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JOHANN GOTTLIEB FICHTE wurde 1762 in Rammenau geboren und starb 1814 in Berlin. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Studium der Theologie finanzierte er sich größtenteils als Hauslehrer. 1790 kam er mit den Schriften Immanuel Kants in Kontakt, die seine Wissenschaftslehre stark beeinflussten. Kants Einfluss war dabei so stark, dass man Fichtes Buch Critik aller Offenbarung für ein Werk Kants hielt.

PROF. DR. CHRISTOPH ASMUTH, geb. 1962 in Bochum, Studium in Bochum, 1992 M.A. in Philosophie, 1995 Dr. phil. im Fach Philosophie, 1996-1998 Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum, 1998-2004 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Philosophie der TU Berlin, 2003 Habilitation, seit 2009 apl. Prof., Dozent am IUC Dubrovnik 2001-2006, 2007 Gastprofessur LMU München, 2009 Gastprofessur Basel; Leitung des Internationalen Forschungsnetzwerks Transzendentalphilosophie/Deutscher Idealismus, seit 2012 Stellvertretender Präsident der Internationalen J.G.Fichte-Gesellschaft.

Zahlreiche Publikationen, Herausgeberschaften, über 100 Aufsätze, Rezensionen, Lexikonartikel.

Zum Buch

Fichtes Schrift markiert einen frühen Höhepunkt in der Geschichte der philosophischen Anthropologie. Die von Kant formulierte Grundfrage nach dem Wesen des Menschen wird hier von Fichte auf Basis seiner, bereits in der Wissenschaftslehre gewonnenen Erkenntnisse, weiterentwickelt und von ihm in eine eigenständige und auch für Nicht-Philosophen verständliche Richtung gelenkt. Konsequent vollzieht er aus seiner Erkenntnistheorie eine Wendung ins Lebenspraktische. Fichtes Philosophie ist geprägt vom Appell die Grenzen des Denkens und Wahrnehmens zu sprengen.

„Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre
und Goethes Meister sind die
größten Tendenzen des Zeitalters.“
August Wilhelm Schlegel

Dies kleine Bändchen zählt zu den persönlichsten, verstiegendsten und auf jeden Fall zu den literarisch schönsten Werken des deutschen Idealismus. Der Titel verweist auf eine Doppeldeutigkeit: Mit dem Begriff der Bestimmung fragt Fichte einerseits nach dem Wesen des Menschen, nach dem was ihn einzigartig macht und von anderen Dingen der Welt unterscheidet. Andererseits kann sich der Begriff auf den Zweck und die Berufung, also letztlich auf die Verantwortung des Menschseins beziehen. In einer Zeit, in der flache Selbstfindungsliteratur Konjunktur hat, tut man vielleicht gut daran Fichte zu folgen und der allgemeinsten aller Fragen auf den Grund zu gehen: was es bedeutet ein Mensch zu sein. Was ist von einem Wesen zu erwarten, das sich seines Bewusstseins bewusst ist und seiner Freiheit ohne Einschränkungen gegenüber sieht?

Johann Gottlieb Fichte

Die Bestimmung des Menschen

Johann Gottlieb Fichte

Die Bestimmung
des Menschen

Herausgegeben und eingeleitet
von Christoph Asmuth

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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ISBN: 978-3-8438-0385-4

Inhalt

Zweifel – Wissen – Glaube

Johann Gottlieb Fichtes „Bestimmung des Menschen“

Einleitung von Christoph Asmuth

Vorrede

Erstes Buch. Zweifel

Zweites Buch. Wissen

Drittes Buch. Glaube

Literaturverzeichnis

Zweifel – Wissen – Glaube

Johann Gottlieb Fichtes „Bestimmung des Menschen“

Einleitung von Christoph Asmuth

Ich empfing »durch Perthes, das neue Buch, die Bestimmung des Menschen. Dieses habe ich in einigen erträglichen Stunden, die mir meine Krankheit ließ, mit Begierde durchgelesen, und mich nicht genug über den Verfaßer wundern können, der diese Schreiberey für populär hält, und sich einbildet, dadurch die Frucht meines Briefes an ihn dem Publico rein abzutreiben. Die zwey ersten Bücher zu lesen, ist mir sehr leicht geworden, und sogar hat das zweyte, gegen Ende, mich wahrhaft ergötzt, und mich fast gesund gemacht durch herzliches Lachen […]. Aber nun im 3ten Buche, wo sich der kalte Geist warm macht, glüht, predigt, singt, betet, und sogar das Evangelium lehrt – da war es aus bei mir mit dem Lachen; mir wurde übel und weh […]. Ich war vorher, in der ersten Hälfte der Glaubenslehre schon so müde geworden über dem unsäglichen Gewäsche. […] Allein nun erst, da es losgieng mit den schönen Stellen, und philosophiert wurde mit Pauken und Trompeten, und geläutet wurde dazu mit allen Glocken, und die Orgel gieng mit allen ausgezogenen Registern, Kanonendonner dazwischen und Psalmen und Hymnen, und Posaunen, Zinken und Harfen, Tromeln und Pfeifen – wahrlich, ich glaubte, ich würde toll, mir vergieng hören und sehen, und da das Buch aus war, fand ich mich halb ohnmächtig.« Friedrich Heinrich Jacobi an Jean Paul, 13. Februar 1800.1

