Wolf G. Glas

 

 

26,2 Meilen für ein Leben

 

Wer sich mit dem Teufel anlegt, sollte schnell laufen können ...

23.

 

 

 

 

 

 

Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit real existierenden Personen oder tatsächlichen Begebenheiten wären reiner Zufall. Die Orte und Laufrouten sind dagegen authentisch. Die Hausnummern von nichtöffentlichen Gebäuden sowie teilweise diese selbst wurden aus rechtlichen Gründen frei erfunden. Dies gilt besonders für die „Heart of Burning Light Church“. Eine Kirche mit diesem Namen existiert nicht. Auch das Grab von Ruggero Popolo auf San Michele ist Fiktion.

 

 

 

 

 

 

Für Claudia!

 

 

 

 

 

 

Augsburg

Empfohlene Laufzeit: Zu jeder Tageszeit (nicht bei Dunkelheit) möglich und reizvoll.

Startpunkt: Kuhsee-Parkplatz im Stadtteil Hochzoll

Zielpunkt: = Startpunkt

Distanz: 15-25 km

 

Der Lauf beginnt am Kuhsee-Parkplatz im Stadtteil Hochzoll. Im Uhrzeigersinn geht es um den See herum, danach über die Brücke über den Lech zum Hochablass. Anschließend geht es weiter durch den Siebentischwald bis zum Stempfle-See, den man einmal umrundet. Ein kleines Stück zurück und die Siebentischwaldstraße nehmen in Richtung Zoo, jedoch bevor man zum Zoo kommt links in die Professor-Steinbacher-Straße laufen, dann weiter in die Baumgartnerstraße zur Roten-Torwall-Straße und in die Spitalgasse an der Augsburger Puppenkiste vorbei und weiter durch die Bäckergasse zu den Straßen Vorderer und Mittlerer Lech bis zum Brechthaus und von dort links zurück in Richtung Elias Holl Platz hinter dem Rathaus. Die Treppen neben dem Rathaus hinauf und auf dem Rathausplatz eine Runde drehen, um das Rathaus und die Brunnen zu bewundern.

Jetzt die Maximilianstraße nehmen und die ganze Straße bis zum Ende in Richtung der Kirchen St. Ulrich und St. Afra laufen. Den Milchberg abwärts laufen und zurück durch die Spitalgasse und nach dem Roten Tor Wasserturm direkt am Eserwall unten am Bach entlang laufen bis zum Gewürzgarten. Dann weiter den Oberen Graben bis zur Jakoberwallstraße und diese rechts am Bach entlang am Vogeltor und am Jakobertor vorbei bis zur Johannes-Haag-Straße. In diese rechts hinein laufen bis zum Lechufer. Direkt am Lechufer rechts zurück in Richtung Eiskanal, Hochablass, Kuhsee und Siebentischwald laufen.

Optional kann man direkt vom Kuhsee den Lech entlang in beide Richtungen laufen – in Richtung Hochzoll und Lechhausen oder entgegengesetzt in Richtung Süden, Haunstetten und Königsbrunn.

 

 

 

16.

 

Caorle, 18. Dezember

 

Die Schlangen krochen langsam über den Boden. Ihre helle Haut hob sich deutlich gegen den dunklen Untergrund ab. Mit jeder Minute, die verging, rückten sie ein Stück näher. Robin saß auf dem Bett, die Beine hochgezogen, damit die Schlangen ihn nicht berühren konnten, und starrte auf ihre sich in Zeitlupe vorwärts schiebenden Leiber. Seitwärtskriecher. Sechs an der Zahl. Oder waren es sieben?

Ihre Leiber wurden dunkler. Sie streckten sich noch einmal, um das Bett zu erreichen und daran empor zu kriechen. Robin zog die Beine enger an den Körper und drückte sich gegen die Wand in seinem Rücken. Deren Kälte kroch in ihn und erschwerte ihm das Atmen. Die Schlangen wurden noch dunkler, Stück für Stück, bis sie schließlich mit dem Boden verschmolzen und darin verschwanden. Die Gefahr war vorüber. Für heute. Robin atmete auf.

Gleißendes Licht blendete ihn, als die Deckenbeleuchtung sich automatisch einschaltete. Er starrte auf den Fußboden. Von den Schlangen war keine Spur mehr zu sehen. Als er sich sicher war, dass sie auch nicht mehr aus dem Boden heraus auftauchen würden, blickte er zum Fenster. Zuckte zurück, denn dort hingen sie, die schlängelnden Leiber, schwarzgrau und senkrecht vor dem dicken Glas. Erstarrt, um bald wieder ...

Er blinzelte und sah noch einmal hin. Verdammt, welchen Streich spielten ihm seine Sinne? Das waren keine Schlangen, sondern nur wellenförmige schmiedeeiserne Gitterstäbe. Was er für Schlangen auf dem Boden gehalten hatte, war das Sonnenlicht gewesen, das wie jeden Nachmittag in das Fenster seiner Zelle geschienen und ein Schattenspiel mit den Gitterstäben gespielt hatte. Inzwischen war sie untergegangen, und die „Schlangen“ waren verschwunden.

Mit dieser Erkenntnis kamen die Schmerzen. Robin krümmte sich, als sein Bauch sich verkrampfte. Sekunden später hatte er das Gefühl, sein Blut habe sich in Lava verwandelt und zöge versengende Bahnen durch jede Ader und in jede Nervenspitze. Sein Verstand sagte ihm zwar, dass auch die unzähligen Schnitte auf seinem Körper und die aufgepeitschte Haut schmerzten, aber die Lava vermengte alles zu einem einzigen Schmerzenssee.

Pezzorio war ein Sadist, wie Robin ihn sich nicht hatte vorstellen können. Zuerst hatte er ihm unzählige Schnitte zugefügt, ihn gepeitscht und Salz in die Wunden gerieben, dann hatte er ihm Schmerzmittel verabreicht und die Wunden versorgt. Irgendwann hatte er wohl eine abhängig machende Droge unter die Schmerzmittel gegeben. So lange das Zeug wirkte, war Robins Wahrnehmung verschwommen und erzeugte Halluzinationen. Wie die von den auf ihn zu kriechenden Schlangen, die nichts anderes waren als die Schatten der Gitter am Boden.

Er hatte im Delirium sogar geglaubt, Vivian zu sehen, die plötzlich in der Tür gestanden hatte. „Papa!“, gellte ihr Ausruf immer noch in seinen Ohren. Und ein noch drängenderes „Papa!“, als der blonde Kerl – ihr Ehemann – sie weggezerrt und geschlagen hatte. Pezzorio hatte die Zellentür zugemacht und gelacht wie der Teufel persönlich.

Illusionen. Ausgeburten des Drogenrauschs. Der ihn mit irrsinnigen Schmerzen bestrafte, wenn die Nachschubdosis ausblieb. So wie jetzt. Robin hatte längst jedes Zeitgefühl verloren. Außer den Qualen, die vom Dämmerzustand abgelöst wurden und Pezzorios täglichen Besuchen, existierte nichts mehr. Und bei Letzterem war er sich nie sicher, ob der Mann tatsächlich da war oder er sich das nur einbildete, wenn er ihm nicht wieder mal eine Spritze verabreichte, deren lindernde oder schmerzhafte Wirkung er spürte.

