Regina Schleheck

 

Luca und das Mal der Fürsten

 

 

 

Regina Schleheck – Luca und das Mal der Fürsten

2. Auflage – Mai 2018

© vss-verlag Hermann Schladt

Titelbild: Armin Bappert

Zweites Kapitel: Hokus Pokus Lokus

 

Ich mag das Bild im Flur. Als ich kleiner war, habe ich mir immer einen Hocker dazu geholt. Aber selbst jetzt bleibe ich noch oft davor stehen und nehme es auch schon mal vom Nagel, um mir alles genau anzugucken. Dann fühle ich mich immer ganz warm im Bauch. So liebe ich meine Familie. In Wirklichkeit ist sie unerträglich.

Als ich kleiner war, ist mir das gar nicht so aufgefallen, es war einfach so, und ich hab immer zugesehen, dass ich mich raushielt, wenn es mir zu viel wurde. Es klappte erstaunlich gut. Je chaotischer es zugeht, umso leichter ist es sich zurückzuziehen. Es gibt in so einem Haushalt eine Menge Nischen, wo man sich wunderbar verstecken kann: Hinter dem Sofa, auf dem Kleiderschrank, in der Garderobe oder auf dem Klo im Keller.

Das war in den letzten Jahren mein Lieblingsaufenthaltsort geworden, vor allem zum Lesen. Ich hatte einen ganzen Stapel Asterix-Hefte da gebunkert, aber auch jede Menge Bücher, die Tafelrunden-Geschichten, Mark Twain und so. Es gibt da unten ein kleines vergittertes Souterrainfenster, durch das genügend Licht reinkommt. In der Garderobe oder hinter dem Sofa braucht man eine Taschenlampe. Damit fällt man natürlich auch viel schneller auf.

Auf das Kellerklo gehen die anderen sehr ungern, da muss einer oben schon stundenlang mit Durchfall das Bad blockieren. Außerdem ist es im Keller schön kühl und unheimlich und es gibt Spinnen. Das war für die Mädels schon mal ein schlagendes Argument mich auf meinem Lokus in Ruhe zu lassen.

Als ich noch kleiner war, war die Bank am Esstisch mein Lieblingsversteck. Da hab ich mich manchmal auch beim Essen einfach runterrutschen lassen. Dann hab mich zusammengerollt und alles nur noch von ganz weit weg gehört. Es hat etwas Beruhigendes. Du hörst alle, aber du musst sie nicht direkt ertragen. Wenn es jemandem auffällt, dass du nicht mehr dabei bist, denken sie halt, du bist aufs Klo. Dass du nicht mehr wiederkommst, merkt keiner so schnell. Die haben alle genug mit sich selbst zu tun. Essen war bei uns schon immer eine Art Überlebenskampf, und gekämpft wurde vorzugsweise in Dezibel. Mama hat immer irgendwelche Regeln angemahnt, aber da keiner außer ihr und Klara etwas davon hielt, hörte sowieso keiner hin im Eifer des Gefechts. Melli ist zum Beispiel immer die erste und letzte am Topf gewesen. Da sie nicht nachnehmen durfte, ehe der letzte den Teller leer hatte, schaufelte sie sich immer Unmengen auf. Die kriegte sie auch immer als erste verdrückt, obwohl eigentlich keiner anfangen durfte, ehe nicht alle was auf dem Teller hatten. Klara hat sich zwar immer als Mamas Hilfssheriff aufgespielt, aber Melli hatte einfach die lauteste Klappe. Nur Line konnte sie manchmal übertönen, wenn sie ihren schrillen Diskant einsetzte, um endlich auch mal was abzukriegen. Allerdings bewies sie oft lange Geduld, weil sie sowieso anderweitig beschäftigt war. In der Regel klingelt bei uns das Telefon mindestens viermal während des Essens, und mindestens dreimal davon ist es für Line. Meist kommt sie schon mit dem Telefon am Ohr an den Tisch. Wenn Mama meckert, dann geht es garantiert gerade um ganz wichtige Hausaufgabenfragen, die nur jetzt sofort geklärt werden können und müssen, weil die jeweilige Freundin offensichtlich den ganzen Nachmittag unaufschiebbare Termine hat. Handys sind sowieso tabu bei uns. Mama sagt, bevor wir kein eigenes Einkommen haben, kommt ihr so was nicht ins Haus, die Telefonrechnung wär schon hoch genug.

