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Das hier ist für meinen Domo.

Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Goga-Klinkenberg

ISBN 978-3-8270-7830-8
September 2015
Deutschsprachige Ausgabe:
© 2015 Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotiv: © Finepic, München
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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Der Fluss, der durch uns fließt,
ist tief und schmutzig.

C. D. Wright1

1

Besonders bedeutende Augenblicke haben oft einen bitteren Beigeschmack, weil wir uns geradezu krankhaft danach sehnen, im Stich gelassen zu werden. Und so war ich bei meiner ersten Einzelausstellung in Paris im September 2002 weder stolz noch aufgekratzt, als ich die vielen Menschen sah, die meine Bilder betrachteten, sondern traurig. Enttäuscht. Hätte mir jemand vor zehn Jahren gesagt, dass mein künstlerischer Ruf auf einer Serie realistischer Ölgemälde von Zimmern aus der Schlüsselloch-Perspektive gründen würde, hätte ich auf meine Collage aus Treibholz, Sägeblättern und geschmolzenen Ramen-Nudeltüten, auf meine kleinen grünen Plastiksoldaten in Blasenfolie gedeutet, hätte die Bässe des Elektronikalbums Fancypants Hoodlums von Peaches hochgedreht und erklärt, dass ich mich nie verkaufen würde.

Doch hier war ich, umgeben von dreizehn erzählenden Gemälden, auf denen Zimmer zu sehen waren, in denen ich im Laufe meines Lebens mit verschiedenen Frauen gewohnt oder in denen ich mit diesen Frauen bestimmte Erfahrungen gemacht hatte. Die kaum sichtbaren Pinselstriche und die Palette von Ölfarben würden sich an jeder Wand, in jedem Zusammenhang und in jedem Land gut machen. Die Bilder waren nicht kontrovers, ganz sicher nicht politisch und verkauften sich wie verrückt.

Allerdings war der Eindruck, ich hätte mich verkauft, sehr persönlicher Natur, denn er wurde weder von meinem Galerist Julien geteilt, der glücklich durch den Raum schlenderte und rote Punkte an den Gipskartonwänden anbrachte, noch von den bunt gekleideten Exilanten, die mir mit Plastikgläsern voller Chablis zuprosteten. Es gab keinen Grund, schlechtgelaunt zu sein; ich war noch relativ jung und in Paris und hatte lange auf diesen Abend hingearbeitet. Doch seitdem Julien unter meinem ersten Gemälde der Serie, das den Titel Der blaue Bär trug, einen grünen Aufkleber angebracht hatte, wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich etwas Unwiderrufliches getan hatte, dass ich mich am falschen Ort befand und das schon seit Monaten. Schlimmer noch, ich besaß keinen Anker, niemanden, der mich wieder auf Kurs brachte. Die Frau, mit der ich seit sieben Jahren verheiratet war, eine nüchterne französische Rechtsanwältin, die mir während des Studiums zur Seite gestanden hatte, als ich noch Skulpturen aus dem Müll anderer Leute und Puppenhäuser aus Barbieverpackungen angefertigt hatte, war ein Gradmesser meines künstlerischen Niedergangs. Anne-Laure de Bourigeaud würde nicht lügen und mir sagen, ich hätte es geschafft. Der Mensch, der das getan hätte, der einzige Mensch, von dem ich mich trösten und antreiben lassen wollte, lebte jenseits des Ärmelkanals mit einem Mann zusammen, der zuverlässiger, unkomplizierter, verfügbarer war als ich. Und so musste ich mein Selbstwertgefühl aus roten Aufklebern und händeschüttelnden Möchtegernmäzenen beziehen. Doch später am Abend, als meine Frau für alle außer mir funkelte und strahlte, trieb ich ankerlos dahin und wäre am liebsten einfach untergegangen.

Nach der Vernissage legte Anne in unserem Peugeot energisch den ersten Gang ein. Wenn sie angespannt mit einem Schaltwagen durch Paris fährt, übt das eine fast kathartische Wirkung auf mich aus. Ich lasse sie oft ans Steuer.

Ihr Sicherheitsgurt spannte sich, als sie nach hinten griff und sich vergewisserte, dass unsere Tochter angeschnallt war.

»Alles klar, Prinzessin?«, fragte ich und drehte mich ebenfalls um.

Camille strich die wallenden Rüschen auf ihrem rosa Schlauchrock glatt, den sie für Dads großen Abend ausgesucht hatte.

»Non …«, gähnte sie.

»Du hast dir nicht den letzten Trinkjoghurt genommen, oder?«, fragte mich meine Frau.

Das Licht der Straßenlaternen fiel ins Auto, beleuchtete das Lenkrad, das verstaubte Armaturenbrett, das summende Elektroland unserer kleinen mobilen Welt. Anne war beim Friseur gewesen. Ich hütete mich, sie darauf anzusprechen, erkannte aber sofort den metallischen Erdbeergeruch des Haarsprays, der sich zweimal monatlich in unser Leben stahl.

Ich schaute ihr in die Augen, die sie in der lässigen und doch sorgfältig einstudierten Art der Französinnen wunderschön nachgezogen hatte. Ich zwang mich zu lächeln.

»Nein, habe ich nicht.«

»Gut«, sagte sie und manövrierte den Wagen aus der Parklücke. »Cam-Cam, wir essen noch eine Kleinigkeit, wenn wir nach Hause kommen.«

Paris. Paris bei Nacht. Paris bei Nacht zeigt einem Hunderte Augenblicke, die man erleben könnte. Man könnte das Paar unter der Straßenlaterne an der Place de la Concorde sein, das sich selbst fotografiert. Man könnte der alte Mann auf der Brücke sein, der auf die Hausboote hinunterschaut. Man könnte der Mensch sein, der das telefonierende Mädchen auf derselben Brücke zum Lächeln bringt. Oder man könnte der Mann in dem beschissenen französischen Auto sein, der mit seiner Frau über Trinkjoghurt diskutiert. Paris ist die Stadt der hundert Millionen Lichter, die manchmal flackern. Und manchmal verlöschen.

Anne schaltete die Nachrichten im Radio ein. Die weiche Altstimme der Sprecherin erfüllte den stillen Wagen: »Zum Auftakt eines Treffens in Camp David sicherte der britische Premierminister Tony Blair Präsident Bush seine volle Unterstützung bei der Auffindung und Zerstörung der Massenvernichtungswaffen zu, die angeblich im Irak lagern.« Dann näselte mein Premierminister: »Die Politik der Untätigkeit ist keine Politik, der wir uns in verantwortungsvoller Weise verschreiben können.«

»Genau«, sagte Anne. »Untätigkeit.«

»Das ist Wahnsinn«, sagte ich, ohne auf ihren Kommentar einzugehen. »Die Menschen haben Angst, weil man sie ihnen einredet. Und niemand fragt nach dem Grund.«

Anne setzte den Blinker.