Vermutlich hatte Robin ihm inzwischen alles verraten, was er über Satirius Re wusste, und auch Glenn MacGills Namen genannt. Aber er erinnerte sich nicht daran. Falls Pezzorio seine Drohung schon wahr gemacht hatte, Robin seine Pisse trinken und seine Scheiße fressen zu lassen, so konnte er sich auch daran nicht erinnern.

Was er sich aber nicht eingebildet hatte, waren die grauenvollen Schreie, die beinahe täglich durch den Gebäudetrakt gellten, in dem er saß. Vermutlich war auch das ein Teil der Folter: die Gefangenen die Qual ihrer Leidensgenossen mitanhören zu lassen. Ihr vergebliches Flehen um Gnade, bis ihnen die Stimme versagte. Dass Menschen so – unmenschlich schreien konnten, hatte Robin bis dahin nicht gewusst. Das Bewusstsein, dass auch er mit Sicherheit auf dieselbe Weise den Schmerz seiner Qualen hinausgebrüllt hatte und dadurch komplett seine Würde verloren hatte, saß wie ein giftiger Dorn in seiner Seele. Und er wusste: Irgendwann würde ihn das alles zerbrechen. Nicht nur körperlich.

Er hatte mehrmals die Wracks gesehen, die Pezzorios „Behandlung“ hinterließ, wenn er mit seinen Opfern fertig war. Vermutlich gehörte diese Demonstration auch zur Folter, denn es war wohl kein Zufall, dass jedes Mal, wenn man ihn in die Folterkammer schleifte, „Klinikangestellte“ in schwarzen Kitteln die Wracks durch die Flure zerrten. Körper, die manchmal kaum noch etwas Menschliches an sich hatten. Einigen hatte man ein Bein abgetrennt oder einen Arm oder ihnen einen Teil der Kopfhaut entfernt. Anderen hatten man wohl irgendwelche Muskeln oder Sehnen derart durchtrennt, dass sie nicht mehr gerade oder auch nur aufrecht oder überhaupt noch gehen konnten. Narbenentstellte Gesichter, wo bei manchem die Nase, die Ohren oder die Lippen fehlten. Und Legionen von toten Augen, die ihn allzu sehr an die von Johanna erinnerten, wie sie auf der Bahre im Leichenschauhaus gelegen und ihn angesehen hatte.

Der schlimmste Albtraum aber war der Anblick eines Wracks gewesen, das von zwei Männern durch den Gang geschleift wurde, während es an einem noch bluttriefenden Unterarm eines Menschen genagt hatte. Robin versuchte seitdem sich einzureden, dass er das nur im Drogenrausch halluziniert hatte, aber sein Kopf teilte ihm immer wieder hartnäckig mit, dass das real gewesen war. Was das Ganze umso schlimmer machte, denn es gab ihm einen allzu deutlichen Hinweis auf das, was ihm selbst höchstwahrscheinlich noch bevorstand, bevor Pezzorio mit ihm „fertig“ war. Und kein Gedanke, keine Fantasie hätte grauenvoller sein können.

Natürlich hatte Robin versucht zu fliehen, nachdem man ihn damals nach der ersten Folter in diese Zelle gesperrt hatte. Vergeblich. Pezzorio hatte damit gerechnet und kam nie ohne mindestens zwei, meistens drei bulligen Bodyguards zu ihm. Die hielten ihn fest, während Pezzorio ihm eine Spritze verpasste oder schnallten ihn bewegungsunfähig auf das Bett. Robin war zwar kein Schwächling, aber gegen diese Kerle kam er nicht an. Und inzwischen war er so kraftlos, dass er ohnehin kein Gegner mehr für irgendjemanden war. Man ließ ihn zwar nicht hungern und gab ihm ausreichend zu essen, aber er bekam kaum etwas runter. Sein Magen rebellierte bei jedem Versuch, etwas bei sich zu behalten.

Die Möglichkeit oder sogar Wahrscheinlichkeit, dass er hier in dieser Hölle sterben würde, hatte ihren Schrecken verloren. Der Tod war allemal besser als endlose Qual. Noch mehr machte ihm aber seine Ohnmacht zu schaffen, dass er nicht in der Lage war, sich gegen das, was Pezzorio ihm antat, zu wehren.

Die Schmerzen der Lavaströme in seinem Körper ließen ein wenig nach, sodass er Atem schöpfen konnte. Bis zur nächsten Welle, die nicht lange auf sich warten lassen würde. Robin ertappte sich bei dem Wunsch, Pezzorio möge kommen und ihm die Droge verabreichen, damit er nicht noch mehr leiden musste. Augenblicklich schämte er sich dafür, denn das verriet eine Schwäche, die er sich nicht eingestehen mochte. Weil es genau das war, was Pezzorio wollte. Robin wusste, dass der Tag kommen würde, an dem er für die Drogen alles tun würde, was der Mann von ihm verlangte.

In diesem Moment verstand er, wie Vivian in diesen Sumpf geraten war und warum sie davon nicht losgekommen war. Wenn der Kerl, mit dem sie abgehangen hatte, sie ebenso behandelt hatte wie Pezzorio das mit Robin tat, dann hatte sie irgendwann bedingungslos gehorcht, nur um den nächsten Schuss zu bekommen, der die Entzugsschmerzen stoppte.

Er zuckte zusammen, als er Schritte hörte, die sich schneller als gewöhnlich seinem Gefängnis näherten. Pezzorios Stimme drang zu ihm herein.

„Das ist mir scheißegal!“, schnauzte er irgendwen an. „Wir müssen hier weg! Aber die Versammlung auf San Michele wird trotzdem wie geplant stattfinden und unser Oberhaupt dort gewählt werden. Und danach werden wir uns neu organisieren. Die paar Tage bis zur Neujahrsnacht werden wir an einem sicheren Ort verbringen. Und nein, ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte!“

Die Tür wurde aufgerissen. Pezzorio stürmte herein und steckte das Handy ein, mit dem er offenbar das Gespräch geführt hatte, das Robin gehört hatte. Ihm auf dem Fuß folgten seine Bodyguards. Bevor Robin reagieren konnte, hatten sie ihn gepackt und drückten ihn aufs Bett. Pezzorio holte eine Spritze aus der Tasche seines Kittels, zog sie Schutzkappe ab und stach die Nadel in Robins Hals, ohne sich die Mühe zu machen, eine Vene zu suchen.

„Ich bedauere zutiefst, dass wir unsere Beziehung nicht fortsetzen können, Signore Texter. Aber hier trennen sich unsere Wege für immer. Arrivederci!

Feuer explodierte in Robins Hals und nahm ihm die Luft, sodass er nicht antworten konnte. Die Bodyguards ließen ihn los. Einer riss Pezzorio von Robin weg, noch ehe der ihm den gesamten Inhalt der Spritze in den Hals gejagt hatte. Die Spritze fiel zu Boden.

„Wir müssen weg!“, schrie er und zerrte Pezzorio aus dem Zimmer.

Draußen ertönten Rufe, vielmehr Befehle. „Stop! Polizia!“

Robin hatte offensichtlich wieder eine Halluzination, denn er bildete sich ein, dass Pezzorio die Tür offengelassen hatte. Seine verschwimmende Sicht gaukelte ihm vor, dass der Weg in die Freiheit oder zumindest aus diesem Zimmer hinaus sperrangelweit offenstand. Er wagte es nicht zu hoffen, aber falls die Tür tatsächlich auf war ...