Fichtes Bestimmung des Menschen ist eine in Form und Inhalt merkwürdige Schrift. Bereits kurz nach ihrem Erscheinen gab sie Anlass zu verschiedenen und zugleich sehr unterschiedlichen Interpretationen. Dieses Buch wurde später herangezogen, um eine Gesamtdeutung der Philosophie Fichtes zu untermauern, nach der der Philosoph seine Lehre um das Jahr 1800 völlig umgebaut habe. Darum ist sie für das Verständnis der Philosophie Fichtes und seiner Zeit eine sehr wichtige Schrift. Außerdem ist sie literarisch spannend, denn Fichte spricht zunächst in einem inneren Monolog, dann folgt ein Gespräch mit einem Geist, dann wieder ein innerer Monolog, und es entsteht die Frage, wie Inhalt und Form aufeinander bezogen sind. Für einen heutigen Leser wirkt manches, was Fichte seinen Erzähler sagen und seufzen lässt, übertrieben pathetisch. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass Fichte seine Worte einer Figur in den Mund legt. Es ist die Zeit des Klassizismus. Es ist eine Modeerscheinung, dass vor allem philosophische Autoren, wenn sie populär reden wollen, eine literarische Verkleidung benutzen. Das kann manchmal eine an antike Texte angelehnte Sprache sein, wie man es bei Schelling, einem weiteren Vertreter der klassischen deutschen Philosophie, findet. Es kann aber auch ein starker pathetischer Ton sein wie in der Bestimmung des Menschen oder ein biblisch-lutherischer Ton wie in der Anweisung zum seeligen Leben, einer späteren Schrift Fichtes. Ich möchte im Folgenden versuchen, zuerst die historischen Rahmenbedingungen der Bestimmung des Menschen zu beschreiben, um dann, in einem zweiten Schritt, auf den Inhalt und die Bedeutung dieses Buchs einzugehen.

Zunächst gibt es aber gute Gründe, um kurz über den Titel des Buches nachzudenken: »Bestimmung des Menschen«. Bestimmung des Menschen ist um 1800 ein bereits eingeführter Titel. Ein deutscher Aufklärungstheologe, Johann Joachim Spalding (1714–1804), hatte sein Erstlingswerk mit dem Titel Betrachtung über die Bestimmung des Menschen (1748) überschrieben. Später erschien diese Schrift unter dem abgekürzten Titel Bestimmung des Menschen. In der Einleitung stellt Spalding dem Leser einen Menschen vor, eine literarische Figur, die dann zum fiktiven Erzähler wird. Diese Figur stellt in einem inneren Monolog die Frage nach der Bestimmung des Menschen und sucht nach einer umfassenden Antwort. In dem Buch geht es um die Sinnlichkeit, die Lust des Geistes,2 die Tugend und die Religion. Bedeutsam und charakteristisch für die Aufklärung ist dieses Buch, weil Spalding darin eine Lehre von der Religiosität des Menschen entwickelt, ohne dabei die christliche Offenbarung oder die Autorität der Kirche in den Vordergrund zu stellen. Bedeutsam ist auch, dass Spalding die literarische Form seines Buches an den Soliloquia, den Selbstgesprächen Augustins, orientierte. Diese Schrift Spaldings war im Deutschland des 18. Jahrhunderts weithin bekannt und hoch geachtet. Fichte spricht einmal von ihm als »ehrwürdigen Vater Spalding, dessen Bestimmung des Menschen es war, die den ersten Keim der höheren Speculation in meine jugendliche Seele warf«3. Es ist offenkundig, dass Fichte mit seinem Buch in Form und Inhalt an diese theologische Tradition plakativ anzuschließen versuchte.

Das deutsche Wort Bestimmung hat eine doppelte Bedeutung. Es kann so viel wie Definition heißen, aber auch Destination. Die erste Bedeutung antwortet auf die Frage: Was ist der Mensch? Die Bestimmung des Menschen wäre dann dessen Definition. Ein Buch mit diesem Titel enthielte vielleicht auch Überlegungen, inwieweit sich der Mensch vom Tier unterscheidet oder was er von seiner Natur her ist. Die Antwort würde einer Disziplin angehören, die zur Zeit Fichtes erstmals Anthropologie genannt wurde und die wir heute philosophische Anthropologie nennen. Die zweite Bedeutung antwortet auf die Frage: Wozu ist der Mensch da? Welchen Sinn hat sein Leben? In den Worten Spaldings: »Es ist doch einmal der Mühe werth, zu wissen, wozu ich da bin, und was ich vernünftiger Weise seyn soll?« (Spalding, Bestimmung, S. 7) Die Beantwortung dieser Frage könnte Fichte – Spalding folgend – auf ein theologisches Gleis führen oder zu einer philosophischen Ethik gehören. Tatsächlich trifft Fichtes Schrift aber beide Aspekte.