»Ich glaube, es ist größtenteils eine Verschiebung.« Sie hob das Kinn, stolz auf ihr Arsenal an literarischen Fachbegriffen, das noch aus dem Grundstudium stammte. »Die großen Fragen sind zu beängstigend. Du weißt schon: wer eigentlich der Schuldige ist. Also haben sie sich ein leichtes Ziel ausgesucht.«

»Meinst du, Frankreich zieht mit?«

Ihre Augen wurden dunkel. »Niemals.«

Ich schaute aus dem Fenster auf den endlosen Fluss unter uns, der das rechte vom linken Ufer trennte, die Reichen von den noch Reicheren. »Aber es ist ein schlechtes Zeichen, dass Blair sich ihnen anschließt«, fügte ich hinzu. »Ich meine, die Briten? Früher haben wir Dinge zu Tode hinterfragt.«

Anne nickte, sagte aber nichts. Gerade fasste die Sprecherin die finanzielle Situation in der Eurozone seit der Einführung des Euro im Januar zusammen.

Anne drehte das Radio leiser und schaute in den Rückspiegel. »Cam, Schätzchen, hattest du einen netten Abend?«

»Na ja, war okay«, sagte unsere Tochter Camille und spielte an ihrem Rock herum. »Mein Lieblingsbild ist das mit den ganzen Fahrrädern und dann das, ähm, das mit der Küche und dann das mit dem blauen Bären, das früher in meinem Zimmer gehangen hat.«

Ich schloss die Augen wegen all der Frauen, selbst den kleinen, die Worte wie Zauberstäbe schwangen; eben noch waren sie zuckersüß und harmlos, dann plötzlich beißend.

Ästhetisch betrachtet war Der Blaue Bär eines der größten und daher teuersten Gemälde der Ausstellung – aber es war auch das heikelste, weil ich es ursprünglich als Geschenk für Anne gemalt hatte.

Der Blaue Bär ist ein Ölgemälde von 117 × 140 Zentimetern, auf dem das Gästezimmer in dem klapprigen, zugigen Haus eines Freundes in Centerville, Cape Cod, zu sehen ist. Dort verbrachten wir den Sommer nach unserem Examen, Mittzwanziger auf dem Scheitelpunkt, die sich die Frage nach dem Was jetzt? stellten und ans Babymachen dachten, was vielleicht nicht die Frage nach dem Was jetzt?, wohl aber die Frage nach dem Was dann? beantworten würde.

Wir waren die ersten aus unserem Freundeskreis, die heirateten, und es kam uns rebellisch und künstlerisch vor, ein Kind zu bekommen, während wir noch jung und schlank und ganz heftig ineinander verliebt waren. Gleichzeitig schmiedeten wir unsere Pläne aber auch in einem Traumland, sicher umschlossen von dem Mantra, das schon der Untergang so vieler privilegierter Weißer gewesen ist: Eine ungeplante Schwangerschaft passiert uns nicht.

Daher überraschte uns die Farbe auf dem Streifen, als Annes Periode nur fünf Wochen, nachdem sie ihre Spirale entfernt hatte, ausblieb und sie ein deutliches Pochen in den Brüsten spürte. Wir fanden es lustig – wir waren so symbiotisch in unserem Geschmack und unseren Wünschen, dass ein bloßes Gespräch eine Möglichkeit Realität werden ließ. Wir waren entzückt, sogar amüsiert. Fühlten uns gesegnet.

In den ersten Wochen am Kap baute ich noch Skulpturen aus Fundstücken, und Anne, eine begabte Illustratorin, lernte abwechselnd für ihr Jurastudium und arbeitete an neuen Bildern für ein Magazin, das sie während ihres Auslandsstudiums in Boston gegründet hatte. Es hieß Âne in America, ein Wortspiel mit ihrem Namen und dem französischen Begriff für Esel, âne. Darin schilderte sie die Fehltritte einer schüchternen, pessimistischen Pariserin in der lärmenden Welt zuckerwatteherziger, Diätbier bechernder Amerikaner, die darauf vertrauen, dass ihr unerschöpflicher Optimismus alles überwindet.

Doch während der Sommer dahinschlich und ich sie dabei beobachtete, wie sie laminierte Hardcover aus der städtischen Bibliothek las und ihren wachsenden Bauch streichelte, vollzog sich in diesem Engländer, der bis dahin ein Feind jeglicher Rührseligkeit gewesen war, eine seltsame Veränderung. Ich wurde sentimental, weichherzig, ein Schlaffi, der seichte Musik hörte. So wie wir im Flugzeug durch den Sauerstoffmangel plötzlich bei romantischen Komödien in Tränen ausbrechen, vertrieb das Kind, das in Annes Körper von einer diskutierten Möglichkeit zu einem echten Wesen heranwuchs, mein Interesse an Seeglas, zerdrückten Plastikdosen und porösem Holz. Stattdessen weckte es in mir das Bedürfnis, etwas Hübsches für sie zu malen. Für sie beide.

Die Idee für ein Bild aus der Schlüsselloch-Perspektive kam mir, als ich eines Morgens sah, wie Anne im Schlafzimmer einen Teddybären betrachtete, den uns unsere Freunde als vorzeitiges Babygeschenk auf einen Stuhl gelegt hatten. Sie waren damals unsere engsten Freunde und die ersten Menschen, denen wir von der Schwangerschaft erzählt hatten. Das Stofftier wirkte rührend und unheilverkündend zugleich. Würde das Baby damit spielen? Würde das Baby überhaupt leben? In Annes Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Furcht und Aufregung wider, als sie das ausgestopfte braune Ding in den Händen drehte, und es tröstete mich zu wissen, dass nicht nur ich eine Achterbahn der Gefühle erlebte.

Dennoch, Anne ist eine Frau, und das bin ich ganz offenkundig nicht. Zwischen dem, was mit ihr geschah und dem, was möglicherweise – sicherlich – mit uns geschehen würde, bestand ein großer Unterschied. Und so kam mir die Idee, die Szene aus der Ferne einzufangen, als Außenseiter, als Betrachter.

Ich ließ das Zimmer leer bis auf den verschlissenen Teppich und den Schaukelstuhl am Fenster, durch das man aufs graue Meer blickte. Der Teddybär saß im Schaukelstuhl; er war ein bisschen größer als in Wirklichkeit und auch nicht braun. Ich malte einen blauen Bären, nicht in einem zarten Pastellton, der eine optische Täuschung von Licht und See hätte sein können, sondern in einem überschäumenden Himmelblau, das der ansonsten biederen Atmosphäre einen pulsierenden Mittelpunkt verlieh. Das Blau – je nach Lichteinfall beunruhigend oder besänftigend – stand für den Reiz des Unbekannten.