Er rutschte vom Bett und sackte davor zu Boden, denn seine Beine trugen ihn nicht. Pezzorio musste ihm ein anderes Mittel als sonst gespritzt haben, denn dieses raubte ihm in rasantem Tempo sämtliche Kräfte. Doch sein Wille hier rauszukommen, ließ ihn vorwärts kriechen, bis er die Tür erreicht hatte, die tatsächlich offen war. Draußen rannten Leute vorbei, die aussahen, als trügen sie Polizeiuniformen. Sollte – konnte das real und keine Halluzination sein?

„Aiuto!“, rief er um Hilfe; zumindest glaubte er, dass er das gerufen hatte. „Ich wurde entführt und werde hier gefangengehalten. Wurde unter Drogen gesetzt. Ich bin Deutscher.“

Seine Sicht verzerrte sich zur Unkenntlichkeit, sein Gesichtsfeld verengte sich und dessen Ränder wurden immer dunkler. Etwas klatschte in sein Gesicht.

„Bleiben Sie wach, Signore! Sie dürfen nicht einschlafen. Hören Sie mich?“

Erneutes Klatschen, das die Dunkelheit ein wenig zurückhielt.

„Was hat man Ihnen gespritzt? Wissen Sie das?“

Robin hatte keine Ahnung. Er deutete schwach ins Zimmer hinein. Dort musste noch die Spritze liegen.

„Der Krankenwagen ist gleich hier. Bleiben Sie wach, Signore. Bitte bleiben Sie wach. Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“

Er fühlte sich hochgehoben und sackte augenblicklich wieder zusammen. Jemand anderes packte ihn zusätzlich an der anderen Seite und hob ihn erneut hoch. Ihm wurde übel. Sein Herz hämmerte wie verrückt und sprang ihm bestimmt gleich durch die Rippen hindurch aus dem Brustkorb. Er bekam keine Luft. Etwas Feuchtes platschte in sein Gesicht und hinterließ kleine Bäche, die wie Tränen über seine Wangen liefen. Das tat weh. Verdammt, tat das weh! Jeder einzelne Tropfen. Warum musste eine Halluzination so wehtun? Denn die Carabinieri konnten unmöglich real sein.

Als wenn jede Nervenfaser hypersensibel war und jede Berührung mit Agonie bestrafte, intensivierte sich der Schmerz. Robin wollte schreien, aber dazu fehlte ihm die Kraft. Rotgekleidete Gestalten kamen gerannt und stürzten sich auf ihn. Noch mehr Hände packten ihn, verursachten Schmerzen. Er fühlte sich hochgehoben und schwebte für einen Moment, dann legte man ihn auf irgendetwas, das sich hart anfühlte. Sekunden später beendete wohltuende Dunkelheit die Agonie.

Und wenn ich prophetisch reden könnte

und alle Geheimnisse wüsste

und alle Erkenntnis hätte

wenn ich alle Glaubenskraft besäße

und Berge damit versetzen könnte

hätte aber die Liebe nicht

wäre ich nichts.

 

25.

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

 

 

26,2 Meilen für ein Leben

Wolf G. Glas

 

© 2018 vss-verlag, 60389 Frankfurt

Covergestaltung: Hermann Schladt

Lektorat: Mara Laue

 

 

www.vss-verlag.de

Bibel, 1 Korinther 13,2

 

 

1.

 

New York Marathon, Verrazano Bridge, 10. November 2010

 

Robin hielt Johannas Hand und lächelte ihr ermutigend zu. Sobald der Startschuss fiel und der Lauf begann, konnten sie nur eine kurze Weile Hand in Hand verbunden bleiben. Doch im Ziel würden sie sich wiedersehen. Johanna erwiderte sein Lächeln und den Druck seiner Hand.

Der Knall des Schusses ließ sie beide zusammenzucken. Sie lachten und begannen zu laufen, langsam zunächst, denn in dem Gedränge der Tausenden von Läufern, die sich in Bewegung setzten, war ein schnelles Vorwärtskommen nicht möglich. Jemand stieß von hinten gegen Robin und schob ihn vorwärts. Unmöglich, sich noch länger an den Händen zu halten. Ein letzter fester Druck, dann ließ Johanna ihn los, winkte ihm zu und schaute nach vorn. Das tat er ebenfalls und empfand nur Sekunden später eine vollkommene Harmonie, fühlte sich eins mit der kalten Luft und den Menschen um sich herum. Hatte das Gefühl, ihren Herzschlag zu spüren. Wie Tausende Regentropfen, die eine Melodie auf dem Dach oder am Fenster trommelten. Glaubte, ihre Gedanken zu hören als ein summendes Gewirr von Worten, die er nicht verstehen konnte.

Er spürte den Boden unter sich und empfand ihn als Teil seiner selbst, als den Ursprung seiner Füße, seiner Beine, seines ganzen Seins. Sicherlich war das auch der Grund, weshalb ihm die Sonne am wolkenlosen Himmel heller erschien als sonst. Leider gab sie zu der Helligkeit nicht auch entsprechende Wärme ab, denn Robin fröstelte in der kalten Novemberluft. Aber nur für kurze Zeit. Durch den Lauf wurde ihm warm.

Nicht nur sein Körper, auch seine Seele erwärmte sich, als würde sie aus der Eisesstarre erwachen, in die ihn die Verzweiflung dessen gestürzt hatte, was vor über einem Jahr geschehen war. Was er bis heute nicht richtig verdaut hatte. Er nicht und Johanna auch nicht. Zu schrecklich war das Ereignis gewesen, als dass er es jemals überwinden könnte. Wenn er daran dachte, wie sehr die Hoffnungslosigkeit ihn in den Abgrund gestoßen hatte, fröstelte er erneut. Es kam ihm vor, als habe er ein ganzes Meer von Tränen geweint, aber der Schmerz saß immer noch in seiner Seele. Wie viele Tränenozeane mussten er und Johanna noch weinen, bis die Qual endlich vorüber wäre?

Er wandte sich im Laufen um und sah Johanna mehrere Meter hinter sich. Sie blickte zu Boden, das Gesicht konzentriert, aber seltsam leer; ausgehöhlt und inhaltslos wie der Verlust sie beide zurückgelassen hatte. Wenn dieser Marathon ihnen nicht half, wieder ein Licht am Ende des finsteren Tunnels aus Trostlosigkeit und Leid zu sehen – was dann?

Tief atmete er die Luft ein und fand seinen Rhythmus – im Atmen, im Laufen, in seinem Inneren. Mit ihm kam die Zuversicht – nein, die Gewissheit, dass er am Ende des Marathons ein neuer Mensch sein würde. Wiedergeboren aus der Asche seines früheren Ichs. Er rannte und hielt sein Gesicht der Sonne entgegen, fühlte ihre Strahlen in sich eindringen und seinen Geist berühren, seine Seele aus der Finsternis führen. Immer weiter nach vorn, mit jedem Schritt.

Als er die Brücke überquerte, unter der der Hudson im Sonnenlicht funkelte, dadurch Staton Island hinter sich gelassen hatte und die ersten Schritte in Brooklyn lief, spürte er eine Kraft und Zuversicht in sich wie schon lange nicht mehr. Das Meer der Läufer, deren bunte Kleidung wie ein riesiger Regenbogen wirkte, fächerte langsam auf. Die Schlange streckte sich in die Länge, und er hatte den Eindruck, als rannten sie alle auf einer Himmelsleiter empor. Robin fühlte sich eins mit der Masse, ein Tropfen Wasser in einem Fluss aus Träumen. Sie alle hatten dasselbe Ziel. Er spürte einen Schub von Kraft und lächelte, als mit dieser Kraft ein Gefühl vollkommener Freiheit von ihm Besitz ergriff.