Bevor ich nun näher auf den Inhalt eingehe, möchte ich kurz auf die – gerade für die Deutung dieses Textes so wichtigen – biografischen Umstände eingehen. Johann Gottlieb Fichte entstammte einer armen Handwerkerfamilie in Rammenau in der Oberlausitz. Anders als die Tübinger Philosophen der klassischen deutschen Philosophie, Hegel, Schelling, Hölderlin, besaß Fichte von seiner Familie her keinen Bildungshintergrund. Auch heute noch ist die Mobilität bei Kindern aus ›bildungsfernen‹ Familien ein Problem, über das intensiv diskutiert wird. In der Zeit Fichtes ist es das erste Mal überhaupt möglich, dass ›bildungsferne Schichten‹ eine akademische Karriere machen können, freilich unter ganz anderen Bedingungen als heute. Für Fichte, den Bandwebersohn aus Rammenau, muss man jedenfalls festhalten, dass ihm eine gänzlich unvorhersehbare Karriere beschieden war, die ihn aus der Oberlausitz bis nach Berlin, aus der dörflichen Provinz bis zum ersten gewählten Rektor der Berliner Universität führte. Kein Wunder also, dass er sich später immer dafür einsetzte, dass die einfachen Menschen, deren Sorgen er nur zu gut kannte, ein menschenwürdiges Dasein führen konnten. Er wollte, dass alle Menschen die Chance erhalten auf Bildung und ein Leben, das materiell ausreichend abgesichert ist. Den Feudalismus, der vor allem die deutschen Kleinstaaten prägte, lehnte er entschieden ab. Fichte hat es weit gebracht; sein Lebensweg war allerdings von zahlreichen Krisen gesäumt. Ein Zeugnis dieses schwierigen Lebenswegs findet man in der Bestimmung des Menschen.

Alles begann aber mit einer literarischen Sensation. Fichtes erste religionsphilosophische Schrift Versuch einer Critik aller Offenbarung (1792) wurde für ein lang erwartetes Buch Kants gehalten. Fichte hatte seinen Schreibstil an Kant angepasst, nicht zuletzt weil er Kant als Ratgeber und Vermittler bei der Publikation bemüht hatte. Der Verleger nutzte diesen Umstand geschickt aus, indem er diese Schrift in weiten Teilen Deutschlands ohne Angabe des Autors veröffentlichte. Als Kant die Verwechslung öffentlich machte, war der junge Autor Fichte mit einem Schlag bekannt. Sein neu begründeter Ruf trug Fichte eine Professur in Jena ein, das sich gerade in dieser Zeit schnell zum Zentrum der deutschen Intellektuellen entwickelte. Zu einer zweiten Sensation wurde in Jena das neuartige philosophische Grundsatzprogramm Fichtes, die von ihm sogenannte Wissenschaftslehre (1794/95). Zuerst nur als ›Handschrift‹, als eine Art Hand-out, für die Studenten in Jena gedruckt, sah sich Fichte bald gezwungen, die Vorlesungen als Buch drucken zu lassen: In ganz Deutschland kursierten Abschriften und Raubdrucke. Dem Autor drohte, einen Teil seiner Einnahmen zu verlieren!

Die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre war ein sehr erfolgreicher Versuch, die Philosophie Kants auf ein anderes systematisches Niveau zu heben. Die Grundlage verbindet die theoretische mit der praktischen Philosophie; Fichte radikalisierte die Überlegungen Kants aus der Kritik der Urteilskraft; er löste die leidige Diskussion um das ›Ding-an-sich‹; er überwand den Graben von Verstand und Sinnlichkeit; er beschnitt die Bedeutung der Logik zugunsten der Philosophie. Aber das wichtigste war die Radikalisierung der Rolle des Subjekts. Alle Geltung und Wahrheit sollte nun aus dem ›Ich‹ kommen.

