H. G. Wells

Ugh-lomi

Eine Geschichte aus der Steinzeit

 

Fantasy-Classics – Band 1

H. G. Wells – Ugh Lomi

1. Auflage – April 2018

© vss-verlag Hermann Schladt

Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung eines Fotos von pixabay.de

Autorisierte Übersetzung von Clarisse Meitner 1923

Neubearbeitung: Sarah Schmidt

 

Drittes Kapitel - Der erste Reiter

 

In den Tagen vor Ugh-lomi hatte es wenig Streit zwischen Pferden und Menschen gegeben. Sie lebten getrennt voneinander – die Menschen in den Flusssümpfen und Dickichten, die Pferde in den weiten, grasbewachsenen Hochländern zwischen Kastanien- und Fichtenwäldern. Manches Mal verirrte sich wohl ein Gaul in die schlammigen Sümpfe und gab, nachdem man ihn durch Steinwürfe erschlagen hatte, ein köstliches Mahl ab; manches Mal auch fanden die Leute des Stammes ein Pferd, die Beute eines Löwen, und schmausten, sobald sie die Schakale fortgejagt hatten, nach Herzenslust, während die Sonne hoch am Himmel stand. Diese Pferde der alten Zeiten hatten plumpe Fesseln, einen struppigen Schweif, einen großen Kopf und waren von schwarzbrauner Färbung. Sie kamen jeden Frühling nordwestwärts ins Land, nach den Schwalben und vor den Flusspferden, wenn das Gras auf den weiten Flächen des Tieflandes hoch aufschoss. Sie kamen nur in kleinen Gruppen so weit und jede Herde – etwa ein Hengst, zwei oder drei Stuten und ein Fohlen – hatte ihren eigenen Landstrich; und sie gingen wieder, wenn die Kastanienbäume gelb wurden und die Wölfe von den Bergen herunterkamen.

Sie hatten die Gewohnheit, immer weit draußen im Freien zu grasen, und nur während der größten Hitze des Tages suchten sie Deckung. Sie mieden die weiten Flächen von Dornengestrüpp und Buchenwäldern und zogen vereinzelte Baumgruppen, wo es keinen Hinterhalt geben konnte, vor, so dass es schwer war, an sie heranzukommen. Kämpfer waren sie nie gewesen. Ihre Hufe und Zähne brauchten sie nur gegeneinander; aber jagten sie einmal in vollem Galopp über das freie Feld, dann kam ihnen kein lebendes Geschöpf nahe. Der Elefant hätte es vielleicht vermocht, wenn er es für notwendig befunden hätte. Und die Menschen schienen in jenen Tagen recht harmlose Geschöpfe zu sein. Kein Flüstern einer prophetischen Eingebung hatte dieser Tierart verraten, welch furchtbare Sklaverei ihr bevorstünde, hatte ihr von der Peitsche erzählt, den Sporen und den Zügeln, von den schweren Lasten, den schlüpfrigen Straßen, dem ungenügenden Futter und von dem Hof des Rossschlachters und all dem, was da kommen sollte statt jenes weiten Wiesenlandes und aller Freiheit der Erde.

Unten in den Sümpfen hatten Ugh-lomi und Judina die Pferde niemals in der Nähe gesehen; aber jetzt sahen sie sie jeden Tag, wenn sie beide zusammen aus ihrem Lager am Felsrand der Schlucht auf der Suche nach Nahrung auf Raubzug gingen. Als sie Anduh erschlagen hatten, waren sie zu dem Felsband zurückgekehrt, denn vor der Bärin hatten sie keine Angst. Die Bärin hatte vielmehr vor ihnen Angst, und wenn sie sie witterte, ging sie ihnen aus dem Weg. Die beiden waren immer und überall zusammen, denn seitdem sie den Stamm verlassen hatten, war Judina mehr Ugh-lomis Kumpanin als sein Weib; sie lernte sogar jagen – so gut es eine Frau eben konnte. Sie war wirklich ein wundervolles Weib. Er lag oft stundenlang still, um einem Tier aufzulauern oder um in diesem Zottelkopf, den er nun einmal hatte, Fallen auszuhecken; und dann stand sie neben ihm, ihre hellen Augen auf ihn gerichtet, ohne störende Fragen zu stellen – so still wie ein Mann. Ein herrliches Weib!