Der Eindruck, sich in der Menge aufzulösen, über allem zu schweben, sich selbst von oben zu sehen, ergriff von ihm Besitz. Als wenn er Flügel hätte und schwerelos dahinflöge. Ins Licht hinein auf den Flügeln des Marathons. Hinein ins Leben – endlich wieder dorthin zurück. Durch den Marathon, der in diesem Moment den Puls des Seins darstellte. Leben!

Als er sich eine Weile später noch einmal nach Johanna umsah, war sie nirgends mehr zu sehen.

 

22.

 

2.

 

New York, 12. November 2010

 

Johanna streckte die Hände nach ihm aus. Ihr Mund, aufgerissen zu einem Schrei, der nicht kam, wirkte wie ein dunkles Loch, das größer wurde, auf Robin zuflog und ihn zu verschlingen drohte. Er wollte vor der Finsternis dieses Schlundes fliehen, aber seine Beine waren mit dem Boden verschmolzen, betonschwer, versteinert.

Rrrriiing! Riiingeling!

Erschreckt fuhr er hoch. Schmerzen zuckten durch seinen Körper. Für einen Moment glaubte er, von dem Abgrund hinter Johannas Mund verschlungen worden zu sein, bis er in der ihn umgebenden Finsternis die Leuchtziffern der Uhr auf dem Nachttisch erkannte. Acht Uhr sieben.

Rrrriiing! Riiingeling!

Das Klingeln des Zimmertelefons hatte ihn geweckt. Er wälzte sich zur Seite und wurde mit einem Stechen in allen Gliedern für die abrupte Bewegung bestraft; als steckten Nadeln in jeder Muskelfaser. Er ignorierte den Schmerz, tastete nach dem Telefon und riss den Hörer ans Ohr.

„Johanna!“ Seine Stimme erschien unnatürlich und laut. Atemlos lauschte er.

„Mr. Texter, hier ist die Rezeption. Zwei Herren vom NYPD möchten Sie sprechen. Soll ich die beiden raufschicken oder möchten Sie sie in der Lobby treffen, Sir?“

Robin brauchte einen Moment, um zu begreifen, was der Concierge gesagt hatte. NYPD – Polizei. Und sie wollte ihn sprechen. Oh Gott, bitte, mach, dass Johanna nichts passiert ist!

„Mr. Texter?“ Der Concierge wartete immer noch auf eine Antwort.

„Eh, ja. Ja, schicken Sie die Leute bitte rauf.“

Er legte den Hörer zurück und schaltete endlich das Licht ein, ehe er sich mühsam hochstemmte und die Beine aus dem Bett schwang. Die Stiche und das Ziehen in seinem Körper waren beinahe unerträglich. Das stammte nicht nur von dem üblichen Muskelkater nach einem Marathonlauf. In seiner Brust steckte erneut jener vertraute Schmerz fest, den er beim Marathon hinter sich gelassen zu haben glaubte. Nicht auch noch Johanna! Bitte, ich darf nicht auch noch sie verlieren!

Robin stand auf, ignorierte die gefühlten Messer in den Muskeln und zog sich hastig Jeans und T-Shirt an. Er hatte es sich kaum über den Kopf gezogen, als es an der Tür klopfte.

Er ging hin – langsam, weil jeder Schritt neue Schmerzwellen erzeugte – und öffnete. Die beiden Cops davor trugen Zivil und hielten ihm ihre Marken hin.

„Detectives Bosco und Mayer“, stellte der Ältere die beiden vor. „Mr. Texter?“

Robin nickte. „Haben Sie Johanna gefunden? Geht es ihr gut?“ Seine Stimme klang fremd. Rau. Harsch. Atemlos. Und das ernste Gesicht Boscos und die mitfühlende Miene von Mayer bestätigten seine schlimmsten Befürchtungen.

„Man hat in der Nacht eine weibliche Leiche gefunden, die der Beschreibung Ihrer Frau entspricht. Sie hat auch das von Ihnen bei der Vermisstenanzeige genannte Tattoo auf der linken Schulter. Wir möchten Sie bitten, zur Identifizierung mit uns zum OCME zu kommen.“

Leiche ... Ihrer Frau ... Tattoo auf der Schulter.

Den Rest hatte Robin kaum begriffen. Er fühlte, dass seine Beine nachgaben und konnte sich gerade noch am Türrahmen festhalten, bevor er stürzte. Bosco fasste ihn hastig am Arm und gab ihm Halt.

„Am besten, Sie setzen sich, Sir. Atmen Sie tief durch.“

Robin schaffte es mit seiner Hilfe zum nächstbesten Sessel, in den er sich fallen ließ. Eine neue Schmerzwelle durchfuhr ihn, aber die erschien ihm wie eine Lappalie verglichen mit der in der Herzgegend. Er hatte diesen Schmerz schon einmal gespürt, als Vivian gestorben war. So fühlte es sich an, wenn einem das Herz gebrochen wurde.

„Wollen Sie ein Glas Wasser, Sir?“

Boscos Frage ergab keinen rechten Sinn für Robin, weil er die Worte zwar gehört, das Gesagte aber inhaltlich nicht richtig verstanden hatte. Doch der Cop hatte wohl Erfahrungen mit Situationen wie dieser. Er nickte seinem Partner zu. Mayer ging ins Bad und kehrt gleich darauf mit einem Glas Wasser zurück, das er Robin reichte. Robin nahm es und trank es in einem Zug aus. Die kühle Feuchtigkeit in seinem Mund, die spürbar in seinen leeren Magen floss, brachte ihn wieder zur Besinnung; halbwegs.

„Geht es, Sir?“, fragte Mayer, als Robin das Glas auf dem Tischchen neben dem Sessel abstellte.

Er nickte.

„Fühlen Sie sich in der Lage, uns zum OCME zu begleiten, Sir?“

Robin nickte wieder. „OCME?“ Er versuchte sich zu erinnern, was die Abkürzung bedeutete. Hatte er das überhaupt schon einmal gewusst?

„Office des Chief Medical Examiners in der First Avenue“, erklärte Bosco. „Dorthin kommen alle unidentifizierten Leichen. Wenn Sie sich aber nicht in der Lage fühlen, die Tote anzusehen ...“

„Geht schon.“ Robin nickte zum dritten Mal. Je schneller er erfuhr, ob die Gefundene wirklich Johanna war, desto besser war es für seinen Seelenfrieden. So oder so.

Er kämpfte sich schwerfällig aus dem Sessel. Seine Glieder fühlten sich tonnenschwer und steif an. Als er zur Tür ging, legte Bosco ihm die Hand auf den Arm.

„Sie sollten sich etwas anziehen, Mr. Texter.“

Erst in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er barfuß war und nur Hose und T-Shirt trug – kein Aufzug, um damit auf die Straße zu gehen; nicht im kalten November. Er schleppte sich zum Sessel, auf den er gestern Abend seine Sachen geworfen hatte, und zog sich sein Sweatshirt, Strümpfe und Schuhe an. Als er seine Lammfelljacke von der Garderobe nahm, überprüfte er gewohnheitsmäßig, dass sich sein Pass und seine Geldbörse in der Innentasche befanden. Er steckte seine Keykarte ein und folgte den Cops.