Als ich Anne das Bild schenkte, fragte sie nicht, weshalb der Bär blau sei. Sie erkannte es intuitiv, und ich war mir einmal mehr sicher, dass ich sie liebte, dass ich sie wahrhaft liebte, dass ich sie immer lieben würde. Welche andere Frau konnte ein solches Geständnis wortlos akzeptieren? Eine greifbare Darstellung von beidem, Glück und Angst?

In jenem Herbst überquerte das Bild mit unseren Habseligkeiten auf einem Schiff den Atlantik und wartete in einem Pariser Lagerhaus auf die Geburt unserer Tochter. Danach bezogen wir endlich ein eigenes Heim. Wir hängten es ins Kinderzimmer, ohne uns um die Bemerkungen gewisser Freunde und Verwandte zu kümmern, nach denen der Bär ohne die blaue Farbe sehr viel weniger abstoßend, viel »kindgerechter« gewesen wäre. Gerade das scheinbare Unverständnis anderer Leute überzeugte uns davon, dass wir eine ganz bestimmte Sensibilität teilten, etwas wahrhaft Besonderes, wodurch das Bild zu etwas weit Wichtigerem wurde als einem privaten Scherz.

So dachten wir, bis Camille drei wurde und die Wände mit ihren eigenen Zeichnungen und Papierausschnitten und Origami-Vögeln zu dekorieren begann. Wir befürchteten, ihr etwas aufzudrängen, das nur uns etwas bedeutete. Also brachten wir das Bild in den Keller und beschlossen, ein neues Regalsystem zu kaufen, damit wir an unserer Schlafzimmerwand genügend Platz für das Bild hatten. Doch dann begegnete ich Lisa, zu viel Zeit war vergangen, und als Der blaue Bär wieder zur Sprache kam, verliefen unsere Diskussionen vorwurfsvoll und boshaft. Also blieb es im Keller, außer Sichtweite, nicht vergessen, sondern eher verachtet.

Als ich einige Monate später die Gemälde für die Ausstellung zusammenstellte, sagte Julien, er könne sich noch an das erste Schlüssellochbild erinnern, das ich ihm je gezeigt und das ihn sehr beeindruckt hätte. Ob ich es nicht vielleicht auch in die Ausstellung aufnehmen wolle? Mein Verdacht, dass Der blaue Bär uns nicht mehr dasselbe bedeutete wie damals, bestätigte sich, als ich Juliens Vorschlag erwähnte und Anne daraufhin sagte, es sei ihr egal. Wenn das Bild die Ausstellung seiner Ansicht nach vervollständige, nur zu, dann solle ich eben auf ihn hören. Und es verkaufen.

Nachdem wir einen Parkplatz vor unserem Haus im 14. Arrondissement gefunden hatten, vollzogen wir wie ein eingespieltes Team die lebenserhaltenden Gesten unseres häuslichen Lebens. Während Anne Camille den bereits erwähnten Trinkjoghurt gab, ließ ich ihr oben ein Bad ein und fügte eine ihrer Lieblingsbadekugeln mit Pfirsichduft hinzu. Anne beaufsichtigte sie beim Planschen, in der Zwischenzeit räumte ich die Küche auf. Dann brachte ich Camille ins Bett und gab ihr einen Kuss, bevor ihre Mutter ihr noch eine Gutenachtgeschichte vorlas.

Ich putzte mir rasch die Zähne und spritzte mir Wasser ins Gesicht. Zwischen uns herrschte die unausgesprochene Übereinkunft, dass ich aus dem Badezimmer war, bevor Anne hereinkam, damit sie sich fertig machen konnte, ohne dabei mein Gesicht neben sich im Spiegel zu sehen.

Ich legte mich ins Bett und wartete darauf, dass der ferne Singsang des Vorlesens verklang. Als ich die Schritte meiner Frau im Flur hörte, nahm ich rasch Poor Fellow My Country, den längsten australischen Roman aller Zeiten, vom Nachttisch und begann darin zu lesen.

Anne schloss die Badezimmertür und sperrte mich damit aus. Als sie ins Bett kam, roch sie nach Rosmarin und hatte die ihre dunklen Haare zu einem Knoten hochgesteckt, Haare, nach denen ich als Student völlig verrückt gewesen war, die ich aber nicht mehr berührte. Sie sagte, ohne mich anzusehen, gute Nacht, und ich sagte auch gute Nacht.

Ich hatte seit sieben Monaten und sechzehn Tagen keinen Sex mehr mit meiner Frau gehabt. Ich liebte sie und hatte sie aus den Augen verloren. Ich hatte mich mit einer anderen eingelassen. Anne wollte nichts darüber wissen, weder wer die Frau war oder wann es begonnen hatte noch worum genau es dabei ging – Sex, Flirt, Lust –, es sollte einfach »erledigt« sein. Sie wollte mich als Ehemann und Vater zurück, nicht aber als Freund. Und ich hatte ihr versprochen, es zu beenden, obwohl die Beziehung bereits das letzte Kapitel erreicht hatte. Als Anne mich wegen meiner Geliebten zur Rede stellte, war ich von meiner Geliebten bereits verlassen worden, weil sie einen anderen heiraten wollte. Ich sagte Lisa, dass ich sie liebte, doch es war ihr egal.

Und so steckte ich in einem Liebesdilemma: Ich sehnte mich nach dem falschen Menschen und trauerte an der Seite einer Frau, deren Körper ich nicht berühren konnte. Sie bot mir eine zweite Chance, doch mir fehlte der Durchblick, um sie zu ergreifen.

Ich war einmal sehr verliebt in Anne-Laure und sie – unglaublicherweise – auch in mich. Manchmal spüre ich dieses Gefühl noch immer beim Anblick meiner dunkelhaarigen, meeresäugigen Schönheit, meiner Frau, die ich nicht verdiene und mit der ich mir ein Leben aufgebaut habe. Und dann denke ich, verdien sie dir. Kehr zurück zu dem Mann, der du in eurer Wohnung in Rhode Island warst, als ihr die Uni geschwänzt und nackt unter einer Daunendecke darüber gelacht habt, wie viele Kissen Amerikaner in ihrem Bett brauchen; kehr zurück zu den holzigen Barolos, die sie in braunen Papiertüten zu Bottlepartys mitbrachte; kehr zurück zu ihrer Intelligenz, ihrem Wagemut. Kehr zurück zu der Französin in ihr, zeitlos, frei und subtil. Kehr zurück zu dem Menschen, der sich neben dir schlafend stellt. Greif hinüber, flehe, kehr zurück.

