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Dr. med. Michael Imhof, Jahrgang 1951, absolvierte sein Medizinstudium an der Medizinischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Er habilitierte über Pathophysiologie / Pathobiochemie entzündlicher Darmerkrankungen und neue Wege der chirurgischen Therapie. Bevor er sich als medizinisch-wissenschaftlicher Berater und Gutachter selbstständig machte, war er lange Jahre als Oberarzt an der Chirurgischen Uniklinik Würzburg tätig.

Er hielt zahlreiche Vorträge im In- und Ausland über Grundlagen- und Tumorforschung sowie innovative chirurgische Techniken. Zu diesen Themen sind bereits mehrere Bücher und Fachpublikationen von ihm erschienen.

Seit nunmehr vielen Jahren erstellt er Gutachten auf dem Gebiet des Arzthaftungsrechtes mit dem Schwerpunkt operative Medizin und chirurgische Onkologie.

Einen weiteren Schwerpunkt seiner Arbeit stellt die Beschäftigung mit ethisch-philosophischen Grundfragen der modernen Medizin dar. Imhof versucht zudem in seiner Malerei diese Grundfragen darzustellen. Dabei ist es sein Ziel, medizinische Wissenschaft, Ethik der Medizin und bildende Kunst zu einer Einheit zu verbinden.

Weitere Informationen zum Autor im Internet unter
www.dr-imhof.de
www.medical-art-gallery.de

Auch Ärzte machen Fehler. Jedem, der darüber nachdenkt, ist dies eigentlich klar. Umso unverständlicher erscheint vor allem den betroffenen Patienten der Umgang mit dieser Tatsache – denn sie sind nicht nur Opfer in medizinischer Hinsicht. Ihre schwache Stellung in der Auseinandersetzung mit Gerichten, Haftpflichtversicherungen und ärztlichem Standesdünkel macht es in vielen Fällen unmöglich, Schadenersatz für erlittenes Unrecht zu erhalten.

Michael Imhof hat in diesem Buch den Versuch unternommen, anhand zahlreicher Beispiele ein lebendiges Bild über den Umgang mit Behandlungsfehlern zu zeichnen, in dem neben der medizinischen Seite vor allem auch die rechtliche Seite gewürdigt wird.

Ihm geht es dabei aber nicht um Abrechnung oder Schuldzuweisung, sondern um eine neue Offenheit im Umgang mit Fehlern und die Schaffung eines Vertrauens zwischen Ärzten und Patienten.

Behandlungsfehler in der Medizin – Was nun?
Auch als E-Book und App erhältlich: www.schulz-kirchner.de/shop

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Michael Imhof

Behandlungsfehler in der Medizin – Was nun?

Verborgenes im Arzt-Patienten-Verhältnis

Michael Imhof

Behandlungsfehler in der
Medizin – Was nun?

Verborgenes im
Arzt-Patienten-Verhältnis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Informationen in diesem Werk sind von dem Verfasser und dem Verlag sorgfältig erwogen und geprüft, dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Eine Haftung des Verfassers bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Bitte beachten Sie auch das kostenfreie Zusatzmaterial zu diesem Buch unter www.schulz-kirchnerde/shop > Suche > Behandlungsfehler Imhof

1. Auflage 2010

Abbildungen Titelseite und Umschlagklappe:
Dr. med. Michael Imhof – aus Zyklus „Mensch und Krankheit“

Druck und Bindung: TZ-Verlag-Print-GmbH, Bruchwiesenweg 19, 64380 Roßdorf
Printed in Germany