In unserer Familie haben die wenigsten die Sinnhaftigkeit von Tischmanieren eingesehen. Wozu braucht man zum Beispiel Gabel und Messer? Große Bissen kann man schließlich von der Gabel abbeißen und der Daumen ist eine prima Ergänzung. Obwohl Mama sich immer aufgeregt hat, dass sie keine Lust hat die Hosen zu waschen, an denen die Daumen dann abgewischt werden. Von Servietten hat auch noch nie jemand was gehalten.

In solchen Diskussionen konnte Robert schon immer prima auftrumpfen. Er hat geschnallt, dass Bildung prima geeignet war, alle anderen, insbesondere seine älteren Schwestern und Mama in Schach zu halten. Daher hat er sich auf so exotische und schlecht überprüfbare Wissensgebiete wie die Kulturgeschichte der Tischsitten gestürzt und sich damit einen Autoritätsvorsprung verschafft, den Melli nicht überbrüllen und gegen den Mama auch nicht an konnte. Zum Beispiel hat er sich ein Repertoire an mittelalterlichen Sprüchen zugelegt. Damit konnte er als einziger Melli ausbremsen, wenn sie so geschlungen hat: „Ez dünket mich groz missetat, an sweme ich die unzuht sihe, der daz ezzen in dem munde hat und die wile trinket als ein vihe.“ Melli wurde dann fuchsteufelswild, weil ihr klar war, dass Robert sich über sie lustig machte, ohne dass sie verstand, was er genau sagte. Wenn sie dann lautstark eine Übersetzung forderte, legte Robert nach: „Der beide reden und ezzen will, diu zwei werc miteinander tuon, und in dem slaf will reden vil, der kann vil selten wol geruon.“ Oder wenn sie den Suppenteller ausschlürfen wollte, dozierte er: „Mit der schüzzel man niht sûfen sol, mit einem lefel, daz stât wol.“

Er schaffte es damit immer, einem das Gefühl zu geben, dass er viel besser wusste, was gute Manieren sind, auch wenn es nur darum ging sein eigenes schlechtes Benehmen zu verteidigen. Mama kriegte immer einen über sich, wenn er mit seinen Schmatz-, Schlürf- und Rülpsorgien loslegte. Aber wenn sie dann meckerte, berief er sich auf Martin Luther: „Warum rülpset und furzet ihr nicht? Hat es euch nicht geschmacket?“ Da musste Mama lachen und ist eingeknickt. Überhaupt konnte sie einfach nicht böse sein, keinem von uns. Oder jedenfalls nicht lange.

Wem überhaupt nie irgendjemand jemals böse war, das ist Lucia. Sie ist einfach immer nur lieb. Wenn sie laut wird, dann nur weil sie wie kein anderer lachen kann. Ich beneidete sie darum manchmal und wünschte, ich könnte auch alles einfach nur komisch finden, statt schrecklich. Daher mag sie auch jeder gut leiden. Mich fanden alle immer ein bisschen komisch. Aber das war mir ja egal, solange sie mich bloß in Ruhe ließen. Eigentlich hatte ich immer wieder das Gefühl, ich sei der einzig Normale in diesem Irrenhaus. Und Lucia vielleicht. Ich dachte oft, wir beide gehörten gar nicht wirklich hier hin. Wir hätten eigentlich ganz woanders geboren werden müssen, in einer anderen Zeit und vor allem in einer anderen Familie.

Wenn ich mich nach dem Abendessen auf Roberts Zimmer geschlichen hab, hat er mir schon mal Lektionen in Sachen Mittelalter gegeben, zumindest was er davon kannte. Keine Ahnung, wieso, aber ich wollte halt immer alles darüber wissen. Die Sprüche hab ich mir gut eingeprägt und sie gelegentlich Alexander aufgesagt, wenn ich mit ihm auf dem Klo allein war. Er nickte dann immer verständnisvoll, wie er überhaupt immer alles verstand, was ich ihm erzählte. Eigentlich war es ja gar nicht nötig, dass ich es ihm erzählte, er verstand auch so alles, dachte ich immer. Schließlich war er ja selbst aus dem Mittelalter und sowieso immer dabei. Den Namen Alexander hatte Robert ihm übrigens noch verpasst, weil sein damaliger bester Freund im Kindergarten so hieß.