Es scheint unmöglich, und doch weiß ich, dass Anne mich noch liebt. Und wenn ich mich dabei erwische, wie ich sie quer durch den Raum, oben an der Treppe oder mit einer Einkaufstüte voller sorgfältig ausgesuchter Dinge im Arm betrachte, dringt das alles auf mich ein. Und es tut verdammt weh, weil die Erinnerungen, die sich so warm anfühlen, nicht mehr zu dem Leben passen, das wir derzeit führen. Ab irgendeinem Zeitpunkt fiel es uns schwer, auch nur freundlich zu sein. Ich weiß nicht, wieso, und ich weiß auch nicht, seit wann genau das so ist. Aber wenn ich mir all die Gründe vergegenwärtige, aus denen ich mich wieder in sie verlieben möchte, wünsche ich mir mehr als alles andere, dass mich die Flut des Früher mitreißt. Als ich meine Liebe zu Anne verlor, verlor ich auch ein wenig von meiner Liebe zu allem anderen. Ich weiß nicht, worauf ich warte, um dieses Gefühl wiederzuerlangen, geschweige denn, wie lange ich – oder wir – noch warten können.

2

Ende September rief mich Julien an, um mir zu sagen, dass er Post und Neuigkeiten für mich habe. Nachdem ich Camille wie jeden Morgen zur Schule gebracht hatte, kaufte ich in einer benachbarten Bäckerei ein Schweinsohr und aß es im Stehen hinter einem Zeitungskiosk. Ich wartete auf den rechten Augenblick für das, was mich in dem duftenden Briefumschlag erwartete.

Als Lisa mich verließ, fragte sie, ob sie mir schreiben könne. Diese paradoxe Bitte erinnerte mich an das Lied von Serge Gainsbourg, »Je ne t’aime plus moi aussi«. Lisa Bishop sieht sogar aus wie Jane Birkin, das kleine Biest. Jedenfalls sagte ich ja, weil ich ein Idiot und ein Nimmersatt in Sachen Selbstbestrafung bin. Ich sagte, sie solle mir an die Galerie schreiben. Niemals nach Hause.

Ich stellte mir die Briefe vor, sah mich darin nach Hinweisen suchen, dass Lisa mich vermisste, dass sie glaubte, einen Fehler begangen zu haben. Ich rechnete damit, dass die Briefe zahlreicher und hitziger werden würden, wenn sie erst verheiratet und den libidobetäubenden Ritualen des Ehelebens ausgesetzt wäre, dass sie grell und sexy klingen würden. In meiner Phantasiewelt schrieb ich ihr zurück, benutzte die Galerie für meine Flaschenpost und betrieb meine (jetzt nur noch intellektuelle) Tändelei weit weg von zu Hause. Ich vermisse dich auch. Ich bin leer. Aber du hast recht, es musste aufhören.

In Wahrheit waren Lisas Briefe sehr entmutigend. Ich beantwortete sie nicht. Eigentlich wollte ich sie bitten, gar nicht mehr zu schreiben, aber das wäre furchtbar kindisch gewesen, wie »Stock und Stein brechen mein Gebein, doch Worte bringen keine Pein«. Außerdem haben mich sowohl Stock und Stein als auch Worte verletzt.

Ich will nicht kleinlich sein, aber wenn ich mich sieben Ehejahre lang erstklassig benehme und dann schließlich in die Knie gehe, strauchele, alles gründlich vermassele, könnte meine Komplizin wenigstens den Anstand besitzen, meine Liebe zu erwidern.

Ich bin immer davon ausgegangen, Lisa würde sich wünschen, dass ich meine Frau verlasse. Zu oft habe ich mich gefragt, warum sie sonst mit mir zusammen sein sollte, und zu selten, warum sie es tatsächlich war. Und warum war sie mit mir zusammen? Wegen Sex, sagte sie schließlich. Wegen des Neuen. Des Spaßes. Und das aus dem Mund einer Amerikanerin, einer Journalistin, einer Frau, die sowohl die Prüderie ihrer Landsfrauen als auch die Ethik ihres Berufsstandes vermissen ließ. So sollte eine Affäre eigentlich nicht laufen. Lisa sollte sich wünschen, mein Kind kennenzulernen, sie sollte davon träumen, eine tolle Stiefmutter zu werden, eine größere, strahlendere, wildere Version von Anne. Sie sollte mir keinesfalls bei einem leichten Mittagessen aus Nigiri-Sushi beiläufig mitteilen, dass sie mich für einen Besteckdesigner aus London verließ, einen feinen Pinkel namens Dave.

»Guter Gott, nennt er sich etwa nicht David?«, fragte ich hüstelnd.

»Nein.« Sie steckte ihre Stäbchen mitten ins Wasabi, zwei Pfähle durchs Herz. »Er ist nett.«

»Sicher doch, mit so einem Namen.«

»Bitte, Richard. Mit deinem Namen gewinnst du nun wirklich keinen Preis für Originalität.« Sie schob ihr Sushi seufzend beiseite. »Willst du ernsthaft behaupten, du wärst überrascht?«

Mir fiel die Kinnlade runter. »Wann hast du ihn überhaupt kennengelernt? Wann hattest du Zeit dazu?«

»Richard, du bist verheiratet. Ich hatte jede Menge Zeit.«

Sie ließ die Rechnung kommen, und wir spazierten an der Seine entlang, während sie erzählte, sie habe einen Artikel über ihn für den Lifestyleteil der Herald Tribune geschrieben. Anscheinend war er der Designer, der in englischen Imbissen den Plastikgöffel eingeführt hatte, obwohl ein norwegischer Emporkömmling namens Lars dies derzeit bestritt.

»Er macht eine ziemlich stressige Zeit durch«, sagte sie und spielte an ihrem Schal herum.

Wenn eine Frau, an deren Körper man postkoitale Tränen vergossen hat, einem sagt, sie verlasse einen für einen Mann, dessen Ruhm auf der Verschmelzung von Suppenlöffel und Gabel gründet, rechnet man mit dem großen Knall, der Pointe. Womit man nicht rechnet, ist eine zweite Enthüllung: dass sie einen verlässt, um diesen Mann zu heiraten.

Inzwischen saßen wir auf einer Betonbank an der Seine, deren raue Oberfläche mit grünen Glasscherben gesprenkelt war. Es stank nach Urin.

»Ich dachte, die Ehe gefällt dir nicht. Ich dachte, du glaubst nicht daran.«

»Es ist komisch«, sagte sie und schnipste ein Stückchen Glas auf den Boden. »Alle sagen, wenn man es weiß, weiß man es eben. Und das stimmt. Irgendetwas hat einfach Klick gemacht. Es ist sehr beruhigend, wirklich. Nicht halb so dramatisch wie mit dir.«

Ich schaute sie ungläubig und in der festen Überzeugung an, einen dämonischen Aufziehschlüssel zwischen ihren Schulterblättern zu entdecken.