Auch als E-Book erhältlich unter der ISBN 978-3-8248-0790-1

Inhalt

Plädoyer für mehr Offenheit

Medizin als Spiegel kultureller Entwicklung

Zur Geschichte der Behandlungsfehler

Die Geburtsstunde des »Kunstfehlers«

Was heute als Behandlungsfehler gilt

Behandlungsfehler und ärztlicher Standard

Keine Operation ohne Risiko

Patienten in Beweisnot

Beweislastumkehr – Hilfe vom Gesetzgeber

Wo und wie es zu Behandlungsfehlern kommt

Häufige Ursachen

Fehlerstatistik und Zahlenspiele

Fehldiagnosen

Wenn Krebs nicht erkannt wird

Blinddarmentzündung – kein einfacher Fall

Fehler im Operationssaal

Hochrisikobereich Orthopädie

Manschettendefekte

Gefahrenquelle Operationstisch

Gipsdruckschaden

Wo operiert wird, fallen Späne

Vergessene Fremdkörper

Verwechslungen

Andere Fehlerquellen

Krankenhaus- und Praxishygiene

Fehler im System

Fehlerkultur und Risikomanagement

Der mühsame Weg durch die Instanzen

Die heimlichen Herren des Verfahrens

Der Fall Lisa

Märchenstunde – Gutachter vor Gericht

Routineoperation mit Folgen

Suche an der falschen Stelle

Darmnaht versus Chemotherapie

Arroganz kommt vor dem Fall

Der Arzt als Opfer

Anspruchsdenken und Machbarkeitswahn

Für eine bessere Zukunft

Notwendige Fehlerkultur

Entschädigungssysteme – ein Blick über die Grenzen

Verbesserungen im Haftungssystem

Sprengsatz für das Arzt-Patienten-Verhältnis

Anhang

Anonyme Berichts- und Lernsysteme im Internet

Anmerkungen

Literatur

Register

Plädoyer für mehr Offenheit

Auch Ärzte machen Fehler. Jedem, der darüber nachdenkt, ist dies eigentlich klar. Umso unverständlicher erscheint vor allem den betroffenen Patienten der Umgang mit dieser Tatsache – denn sie sind nicht nur Opfer in medizinischer Hinsicht. Ihre schwache Stellung in der Auseinandersetzung mit Gerichten, Haftpflichtversicherungen und ärztlichem Standesdünkel macht es in vielen Fällen unmöglich, Schadenersatz für erlittenes Unrecht zu erhalten.

Ich habe in diesem Buch den Versuch unternommen, anhand zahlreicher Beispiele ein lebendiges Bild über den Umgang mit Behandlungsfehlern zu zeichnen, in dem neben der medizinischen Seite vor allem auch die rechtliche Seite gewürdigt wird. Mir geht es dabei aber nicht um Abrechnung oder Schuldzuweisung – im Gegenteil! Ich wünsche mir eine neue Offenheit im Umgang mit Fehlern, die Schaffung neuen Vertrauens zwischen Ärzten und Patienten, und möchte einen Prozess in Gang setzen, der beiden Seiten etwas abverlangt: den Ärzten ein Eingeständnis ihrer menschlichen Unzulänglichkeit – denn Menschen machen Fehler. Und den Patienten ein Abrücken von überzogenem Anspruchsdenken und dem Irrglauben an die Machbarkeit von Gesundheit.

Würzburg, im März 2010

Dr. med. Michael Imhof

Medizin als Spiegel kultureller Entwicklung

Die Medizin ist so alt wie die kulturelle Entwicklung der Menschheit. Über viele Jahrtausende war sie vielleicht engste Begleiterin des Menschen in seinem Gang durch die Geschichte, sie war Hilfe gegen die Bedrohungen durch Krankheit, Leiden und Tod. Mit fortschreitendem Wissenszuwachs wandelte sie sich – in ihr spiegelten sich deshalb die kulturellen Fortschritte der Gesellschaften wider, aber auch deren Widersprüche.

Die Geschichte der Medizin ist auch eine Geschichte der Rückfälle in Phasen kultureller Verfinsterungen und unmenschliche Barbarei, wie wir aus der Erfahrung des Dritten Reiches lernen mussten. Der Mensch benötigte sie in seinem nackten Überlebenskampf, er verwandelte und erneuerte sie deshalb immer wieder, und die Medizin dankte es ihm durch immer größere Fortschritte in der Heilkunst. So befreite die Medizin die Menschheit von Jahrtausende alten Seuchen wie Pest, Cholera, Aussatz. Sie erleichterte das Joch der biblischen Plagen, das die Menschheit zu allen Zeiten zu tragen hatte.

Unter den Kulturleistungen der Menschen, zu denen auch die Kunst der Rechtswissenschaft, der Technik und der allgemeinen Wissenschaften gehören, nimmt die Medizin eine zentrale Rolle ein, weil sie auf das Zentrum der menschlichen Seinsverfassung zielt. Von allen Künsten des Menschen ist sie die unmittelbar Menschlichste – sie ist praktisch und praktische Philosophie zugleich. Sie ist eine Kunst, die keine Objektive schafft, die nicht das Schöne zu fassen trachtet, vielmehr vollzieht sie sich im Alltagsgewöhnlichen. Sie beschäftigt sich mit dem gepeinigten Menschen, seiner Hässlichkeit in der Krankheit, seiner Hinfälligkeit und dem Siechtum des Alters.