Ganz oben auf dem Felsen war eine große freie Wiese und dahinter ein Buchenwald. Durchschritt man diesen Buchenwald, kam man an den Rand eines hügeligen, grasbewachsenen Platzes und in Sichtweite der Pferde. Hier am Waldesrand, zwischen den Bäumen und den Farnen, waren die Kaninchenbaue, und hier pflegten Judina und Ugh-lomi in den grünen Blättern zu liegen. Sie hielten ihre Wurfsteine bereit und warteten, bis das kleine Volk hervorkäme, um bei untergehender Sonne herumzunagen und zu spielen. Und während Judina, den Bau beobachtend, dasaß, ein stilles Standbild der Wachsamkeit, glitten Ugh-lomis Augen immer und immer wieder ab, über den Rasen, zu jenen wundervollen, grasenden Unbekannten.

Dunkel fühlte und schätzte er ihre Grazie und ihre geschmeidig-flinken Bewegungen. Wenn sich abends die Sonne senkte und die Hitze des Tages dahinschwand, wurden sie lebendig, begannen einander zu jagen, wieherten, spielten, schüttelten ihre Mähnen, liefen in großem Bogen herum, manchmal so eng beieinander, dass es über den gestampften Rasen unter ihren Hufen wie rollender Donner dröhnte. Es sah so herrlich aus, dass Ugh-lomi große Lust hatte, mitzumachen. Und manchmal wälzte sich eines der Pferde auf der Erde und schlug mit seinen vier Hufen himmelwärts, was furchtbar aussah und sicherlich viel weniger verführerisch war.

Dunkle Vorstellungen wälzten sich in Ugh-lomis Kopf, während er so zusah – welchem Umstand zwei Kaninchen ihr Leben verdankten. Wenn er aber schlief, waren seine Gedanken klarer und kühner – denn so war es in jenen Tagen. Er kam den Pferden nahe, träumte er, und kämpfte, Wurfsteine gegen Hufe; aber dann verwandelten sich die Pferde in Menschen oder zumindest in Menschen mit Pferdeköpfen, und er erwachte, in kalten Angstschweiß gebadet.

Des anderen Tages jedoch, als die Pferde grasten, wieherte eine Stute, und da sahen sie Ugh-lomi, der mit dem Winde heraufkam. Sie hörten alle auf zu fressen und beobachteten ihn. Ugh-lomi kam nicht auf sie zu, sondern streifte abschwenkend auf dem Platz umher und sah nach allem in der Welt, nur nicht nach den Pferden. Er hatte drei Farnwedel in seinem Haar stecken, was seiner Erscheinung etwas Auffallendes gab, und schritt sehr langsam einher. „Na, was ist denn das?“, sagte Junker Hengst, ein tüchtiger, aber unerfahrener Geselle.

„Es sieht von allen Dingen der Welt noch am ehesten wie die vordere Hälfte eines Tieres aus“, sagte er. „Vorderbeine sind da, aber keine Hinteren.“

„Es ist nur eines jener rosa Affendinger“, sagte die älteste Stute. „Das ist so eine Art Flussaffe. Sie kommen in den Ebenen sehr häufig vor.“

Ugh-lomi setzte in schräger Richtung seine Annäherung fort. Der ältesten Stute fiel es auf, dass er gar keinen Grund hatte, in dieser Richtung weiterzugehen.

„Narr!“, sagte die älteste Stute in ihrer schnell entscheidenden Art. Sie nahm das Grasen wieder auf. Junker Hengst und die zweite Stute folgten ihrem Beispiel.

„Schau! Er ist jetzt näher“, sagte das Fohlen mit dem Streifen.