»Bist du wütend auf mich?« Sie legte meine Hand an ihr Gesicht. »Du wusstest doch, dass es mit uns nicht so weitergehen konnte, auch wenn es toll war.« Sie küsste meine Handfläche, den gemeinen Mund halbgeöffnet, so dass der Kuss sehr feucht ausfiel. »Und es war wirklich toll.« Sie begann meine Finger zu küssen. Ich zog die Hand weg.

»Du meinst es ernst.«

Ihre haselnussbraunen Augen weiteten sich. »Ja. Ich gehe weg. Ich ziehe in zwei Monaten nach London.«

Ich schaute auf meine Turnschuhe. Ich schaute auf die Seine.

»Ich bin verrückt nach dir«, fuhr sie fort. »Und das weißt du auch. Aber das hier muss aufhören. Wenn ich noch länger warte, zerstört es vermutlich dein Leben.«

Sie war neunundzwanzig, fünf Jahre jünger als ich, und ahnte nicht, dass ich im Gästezimmer meines eigenen Hauses schlafen musste, weil die Energie, mit der sie mich erfüllte, diese beschissene Gier nach Leben, diese Sehnsucht, jede Stunde eines jeden einzelnen Tages in ihr zu sein, mich in meinem eigenen Heim zu einem lebenden Toten gemacht hatte. Sie ahnte nicht, dass es Tage gab, an denen ich mich nicht daran erinnern konnte, worüber ich mit meiner eigenen Tochter auf dem Schulweg gesprochen hatte; sie ahnte nicht, dass ich ums Verrecken nicht wusste, was meine Frau in der letzten Woche – oder am gestrigen Abend – getragen hatte, ahnte nicht, dass ich mehr als sonst trank und weniger als sonst aß und mir nie, niemals hätte träumen lassen, dass es zwischen uns aus sein könnte.

Danach passierte nicht mehr viel – ich sah Lisa noch viermal, bevor sie nach London zog, und wir schliefen nie wieder miteinander. Sie hatte mich wer weiß wie lange betrogen, doch durch die Verlobung wurde sie selbstgerecht wie eine frisch Bekehrte. Sie sagte, sie habe es seelisch verarbeitet, das Betrügen, und freue sich wirklich darauf, eine gute, pflichtgetreue Ehefrau zu werden – was klang, als bräche sie zu einer verdammten Visionssuche auf.

Und dann verließ sie mich. Ließ mich verunsichert zurück mit der Frage, ob ich sie zurückhaben oder lieber hassen wollte, ließ mich zurück mit der Anweisung, ich solle nicht versuchen, sie zurückzugewinnen. Aber könne sie mir von Zeit zu Zeit schreiben? Sie ließ mich zurück mit der Mutter meines Kindes und verlangte, ich solle der Betäubung in meinem Inneren ein Ende setzen. Die Tatsache, dass ich es nicht schaffte, dass man mir die Entscheidung abnahm, dass ich nicht derjenige war, der »Schluss damit« sagte, hat es mir sehr viel schwerer gemacht, in mein Leben zurückzukehren.

Ich hatte gerade einen Krümelteppich von meinem Pullover gewischt und wollte zur Galerie zu gehen, als ein Roller neben dem Zeitungskiosk hielt. Darauf saß ein Mann mit knöchelhohen lila Turnschuhen und gelbem Helm.

»Richard!«, rief er und klappte das Visier hoch. »Dachte ich mir doch, dass du das bist!«

Ich war überzeugt gewesen, meine Stimmung könnte nicht noch weiter sinken, doch nun ging mein submarines Herz auf Tauchgang. Ich wischte meine butterverschmierten Finger an der Jeans ab und streckte die Hand aus, um seinen üblichen Gruß, eine Mischung aus Fauststoß und Boxhieb, zu erwidern.

»Patrick, wie geht’s?«

»Gut, gut! Ich war auf dem Weg in mein neues Atelier in Bercy. Und an der roten Ampel dachte ich, ist er das jetzt oder nicht? Ich hab dich seit Jahren nicht gesehen!«

»Ich weiß, Mann«, stieß ich hervor und zuckte möglichst lässig mit den Schultern. »Der Nachwuchs.«

»Ach ja? Ich auch.« Er nahm den Helm ab. »Es ist schön, dich zu sehen! Ich dachte immer, wir würden uns mal über den Weg laufen, aber … keine Ahnung. Warst du auf Reisen?«

»Kaum. Du?« Ich machte mich darauf gefasst, jede einzelne seiner Antworten zu hassen. »Ich dachte, du wärst nach Dänemark zurückgegangen.«

»Bin ich auch. Für ein Jahr. Aber wenn man einmal in den Staaten gelebt hat, fühlt sich alles andere irgendwie so starr an, findest du nicht? Ich hatte gerade ein Aufenthaltsstipendium in Texas, im Ballroom Marfa. Meine Frau war auch dabei. Der Kleine … warte mal!« Er griff in seine Satteltasche. »Ich komme aus der Druckerei, daher …« Er wartete, während ich den Flyer betrachtete, den er mir gegeben hatte. »Habe demnächst ein Projekt im Musée Bourdelle. Performancekunst, ob du’s glaubst oder nicht.«

»Ach ja?« Mein Magen verkrampfte sich.

»Ja, es ist ziemlich …« Er rutschte auf dem Roller herum. »Hast du jemals Roman in Fragen von Padgett Powell gelesen?«

Als ich verneinte, fuhr er fort: »Das Buch besteht nur aus Fragen. Frage auf Frage.« Er rückte seinen Helm unter dem Arm zurecht. »Zum Beispiel: ›Sollte ein Baum gestutzt werden? Gehört das Sammeln von Pfandflaschen zu den lieben Erinnerungen an Ihre Kindheit?‹«2

»Hast du sie alle auswendig gelernt?«

»Nein«, erwiderte er lachend. »Nur ein paar. Sie haben mich im alten Studio vom Bourdelle untergebracht, dort werde ich eine Woche lang mit dem Buch sitzen. Die Leute können nacheinander hereinkommen und sich zu mir setzen, und ich mache mit den Fragen einfach dort weiter, wo ich beim letzten Besucher aufgehört habe. Jedenfalls«, er deutete mit dem Kopf auf den Flyer, »solltest du mal vorbeikommen! Ich finde es sehr aufregend.«

»Ja.« Ich fuhr mit dem Daumen über die Überschrift. »Vielleicht mache ich das.«

»Ich muss jetzt los, aber es wäre wirklich toll, wenn wir mal wieder länger reden, uns auf den neuesten Stand bringen würden. Guter Gott, unsere Kinder könnten miteinander spielen!«

Ich lächelte schwach. »Meinst du?«

»›Wenn sich Ihnen jemand mit den Worten ,Führen Sie mich zur Musik‘ näherte, wie würden Sie reagieren?‹«2

Ich blinzelte. Er blinzelte zurück. Zuckte mit den Schultern. »Das ist aus meinem Projekt.«

»Oh«, sagte ich und lachte gezwungen. »Cool.«

Er stieß den Roller mit seinem knöchelhohen lila Turnschuh zurück auf den Gehweg und wiederholte, dass er es ganz, ganz ehrlich meine. Kaffee. Bald.