Als Robert mir Alexander überließ, wurde er als erstes entwaffnet, weil Mama die Warnungen der Firma Playmobil vor Kleinteilen, an denen Kinder ersticken können, sehr ernst nahm. Für mich war er aber auch ohne Schwert immer ein richtiger Ritter. Robert hat mir später erklärt, dass ein Ritter, der knapp an Waffen ist, Knappe genannt wird. Ich trug jedenfalls den Knappen Alexander immer in irgendwelchen Hosen- oder Jackentaschen mit mir, teilte mit ihm das Bett, und wenn ich in die Schule ging, kam er in meinem Ranzen mit. Als ich auf die weiterführende Schule kam und einen Rucksack kriegte, musste es einer sein, der eine Außentasche für Alexander hatte.

Auf dem Klo las ich ihm die Stellen aus meinen Büchern oder Heften vor, die mich beschäftigten. Und erzählte ihm, was mir sonst so durch den Kopf ging. Da es sonst keinen in meiner Familie interessierte, weil alle sowieso immer schon alles besser wussten, musste er halt dran glauben. Er hörte sich alles geduldig an und gab auch schon mal seinen Senf dazu. Er selbst hatte ja auch keinen außer mir, der sich mit ihm beschäftigte, daher passte es eigentlich ganz gut. Auch wenn ich ihm manche Dinge immer wieder erzählte, vor allem alles, was mir total auf den Zwirn ging. Als der richtige Alexander mich später damit genervt hat, dass er hundertmal die gleiche Geschichte erzählt hat, fiel mir erst auf, dass es anscheinend ganz schön entlastend sein kann, Dinge, die man meint eh nicht ändern zu können, anderen vor zu jammern. Aber dass es einen auch nicht die Spur weiterbringt.

Der Playmobil-Alexander war jedenfalls das einzige Spielzeug, das bei uns am Esstisch erlaubt war. Erstens, weil er mein Freund und kein Spielzeug war, und zweitens, weil eine Regel ohne Ausnahmen keine Regel ist, wie Robert Mama belehrte, die Alexander irgendwann doch verbannen wollte, als er ins Kartoffelpüree gefallen war. „Bei den Rittern ist das so üblich, dass man aus der Schüssel isst“, versuchte er Alexanders Unfall zu erklären, „und unsere Schüssel ist halt ein bisschen groß für ihn! Wie soll der arme Luca ihm das denn beibiegen?“

Mama hat geseufzt und mich mit diesem Blick angeguckt, der mir immer so unter die Haut geht. „Manchmal hab ich den Eindruck, diese Welt ist für unseren Luca einfach auch noch ein bisschen groß“, sagte sie. „Es wird Zeit, dass er allmählich aus seinen Geschichten raus und auf den Boden der Tatsachen kommt.“

Aber dann wurde es erst richtig schlimm und das kam so: Ich hatte unten auf dem Lokus gehockt und in einem Asterix-Band geblättert. Dabei bin ich über einen Spruch gestolpert, den ich ein paar Mal vor mich hin gesprochen hab, weil er mir so gut gefiel: Timeo danaos et dona ferentes. Ich mochte den Klang einfach: I-E-O, A-A-O, E-O-A, E-E-E. Alexander hatte ich auf dem kleinen Waschbecken abgesetzt. Er hörte mir aufmerksam zu und sagte schließlich: „Ich fürchte die Griechen, auch wenn sie Geschenke bringen? – Gar nicht so dumm. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.“ Er kratzte sich mit einer Hand nachdenklich am Kinn.

Hey, was soll das?“, gab ich zurück. Es war nichts Besonderes, dass er mit mir sprach. Aber dass er Lateinisch konnte, wunderte mich doch. Von mir konnte er es jedenfalls nicht haben. „Das kannst du doch gar nicht wissen, ich hab dir die Übersetzung doch noch gar nicht vorgelesen“, sagte ich.