Eines der jüngeren Fohlen machte eine unruhige Bewegung. Ugh-lomi warf sich nieder, saß da und sah die Pferde unverwandt an. Nach einer Weile stellte er zufrieden fest, dass sie weder auf Flucht noch Feindschaft aus waren. Er begann über sein nächstes Vorgehen nachzudenken. Er war nicht begierig zu töten, aber er hatte seine Axt mit, und sportlicher Ehrgeiz trieb ihn. „Wie könnte man eines dieser Geschöpfe töten? – Diese großen, schönen Geschöpfe!“

Judina, die ihn mit ängstlicher Bewunderung aus der Deckung der Farnkräuter beobachtete, sah ihn plötzlich auf allen vieren wieder weiter vorgehen. Aber den Pferden war er als Zweifüßler lieber gewesen denn als Vierfüßler, und Junker Hengst warf seinen Kopf zurück und gab das Zeichen zum Aufbruch. Ugh-lomi dachte, dass sie nun endgültig fort wären, aber nachdem sie eine Minute lang galoppiert hatten, kamen sie in weitem Bogen zurück und standen da und witterten nach ihm. Dann, da eine Bodenerhebung ihn verbarg, bildeten sie eine Reihe hintereinander, Junker Hengst an der Spitze, und näherten sich ihm in einer Schwarmlinie.

Er wusste ebenso wenig von den Fähigkeiten der Pferde, wie sie von den seinen. Und es schien in diesem Augenblick geradezu, als hätte er große Angst. Er wusste, rotes Wild oder Büffel, wenn sie solches Anschleichen fortsetzten, würden zum Angriff übergehen. Jedenfalls sah Judina, wie er aufsprang und, den Farnwedel in der Hand, auf sie zukam.

Sie stand auf, und er grinste, um ihr zu zeigen, dass das Ganze ein Riesenspaß gewesen wäre, dass er genau das getan hätte, was er sich von Anfang an zu tun vorgenommen hatte. Somit war dieser Vorfall beendet. Aber den ganzen Tag über war er sehr nachdenklich.

Am nächsten Tag trieb sich dieses närrische, bräunliche Geschöpf mit der Löwenmähne wieder bei den Pferden herum, statt sich um Weide und Jagd zu kümmern, die für ihn passten. Die älteste Stute hatte nur schweigende Verachtung für ihn übrig. „Ich vermute, er will etwas von uns lernen“, sagte sie, und, „na, lasst ihn halt!“ Den nächsten Tag war er wieder da. Junker Hengst entschied, dass er damit gewiss nichts weiter bezweckte. Tatsächlich aber bezweckte Ugh-lomi – der erste aller Menschen, der jenen eigenen Zauber fühlte, mit dem das Pferd uns noch heute fesselt – sehr viel. Es war wohl schon der Keim des Snobs in ihm. Er bewunderte sie vorbehaltlos und er wollte diesen Tieren, deren schöne Linien er bewunderte, nahe sein. Dann wieder war es ein unbestimmtes Verlangen, zu töten, wenn sie ihn nur nahekommen ließen! Aber sie zogen die Grenzlinie, wie er beobachtete, ungefähr fünfzig Ellen weit. Kam er näher, so zogen sie sich zurück – würdevoll. Ich vermute, dass ihn die Erinnerung daran, wie er Anduh geblendet hatte, auf den Einfall brachte, den Pferden auf den Rücken zu springen. Aber obwohl Judina kurze Zeit darauf auch aus dem Wald ins Freie hervorkam und sie unauffällig herumstreiften, blieb es im Großen und Ganzen dabei, und die Sache ging nicht vorwärts.

Da hatte Ugh-lomi an einem denkwürdigen Tag eine neue Idee. Das Pferd blickt nach unten und geradeaus in die Ebene, aber es blickt niemals nach oben. Kein Tier blickt nach oben – dafür haben sie zu viel gesunden Verstand. Nur dieses phantastische Geschöpf – der Mensch – konnte seinen Geist himmelwärts vergeuden. Ugh-lomi zog keine philosophischen Folgerungen, aber er bemerkte, dass die Sache so war. So verbrachte er einen ermüdenden Tag im Schatten einer Buche, die im Freien stand, während Judina herumschlich. Gewöhnlich kamen die Pferde nachmittags während der größten Hitze in den Schatten; aber an diesem Tage war der Himmel bedeckt, und sie wollten nicht, zu Judinas größtem Kummer.

Es war zwei Tage später, als Ugh-lomis Wunsch in Erfüllung ging. Der Tag war glühend heiß und die sich stets vermehrenden Fliegen waren unerträglich. Die Pferde hörten vor Mittag zu grasen auf, kamen in den Schatten seines Baumes und standen schnaubend zu Paaren, Nase an Schwanz.

