die achtundzwanzig Grad betragen.

Hubert nickte ihm zu und setzte sich wieder in Bewegung.

»Noch ein oder zwei Kilometer«, sagte er. »Dann machen wir Brotzeit. Die Klara hat uns ordentlich was eingepackt.«

»Eigentlich müßte ich mich deiner Schwiegertochter gegenüber mal erkenntlich zeigen«, meinte Gruber. »Jedesmal wenn wir losziehen, sorgt sie dafür, daß wir nicht verhungern und verdursten.«

Der Altbauer winkte ab.

»Schon gut«, erwiderte er. »Das macht sie doch gern’. Aber sag’ mal, wie geht’s denn deiner Frau?«

»Na ja, heute geht es ihr mal wieder nicht ganz so gut«, entgegnete Franz Gruber. »Der Föhn macht ihr zu schaffen.«

»Schade. Du müßtest sie eigentlich mal mit zu uns bringen. Wenn ihr mit dem Auto fahrt, kann’s doch wirklich net so schlimm für sie sein.«

»Mal sehen«, meinte der Norddeutsche ausweichend. »Vielleicht geht es ihr in den nächsten Tagen ja besser, und wir besuchen euch, kurz bevor wir wieder nach Hause fahren.«

Als Franz Gruber das sagte, drehte er den Kopf zur Seite, damit der alte Mann sein grimmiges Gesicht nicht sah. Er hatte keinesfalls die Absicht, in Kürze wieder nach Hause zu fahren. Seine Frau war auch nicht in der Pension geblieben, wie er Hubert Hirschler erzählt hatte. Lina Gruber war gar nicht nach Bayern mitgekommen, sondern daheim geblieben, in Moorkate, einem kleinen Dorf in der Nähe von Hannover. Sie mußte ja, zusammen mit ihrem Sohn Thomas, den Tischlereibetrieb weiterführen.

Der Altbauer ahnte natürlich nicht, daß er so getäuscht wurde. Auch nicht, was Franz Gruber in Wirklichkeit vorhatte.

Aber er würde es noch früh genug erfahren…

Die beiden Männer hatten den Rest des Weges zurückgelegt und standen nun auf einem schmalen Plateau. Sie blickten ins Tal hinunter und schauten fast bis nach St. Johann hinüber.

»Ist das net ein herrlicher Ausblick?« fragte Hubert.

Er war fünfundsiebzig Jahre alt, aber die sah man ihm nicht an. Auch wenn er sein Leben lang gearbeitet hatte, war er immer noch rüstig und konnte es mit einem Jüngeren durchaus aufnehmen, was die Kondition anging.

»Wunderschön«, stimmte Franz Gruber zu und nahm den Rucksack von der Schulter.

Er öffnete ihn und holte Päckchen mit belegten Broten und eine Thermoskanne heraus. Dann nahmen sie ihre Brotzeit ein, während sie ins Tal schauten.

Franz Gruber war Mitte vierzig, groß und schlank. Das Haar war dunkelbraun, und sein Gesicht machte einen sympathischen Eindruck. Vielleicht war das der Grund, warum Hubert Hirschler so schnell Vertrauen zu ihm gefaßt hatte, als sie sich das erste Mal begegneten.

Daß dies kein Zufall war, wußte nur der Norddeutsche…

Ja, Franz hatte sich alles gut überlegt. Hergekommen war er mit der Absicht, das Unrecht, das seinem Vater widerfahren war, zu rächen. Doch es hatte eine Weile gedauert, bis er den Schuldigen gefunden hatte. Der Brandnerhof, den er gesucht hatte, hieß heute Hirschlerhof. Ein zufällig mit angehörtes Gespräch, während des Tanzabends im Löwen, hatte ihn auf die Spur gebracht. Gruber war gleich am nächsten Tag hinaufgefahren und machte dabei Hubert Hirschlers Bekanntschaft. Indem er dem Alten vorgaukelte, sich für Bauernhöfe zu interessieren, erschlich er sich dessen Vertrauen. Inzwischen war er mehrere Male Gast der Familie gewesen, hatte sich auf dem Hof umgesehen und dabei seinen Plan immer weiter entwickelt.

Und heute sollte es soweit sein. Die Stunde der Abrechnung war gekommen. Hier oben waren sie ganz alleine, und niemand würde Zeuge sein, wenn er dem Widersacher seines Vaters die Anklage entgegenschleuderte.