Alexander stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Er wollte sich offensichtlich wichtig machen. „Ihr Klugschieter meint wohl, dass wir überhaupt nichts mitgekriegt haben! Ihr meint, wir haben im dunklen Zeitalter gelebt, in dem keiner lesen und schreiben konnte und schon gar keine Fremdsprachen kannte!“

Kannst du denn lesen? Bisher hab ich dir doch immer vorlesen müssen“, fragte ich.

Na gut“, meinte er etwas kleinlaut, „lesen nun gerade nicht. Wozu sollte das auch gut sein? Man kann auch ohne das Ritter werden. Aber wir sind viel rumgekommen. Wir haben schließlich die Kreuzzüge gemacht.“

Du bist ein Dummschwätzer“, sagte ich, weil es mir doch ein bisschen bunt wurde. „In Wirklichkeit bist du eine Plastikfigur und darüber hinaus eine Halluzination.“

Im gleichen Moment wurde ich furchtbar übellaunig. Irgendwie war das doch ein Eigentor. Wenn Alexander eine schlichte Plastikpuppe und eine Halluzination war, hatte ich offensichtlich selbst einen an der Klatsche.

Alexander sagte nichts mehr, und von oben hörte ich in dem Moment Melli brüllen: „Eeeeessen!“

Ich war so wütend über mich selbst, dass ich raus ging und Alexander am Waschbecken stehen ließ. Das war mir, glaube ich, nie vorher passiert, jedenfalls ganz bestimmt nicht extra. Ich stieg widerwillig die Stufen nach oben und stand vor der verschlossenen Esszimmertür. Offensichtlich war ich mal wieder der letzte. Das kam immer gut. Am liebsten wäre ich gleich wieder umgekehrt, aber dann hörte ich hinter der Tür ein vielstimmiges: „Luuuuca! Wo bleibst du?“, und drückte die Klinke runter. Ich muss einer Salzsäule alle Ehre gemacht haben, denn alle am Tisch drehten sich zu mir rum und brachen in lautes Gelächter aus, als sie meinen Gesichtsausdruck sahen. Das Esszimmer war nicht mehr das Esszimmer, das ich kannte. Die Wände waren aus groben Hölzern, der Boden aus dunklen Bohlen, der Tisch rustikal gezimmert und drum herum standen Hocker statt Bank und Stühlen. Aber das Verrückteste waren die Menschen, die um den Tisch saßen. Es war eine Gallierfamilie, genau wie in den Asterix-Heften, nur aus Fleisch und Blut. Mitten auf dem Tisch thronte ein fetter Wildschweinbraten, den eine dicke Frau mit hochgesteckten Zöpfen und mächtigem Busen gerade anschnitt. Teller gab es nicht, aber Becher. Ein großer Gallier mit einem kräftigen Schnauzbart sagte jetzt etwas grimmig: „Kannst du mir mal sagen, wo du immer steckst, wenn wir anfangen wollen?“ Er sprach mit Roberts Stimme! Ich rieb mir die Augen, und als ich sie wieder öffnete, saß da meine Familie am Tisch und alles war wie immer. Ich hab versucht mir nichts anmerken zu lassen und bin schnell an meinen Platz.