Und weg war er. Dieser gottverdammte Patrick Madsen, so großzügig und aufrichtig, dass ich ihn und seine abgezockte Performancekunst nicht einmal hassen konnte. Damals an der Rhode Island School of Design hatte er als Hauptfach kinetische Animation belegt – für seine Arbeit im zweiten Studienjahr hatte er vier ausgestopfte Wildschweinköpfe mit Aufzeichnungen der Filmversion von Roe v. Wade versehen, die nur aktiviert wurden, wenn eine Frau vorbeiging. Für seine Abschlussarbeit hatte er Fotos, die sein deutscher Großvater im Zweiten Weltkrieg gemacht hatte, so verkabelt und mit Rillen versehen, dass sie tatsächlich auf einem Plattenspieler laufen konnten. Die Töne, die aus den Fotos drangen, waren furchterregend, schrill und kratzig. Dafür erhielt er ein Stipendium, das er nutzte, um in Osaka Robotertechnik und Ingenieurwesen zu studieren. Und jetzt machte er Performancekunst. Dank meiner leicht zugänglichen Ölgemälde (Schlüssellochbilder? Jesus!) kam ich mir ohnehin schon wie ein Auftragspinsler vor, und das hier machte es nicht besser.

Als ich endlich die Galerie betrat, fand ich Julien comme d’habitude vor, der Schreibtisch voller Einweg-Espressotassen, das Telefon am Ohr. Ich warf die Papiertüte mit dem Croissant, das ich ihm gekauft hatte, auf den Schreibtisch und wartete, bis er das Gespräch beendet hatte.

»Tout à fait, tout à fait.« Er nickte und streckte zum Dank den Daumen hoch. »Es ist eine Menge Gelb. Haben Sie vernünftige Fenster? Bei natürlicher Beleuchtung sieht es eher graugrün aus.«

Er schnippte mir eine Zehn-Centime-Münze zu, damit ich mir am Automaten im Hinterzimmer einen Instantkaffee ziehen konnte. Als ich zurückkam, hatte er das Gespräch beendet und angefangen, das Croissant zu essen.

»Auf Gelb reagieren die Leute komisch. Bei zu viel Gelb flippen sie völlig aus. Diese Idioten wollen ein Fünf-Meter-Gemälde in ihre Küche hängen, weil sie einen neuen Tisch haben, der – egal.« Er griff in eine Schublade. »Hier.«

Ich hatte zwei Briefe erhalten. Die manische Schrift auf dem einen Umschlag verriet mir, dass er von meiner Mum stammte. Der zweite war von Lisa Bishop, der boshaften Kolonisatorin englischer Herzen.

»Hm«, sagte ich und öffnete den Umschlag, der meinen Familiennamen trug. Meine Mutter schickte mir seit Jahren seltsame Zeitungsausschnitte und Rezepte an die Galerie. Postkarten schickte sie an unser Haus in der Rue de la Tombe-Issoire, nur der sonderbare Kram kam hierher. Wann immer wir uns in den Ferien sahen, spielte ich mit dem Gedanken, sie um eine Erklärung zu bitten, aber das irrationale Arrangement war so verführerisch, dass ich den Mund hielt.

Sie schrieb selten etwas Persönliches zu den Zeitungsausschnitten und Rezepten, ab und an kritzelte sie etwas unter die Überschrift. Dieser Umschlag enthielt gleich zwei Dinge: ein Rezept für Traubensuppe mit der Anmerkung Wir haben es ausprobiert! und einen Artikel aus der Sun:

Briten 45 Minuten vor dem Untergang

von George Pascoe-Watson

Wie gestern bekannt wurde, könnten britische Soldaten und Touristen auf Zypern durch biologische Waffen, abgeschossen aus dem Irak, ausgelöscht werden.

Die Raketen könnten fünfundvierzig Minuten nach dem Abschussbefehl des Tyrannen Saddam Hussein auf der Mittelmeerinsel einschlagen.

Und sie könnten durch Sprengköpfe, die mit Anthrax, Senfgas, Sarin oder Rizin bestückt sind, Tod und Zerstörung verbreiten.

Laut des fünfzig Seiten umfassenden Berichts von den Leitern der britischen Nachrichtendienste hat der Diktator ein Verbot der Vereinten Nationen ignoriert und bis zu zwanzig Al-Hussein-Raketen mit einer maximalen Reichweite von 640 Kilometern zurückbehalten.

Aus dem Bericht geht weiter hervor, dass die Waffen mit konventionellen, chemischen oder biologischen Sprengköpfen bestückt werden könnten und in der Lage wären, etliche Länder der Region einschließlich Zypern zu erreichen.

Ich warf Julien, der den Geschmack meiner Mutter mochte, die Zeitungsausschnitte hin.

»Hast du das mitbekommen?«, fragte ich.

»Dass man aus Trauben Suppe kochen kann?«

»Nein, den Konflikt, du Idiot. Was hältst du davon?«

»Ehrlich gesagt, bin ich froh, Franzose zu sein.«

Ich schnappte mir den Ausschnitt vom Tisch und wechselte das Thema.

»Vorhin bin ich einem alten Freund aus Studienzeiten begegnet.« Ich sah zu, wie Julien sein Scheckbuch aufschlug. »Eine Art Aktivist. Aber jetzt macht er Performancekunst.«

»Hm«, versuchte er sich in Multitasking.

»Läuft so was?«

»Performancekunst?« Er unterzeichnete den Scheck und schob ihn in einen orange-weißen Umschlag mit dem Logo der einzigen französischen Telekommunikationsfirma. »Nein.«

»Bei ihm wird es laufen.«

»Warum so düster, Haddon? Willst du mein Croissant?«

»Nein.« Ich schob meinen Stuhl seufzend vom Tisch weg. »Ich habe nur nachgedacht. Ich muss Bewegung in die Dinge bringen.«

»Wie denn, etwa so?« Er deutete auf den Artikel, den ich in der Hand hielt. »Tod und Zerstörung? Etwas Performatives

Ich verschränkte die Arme. »Nun … ja.«

»Eins nach dem anderen, bitte.« Er tastete hinter sich nach einem braunen Umschlag, der gefährlich dicht an einer Vase lehnte. »Ich rufe dich an, weil ich gute Neuigkeiten habe, und du zeigst mir nur das.« Dabei deutete er mit einer allumfassenden Geste auf mein Gesicht. »Der blaue Bär ist weg. Für Zehntausend.«

Ich spürte, wie mein Herz nach unten rutschte, als wäre es schlecht verdautes Essen. In meinen Ohren sauste es leise, und ich fühlte einen Druck auf den Augenhöhlen, als hätte man mich geschlagen. Ich hatte mir erfolgreich eingeredet, dass niemand das Gemälde haben wollte, dass die Leute es ebenso wenig »kapierten« wie die wohlmeinenden Besucher nach Camilles Geburt und es deshalb nach Hause zurückkehren würde.