Als er Minuten später auf die Straße trat, ließ ihn die windige Morgenluft frösteln. Der Dienstwagen der Cops wartete vor der Tür. Am Steuer saß eine junge Frau, die Robin zunickte, als er auf den Rücksitz kletterte. Mayer setzte sich neben ihn. Robins Hände zitterten vor Anspannung, wie auch der Rest seines Körpers. Die Frau am Steuer sah sein Zittern wohl im Rückspiegel, denn sie schaltete die Heizung höher. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Robin starrte aus dem Fenster auf den Asphalt, auf dem sich die Lichter New Yorks spiegelten, der Stadt, die niemals schlief.

Mayer sagte etwas zu ihm, aber er verstand es nicht. Sein Geist blendete alles andere aus und wiederholte unablässig das Mantra: Nicht Johanna! Nicht Johanna! Nicht auch noch Johanna!

Als der Wagen stoppte und Bosco die Tür öffnete um auszusteigen, fegte ein Schwall kalter Luft ins Innere und riss Robin aus seinem Gebet. Mayer stieg ebenfalls aus und hielt die Tür für ihn auf. Robin quälte sich aus dem Wagen. Zwar tat ihm jeder Muskel weh, aber das war nicht der Grund, weshalb es ihm schwerfiel, den Wagen zu verlassen. Die Angst vor der bevorstehenden Konfrontation hatte sich in seine Eingeweide gegraben und ließ ihn wünschen, an irgendeinem Ort weit weg von hier zu sein. Noch besser: die Zeit zurückdrehen und alles ungeschehen machen zu können.

„Kommen Sie, Sir. Sie schaffen das“, ermutigte ihn Bosco und deutete auf die Eingangstür des Gebäudes, vor dem sie standen.

Robin blickte an dessen Fassade hoch. Die grauen Betonmauern und die Glasfenster wirkten kalt. Der Gedanke, dass Johanna irgendwo in diesen sicher ebenso kalt wirkenden Räumen lag, drehte ihm den Magen um. Er atmete ein paar Mal tief durch, ehe er es über sich brachte, das Gebäude zu betreten. Bosco ging voran und Robin folgte ihm. Mayer blieb an seiner Seite. Sie fuhren mit einem Lift ins Untergeschoss, das genauso trostlos und kalt aussah, wie Robin es befürchtet hatte.

Lieber Gott, bitte nicht Johanna!

Die Cops ließen ihn vor einer Tür warten, während Bosco in den Raum dahinter ging und kurze Zeit später mit einem Mann im grünen Kittel zurückkam. Der nickte Robin zu.

„Mr. Texter, ich bin Doktor Alvarez. Fühlen Sie sich in der Lage, die Tote anzusehen? Ich muss Sie warnen. Es ist kein schöner Anblick.“

Das auch noch. Robin hätte am liebsten Nein gesagt und wäre davongerannt, so schnell er nur konnte. Aber er nickte tapfer. Denn schlimmer als das, was ihn möglicherweise erwartete, war die Ungewissheit über Johannas Schicksal.

Er folgte Dr. Alvarez in einen kalten Raum. Die in die Wände eingelassenen Stahltüren, groß genug, eine Bahre mit einem Menschen darauf durchzuschieben, wirkten wie die Gruft eines modernen Friedhofs. Alvarez schob eine Rollbahre heran, öffnete ein Fach und zog den Schlitten mit einer zugedeckten Leiche darauf heraus. Er forderte Robin mit einer Handbewegung auf näherzutreten und fasste das weiße Tuch über der Leiche an den Enden.

„Wenn Sie so weit sind, Mr. Texter?“

Robin brachte kein Wort heraus. Deshalb nickte er und fühlte, wie ihm trotz der Kühle des Raums der Schweiß aus allen Poren brach. Alvarez zog das Tuch weit genug zurück, dass das Gesicht aufgedeckt wurde. Robin würgte und hielt sich die Hand vor den Mund. Trotz der Warnung des Arztes hatte er nicht mit dem gerechnet, was er sah.

Das Gesicht der Toten war netzförmig zerschnitten und geschwollen und die Nase so zerquetscht, dass nur noch ein fleischiger Klumpen in der Mitte des Schädels übrig war. Er wandte sich ab. Das konnte unmöglich Johanna sein. Falls doch, so sah er sich außerstande, ihre Züge in diesem zerstörten Gesicht zu erkennen.

„Welche Bestie tut so was?“, stieß er hervor und brachte es nicht über sich, einen zweites Mal hinzusehen.

„Erkennen Sie Ihre Frau, Sir?“, wollte Bosco wissen. Sein Tonfall drückte bereits aus, dass er nicht mit einer positiven Antwort rechnete.

Robin schüttelte den Kopf. „Ich ...“ Ihm war übel und er konnte kaum sprechen.

Dr. Alvarez reichte ihm ein Glas Wasser, das er offenbar vorsorglich bereitgestellt hatte. Robin lehnte mit einem Kopfschütteln ab. Wenn er jetzt etwas in den Mund nahm, musste er garantiert kotzen.

„Bitte, ich muss ihre Augen sehen.“

Die Cops und der Arzt sahen einander an.

„Das ist nicht üblich, Sir“, lehnte Alvarez mit sanfter Stimme ab.

„Aber dann kann ich sie identifizieren. Johanna hat zwei verschiedenfarbige Augen und in der Iris des braunen sind goldene Flecken. Wenn das Johanna ist ...“ Er konnte nicht weitersprechen.

Alvarez nickte und drückte die Augen der Toten auf. Robin wandte sich widerstrebend der Bahre zu und sah der Frau erneut ins entstellte Gesicht. Johannas Augen starrten ihn an. Er hörte einen Laut, der wie der eines Tieres klang, das furchtbare Schmerzen hatte, und begriff erst Sekunden später, dass er selbst ihn ausgestoßen hatte. Seine Beine gaben nach und die Dunkelheit verschlang ihn.

 

*

 

Als Robin erwachte, war Johannas Gesicht direkt vor ihm: zerschnitten, entstellt, anklagend. Er schrie und schlug um sich in dem Versuch, dem Albtraum zu entkommen. Das Gesicht zuckte zurück.

„Mr. Texter, ganz ruhig, bitte! Es ist alles in Ordnung. Sie sind im Krankenhaus. Bitte, beruhigen Sie sich.“

Robin begriff nur langsam, was die Frauenstimme sagte. Als seine Sicht sich klärte, erkannte er, dass er das Gesicht einer Krankenschwester gesehen hatte, die sich über ihn beugte. Ein vollkommen glattes Gesicht ohne Wunden. Außerdem war die Schwester Afroamerikanerin und hatte auch sonst nicht die geringste Ähnlichkeit mit Johanna.

Johanna – die tot in der Rechtsmedizin lag, nachdem irgendwer ihr Entsetzliches angetan hatte.