Als ich nach dem Essen die Treppe runter gelaufen bin, um nach Alexander zu gucken, war er verschwunden. Ich hab erst das ganze Klo abgesucht, dann die Treppe nach oben, den Flur, aber er blieb verschwunden. Ich hab an meinem Verstand gezweifelt. Es konnte ihn doch keiner weggenommen haben! Ich war der letzte am Tisch gewesen und als erster aus dem Esszimmer gelaufen, direkt in den Keller. Mit einer Taschenlampe bewaffnet nahm ich mir den Keller noch einmal vor. Vielleicht war Alexander ja einfach stinkig gewesen, dass ich ihn sitzen gelassen hatte, und er hatte sich irgendwo versteckt, um mich zu ärgern. Ich durchsuchte den Keller Zentimeter für Zentimeter, guckte in alle Kisten und unter alle Regale, leuchtete die Rohre unter der Decke ab, aber er blieb verschwunden. In einem der Regale stand die Kiste mit Karl-May-Bänden. Ich zog einen Winnetou raus und streichelte den Prägedruck auf dem Cover. Als ich das Buch aufschlug, fiel mein Blick auf den Satz: „Du bist nun mein Sohn und Krieger unseres Stammes.“ Erschrocken klappte ich das das Buch wieder zu. Es war, als hätte der Satz nur auf diesen Moment gewartet. Als ich nach oben lauschte, merkte ich auf einmal, dass es im Haus merkwürdig still war. Mit einem unguten Gefühl schlich ich die Kellertreppe hoch und zur Wohnzimmertür, unter der ich ein Licht her flackern sah. Wahrscheinlich saßen alle vor dem Fernseher. Vorsichtig öffnete ich die Tür einen Spalt und lugte hinein. Verqualmte Luft zog mir entgegen. In der Mitte des Zimmers flackerte ein Feuer auf einem Lehmboden. Im Schein der Flammen sah ich eine Indianerfamilie mit gekreuzten Beinen im Halbkreis drum herum hocken. Ein hagerer Indianer mit einer Adlerfeder in den glänzenden schwarzen Haaren stopfte sich gerade eine lange bunt bemalte Pfeife. Er hielt einen flackernden Span daran, zog den Rauch tief ein und ließ den Atem langsam wieder entweichen. Sein Blick wanderte zu mir und er winkte mir mit der Pfeife näher zu kommen. Langsam einen Fuß vor den anderen setzend, kam ich näher und wollte eben neben ihm Platz nehmen, als ich an die junge Squaw stieß, die ihm am nächsten saß. „Hey, pass doch auf!“, meckerte sie mich mit Klaras Stimme an, und augenblicklich waren Feuer, Rauch, Lehmboden und Indianer verschwunden, stattdessen saß meine Familie gebannt vor dem Fernseher, der sie in ein unwirkliches blaues Licht tauchte. Ich setzte mich zu Mama und blieb den Rest des Abends da sitzen, blau und unwirklich wie die anderen, ohne dass ich irgendetwas von dem Film mitgekriegt hätte, den sie guckten.

Ich war froh, dass Lucia gleich mitkam, als Mama uns hoch schickte. Aber kaum lag sie im Bett, stöpselte sie sich Kopfhörer in die Ohren, um Musik zu hören. Ich starrte an die Decke und kam mir ausgesprochen dämlich vor, weil ich sie am liebsten gebeten hätte, ob sie nicht die Dinger abnehmen könnte und mich zu ihr lassen wollte, damit ich mit ihr kuscheln konnte, wie wir es als Kinder immer getan hatten. Ja, ich weiß, ihr verdreht die Augen, okay, ja, mir war’s auch peinlich. Aber es gibt solche Momente im Leben, wo man am liebsten wieder ganz klein sein möchte, weil man’s so allein auf der Welt gar nicht aushält. Ich glaube, dass das noch viel krasser ist, wenn man doch in Wirklichkeit eigentlich nie ganz alleine ist. Ich hab dann den „Parzival“ unterm Kopfkissen raus gezogen und noch ein bisschen gelesen, aber es gelang mir nicht mich auf die Ritter der Tafelrunde zu konzentrieren, genauso wenig wie ich Schlaf fand. Mein Ritter Alexander war mir zu präsent und zu abwesend. Also stand ich wieder auf und  lief in den Keller. Barfuß und mit nichts als meinem Pyjama am Leibe ging ich in die Toilette und durchsuchte sie noch einmal. Nichts. Mir fröstelte auf den kalten Fliesen, also setzte ich mich auf das Klo und grübelte. Eine physikalische Erklärung fiel mir nicht dazu ein, dass mein Playmobil-Männchen verschwunden war. Da es aber ohnehin zu den Dingen gehörte, die man als nicht ganz normal betrachten musste, gab es mehrere Erklärungsmöglichkeiten, wenn man davon ausging, dass entweder Alexander oder ich oder wir alle beide nicht normal waren. Mir lag aber eigentlich weniger daran eine Erklärung dafür zu finden, dass er verschwunden war, als vielmehr eine Antwort auf die Frage zu finden, warum er verschwunden war. Vielleicht war es ja der Beginn eines Abenteuers – oder der Beginn meines endgültigen Abdriftens. Was konnte ich anderes tun, als es abzuwarten?