Wie hatte er diesen Tag herbeigesehnt!

Nur schade, daß sein Vater es nicht mehr erlebte. Aber er, der Sohn, hatte sein Versprechen gehalten, den Mann zu finden, der schuld am Unglück des Josef Grubers war, und nichts und niemand würde ihn daran hindern, seine Rache bis zum letzten Moment auszukosten.

*

»Was bist’ denn so stumm?« fragte der Altbauer nach einer Weile.

Sein Wanderkamerad saß neben ihm und starrte vor sich hin. Hubert Hirschler ahnte, daß ›Georg Hinzmann‹ etwas sehr stark beschäftigte.

»Ich habe an meinen Vater gedacht«, erwiderte Franz Gruber und hob den Kopf.

»Lebt er noch oder ist er etwa schon tot?«

»Ja, er starb vor ein paar Jahren.«

»War er denn so alt oder krank?«

Gruber holte tief Luft.

»Nicht älter, als du damals warst«, antwortete er. »Nein, am Alter hat es nicht gelegen. Er starb an gebrochenem Herzen.«

»Das tut mir leid«, murmelte Hubert Hirschler. »Was war denn geschehen? Oder magst’ es mir net sagen?«

Der Jüngere trank einen Schluck Kaffee. Er hatte lange überlegt, wie er das Gespräch beginnen sollte. Und vor allem, wie es enden konnte. Mehr als einmal hatte er den Gedanken gehabt, diesen Mann neben sich umzubringen. Und hier, an diesem Platz, wäre es geradezu ein Kinderspiel. Sie waren ganz alleine auf dem Jägersteig, und wenn er den Altbauern über den Rand des Plateaus drängte, und dieser in die Tiefe stürzte, dann konnte er es immer noch als Unfall hinstellen…

Doch Franz Gruber war kein Mörder, und sein Vater würde dadurch auch nicht wieder lebendig werden. Hubert Hirschler sollte aber nicht so einfach davonkommen. Er mußte gestehen, was er damals getan hatte, und Josef Gruber in der Öffentlichkeit rehabilitieren.

»Meinem Vater wurde Unrecht zugefügt«, sagte er schließlich. »Er war noch sehr jung damals und ahnte nicht, wie infam ein Mensch sein konnte. Die ganze Geschichte spielte sich vor mehr als fünfzig Jahren ab…«

Er sah Hubert durchdringend an. Doch in dessen Gesicht zeigte sich keine Regung.

Aber wie sollte er auch? Der alte Mann stellte ja keine Verbindung zwischen ihm und Josef Gruber her.

»Mein Vater wurde ins Gefängnis gesteckt, obwohl er unschuldig war«, setzte er hinzu und beobachtete den Alten ganz genau.

War da nicht eben ein Aufblitzen in dessen Augen gewesen? Sah er jetzt zumindest die Parallele zwischen seiner Geschichte und der, die er gerade erzählt bekam?

Hubert Hirschler räusperte sich. Ihm war plötzlich sehr heiß geworden. Natürlich war ihm eingefallen, was ihm seit Jahren auf der Seele lastete…

»Wie… wie kam denn das?« fragte er mit belegter Stimme.

Franz verzog das Gesicht zu einem spöttischen Lächeln.

»Ein vermeintlicher Freund trat in dem Prozeß gegen meinen Vater als Zeuge auf«, fuhr Gruber fort. »Eigentlich ging es bei der ganzen Sache aber um etwas ganz anderes. Die beiden, Vater und sein damaliger Freund, hatten sich in ein und dieselbe Frau verliebt. Wie es aussah, schenkte die ihre Gunst aber meinem Vater. Daraufhin entwickelte der Konkurrent einen perfiden Plan. Er brach in das Haus der Frau ein und stahl Schmuck. Den versteckte er so gut, daß niemand ihn finden konnte.

Und zwar in der Kammer meines Vaters!

Dann sorgte er dafür, daß die Polizei einen Wink bekam. Sie durchsuchten die ganze Wohnung und fanden den Schmuck natürlich. Der ›Freund‹ sagte aus, mein Vater habe mehrmals erzählt, daß er der Dieb sei, und dafür wurde Josef Gruber ins Gefängnis gesteckt!«