„Sie sind in der Morgue ohnmächtig geworden, Sir“, sagte die Schwester. „Wir haben bei Ihnen eine Unterzuckerung festgestellt und einen allgemeinen gravierenden Erschöpfungszustand. Sind Sie Diabetiker?“

Robin atmete ein paar Mal tief durch, ehe er antworten konnte. „Nein.“

Die Schwester nahm das kommentarlos hin. „Die Polizei möchte Sie sprechen, sobald Sie wach sind, Sir. Fühlen Sie sich in der Lage, mit denen zu reden?“

Robin nickte. Klar, er musste noch bestätigen, dass die Tote wirklich Johanna war. Sein Zusammenbruch beim Anblick ihrer Augen galt sicherlich nicht als offizielle Identifizierung.

„Ich gebe dem Arzt Bescheid.“ Die Schwester stellte ihm ein Glas Wasser auf den Tisch neben dem Bett und ging.

Robin blieb allein zurück und fühlte in sich eine grenzenlose Leere, als befände er sich im freien Fall in ein finsteres Loch ohne Boden. In so ein Loch war er nach Vivians Tod gefallen. Dass er nun auch noch Johanna verloren hatte, gab ihm das Gefühl, erheblich tiefer und in eine noch größere Finsternis zu stürzen. Er hatte alles verloren. Sein Leben hatte keinen Sinn mehr.

Trännen rannen über sein Gesicht. Er wischte sie nicht ab, denn für diese Anstrengung fehlte ihm die Kraft. Deshalb weinte er immer noch, als die Schwester mit Detective Bosco zurückkam.

Der Cop nickte ihm zu. „Tut mir sehr leid, Mr. Texter. Darf ich aus Ihrer Reaktion auf die Tote schließen, dass das tatsächlich Ihre Frau ist?“

Robin konnte nur nicken. Oh Johanna! Johanna!

„Sie werden verstehen, dass wir einige Fragen an Sie haben, Sir.“

Wieder nickte Robin. Fragen, ja. Die hatte er auch. Aber nicht jetzt.

Bosco legte eine Visitenkarte auf den Tisch. „Bitte melden Sie sich bei mir, sobald man Sie hier entlassen hat und Sie sich dazu in der Lage fühlen. Schaffen Sie das?“

„Ja“, brachte Robin flüsternd heraus. Er musste husten und hatte das Gefühl, sein Kopf würde vor Anstrengung zerspringen.

„Das ist genug“, hörte er die Stimme der Schwester. „Mr. Texter braucht noch Ruhe. Gehen Sie bitte.“

Bosco gehorchte. Robin wünschte sich, ebenfalls gehen zu können. Raus aus diesem Krankenhaus und vor allem aus dem Albtraum, in den er unversehens geraten war. Der Marathon hatte ihm helfen, ihn wieder zurück ins Leben führen, eine Wiedergeburt sein sollen. Statt dessen war er zu einem zweiten Tod geworden. Von diesem, sagte ihm sein Gefühl, würde er sich nicht so schnell erholen. Vielleicht nie mehr.

 

*

 

„Möchten Sie einen Kaffee, Mr. Texter?“, bot Bosco an, als er Robin mit einer Handbewegung aufforderte, am Tisch Platz zu nehmen, wo Detective Mayer bereits wartete.

„Danke, gern.“ Er war sich zwar nicht sicher, wie gut ihm Kaffee bekommen würde, denn Johannas Tod war ihm sprichwörtlich auf den Magen geschlagen. Außerdem hatte er den ganzen Tag noch nichts gegessen. Aber etwas Warmes war bestimmt besser als kaltes Mineralwasser oder eine Limonade.

Bosco nickte Mayer zu, der daraufhin den Raum verließ. Robin setzte sich. Bosco nahm ihm gegenüber Platz. Der sogenannte „Interview-Raum“ sah genauso aus, wie man es aus den amerikanischen Krimis kannte: spartanisch eingerichtet mit nur einem Tisch und vier Stühlen, kahlem Boden, kahlen Wänden und dem Aufzeichnungsgerät auf dem Tisch. An einer Wand hing ein Schild mit den Anweisungen, was man in diesem Raum alles nicht tun durfte, angefangen beim Rauchen. In einer Ecke der Zimmerdecke blinkte das rote Lämpchen unter dem Auge einer Kamera, die alles aufzeichnete.

Robin fühlte sich unendlich müde, aber er wollte das Interview schnellstmöglich hinter sich bringen und sich danach im Hotelzimmer verkriechen. Er schloss die Augen. Und Johannas tote Augen starrten ihn an. Er riss sie hastig auf und schaute zu Boden. Sekunden später blickten ihre Augen ihn von dort aus an. Er sah in Boscos Gesicht, der ihn unverwandt beobachtete. Auch dessen Augen verwandelten sich nach wenigen Augenblicken in Johannas. Oh Gott, würde er diesen Anblick je wieder loswerden? Die Erinnerung an ihren leblosen Blick verfolgten ihn, seit er im Krankenhaus zu sich gekommen war. Er hatte nicht den Eindruck, dass das in absehbarer Zeit nachließe.

Mayer kam mit drei Bechern Kaffee zurück und stellte einen vor Robin hin. Dankbar legte Robin die Hände darum, um sie zu wärmen, vermied es aber, in die schwarze Flüssigkeit zu blicken, in denen er garantiert auch Johannas Augen zu sehen geglaubt hätte.

„Wie fühlen Sie sich, Sir?“, wollte Bosco wissen.

Robin zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Was sollte er darauf antworten? Dass es ihm in Anbetracht der Umstände miserabel ging, verstand sich von selbst.

„Wir beeilen uns mit unseren Fragen“, versicherte Mayer und lächelte. „Haben Sie zufällig Ihren Pass dabei?“

Robin zog das Dokument aus der Innentasche seiner Jacke und reichte es Mayer, während Bosco in einer dünnen Akte blätterte.

„Laut Ihrer Aussage, als Sie die Vermisstenanzeige aufgegeben haben, sind Sie und Ihre Frau vor fünf Tagen in New York angekommen, um am Marathon teilzunehmen.“

Robin nickte. „Eigentlich sind – waren Johanna und ich getrennt lebend.“

Beide Cops blickten ihn überrascht an.

„Der ...“ Er räusperte sich. „Der Tod unserer Tochter Vivian vor anderthalb Jahren hat unsere Ehe leider auch ...“ Wieder musste er hüsteln, um weitersprechen zu können. „Viv ist bei einem Autounfall in Italien umgekommen. Das hat uns beide so aus der Bahn geworfen, dass wir in der Trennung den einzigen Ausweg gesehen haben.“

„Trotzdem haben Sie gemeinsam am Lauf teilgenommen und auch gemeinsam ein Zimmer im Hotel bewohnt.“ Das Misstrauen in Boscos Stimme war nicht zu überhören.

Robin nickte. „Wir konnten zwar nicht mehr miteinander leben, aber wir sind nicht im Zorn auseinander gegangen.“

„Warum dann überhaupt eine Trennung?“ Mayer lächelte entschuldigend. „Nur so aus Neugier. Denn wenn Sie beide immer noch ... Na ja, da erscheint mir eine Trennung doch ein ziemlich radikaler Schritt.“

Der Meinung war Robin auch. „Johanna wollte es so. Sie gibt mir die Schuld an Vivians Unfall. Sie meinte, ich hätte ihre Italienreise verhindern müssen. Aber wer konnte denn ahnen, dass sie einen Unfall haben wird? Damit rechnet man doch nicht!“

Beide Cops warfen einander einen Blick zu, den Robin nicht deuten konnte.