Ich stand also schließlich auf, öffnete die Lokus-Tür – und schloss sie gleich wieder. Nein, diesmal hatte sich nicht meine Familie in Hottentotten-Kostümen um einen Kessel vor dem Lokus versammelt. Ich konnte also auch nicht erwarten, dass sie sich unversehens zurückverwandeln würden. Diesmal war überhaupt keiner vor der Tür gewesen. Vorsichtig drückte ich die Klinke wieder runter und guckte durch den Spalt. Es hatte sich nichts verändert. Um den Spuk zu beenden, musste ich es mit ihm aufnehmen.

Ich trat also hinaus in den nächtlichen Bauernhof.

Drittes Kapitel: Kopf auf Stroh und Stroh im Kopf

 

Dass es ein Bauernhof war, konnte ich mehr ahnen als sehen. Vor allem riechen konnte man es. Schließlich war es Nacht und nirgends brannte ein Licht. Immerhin war der Mond ziemlich voll, so dass man zumindest schemenhaft ein großes Haus mit einem tief gezogenen Dach erkennen konnte. Das Dach hatte keine Ziegel, sondern war mit einer Art Stroh oder Reet gedeckt. Offensichtlich war das Haus kein einfaches Wohnhaus, sondern mindestens zur Hälfte ein Stall, was ich messerscharf aus den Türen und Fenstern an der Breitseite schloss, die zweigeteilt waren und die man aufklappen konnte. Zum Teil standen die oberen Klappen offen und ein gelegentliches Muhen oder Blöken klang heraus. Wie gesagt, der Geruch ließ auch keinen Zweifel. Es war eine warme Sommernacht, da kamen die Gerüche ziemlich intensiv rüber. – Was heißt rüber? Ich hatte das Gefühl, ich selbst stand mitten in einem Stall oder einer Jauchegrube. Als ich mich umguckte, sah ich, dass mein Lokus, dessen Tür immer noch weit offen stand, ein kleiner separater Schuppen war, eine Art Geräteschuppen mit angeschlossenem Plumpsklo, das einen bestialischen Gestank verströmte.

Vielleicht war das der Fehler. Vielleicht hätte ich in dem Moment einfach zurückgehen sollen, die Tür hinter mir schließen müssen, und wenn ich sie wieder geöffnet hätte, hätte ich im Keller unseres Hauses gestanden und alles wäre wie vorher gewesen. Aber ich hab mich einfach zu sehr geekelt. Ich wollte nicht zurück in diese Jauche, die ich hinter mir gelassen hatte. Stattdessen ging ich vorsichtig über den Hof auf das große Gebäude zu. Vorsichtig nicht etwa, weil ich Angst hatte entdeckt zu werden. Das Haus machte einen total friedlichen Eindruck und der Unmenge an Fliegen nach zu schließen konnte hier tatsächlich niemand einer Fliege etwas zuleide tun. Trotzdem konnte ich mich nur vorsichtig bewegen, weil dieser Hof zwar mit Steinen gepflastert war, aber es waren rohe Natursteine, kein Betonpflaster, und überall lag Stroh und Unrat in den Fugen. Barfuß, wie ich war, musste ich aufpassen, dass ich im Dunkeln nicht stolperte oder ausrutschte. Mitten auf dem Hof stand ein Ziehbrunnen, so ein richtig uriges Teil, wie ich es bisher nur im Freilichtmuseum gesehen hatte. In Baumärkten stehen solche Dinger ja auch oft als Vorgärtenzierde rum, aber dieser hier war offensichtlich original erhalten. Es musste sich ohnehin um einen Öko-Bauernhof handeln. Die Leute hatten sich zumindest jede Menge Mühe gegeben die Errungenschaften der Zivilisation romantisch zu verbrämen. Nur das mit dem Geruch hatten sie nicht in den Griff gekriegt. Und das stank mir schon ganz schön. Am Brunnen roch es auch nicht unbedingt einladend, nach Moos und irgendwie dumpf oder modrig. Stellt euch vor, ihr habt so richtig Durst. Stellt euch eine Softgetränke-Werbung vor: strahlende Sonne, blitzende Farben, dann die eisgekühlte Flasche, das Ploppen beim Öffnen und das Zischen, wenn die Kohlensäure entweicht. Okay, man riecht am Bildschirm nichts dabei. Aber da ist dieses Gefühl von Frische und Sauberkeit. Das war’s eben nicht gerade, was mir da aus der Tiefe entgegen schlug. Mein Durst hielt sich also echt in Grenzen und ich ging weiter auf das Haus zu, steuerte vorsichtig den linken Teil an, der mir von Menschen bewohnt schien. Es gab Fensterläden, die geschlossen waren, deshalb konnte ich nur zwischen die Ritzen spähen, aber drinnen war es stockduster und ganz still. Also ging ich weiter an dem Gebäude entlang und kam zu dem Stall. Da der obere Teil der ersten Tür aufgeklappt war, konnte man ein bisschen sehen.