Ihr Gegenstand liegt also weit entfernt von den Schönheitsidealen der modernen Gesellschaft; ihr Gegenstand ist vielmehr gefürchtet, und die Menschen fliehen vor ihm. Dort nimmt die Medizin ihre Aufgabe wahr, dort ist ihr Auftrag, ihr Raum, den das Leben am liebsten verbarrikadieren möchte, und es ist das Schlichte, das auf sich Zurückgeworfene, nicht das oberflächlich Schillernde, sondern das Härene, aus dem das Reine dieser Kunst auf eine seltsame Weise zutage tritt.

Manchmal sucht die Medizin auch den Beifall der Masse, oft, allzu oft aber tut ihr dieser Beifall nicht gut. Der Beifall und die Bewunderung der Massen, von dem die anderen Künste leben, macht sie in ihrer Reinheit stumpf und matt. Denn die Kunst der Medizin muss immer hinter ihrem Werk zurückbleiben, hinter ihm unsichtbar bleiben, sie vollendet sich im gleichen Augenblick, wenn sie ihr Werk beendet hat. Das Kunstwerk, das dann entstanden ist, ist kein Kunstwerk mehr – es ist das Gleichmaß des Normalen.

Die moderne Heilkunst, wie wir sie kennen, stellt ein schier unentwirrbares Geflecht aus den verschiedensten medizinischen und nichtmedizinischen Fachdisziplinen dar. Dazu gehören neben vielen anderen Disziplinen die Physik, die Biologie, die Technik und die Molekularbiologie. Sie alle wirken in die moderne Medizin hinein, die somit oft gar nicht mehr von ihrem Fachgebiet aus begriffen werden kann. Vielmehr definiert sich die moderne Medizin von ihrem Ziel her, nämlich dem Schutz des menschlichen Lebens – das ist es, was den Medizinmann im Urwald mit dem modernen Chirurgen verbindet, der im Operationssaal die Tastatur eines Operationsroboters bedient.

Da Medizin schon immer in das jeweils gültige Natur- und Selbstverständnis des Menschen eingebunden war und weil sich in ihr auch alle geistes- und wissenschaftsgeschichtlichen Denkstrukturen widerspiegeln, so unterliegt sie selbstverständlich auch einer Prägung durch die jeweiligen soziokulturellen Verhältnisse. Auch deswegen ist Medizin niemals frei von Fehlern und Selbstüberschätzungen gewesen.

Das Scheitern, das Nichtwissen, die Fehler, das Versagen begleiten die Medizin seit ihren frühesten Anfängen. Hier, an dieser Stelle war und ist die zweite Kunst gefordert, nämlich die Jurisprudenz.

Zur Geschichte
der Behandlungsfehler

Die Geburtsstunde des »Kunstfehlers«

Es war der Arzt Rudolf Virchow (1821 bis 1902), der im Zusammenhang mit der Novellierung des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich im Jahr 1871 den Begriff des »Kunstfehlers« einführte und diesen als einen »Verstoß gegen allgemein anerkannte Regeln der ärztlichen Wissenschaft« definierte. Diese Auffassung ging in die Rechtsprechung des Reichsgerichtes ein, auf die letztendlich die Rechtsfigur des Heileingriffes als eine Körperverletzung zurückgeht.

Die Notwendigkeit für solche Rechtsentscheide stand außer Zweifel. Schon 1888 formulierte der berühmte Chirurg Johann Nepomuk von Nussbaum: »Chirurgische Unglücke, verschuldet oder unverschuldet, gibt es so viele, dass man kaum weiß, wo man das Aufzählen anfangen und beenden soll.«1 Etwa hundert Jahre später stellte der renommierte Chirurg Prof. E. H. Farthmann fest: »Die Medizin lebt notwendigerweise mit der Komplikation und dem daraus abgeleiteten Fehlervorwurf.«2

Die moderne Rechtsprechung hat sich in Laufe der Zeit von der ursprünglichen Virchow’schen Definition des »Kunstfehlers« weitgehend entfernt. Heute hat sich der Begriff des Behandlungsfehlers durchgesetzt, der seine Definition aus einer Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht ableitet. In den letzten Jahren ist zunehmend der Begriff des medizinischen Standards in den Vordergrund getreten.