„Das tut uns sehr leid, Sir. Wie alt war Ihre Tochter?“, wollte Bosco wissen.

„Neunzehn. Und während der letzten Jahre wurde sie immer schwieriger. Hatte Drogenprobleme. Aber was soll man machen? Wenn die Kinder erwachsen sind, hören sie erst recht nicht mehr auf ihre Eltern. Außerdem war Vivian clean, als sie nach Italien reiste.“

Glaubte er zumindest, weil sie das vor ihrer Abreise behauptet hatte. Er hatte ebenfalls hinreisen müssen, um die Leiche seiner Tochter zu identifizieren, die im Auto verbrannt war. Johanna, seit der Todesnachricht ein nervliches Wrack, hatte sich nicht in der Lage gefühlt, ihn zu begleiten. Nur noch ein verkohltes Bündel war von ihr, diesem zarten Wesen, übriggeblieben. Seine geballte Faust hatte er drohend gegen den Himmel erhoben gegen einen Gott, der so etwas zuließ. Er hatte sie hauptsächlich anhand der Gegenstände identifiziert, die bei ihr geborgen worden waren und trotz der Hitze des Feuers noch einigermaßen zu erkennen waren: ihre Uhr, an deren Armband eine silberne Schildkröte hing, ihr Schlüsselbund, ihr Ring mit ihrem eingravierten Namen. Später hatte ein DNA-Abgleich mit Haaren aus Vivians Kamm ihren Tod bestätigt.

„Sie haben also gemeinsam am Marathon teilgenommen“, riss Mayers Stimme ihn aus seiner Erinnerung. „Missverstehen Sie mich bitte nicht, Sir, aber das erscheint mir in Anbetracht der Umstände doch eine etwas ungewöhnliche Sache.“ Wieder lächelte er entschuldigend. „Ganz ehrlich, ich kenne eine Menge geschiedener Paare, aber von denen würde keiner mit seinem Ex-Partner noch auf eine andere Weise verkehren als per Anwalt. Und da Ihre Ex-Frau Ihnen die Schuld am Tod Ihrer Tochter gibt, fragen wir uns natürlich, was sie dazu bewogen hat.“

„Ich habe sie dazu überredet. Wir sind beide begeisterte Läufer. Johanna war schwer depressiv. Ich auch; eine Zeitlang. Ich dachte, der Lauf und das ‚Runner’s High’, das sich dabei immer einstellt, und die ganze Atmosphäre beim Marathon würde ihr helfen, das Tief zu überwinden. Und so war es ja auch. Als wir losgelaufen sind, hat sie gelacht.“

„Sie sind also gemeinsam losgelaufen.“ Bosco blätterte in der Akte. „Aber Sie sind nicht zusammengeblieben.“

Robin schüttelte den Kopf. „Wir haben unterschiedliche Laufrhythmen. Hatten wir schon immer. Dadurch und durch die vielen Leute, die sich am Start drängelten, haben wir uns aus den Augen verloren. Schon nach der Überquerung der Verrazano Bridge habe ich Johanna nicht mehr gesehen. Wir hatten aber damit gerechnet, getrennt zu werden und verabredet, uns nach dem Lauf im Central Park auf der Gapstow Bridge bei The Pond zu treffen. Da habe ich nach dem Rennen auf sie gewartet. Zwei Stunden lang. Als sie nicht kam, habe ich sie gesucht.“

Bosco blätterte wieder in der Akte. „Ja, Sie haben angegeben, dass Sie bei den Organisationskräften nachgefragt haben, ob man etwas über den Verbleib Ihrer Frau wisse.“

„Stimmt. Da hat man mir gesagt, dass die letzte Meldung von Johannas Läufer-Chip am Meilenstein sechzehn aufgenommen wurde. Danach kam nichts mehr. Ich dachte, sie hätte den Lauf abgebrochen und sei wieder ins Hotel gegangen, weil ihr das stundenlange Warten im Park zu lange gedauert hätte und ihr zu kalt gewesen wäre. Also bin ich ins Hotel zurück. Da war sie nicht. Ich habe gewartet, aber sie kam nicht.“

„Wissen Sie noch, wie lange Sie ungefähr gewartet haben?“, wollte Mayer wissen.

Robin nickte. „Ich habe die Uhr nicht aus den Augen gelassen. Als sie um sechs nicht da war, bin ich zur Polizei gegangen. Das heißt, erst bin ich mit dem Taxi zum Meilenstein sechzehn gefahren. Das ist First Avenue Ecke Queensboro Bridge in Richtung Bronx. Weil dort das letzte Signal von ihr kam, dachte ich, dass sie vielleicht noch da irgendwo ist. Oder in der Nähe. Sie tut manchmal so völlig unberechenbare Sachen.“

Wieder tauschten die beiden Cops einen Blick.

„Zum Beispiel?“, wollte Bosco wissen. Er beugte sich ein Stück vor.

Robin zuckte mit den Schultern. „Zum Beispiel, dass sie einen Lauf abbricht, weil sie von einer Sekunde zur anderen keine Lust mehr hat. Oder sich nicht an Vereinbarungen und Verabredungen hält. Einmal wollten wir gemeinsam zum Anwalt und ich sollte sie in unserem Haus abholen. Aber sie war nicht da. Ich habe gewartet, und sie kam nicht. Der Termin ist dadurch geplatzt. Hinterher stellte sich raus, dass sie einfach keine Lust auf den Termin gehabt hat und mit einer Freundin ausgegangen ist. Solche Dinge eben. Darum dachte ich ja, dass es diesmal was Ähnliches ist. Aber sie hatte sich auf den Marathon gefreut. Und in einem fremden Land ...“

Der Kaffee in Robins Becher war genug abgekühlt, dass er ihn trinken konnte, ohne sich den Mund zu verbrennen. Er nahm einen großen Schluck und fühlte, wie das heiße Getränk durch die Speiseröhre in seinen leeren Magen floss. Er hatte heute noch keinen Bissen herunterbekommen. Die Hitze fühlte sich etwas unangenehm an, aber der Kaffee tat trotzdem wohl. Und er schmeckte gut, nach Maschinenkaffee zwar, aber nicht im Mindesten schlecht. Robin nahm einen weiteren Schluck, während die beiden Cops geduldig warteten.

„Und sie hatte ihren Pass nicht dabei“, fiel ihm ein, als er den Becher auf den Tisch stellte. „Der liegt immer noch im Zimmersafe. Jedenfalls machte ich mir Sorgen. Und dann komme ich zur Polizei, wo man mir sagt, dass ich sie erst als vermisst melden kann, wenn sie seit vierundzwanzig Stunden ‚abgängig ist’. Abgängig!“ Er schnaubte verärgert, weil ihm das Wort, das der Beamte bei der Polizei gebraucht hatte, so gefühllos vorkam. „Ich bin mit dem Taxi die Marathonstrecke noch mal abgefahren. Danach habe ich die Bars durchkämmt, die in der Nähe des Hotels liegen und nach Johanna gefragt. Aber niemand hat sie gesehen. Also bin ich, als die vierundzwanzig Stunden um waren, wieder zur Polizei und habe die Anzeige aufgegeben.“

Und er hatte gebetet, dass Johannas Verschwinden wieder nur eine ihrer Launen wäre und sie irgendwann gesund und munter – oder auch stockbesoffen – im Hotel auftauchen würde und nicht das mindeste Verständnis für seine Sorgen aufbrachte. Doch Johanna war tot. Und aus dem Kaffeebecher blickten ihre leblosen Augen ihn an. Er schloss die seinen und trank den Becher auf einen Zug aus. Sekunden später kam die Übelkeit.