Das erste ursprüngliche ›Ich‹ der Wissenschaftslehre Fichtes ist nur für die Philosophie im strengen wissenschaftlichen Sinne relevant. Jede alltagsweltliche Bedeutung, die man mit ›Ich‹ verbindet, muss man beiseitestellen. Es geht um das sog. ›transzendentale Ich‹, das bereits Kant als den höchsten Punkt allen Verstandesgebrauchs bezeichnet, ein ›Ich‹, das bei Kant noch inhaltlich ganz leer ist. Es bezeichnet die Funktion, dass Vorstellungen und deren Verbindung untereinander nur dann möglich sind, wenn sie einem Ich zugehören. Bei Fichte ist dieses Ich ausschließlich durch Reflexion und Abstraktion aus der Fülle des wirklichen Bewusstseins herauszuheben. Deshalb sind wir uns dieses Ichs nicht bewusst; es kommt uns erst zu Bewusstsein, wenn wir – nach Fichte – Wissenschaftslehre betreiben. Dem Ich – als Grundbegriff allen Wissens vom Wissen – eignet eine besondere Würde. Es gehört offenkundig nicht zu den gegenständlichen Dingen, die uns sonst in der Welt begegnen; es kommt nicht vor, sondern kommt stets allem Vorkommenden zuvor. Das Ich ist in allen Bewusstseininhalten verborgen enthalten, vorausgesetzt, man vollzieht die Grundüberlegung Kants mit, der die Dinge nicht als an-sich-seiend auffasste, sondern immer nur als Erscheinungen für uns. Dann zeigt sich nämlich, dass alle Inhalte, die uns in der Welt begegnen, nichts anderes sind und sein können als Modifikationen unseres Vorstellungsvermögens, oder, wie Fichte sich genauer ausdrückt, Modifikationen des Bewusstseins. Das ist eine konkrete Anwendung des Gedankens, dass nur innerhalb des Bewusstseins der Gegensatz von Vorstellung und Vorgestelltem vorkommen kann: Es gibt keine bewusstseinsunabhängige Außenwelt, sondern die Außenwelt ist eine besondere Bestimmung der Innenwelt, eine besondere Bestimmung des Bewusstseins.

Das bedeutete einerseits die Aufwertung des endlichen Subjekts. Aber dieses Subjekt – das in der klassischen deutschen Philosophie nur qualitativ und nicht quantitativ gedacht wird, also so aufgefasst wird, dass es nicht im Plural gebraucht werden kann und daher die Rede von ›Subjekten‹ gar nicht möglich ist – dieses Subjekt ist andererseits bei Fichte auch Person, auch Bürger, auch Staatsangehöriger, auch empfindend, fühlend, glaubend. Mit einem Wort: Das Ich bei Fichte ist ›eines jeden Ich‹. Die Ermächtigung dieses Ichs zum Sinn- und Weltenbildner, zum einzigen Maßstab für Wahrheit und Geltung ist daher auch die Ermächtigung der Person und des Bürger. So wie das Ich autonom ist, so ist der Bürger nun souverän. Man könnte denken, dass durch diese neue Vorstellung des Ichs nun das Subjekt zum Absoluten erhoben würde. Das absolute Ich trete an die Stelle des Absoluten, es nehme die Rolle ein, die eigentlich Gott gebührt, oder, denkt man an das gesellschaftliche Zusammenleben, höchstens dem Monarchen vorbehalten ist, der Monarch von Gottes Gnaden ist. Aber dieses Ich Fichtes bleibt endlich, bleibt ein endliches Ich. Und so kann man auch umgekehrt formulieren: Fichte verendlicht das Absolute. Gott und Monarch müssen sich nun den Kriterien eines endlichen Ichs beugen, eines Ichs, das Person und Bürger ist. Ermächtigung und Verendlichung – beide Interpretationen sind richtig; und beides ist dem Philosophen vorgeworfen worden.

Um die Verendlichung des transzendenten Gottes ging es im Atheismusstreit. Fichte hatte behauptet, Gott sei nichts anderes als die moralische Weltordnung. Gott sei nichts anderes als das Sittengesetz, das seinen Ausdruck in Kants kategorischem Imperativ gefunden hatte. Das Sittengesetz fordert (Imperativ) unbedingt (das heißt kategorisch!), dass die Gründe, die ein Einzelner seinen Handlungen zugrunde legt, widerspruchsfrei verallgemeinert werden können, so dass sie nicht nur für mich, sondern auch für alle gelten könnten – für alle, was mich als Einzelnen mit einschließt. Das Sittengesetz, der kategorische Imperativ Kants, wird nicht durch einen Monarchen erlassen oder durch Gott geoffenbart, sondern durch den Menschen selbst hervorgebracht. Das ist die Autonomie des Menschen, seine Selbstgesetzgebung. Fichte radikalisiert diesen Gedanken. Das Ich ist, wie gesagt, nicht eines unter vielen; und ›eines jeden Ich‹ ist nicht die Summe aller Iche. Das Ich ist vielmehr unteilbar, es ist keine Substanz in uns, kein Effekt unseres Gehirns, sondern eine Handlung, genauer: eine Tathandlung. Dieses Ich wird nur dann vollends verständlich, wenn man es in seiner praktischen Funktion betrachtet. Dann ist es ein Streben, und das, was es erstrebt, ist im Kern es selbst. Das Ich strebt nach Einheit mit sich. Oder als Imperativ ausgedrückt: Sei, was du bist! Sei einstimmig mit Dir selbst! Werde das, was du schon immer bist: Ich! Mit anderen Worten: Das Ich Fichtes kann man nur dann verstehen, wenn man weiß, dass es schlussendlich im Sittengesetz aufgeht. Die Autonomie des Praktischen ist der Zielpunkt, auf den Fichtes Projekt einer Wissenschaftslehre hinausläuft. Wenn Fichte nun festhält, Gott sei die moralische Weltordnung und die moralische Weltordnung sei Ausdruck des Sittengesetzes, so ist die Transzendenz Gottes ersatzlos gestrichen. Gott hat seine Transzendenz verloren. Der Mensch, zwar nicht der Einzelne als Person, aber seine praktische Vernunft, ist selbst göttlich. Das ist die Ermächtigung des Subjekts als Kehrseite der Verendlichung Gottes.