In Deutschland fand der erste Arzthaftungsprozess im Jahr 1811 in Berlin statt. Verhandelt wurde dabei folgende Krankengeschichte, die in einem Artikel von G. Carstensen so anschaulich und trefflich vorgetragen wurde, dass ich sie Ihnen nicht vorenthalten kann: Die 21-jährige Luise Thiele wurde in die Charité (das berühmte Krankenhaus in Berlin) eingeliefert, weil sie die Nahrungsaufnahme verweigerte und dann in »wie es heißt Raserei« verfallen war. Sie wurde von dem Hofrat Dr. Ernst Horn behandelt, der die nach ihm benannte »Sack-Methode« anwandte. Die Patienten wurden dabei in einen Sack gesteckt und mussten darin so lange ausharren, bis sie zu toben aufgehört hatten.

Am 1. September 1811 wurde also auch diese arme Patientin in besagten Sack gesteckt, weil sie laut Krankenblatt unaufhörlich geschrien hatte. Am Nachmittag des gleichen Tages verstummte sie dann plötzlich, weswegen sie aus dem Sack befreit wurde. Man fand sie leblos vor. Wiederbelebungsmaßnahmen waren vergeblich. Der Konkurrent des behandelnden Arztes war ein Herr Dr. Heinrich Kohlrausch, der zweite verantwortliche Arzt der Chirurgischen Abteilung. Dieser erstattete gegen Dr. Horn Anzeige.

Am 26. Oktober 1811 wurde der erste überlieferte Ärzteprozess vor dem Kammergericht in Berlin eröffnet. Als den Richtern die Anklageschrift übergeben wurde, erklärten diese abwehrend: »Wir sind nicht zuständig, wir verstehen nichts von Medizin.« Dennoch befahl das Justizministerium die Eröffnung des Verfahrens. Das Kammergericht gehorchte und forderte die Akten an. Die Richter erklärten aber, dass sie Sachverständige bestellen müssten – für die damalige Zeit ein Novum. Denn das Gericht lehnte es ab, aus juristischer Kompetenz heraus ein Urteil über den Wert eines Sackes als Heilverfahren zu fällen. In scharfsinniger Weise wollte das Gericht von den Sachverständigen nur die Antwort auf die Frage erhalten: Schließt der Sack den Zutritt von Atemluft aus und ist es daher fahrlässig, einen Menschen in diesen Sack einzusperren?3

Dieser erste Prozess verdeutlicht die unverändert bis heute fortbestehende Problematik von Arzthaftungsverfahren, nämlich die Schwierigkeiten, mit denen sich die Rechtsprechung angesichts der komplexen medizinische Materie konfrontiert sieht, und die hohe Verantwortung von Sachverständigen für den juristisch korrekten Ausgang eines Verfahrens.

Es wurden seinerzeit drei namhafte Wissenschaftler beauftragt, diese vom Gericht gestellte Frage zu klären. Einer der Gutachter kam zu der Bewertung, dass man eher auf Bäumen ersaufen und im Brunnen verdursten könne, als in einem solchen Sack zu ersticken. Am 18. Mai 1812 wurde Dr. Horn schließlich freigesprochen.

Ein weiteres Urteil des Reichsgerichtes vom 31. Mai 1894 ist bis heute richtungweisend: Es ging um den Fall eines siebenjährigen Mädchens, das an einer Infektion des Oberschenkelknochens (Osteomyelitis) litt. Eine Amputation war lebensnotwendig. Der Vater des Kindes, ein Gegner der Chirurgie und Anhänger der Naturheilkunde, verbot nachdrücklich einen solchen Eingriff. Gegen den Willen des Vaters wurde die lebensrettende Amputation durchgeführt. Im nachfolgenden Prozess stellte das Reichsgericht fest, dass »entstellende Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit« rechtswidrige Körperverletzungen seien, falls sie nicht dem zuvor erklärten Willen des Patienten oder seines Stellvertreters entsprächen.

In diesem Urteil wurde eine bis in die heutige Zeit reichende und überaus aktuelle Fragestellung in Behandlungsfehlerverfahren aufgeworfen, nämlich die Frage nach der Aufklärung der Patienten vor der ärztlichen Behandlung. Eine ungenügende, fehlerhafte Aufklärung ist häufig prozessentscheidend.