Der Stall war ein riesiger Raum, der in verschiedene Verschläge unterteilt war. Man konnte schemenhaft zwei Kühe und ein Pferd erkennen, die groß genug waren, dass sie über die halbhohen Lattenabtrennungen gucken konnten, und die sich mir neugierig zuwandten. Schafe und Schweine musste es den Geräuschen nach auch geben. In Höhe von etwa zwei Metern war ein Boden eingezogen, auf dem offensichtlich Heu oder Stroh gelagert wurde. Oder was auch immer, jedenfalls führte eine Sprossenleiter dort hoch. Irgendwie hatte die in dem Moment etwas Tröstliches, genauso wie die Kellertreppe zu meinem Lokus, ein Wegweiser zum sicheren Hort sozusagen. Ich musste nur diese Stalltür öffnen und mich unter den Nüstern des Pferdes wegducken, das mir seinen Kopf aus dem Koben gleich neben der Tür entgegenstreckte und neugierig schnupperte. Habe ich schon erwähnt, dass ich kein Freund von Tieren bin, die Kniehöhe überschreiten? Ist sicherlich Geschmackssache. Aber jedenfalls zog es mich zu dieser Leiter hin.

Was hätte ich auch sonst machen sollen? An die Fensterläden des Hauses bollern und wen auch immer aus den Betten scheuchen: Helft mir, ich bin aus der falschen Toilette gekommen und bilde mir jetzt ein, dass ich auf eurem Bauernhof gelandet bin? Oder sollte ich zurück in dieses Plumpsklo? Vielleicht sollte ich es wie die Mädels bei Frau Holle machen: Nase zuhalten und in die Jauchegrube springen – in der Hoffnung, dass ich dann auf meinem eigenen Klo landen würde? Alles keine so ganz prickelnden Alternativen zu dem Gedanken, einfach auf diesem Heuboden erst mal einen Unterschlupf zu finden. Vielleicht - vorausgesetzt ich fände dort Schlaf - würde ich am nächsten Morgen aufwachen und läge wieder in meinem eigenen Bett! Ich beschloss, es lieber so zu versuchen als mit Plumpsklo-Diving.

Ich schob also den Riegel zurück, schlüpfte in den Stall, zog die Tür hinter mir wieder an, aber verzichtete dann doch darauf mich wieder hinaus zu lehnen und den Riegel zurück zu schieben, weil das Pferd allzu begierig an mir herum schnupperte und eine lange raue Zunge ausfuhr, mit der es meinen Nacken zu kosen versuchte. Ich lief zu der Leiter, kletterte hinauf, fand tatsächlich eine Art Heuschober vor, der mir angesichts der fehlenden Vierbeiner geradezu gemütlich vorkam, suchte mir eine Ecke, wo ich meinen Kopf auf Stroh betten und mich hin kuscheln konnte, und schlief fast augenblicklich ein.