Der Vorwurf des Atheismus trifft die Position Fichtes – folgt man dem Sprachgebrauch der Zeit – keineswegs ungerechtfertigt. Explizit lehnt Fichte wichtige Glaubensinhalte der christlichen Religion ab: ein Weiterleben nach dem Tod, die Persönlichkeit Gottes, seine Transzendenz und sein transmundanes Einwirken auf die Welt, letztlich auch jene metaphysischen Restbestände, wie die Trinität, die jungfräuliche Empfängnis und Geburt Mariens, die Lehre vom stellvertretenden Kreuzestod Jesu Christi, die Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi. Damit gehört Fichte zur Speerspitze einer Theologie, die eine völlige Rationalisierung der Religion anstrebte. Das Christentum sollte zu einer reinen Vernunftreligion verbessert werden, die gleichzeitig oder gerade darum das Herz erfüllt. Aller historische Ballast, die ganze christliche Mythologie, sollte über Bord geworfen werden. Was Fichte in Jena lehrte, hatte wenig zu tun mit der überlieferten christlichen Religion. Fichte setzte sich in großen Kontrast zur protestantischen Theologie, zumindest zu den tradierten religiösen Überzeugungen. Aber er blieb mit seinem Ansatz dennoch in einer Fluchtlinie der protestantischen Theologie, die einer grundsätzliche Modernisierung das Wort redete. Nicht rein zufällig glich seine Theologie auf der einen Seite dem Kult der Vernunft, wie ihn die radikalen Jakobiner, und besonders Jacques-René Hébert und Pierre Gaspard Chaumette, vor und während der Französischen Revolution vertraten. Aber genau so klar orientierte sich Fichtes theologischer Ansatz an der im Wesentlichen von Kant inspirierten Auflösung der Theologie in praktische Philosophie.

Für die Beschäftigung mit Fichte gilt sicherlich: Fichtes philosophische Werke waren stets umstritten; das gilt sowohl für ihren Inhalt als auch für den Status, der diesem Inhalt beigemessen wurde und beigemessen wird. – Sie waren stets umstritten, das gilt in besonderer Weise bereits für die Lebenszeit des Philosophen. Nun war Fichte selbst, glaubt man den Biographen und überlieferten Dokumenten, nicht unbedingt ein Mann des Kompromisses. Im sog. Atheismusstreit war er an dem für seine Person unglücklichen Ausgang keineswegs unbeteiligt.

Ausgangspunkt des Atheismusstreits war die religionsphilosophische Schrift Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung. In diesem Aufsatz nimmt er als Herausgeber Stellung zu einem Beitrag von Friedrich Karl Forberg im Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrter. Forberg, um dies im Vorbeigehen zu erwähnen, ist eine äußerst interessante Figur der klassizistischen Zeit. Selbst Kantianer – und kein Fichtianer – liegt Forbergs Verdienst einerseits in der Radikalisierung der Position Kants. Religion ist für ihn nur als Entschluss zum sittlichen Leben denkbar. Die Existenz Gottes dagegen, die weder durch die Gründe der Philosophie bewiesen noch durch Offenbarung begründet werden kann, spielt für den Glauben an die praktische Vernunft nur eine untergeordnete Rolle. Andererseits veröffentlichte Forberg später eine Anthologie antiker Texte (De figuris Veneris [1824]). Nach Themen geordnet stellt Forberg lateinische und griechische Texte erotischen Inhalts zusammen, und zwar mit dem wissenschaftlichen Interesse eines Forschers, der die Vielfalt des menschlichen Sexualverhaltens erkunden will. Forbergs Aufsatz Entwickelung des Begriffs der Religion und dessen Verteidigung durch Fichte beschworen jedenfalls einen Sturm der Entrüstung herauf. Eine ganze Flut von Briefen und Sendschreiben forderten Konsequenzen. Da Forberg nicht mehr in Jena war, sollte – so die Entrüsteten – vor allem Fichte in Jena von seiner Professur entlassen werden, weil er den Studenten offen Atheismus lehre. Jena lebte zu dieser Zeit nicht schlecht von seinen Studenten, die in der Mehrzahl Theologie studierten und in der Mehrzahl aus Pfarrersfamilien stammten. Allerdings muss man wohl einräumen, dass Fichtes Schrift wie überhaupt die Inhalte seiner Philosophie einen eher geringen Einfluss auf die entstehende Konfrontation ausübte. Unter dem entstehenden öffentlichen Druck war eine sachliche Auseinandersetzung kaum mehr möglich. Schließlich bestimmte eine Summe unterschiedlichster Interessen, moralisch-religiöser Vorstellungen, politischer Einstellungen und persönlicher Konfliktstrategien Richtung und Härte der Auseinandersetzung, bis schließlich ein schwerer taktischer Fehler Fichtes die Sache entschied.