»Rich?« Julien reichte mir den Umschlag. »Es ist verkauft.«

»Stimmt.« Ich fuhr zusammen. »Das ist toll. Klasse.«

»Ziemlich merkwürdig, einer deiner Landsleute hat es gekauft – jemand aus London. Er war anscheinend bei der Vernissage. Komischer Vogel. Du weißt schon, bla, bla, bla, ein Geschenk zu seiner Verlobung, bla, bla, bla, für das neue Haus. Die Leute erzählen einem einfach alles. Über Grundrisse, ihre Kinder, den Teppich mit dem Chevronmuster im –«

Ich riss den Umschlag auf, während Julien weiterbrabbelte. Er enthielt den Kaufvertrag für den blauen Bären. Das Bild ging an einen gewissen Dave Lacey aus London.

»Und er hat ausdrücklich seine Verlobung erwähnt?«

»Ja, hat er. Warum?«

Mein Herz zog sich zusammen. »Lisa ist nach London gezogen. Lisa hat einen Verlobten.«

Julien verdrehte die Augen. »Na ja, aber der Käufer heißt nicht Lisa.« Er deutete auf den Vertrag. »Da steht eindeutig Dave.«

»Aber das ist es ja gerade.« Ich fuhr mit dem Finger um den Stempel auf Lisas Brief. »Genau so heißt ihr Verlobter. Hast du sie etwa zur Ausstellung eingeladen?«

»Ob ich sie eingeladen habe – Richard. Komm wieder auf den Teppich. Nein, ich habe sie nicht zu deiner Vernissage eingeladen. Ich bin davon ausgegangen, dass du mit deiner Frau kommst. Nun, es mag ein komischer Zufall sein, das gebe ich zu, aber ich habe mich lange mit dem Kerl unterhalten und bin mir ziemlich sicher, dass seine ›Verlobte‹ nicht in einem Kleid zum Altar schreitet.«

»Aber es gibt in England keine gleichgeschlechtliche Ehe«, protestierte ich, während ich mir den Kopf darüber zerbrach, weshalb Lisa eines meiner Bilder gekauft haben sollte, vor allem gerade dieses.

»Er hat sich mit mir über Dekokissen unterhalten, ich glaube, das ist wirklich nicht dein Mann. Und selbst wenn, es ist verkauft, Schatz. Können wir uns jetzt mal freuen? Können wir nach vorn blicken? Deine Ausstellung war ein voller Erfolg. Liest du den jetzt oder nicht?«

Ich schaute auf Lisas Brief und schüttelte den Kopf.

»Schön, geißle dich selbst nur weiter. Es ist vorbei, aber nicht erledigt. Ach, noch was. Ich suche eine Praktikantin.« Er zog eine blaue Mappe aus einem Berg von Papieren und gab sie mir. »Welche soll ich nehmen? Ich dachte an diese Bérénice. Sie ist aus Toulouse.« Er deutete mit einem Bleistift auf den Ausdruck.

»Sie hat ein Foto beigefügt? Ist das erlaubt?«

»Ich dachte mir«, sagte er, ohne meinen Kommentar zu beachten, »dass sie mit einem solchen Namen sehr pflegeleicht sein dürfte. Mädchen aus dem Südwesten sind ein bisschen langweilig, aber fleißig. Nicht überkandidelt wie die Pariserinnen. Die bekommt bestimmt keinen Heulkrampf, wenn sie ein Fax schicken soll.«

»Ich kann jetzt nicht darüber reden.« Ich stand auf, meine Post in der Hand. »Ich muss nachdenken.«

»Da gibt es nicht viel nachzudenken. Das Gemälde stand zum Verkauf und wurde verkauft. So läuft das eben, Richard.«

»Ja, danke.«

Er umarmte mich und küsste mich auf beide Wangen.

»Geh mit Anne essen. Feiert schön.« Er warf einen Blick auf mein Gesicht und ruderte zurück. »Oder wartet bis zum nächsten Bild. Du wirst schon sehen, die gehen alle weg. Freu dich drüber, ja? Lebe im Heute.« Er brachte mich zu der großen Glastür. Genau rechts von der Galerie kackte gerade ein kleiner, unbeaufsichtigter Chihuahua auf den Gehweg.

»Sag Bescheid, wenn du das Rezept ausprobiert hast.« Er öffnete die Tür. »Ich liebe alles mit Trauben.«

Es gab einen Ort in der Nähe der Galerie, an dem ich gern Lisas Briefe las. Weit weg von meinem Haus und nahe am Premier Regard, so dass ich mir einreden konnte, ich läse einen Geschäftsbrief oder Fanpost. Vor der Église Saint-Sulpice befindet sich ein kleiner Platz mit Springbrunnen, der seit Jahren nicht in Betrieb ist. An der nördlichen Seite stehen Betonpoller, die im Boden verschwinden, wenn ein Einsatzfahrzeug durchfahren muss oder eine Beerdigung stattfindet. Wenn ich mich auf einen davon setzte und den Brief in aller Öffentlichkeit las, umgeben von Kindermädchen, Bettlern und Nonnen, milderte das seine Bedeutung. Ich war nur ein Mann, der auf einem konischen Gegenstand hockte und einen Brief las, nichts weiter! Doch solange Lisa mir schrieb, würde Julien recht behalten: Unsere Beziehung war vorbei, aber nicht erledigt.

Für gewöhnlich öffnete ich die Briefe so aufgeregt wie ein Kind, doch heute war ich ängstlich. Die Begegnung mit Patrick hatte mein künstlerisches Selbstwertgefühl vollends zerstört, Der blaue Bär war – ein unwiderruflicher Fehler – womöglich an meine Exgeliebte verkauft worden, ich war kreativ und privat am Ende.

Lisa war nie eifersüchtig auf Anne-Laure gewesen. Sie war egoistisch und flatterhaft, aber nicht rachgierig. Sie hatte keinen Grund, klammheimlich ein Bild zu kaufen, das ich für meine schwangere Frau gemalt hatte, andererseits konnte das alles kein Zufall sein. Ein Käufer aus London. Ein Käufer namens Dave.