Wie wir an den Beispielen sehen, sind Medizin und Recht ein seit Jahrhunderten aneinandergekettetes Geschwisterpaar, und mir scheint, dass es sich oft um eine recht streitsüchtige und von gegenseitigem Misstrauen geprägte Geschwisterpaarung handelt. Diese Geschwister sollten sich bei aller Verschiedenheit immer bewusst sein, dass sie das gleiche Erbe verwalten und dem gleichen Erbe verpflichtet sind, nämlich dem Dienst am Menschen.

Was heute
als Behandlungsfehler gilt

Behandlungsfehler und ärztlicher Standard

Der ursprüngliche Begriff des »Kunstfehlers« nach der Virchow’schen Definition wird heute nicht mehr verwendet, weil hinsichtlich seines Inhaltes eine verwirrende Vielfalt unterschiedlicher Auffassungen bestanden hatte. Es hat sich heute der Begriff des Behandlungsfehlers durchgesetzt, dessen Definition sich aus einer Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht ableitet: Der Arzt ist gegenüber seinem Patienten zur Wahrung der erforderlichen Sorgfalt verpflichtet, nicht aber zu einer erfolgreichen Behandlung.

Der Begriff des Behandlungsfehlers impliziert also im engeren Sinne nicht ein irgendwie geartetes Verschulden, sondern er zielt objektiv darauf ab, dass der Arzt keine Maßnahmen durchführen darf, die gegen geltende medizinische Standards verstoßen. Er muss stets so handeln, wie man es von einem pflichtbewussten, gewissenhaften und erfahrenen Arzt erwarten kann, und er darf nicht gegen anerkannte Regeln der Heilkunde verstoßen.4 In der heutigen Rechtsprechung werden die Ausdrücke »gebotene Sorgfalt« und »Facharztstandard« praktisch gleichgestellt.

Was ist aber unter dem Begriff des »Facharztstandards« zu verstehen? Der Facharztstandard wird inhaltlich als das zum Behandlungszeitpunkt in der ärztlichen Praxis und Erfahrung bewährte, nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis gesicherte und von einem durchschnittlich befähigten Facharzt verlangte Maß an Kenntnis und Können definiert.5

Hinter dem Begriff des medizinischen Standards verbirgt sich aber weitaus mehr als nur eine Bezeichnung für eine im ärztlichen Alltag übliche, gängige Vorgehensweise, vielmehr ist dieser Begriff des Standards gewissermaßen richtungweisend für das als richtig anerkannte Verhalten in der Praxis.

Diese Auffassung ist nicht unproblematisch, denn in der Medizin können oft verschiedene therapeutische Verfahren zum Erfolg führen: So kann ein Bandscheibenvorfall, der einen schmerzhaften »Hexenschuss« hervorgerufen hat, mit schmerzstillenden Tabletten oder mit Injektionen behandelt werden, die in die Muskulatur, in die Vene oder lokal in die Nähe der durch den Bandscheibenvorfall gereizten Nervenwurzel verabreicht werden. Ein Bandscheibenvorfall muss in seltenen Fällen aber auch operativ beseitigt werden. Gallensteine können auf herkömmlichem Weg über einen größeren Bauchschnitt entfernt werden. Heutzutage geschieht dies in der Regel durch ein minimalinvasives Verfahren, d. h. durch Operationen »ohne Bauchschnitt«. In der chirurgischen Literatur sind fast 100 technische Verfahren zur Behandlung von Leistenbrüchen beschrieben worden. Ähnliche Feststellungen gelten für die Behandlung von Hämorrhoiden oder für Korrekturen bei bestimmten Vorfußdeformationen (Stichwort Hallux valgus).

Das, was man unter dem Begriff des ärztlichen Standards zu verstehen hat, erscheint somit nur auf den ersten Blick als klar umrissener Sachverhalt. Man wird z. B. einen Chirurgen, der mehr als 20 Jahre lang erfolgreich und nahezu komplikationslos eine von ihm in langer Erfahrung perfektionierte Methode anwandte, nur schwer davon überzeugen können, dass es mittlerweile bessere Methoden gibt, die den gängigen Standard repräsentieren. Warum sollte just dieser Chirurg jene neuen Standards übernehmen, die ihm und seinen Patienten keine besseren Operationsergebnisse zu liefern vermögen als sein durch Erfahrung bewährtes Verfahren?

Zwischen den USA und Deutschland und sogar im Vergleich zwischen verschiedenen Staaten Europas bestehen zum Teil ganz erhebliche Unterschiede in der Wahl der operativen Vorgehensweisen, was durch die unterschiedlichen Erfahrungshintergründe und nicht zuletzt auch durch die unterschiedlichen Mentalitäten bedingt ist.