In einem Privatschreiben vom 22. März 1799 an den Geheimrat Christian Gottlob Voigt in Weimar drohte Fichte mit weitreichenden Konsequenzen, sollten aufgrund dieser Schrift rechtliche Schritte gegen ihn unternommen werden. Er deutete an, er werde in diesem Fall einer projektierten Schrift Schellings gegen Herder nicht mehr im Wege stehen: Weiter teilte Fichte dem Geheimrat Voigt mit, er halte seine Position in dieser Sache für »nicht nur tadellos, sondern preiswürdig; und es ist verächtlich, das preiswürdige (…) öffentlich schelten zu lassen, (…)«4. Dann drohte Fichte seinen Rücktritt von seiner Professur an, wenn er wegen der Äußerungen in der Schrift Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung einen Verweis erhielte. Sollte er Jena verlassen müssen, so drohte Fichte weiter, werde er nicht allein gehen. Mehrere wichtige Gelehrte der Jenaer Universität hätten ihm zugesagt, Jena mit ihm zu verlassen, um an einem anderen Ort ein neues Institut zu gründen. Unglücklicherweise stellte Fichte es Voigt zu Anfang des Briefes frei, »inwiefern Sie von dem, was ich Ihnen sagen werde, weiteren Gebrauch (…) machen, oder lediglich Ihre eigenen Ratschläge und Maßregeln dadurch bestimmen lassen wollen«5. Voigt, dem die ganze Angelegenheit und vor allem der ungebärdige, ja arrogante Ton Fichtes mächtig gegen den Strich gingen, machte einige Tage später ›weiteren Gebrauch‹ von Fichtes Brief und ließ ihn dem Herzog Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach (1757–1828), vorlegen und empfahl diesem, Fichte einen Verweis zu erteilen und gleichzeitig den Rücktritt anzunehmen. »Die Gelegenheit ist so bequem, daß man sie hier ohne allen Verzug ergreifen will, ehe H[err] F[ichte] sich anders besinnt. (…) Der zu thuende Schritt scheint gegen das Publicum der vortheilhafteste; (…).«6 Politik hatte schon damals viel mit der Öffentlichkeit, mit dem ›Publicum‹ zu tun. Fichte jedenfalls hatte sein Blatt überreizt. Er hielt sich im Spiel mit der Öffentlichkeit, den Beamten und dem Potentaten für mächtiger, als er tatsächlich war. Noch Ende März 1799 forderte Karl August die Universität Jena auf, Fichte einen Verweis zu erteilen. Mit der gleichzeitigen Annahme des Rücktritts war Fichtes Karriere in Jena beendet. Da halfen weder umständliche Erklärungen Fichtes, der versuchte, seine eigenen Briefe etwas vorteilhafter zu interpretieren, noch das Aufrühren einiger seiner Studenten. Fichte hatte eine mehrfache Niederlage eingesteckt: Seine Lehre war in der Öffentlichkeit durch den Vorwurf des Atheismus kompromittiert; seine Verteidigung war zusammengebrochen; seine Kollegen in Jena wollten keineswegs ihre Professuren in Jena aufgeben und ein neues Institut gründen; und schließlich hatte Fichte seine Stelle selbst aufgegeben und konnte deshalb noch nicht einmal in die Rolle des Märtyrers schlüpfen.

Um diese Ereignisse zu verstehen und richtig zu würdigen, muss man sich die politische Landkarte jenes letzten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts vor Augen halten. In Frankreich hatte sich die Revolution seit 1789 in unterschiedlichen Schüben radikalisiert. Die Schaffung einer Republik und die Erklärung der Menschenrechte mochten weite Teile der bürgerlichen Welt in den deutschen Klein- und Großstaaten noch begrüßen. Als nach 1792 dann aber Terror und Guillotine herrschten, wendeten sich die deutschen Bürger in der überwiegenden Mehrheit von der Revolution ab. Anders Fichte! Zwar plädierte er keinesfalls für einen gewaltsamen Umsturz, aber er hielt an den Zielen der Revolution fest, auch dann noch, als die Entgleisungen und Katastrophen des revolutionären Frankreichs in den deutschen Ländern weithin publik wurden. Fichtes Idee bestand in der Vernünftigmachung der Gesellschaft durch die Vernunft. Für diesen Plan wollte er Fürsten und Bürger gewinnen, um eine gerechte Gesellschaft, später auch eine gerechte Gesellschaft in einem vereinten Deutschland zu schaffen.