Luuuca!“, rief eine Stimme, die ich keinem meiner Familienmitglieder zuordnen konnte, auch wenn sie der Kategorie ältere Schwester entsprechen mochte. Ich schlug die Augen auf und kniff sie augenblicklich wieder zusammen. Aber auch so führte kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass ich auf einem Stallboden lag. Ich fühlte mich am ganzen Leibe kratzig, es roch nach Stroh und Kuhdung, unter mir blökte, muhte und grunzte es, über mir tschilpte es. Als ich die Augen öffnete, sickerte Tageslicht durch die Ritzen des Dachs und von der Öffnung herein, wo die Leiter war. Ebenda war der rötlichblonde Kopf eines Mädchens aufgetaucht, das mich beim Namen gerufen haben musste. Sie hatte ein sommersprossiges Gesicht, hellblaue Augen und eine kleine Stupsnase. Ich starrte sie an, als sei sie eine Ausgeburt des Mars.

Wo warst du?“, rief sie verärgert.

Mir fiel nichts Passendes ein, was ich hätte sagen können.

Aber sie enthob mich der Notwendigkeit zu antworten, indem sie mich mit einem Schwall von Vorwürfen überschüttete: „Hier steckst du also! Mutter ist in allergrößten Nöten, derweil sie fürchtet, dass du längst gemeuchelt seist! Wie kannst du ihr solche Gram bereiten! Wir haben dein leeres Lager vorgefunden und dich den ganzen Morgen allerorten gesucht!“ Mit diesen Worten hatte sie den Dachboden erklommen und sich mir genähert. Sie mochte höchstens zwei Jahre älter sein als ich. Ein hübsches Mädchen, aber etwas merkwürdig gestylt. Sie trug zwei lange Zöpfe und ein wadenlanges Leinenkleid mit Schürze. Offensichtlich die Tochter der Öko-Bauern, dem Outfit nach zu schließen. Aber musste sie auch gleich so antiquiert daherschwallen? Mir blieb allerdings kaum Gelegenheit, meine Reserviertheit auszuleben, weil das Mädel mich erreicht und mir unversehens um den Hals gefallen war. Sie nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände und sah mir in die Augen. „Ach, Luca“, seufzte sie.

Ich starrte sie an und durchsuchte krampfhaft meine hintersten Gehirnregionen, in dem Bestreben, dieses Gesicht wieder zu finden. Fehlanzeige. „Sorry“, sagte ich, „woher kennst du meinen Namen? Ich hab dich doch noch nie gesehen!“

Jetzt war es an ihr mich verblüfft anzustarren. „Aber – “, stammelte sie und guckte wie ein Auto.

Ich sah an mir runter. Einen Moment hatte ich gedacht, sie wäre wegen meines Pyjamas pikiert. Aber mein Pyjama hatte sich verändert!  Wo gestern Nacht noch rot-blauer Jersey-Stoff gewesen war, trug ich nun eine kratzige Kombination aus braunem Leinen am Leib! Statt mit einem Gummizug wurde die Hose am Bauch mit einer Kordel zusammengehalten, während das Oberteil hochgeschlossen und am Hals mit einem Bändel gerafft war. Was, zum Teufel war passiert, während ich geschlafen hatte?

Für Sekunden hatte es uns beiden die Sprache verschlagen.

Das Mädel fasste sich schließlich als erste und zwinkerte mir zu. „Du willst Kurzweil mit mir treiben?“, fragte sie.

Mir war überhaupt nicht nach Scherzen zumute. Über Langeweile konnte ich weiß Gott nicht klagen, aber Kurzweil konnte man hier das beim besten Willen auch nicht nennen. „Es ist mein heiliger Ernst“, beteuerte ich. „Ich habe keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin. Gestern war ich noch bei meiner Familie. Aber dann sind so merkwürdige Sachen passiert, und als ich vom Klo kam, war ich auf einmal auf eurem Hof. - Wer bist du? Wo bin ich hier?“

Ihre Augen waren immer größer geworden. Sie hatte mich losgelassen, sich vor mir auf dem Heuboden hingekniet und sah beunruhigt aus. „Hast du heimlich von Vaters Gerstentrunk gekostet gestern Nacht?“, fragte sie, „dass dein Kopf jetzt voller Stroh ist?“

Ich schwöre“, sagte ich feierlich, „ich bin stocknüchtern und völlig clean. - Welchen Vater meinst du? Ich habedu kennstnochklarich