Als ich die Gemälde für die Ausstellung im Premier Regard auswählte, waren wir noch zusammen – sie war von der Idee begeistert und maß den Schlüssellöchern größere Bedeutung bei als ich. Im Gegensatz zu Anne, die meinen mittlerweile zwei Jahre andauernden Abstecher in den Kommerz für gewöhnlich ignorierte, ihn tolerierte wie die Schauspielphase eines Kleinkindes, mochte Lisa die Schlüssellochbilder wirklich. Sie vermittelte mir nicht das Gefühl, ich würde mich verkaufen. In ihren Augen bot ich dem Betrachter eine Reihe von Erfahrungen, die etwas in ihm klingen ließen. Sie brachte mich auf den Gedanken, dass Schlüssel mehr sind als ein Stück Metall, das wir in ein Schloss stecken. Sie verschaffen uns Zugang zu Orten, die wir mithilfe eines Schlossers oder eines frankierten Briefes nie erreichen können. Nimmt uns jemand den Schlüssel weg, verlieren wir auch den Zugang zum wahrhaft Körperlichen: zu Bäuchen, Pobacken, geschlossenen Augenlidern, Zehen. Diese aufmunternden Worte hörte ich von ihr übrigens sechs Wochen, bevor sie ihren Wohnungsschlüssel von mir zurückverlangte, weil sie heiraten, weil sie umziehen wollte, einfach so. Als ich auf dem kalten Beton saß, dachte ich noch einmal über ihren Charakter nach. Vielleicht war sie doch berechnend genug, um den Kauf des blauen Bären einzufädeln.

Lisa benutzte blütengelbes Briefpapier, auf das in grüner Schrift ihr Name gedruckt war. Das Briefpapier kam mir immer seltsam plutokratisch vor. Selbst meine Frau, die ein verfluchtes de in ihrem Mädchennamen trug, besaß kein Briefpapier mit Monogramm.

18. September 2002

Lieber Richard.

Der Brief begann wie die meisten an mich adressierten Briefe.

Ich bin jetzt schon seit sieben Wochen in London. Ist das nicht verrückt? Ich habe noch nicht mal alle Taschen ausgepackt, sondern mich vor allem auf das Schlafzimmer und die Küche konzentriert, die Dave mich renovieren lässt. Ich werde weiße Fliesen nehmen, auch für die Wände, wie in dem Restaurant in Stockholm, von dem ich dir erzählt habe. Weißt du noch?

Ich denke oft an dich und frage mich, ob es dir gutgeht. Als ich Paris verlassen habe, warst du sehr schlecht drauf. So panisch. So drängend. Du bist sicher noch wütend, weil ich gegangen bin, aber eines Tages wirst du begreifen, wie nutzlos Wut ist. Ehrlich, was du festhalten wolltest, wäre durch eben dieses Festhalten zerstört worden. Werde bloß nicht zu einem dieser Exilanten, die meinen, Künstler müssten leiden, um kreativ zu sein! Von denen gibt es in Paris genug. Sie haben alle schütteres Haar und tragen blaue Segelpullover, und wenn ich so darüber nachdenke, heißen sie meistens Greg.

Egal. Damals auf dem College hatte ich einen Dozenten, der mir sagte, Schreiben solle Spaß machen. Damals habe ich ihm nicht geglaubt (ich las jede Menge Plath). Aber nachdem ich angefangen hatte zu arbeiten, blieb mir nur noch wenig Zeit für mein eigenes Schreiben, und wenn ich mich hinsetzte, dachte ich oft, wie schade, dass es keinen Spaß macht! Bis ich meinen Tonfall ein bisschen änderte. Da fällt mir was ein! Es sieht so aus, als würde der Independent meine geplante Designkolumne bringen. Kannst du dir vorstellen, dass sie eine Amerikanerin genommen haben? Und es ist kurios gut bezahlt!

Ich versuche, zweimal in der Woche an meinen eigenen Sachen zu arbeiten, und an den Wochenenden fahre ich in die Stadt und mache Fotos. Oder ich fahre aufs Land und mache Fotos. Dave ist so gut organisiert und motiviert mich, es ebenfalls zu sein. Jeden Morgen wacht er auf, trinkt eine Tasse schwarzen Kaffee, liest ein oder zwei Artikel und schließt sich bis fünf in seinem Arbeitszimmer ein. Dann kommt er nach unten und trinkt Tee. Danach arbeitet er noch weitere ein oder zwei Stunden, bis sein Tagespensum erfüllt ist. Bekommst du eine Gänsehaut? Ich weiß, wie sehr du Routine hasst. Sein kreativer Prozess ist organisiert. Aber bedeutet das auch gleich Langeweile? Ich weiß nicht, darüber ließe sich streiten; aber ich sage dir was, Richard, Stabilität ist besser als du glaubst – falls man die richtige Menge an Liebe, Respekt, Leidenschaft (und ein bisschen Sex!) hinzufügt. Ich hoffe für dich, dass du herausgefunden hast, wie du ein bisschen besser leben kannst. Vielleicht solltest du eine Zeitlang auf Alkohol verzichten. Vielleicht solltest du versuchen, treu zu sein!! :) Ich bin glücklich, Richard. Du auch?

Ich denke immer an dich,

Lisa

Nach der Lektüre fühlte ich mich wie immer ein bisschen seekrank durch das Auf und Ab der widerstreitenden Gefühle in mir. Ich empfand Freude, weil sie mir geschrieben hatte, und Enttäuschung, weil in ihren Briefe nie das stand, was ich mir wünschte: dass sie mich vermisste, dass die Trennung ein Fehler gewesen war, dass sie mich zurückhaben wollte.

Mit einem derartigen Brief in Händen hätte ich eine gewisse Würde und Selbstbeherrschung zurückerlangen können. Ich hätte mit »Nein« antworten können. Ihre tatsächlichen Briefe, diese katalogartigen Aufzeichnungen über ihren Kaffee und Tee trinkenden Verlobten und die weißen Fliesen ihres neuen Lebens, ließen mich eifersüchtig und verstört zurück. Es war wirklich berechnend von ihr: weil sie mir in den Briefen nicht das gab, wonach ich mich sehnte, sehnte ich mich immer noch nach ihr.

Ich musste Lisa sagen, dass sie mir nicht mehr schreiben sollte, doch dafür war ich nicht mutig genug. Wie sollte meine Zukunft aussehen, wenn sie mir nicht ab und zu bewies, dass es sie gegeben hatte? Dass sie meine Liebe einen konservierten Augenblick lang erwiderte hatte? Ich war es Anne-Laure schuldig, die Verbindung zu Lisa abzubrechen. Ich hatte es ihr versprochen. Aber ich brauchte diese geheime Verbindung zu etwas ganz Privatem – ich brauchte sie wirklich. Schon bald, ganz bald, würde ich zu Lisa Kontakt aufnehmen und sie bitten, mir nicht mehr zu schreiben. Doch zunächst musste ich – neben diversen Reparaturarbeiten an meiner Ehe – genügend Anstand aufbringen, um meiner Frau zu gestehen, dass Der blaue Bär verkauft war.