Nicht ohne Grund deutete Fichte selbst den Vorwurf des Atheismus als Angriff auf seine politische Gesinnung. So schreibt er selbst: »Die Triebfeder ist klar; sie ist notorisch; nur dass keiner den Namen des Dinges aussprechen will. Ich bin überhaupt nicht gemacht, um hinter dem Berge zu halten; und ich will es besonders hier nicht; indem ich dieser Angriffe nunmehro müde bin, und für diesesmal entweder mir Ruhe verschaffen will für mein ganzes übriges Leben, oder muthig zu Grunde gehen. Ich also will es seyn, der den Namen dieses Dinges ausspricht. Ich bin ihnen ein Democrat, ein Jacobiner; dies ist’s. Von einem solchen glaubt man jeden Greuel ohne weitere Prüfung. Gegen einen solchen kann man gar keine Ungerechtigkeit begehen. Hat er auch diesesmal nicht verdient, was ihm widerfährt, so hat er es ein andermal verdient. Recht geschieht ihm auf jeden Fall; und es ist politisch, die das wenigste Aufsehen erregende, die populärste Anklage zu ergreifen, um seiner habhaft zu werden.«7

Seine religiösen Auffassungen dagegen hielt er für unanfechtbar. Um seine Verteidigungspositionen zu verstärken, bat er Friedrich Heinrich Jacobi um eine öffentliche Erklärung. Jacobi seinerseits galt unter den Intellektuellen in Deutschland als eine wichtige Persönlichkeit, und sein Urteil hatte Gewicht. Jacobi war aber auch in zahlreiche literarische Streitfälle verwickelt, ja, man kann sogar die Auffassung vertreten, dass Jacobis philosophische Bedeutung weniger in seinen Schriften, sondern vor allem in diesen Streitfällen liegt, deren berühmtester den Spinozismus Lessings betraf.

Mit beißendem Spott beschrieb einmal Heinrich Heinrich das Wirken Jacobis: »Er war nichts als ein zänkischer Schleicher, der sich in dem Mantel der Philosophie vermummt, und sich bei den Philosophen einschlich, ihnen erst viel von seiner Liebe und weichem Gemüte vorwimmerte, und dann auf die Vernunft losschmähte. Sein Refrain war immer: die Philosophie, die Erkenntnis durch Vernunft, sei eitel Wahn, die Vernunft wisse selbst nicht wohin sie führe, sie bringe den Menschen in ein dunkles Labyrinth von Irrtum und Widerspruch, und nur der Glaube könne ihn sicher leiten. Der Maulwurf! er sah nicht, daß die Vernunft der ewigen Sonne gleicht, die, während sie droben sicher einherwandelt, sich selber mit ihrem eignen Lichte, ihren Pfad beleuchtet.«8

Am 18. Januar 1799 schickte Fichte ein gedrucktes Schreiben an einige ihm wohlwollende, bekannte und einflussreiche Personen, unter ihnen auch jener Jacobi, und bat sie, sich im Atheismusstreit für ihn zu verwenden. Jedenfalls hoffte Fichte, dass sich Jacobi für ihn erklären würde. Und Jacobi antwortete, indem er ebenfalls einen gedruckten Brief verfasste und an halb Europa verschickte. Er halte die Transzendentalphilosophie insgesamt, worunter er Kant, Reinhold und Fichte gefasst haben dürfte, nicht für Atheismus, stellte Jacobi klar. Er übte zwar Kritik an Fichte, ist sich mit ihm jedoch grundsätzlich einig, dass sich Fichtes Philosophie nicht zutreffend als Atheismus bezeichnen lasse. Die Transzendentalphilosophie spreche – so argumentiert Jacobi – überhaupt nicht von Gott. Er gesteht Fichtes Wissenschaftslehre zu, im Bereich des Wissens das Wissen in seinen Prinzipien zu erschöpfen. Allerdings sei das Wissen defizient gegenüber dem Absoluten; die Vernunft sei unfähig, das Wahre zu erfassen. Mehr als diese halbherzige Versicherung, der Atheismusvorwurf sei dem Transzendentalphilosophen Fichte gegenüber haltlos und inhaltsleer, dürfte Fichte Jacobis Urteil getroffen haben, der Idealismus sei nichts anderes als Nihilismus. An einigen Stellen dieses Briefes lässt Jacobi diese Einschätzung durchblicken. Und explizit sagt er: »Wahrlich, mein lieber Fichte, es soll mich nicht verdrießen, wenn Sie, oder wer es sey, Chimärismus nennen wollen, was ich dem Idealismus, den ich Nihilismus schelte, entgegensetze – […].«9 Damit erneuerte Jacobi seine Kritik an der Transzendentalphilosophie, die er für einen übersteigerten Intellektualismus hielt. Fichte war damit natürlich nicht geholfen. Seine Wissenschaftslehre musste sich nun noch einem weiteren Vorwurf ausgesetzt sehen, nicht nur Atheismus, sondern, fast schlimmer noch – Nihilismus. Jacobi versuchte damit, die Philosophie Fichtes samt der Transzendentalphilosophie im Ganzen zu diskreditieren. Er verknüpfte dabei die Resultate der theoretischen Philosophie, insbesondere Kants Lehre vom Ding-an-sich, mit der praktischen Philosophie, insbesondere mit der Kritik einer bloßen Gefühlsreligion, und schloss daraus, dass es sich bei der Transzendentalphilosophie um einen Irrealismus handeln müsse, der die Existenz der Außenwelt in einem realen Sinne leugne und zugleich die Bedeutung des Gefühls, der ›Ahndung‹, für das göttliche bestreite. Dagegen setzte er seinen Begriff des Glaubens, dessen äquivoken Gehalt er nutzte, um sowohl das Für-wahr-Halten einer Außenwelt ebenso wie eine religiöse Unmittelbarkeit jenseits allen Intellektualismus bezeichnen zu können. Um die Position Kants und Fichtes zu charakterisieren, benutzte er den damals noch ganz neuen und fast noch unschuldigen Begriff des Nihilismus.