Junker Hengst verdankte es seinen Hufen, dass er dem Baum am nächsten zu stehen kam. Und plötzlich gab's ein Rascheln, ein Knacken, einen Aufschlag... Dann traf ihn ein scharfkantiger Stein in die Backe. Junker Hengst strauchelte, fiel auf die Knie, sprang wieder auf die Beine und war fort wie der Wind. Die Pferde bäumten sich, und die Luft war erfüllt von wirbelnden Gliedern, schlagenden Hufen und ängstlichem Schnauben. Ugh-lomi wurde fußhoch in die Luft geschleudert, kam wieder herab und wieder hinauf, sein Magen wurde heftig gestoßen und dann fassten seine Knie etwas, was zwischen ihnen war. Er fand von selbst einen Halt mit Knien, Fäusten und Händen und jagte, heftig hin und her geworfen, wild durch die Luft. Seine Axt – fort, weiß Gott wo. „Festhalten!“, sagte Mutter Instinkt, und das tat er.

Er spürte eine Menge grober Haare im Gesicht, einige zwischen den Zähnen, und vor seinen Augen floss ein Streifen grüner Wiese vorbei. Er sah die Schulter von Junker Hengst, groß, glatt und weich, und wie sich die Muskeln unter der Haut schnell bewegten. Er bemerkte, dass er die Arme um den Hals des Pferdes geschlungen und dass das heftige Stoßen, das er verspürte, einen gewissen Rhythmus hatte.

Dann befand er sich inmitten wild dahinjagender Baumstämme, dann wieder waren Zweige und Farne ringsumher, und dann wieder offene Wiesenflächen. Ein Strom von Kieselsteinen schoss vorbei, einzelne kleine Steine flogen unter den schnellen Hufschlägen zur Seite und quer darüber. Ugh-lomi fing an, sich schrecklich unwohl und schwindlig zu fühlen, aber es war nicht seine Art, etwas einfach sein zu lassen, weil es unbequem war.

Er wagte es nicht, loszulassen, aber er versuchte, es sich bequemer zu machen. Er umklammerte den Hals des Pferdes nicht mehr so fest und fasste stattdessen in die Mähne. Er schob die Knie vor, rutschte zurück und kam dort, wo das Hinterteil des Pferdes breiter wird, in eine mehr sitzende Stellung. Es war ein schweres Stück Arbeit, aber er brachte es fertig, und zuletzt saß er so ziemlich rittlings auf dem Pferd, atemlos zwar und nicht ganz sicher, aber doch wenigstens befreit von diesem zermalmenden Stoßen.

Langsam kamen die Bruchstücke von Ugh-lomis Denkkraft wieder in Ordnung. Das Tempo erschien ihm fürchterlich, aber ein gewisses Frohlocken begann seinen ersten wahnsinnigen Schrecken zu verdrängen. Die Luft strich vorbei, süß und wundervoll, der Rhythmus der Hufschläge wechselte, brach ab und kehrte wieder in sich selbst zurück. Sie waren jetzt auf freier Wiese, einer weiten Lichtung. Die Buchenbäume auf beiden Seiten waren ungefähr hundert Ellen weit entfernt, und ein saftig grünes Band schlängelte sich in der Mitte hinab, sternbesät mit hellen Blüten und hier und da schillernd vom Silberglanz einzelner kleiner Wasserbecken. Weit in der Ferne sah man einen blauen Schimmer des Tales – weit, weit weg. Das Gefühl des Frohlockens wuchs. Es war des Menschen erste Freude am Galopp.

Dann kam eine weite Fläche, gefleckt mit fliehenden Dammhirschen, die hierhin und dorthin davonliefen, und dann ein paar Schakale, die Ugh-lomi irrtümlich für einen Löwen hielten und hinter ihm herjagten. Und als sie sahen, dass es kein Löwe war, liefen sie doch noch mit, aus Neugier. Weiter jagte das Pferd, es hatte nur einen Gedanken – zu entkommen. Und hinter ihm her liefen die Schakale mit aufgestellten Ohren und kurz bellenden Zurufen. „Wer tötet wen?“, fragte der eine Schakal. „Das Pferd ist's, das getötet wird“, sagte der andere. Sie heulten das Signal des Verfolgens und das Pferd antwortete darauf, wie Pferde heute auf die Sporen antworten.