„Kann ich bitte ein Glas Wasser haben?“

Mayer verließ den Raum und kam keine Minute später mit einem Plastikbecher Wasser zurück.

„Danke.“ Robin spülte den Kaffee mit dem lauwarmen Wasser nach, das offenbar aus einem Spender stammte. Besser ging es ihm danach nicht.

„Nachdem Sie also die Vermisstenanzeige aufgegeben haben, taten Sie – was?“ Mayer sah ihn erwartungsvoll an.

„Das, was die Polizei mir geraten hat. Ich bin ins Hotel zurück und habe gewartet. Und alle paar Minuten versucht, Johanna auf dem Handy zu erreichen. Aber da ging immer nur die Mailbox ran.“

„Haben Sie Ihr Handy dabei?“, fragte Bosco und fügte auf Robins Nicken hinzu: „Darf ich es sehen?“

Robin reichte es ihm. Bosco scrollte offenbar die Liste der getätigten Anrufe durch, während Mayer den Kopf reckte, um ebenfalls einen Blick darauf werfen zu können.

„Und ich habe jede Stunde bei der Vermisstenstelle angerufen“, ergänzte Robin. „Ich glaube, ich bin den Leuten da ziemlich auf den Geist gegangen.“

So sehr, dass der Cop, mit dem er zuletzt gesprochen hatte, ihm unmissverständlich klar gemacht hatte, dass man sich initiativ melden würde, falls Johanna gefunden würde. Was dann tatsächlich der Fall gewesen war. Nur leider nicht mit dem erhofften Ergebnis.

Bosco reichte ihm das Handy zurück. „Kennen Sie oder Ihre Ex-Frau hier in New York jemanden näher? Bekannte, Verwandte, Freunde?“

Robin schüttelte den Kopf. „Wir sind zum ersten Mal hier. Und seit unserer Ankunft waren wir die ganze Zeit zusammen. Bis wir beim Lauf getrennt wurden.“ Er fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. „Wenn ich sie nicht zur Teilnahme überredet hätte, säße sie sicher zu Hause und wäre noch am Leben. Dabei wollte ich ihr doch nur helfen, damit es ihr wieder besser geht.“

Bei dem Gedanken kamen ihm die Tränen. Er unterdrückte sie gewaltsam. Als er die Cops wieder ansah, entdeckte er in deren Augen etwas Lauerndes.

„Hatten Sie irgendwann Streit?“ Mayer lächelte wieder einmal entschuldigend. „Das sind Routinefragen, Sir. Die müssen wir stellen.“

Das mochte die Wahrheit sein, aber Robin glaubte ihm trotzdem nicht. Das Misstrauen, das er bei beiden spürte, sprach Bände. „Ja, wir stritten uns am Abend vor dem Marathon. Nur kurz, dann war alles wieder gut. Nach der Trennung stritten wir immer, wenn wir uns begegneten. Das war für uns völlig normal. Es ging immer wieder um die Schuldfrage über Vivians Tod und was wir hätten anders machen können. Aber wir umarmten uns dann wieder und versicherten uns gegenseitig, dass wir zusammenhalten müssen um die schwierige Zeit zu überstehen. Mit dem Marathon – so dachten wir – würden wir es endlich schaffen. Und die Vorzeichen standen gut.“

Mayer und Bosco blickten ihn mit einem Ausdruck an, der nicht nur lauernd war, sondern auch den Verdacht ausdrückte, den sie offensichtlich hegten. Obwohl auch das vermutlich ebenfalls Routine war, fühlte Robin sich persönlich angegriffen. Wut wallte in ihm auf. Er ballte die Fäuste.

„Glauben Sie etwa, ich hätte was mit Johannas Tod zu tun? Glauben Sie, ich hätte sie derart zugerichtet? Ich?

„Wir glauben gar nichts, Mr. Texter.“

Obwohl Boscos Stimme gelassen klang, beruhigte das Robin nicht im Mindesten.

„Wir sammeln Informationen und Fakten und bilden uns anschließend eine fundierte Meinung. Es könnte ja sein, dass Ihre Ex-Frau aufgrund eines Streites nicht an Ihrer Seite laufen wollte.“

Robin schüttelte den Kopf.

„Und Sie sind sicher, dass Ihre Frau niemanden in der Stadt kennt?“

„Völlig, denn das hätte sie mir gesagt. Außerdem war sie nie zuvor in den USA. Ist das wichtig?“

„Routine“, versicherte Bosco.

Robin glaubte ihm nicht.

Bosco schob ihm einen Block und einen Stift hin. „Wenn Sie bitte notieren würden, in welchen Bars Sie nach Ihrer Frau gesucht haben. Und Ihre Teilnehmernummer beim Marathon brauchen wir auch.“

Robin war sich sicher, dass Bosco bei seiner Frage etwas Bestimmtes im Hinterkopf hatte, das er ihm aber nicht verraten würde. Deshalb fragte er nicht nach. Er notierte die Namen der Bars, an die er sich noch erinnerte und seine Läufernummer ehe er den Block zu Bosco schob.

„Was machen Sie eigentlich beruflich?“, wollte Bosco wissen, während Robin schrieb.

„Ich besitze eine private Kaffeerösterei mit angeschlossenem Café. In Amsterdam. Dorthin bin ich gezogen wegen der Trennung. Johanna blieb in unserem Haus in Augsburg wohnen.“

„Was machte Ihre Frau beruflich?“

„Sie ist – war Schneiderin. Bevor sie wegen anhaltender Depressionen wegen Vivians Tod dauerhaft krankgeschrieben wurde, hatte sie einen guten Job bei einer Modedesignerin.“ Und sie hatte kurz davor gestanden, sich selbstständig zu machen. Zukunftsträume, die der Tod zum zweiten Mal und diesmal endgültig vernichtet hatte.

„Danke, Mr. Texter. Vorläufig war es das. Wir bringen Sie zum Hotel zurück. Bitte bleiben Sie in der Stadt, bis unsere Ermittlungen abgeschlossen sind.“

„Sie verdächtigen mich also doch. Aber welchen Grund sollte ich denn haben, Johanna umzubringen?“

Weder Bosco noch Mayer antworteten ihm. Doch die Blicke, die sie ihm zuwarfen, sagten deutlich, dass ihnen da wohl mehr als ein plausibler Grund einfiel. Er schüttelte den Kopf.

„Wir würden uns auch gern noch Ihre Kleidung ansehen, die Sie an dem Tag getragen haben“, fügte Bosco hinzu.

Das hätte er sich denken können. „Die Laufklamotten habe ich im Hotel dem Reinigungsservice gegeben. Die waren ja total verschwitzt und dreckig. Das andere habe ich an.“ Er deutete an sich herab.

Bosco und Mayer standen auf. „Wenn Sie bitte draußen einen Moment warten würden, Mr. Texter.“

Robin gehorchte und hatte das Gefühl, in einem nicht endenden Albtraum zu stecken.

 

Bosco blickte Robin Texter ebenso nach wie Mayer, nachdem der Mann den Raum verlassen hatte.

„Glauben wir ihm?“, überlegte Mayer.