Während der Atheismusvorwurf auf der Selbstermächtigung der endlichen Vernunft fußte, lief die Kritik Friedrich Heinrich Jacobis in die entgegengesetzte Richtung. Der Nihilismusvorwurf beruht auf dem Verlust der Transzendenz. Jacobi beklagte die Verendlichung der Welt und Gottes. Nicht die selbstbewusste Vergöttlichung der Vernunft macht Jacobi Fichte zum Vorwurf, sondern dass durch die Aufklärung und den Verlust der Transzendenz die Welt allen Sinn und jede Bedeutung verliere. Der Tod Gottes hinterlässt eine Wüste der Sinnlosigkeit.

Die Äußerungen Jacobis brachten Fichte unterdessen in eine schwierige Lage. Wer solche Freunde hat, mag Fichte gedacht haben, braucht sich vor seinen Feinden nicht fürchten. Nun hatte Fichte nicht nur in Jena einen schweren Stand, wo er sich in eine unglückliche Auseinandersetzung mit der Regierung in Weimar hineingestürzt hatte. Jetzt fühlte er sich auch von der literarischen Öffentlichkeit, die ihn vormals so hofiert hatte, missverstanden und durch Jacobi in ein völlig falsches Licht gerückt. Zahlreiche Bemerkungen in seinen nachgelassenen Manuskripten zeigen, wie schwer ihn dieses Diktum Jacobis getroffen haben muss. Bis in die späten Jahre, das heißt bis 1812 und 1813, als er sich schon längst in Berlin etabliert hatte, finden sich immer wieder Überlegungen, die das Thema Nihilismus umkreisen.

Der Atheismusstreit bedeutete einen heftigen Dämpfer für den ehrgeizigen Fichte. Und sein äußeres Leben änderte sich notgedrungen. Um 1800 zog Fichte nach Berlin. Er mied dort die Öffentlichkeit. Fichtes unauffällige Lebensweise entspricht der Tatsache, dass er glaubte, in Berlin zunächst von der Polizei überwacht zu werden. In diesem Sinne äußerte sich jedenfalls Fichtes Ehefrau, Marie Johanne, rückblickend einige Jahre nach Fichtes Tod: »Nun gieng Fichte nach Berlin, lebte ganz für sich in der Stille, wurde von der Polizey beobachtet; (denn nun war er in den Augen der Menge ein Jacobiner und ein Atheist) Die Polizey fand ihn als einen ruhigen Bürger, der keine Schulden macht, davon wurde die Regierung benachrichtigt, und der König durch eine Cabinetsordre gab die Erlaubnis, daß er in Preußischen Staaten leben dörfe.«

Die Bestimmung des Menschen, die zum Jahrewechsel 1799/1800 erscheint, leitet eine Folge von sog. populären Schriften Fichtes ein. Dazu gehört der Geschloßne Handelsstaat, der Sonnenklare Bericht und Friedrich Nikolai’s Leben und sonderbare Meinungen. Alle vier Bücher haben einen mehr oder minder klaren Zusammenhang mit dem Atheismusstreit. Bis auf den Geschloßnen Handelsstaat, mit dem Fichte seine politischen Ziele jenseits der großen Revolution markierte und eine neue Wirtschaftspolitik entwarf, sind die Schriften polemisch. Sie richten sich gegen seinen vermeintlichen Schüler Schelling, der sich nach 1800 von der gemeinsamen Position – so die Vorstellung Fichtes – immer weiter entfernte. Sie richteten sich gegen Friedrich Nikolai, einen wichtigen Publizisten der Spätaufklärung und – in der Bestimmung des Menschen – gegen den Vorwurf des Nihilismus durch Jacobi.

Die Bestimmung des Menschen soll, so Fichte, einerseits dem Leser, der nicht Philosoph »von Profession« ist, die Resultate des Jenaer Systems nahebringen und andererseits aufzeigen, dass Fichtes Philosophie im Atheismusstreit zu Unrecht beschuldigt worden war. Wie auch Spalding vor ihm wählt Fichte eine literarische Form, in der ein Ich-Erzähler zunächst in einem inneren Monolog über die Entwicklung seines philosophischen Denkens berichtet. Die Schrift hat drei Teile: Im ersten Buch ZweifelDubistdie Natur in dirWillenBestimmung des Menschennur