Der Begriff des Standards umschreibt also keine statische und keine für alle Zeiten unveränderliche Größe, vielmehr trägt er dem Fortschritt von Wissen und Können in der Medizin Rechnung. Was heute als allgemein anerkannter Standard gilt, kann morgen schon als veraltet, ja als gefährlich gelten.

Grundlegende Veränderungen des therapeutischen Standards sind vor allem in der Krebsmedizin (Onkologie) immer wieder zu beobachten: Während früher die alleinige Operation als Standard in der Behandlung z. B. eines Magen- oder Dickdarmkrebses galt, ist heute die chirurgische Therapie als eine von mehreren Säulen in umfassende Therapiekonzepte eingebettet. Je nach Größe und Verhalten eines Tumors wird vor oder nach der Tumoroperation eine Chemo- und/oder eine Strahlentherapie durchgeführt. In einigen Fällen wird das Tumorbett sogar während des operativen Eingriffs bestrahlt.

Das, was man allgemein unter dem Begriff des Facharztstandards versteht, definiert also nur einen Handlungskorridor, in dem unterschiedliche therapeutische Vorgehensweisen zusammengefasst sind. In der Mitte dieses Handlungskorridors versammeln sich die als bestmöglich beurteilten Therapieverfahren, während am Rande dieses Korridors die eher ungewöhnlichen, vielleicht auch als antiquiert geltenden, aber aus fachlicher Sicht eben noch vertretbaren Therapien angesiedelt sind. Therapeutische Ansätze außerhalb dieses Handlungskorridors verletzen dagegen den geltenden Standard.

Verlässt der Arzt diesen Handlungskorridor, so muss er sich darüber im Klaren sein, dass er in seinem Handeln auch die Schwelle zur Haftung überschreiten kann. Insofern umreißt der Begriff des Standards eine Art Grenze, die es unbedingt zu beachten gilt und deren Überschreiten der Arzt in späteren Haftungsverfahren gesondert begründen muss. In Juristendeutsch heißt das: Die Therapiefreiheit entbindet den Arzt nicht von der Pflicht zur Wahrung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 BGB).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) hat der Patient einen Anspruch auf eine ärztliche Behandlung, die dem Standard eines erfahrenen Facharztes entspricht. Das muss aber nicht bedeuten, dass der Arzt stets das neueste Behandlungskonzept mit der besten apparativen Ausstattung anwenden muss. Vielmehr gilt ein Behandlungsverfahren dann als sorgfaltswidrig, wenn neue Methoden weitaus risikoärmer sind, eindeutig bessere Heilungserfolge versprechen, ein Verfahren in der medizinischen Wissenschaft umstritten ist oder ein sorgfältig handelnder Arzt dessen Anwendung nicht mehr verantworten kann.6

Von den medizinischen Fachgesellschaften werden laufend Leitlinien formuliert, die als Handlungsempfehlungen oder als eine Art Orientierungsmarken in Diagnose und Therapie gelten.7

Derartige Leitlinien sind Handlungsempfehlungen zur Wahrung von Qualitätsstandards, sie sind aber keine Rechtsnormen, und sie sind sogar nicht immer mit dem Begriff des Standards gleichzusetzen. Ihr Ziel ist die angemessene Versorgung der Patienten. Sie reduzieren die Komplexität der wissenschaftlichen Studien und ärztlichen Erfahrungsberichte auf das Wesentliche und stellen in übersichtlicher Form dar, was nützlich, notwendig oder überflüssig ist.8

Solche Leitlinien werden von Expertengremien unter Auswertung der wissenschaftlichen Literatur in einem ersten Entwurf aufgestellt und nach anschließender Diskussion durch die jeweiligen Fachgesellschaften autorisiert. Dadurch haben Leitlinien indirekt dann doch eine haftungsrechtliche Bedeutung. Sie sind nämlich eine der Erkenntnisquellen zur Ermittlung des medizinischen Standards, obwohl sie mit diesem nicht notwendigerweise übereinstimmen.

Im Zweifel wird ein Gericht also immer die Frage stellen: Warum hat sich der Arzt nicht an die Leitlinie gehalten? Kann der Arzt nachweisen, dass er sich bei seiner Behandlung an geltende Leitlinien gehalten hatte, so kann dies ein Beleg dafür sein, dass er gegenüber dem Patienten die erforderliche Sorgfalt walten ließ.

Inzwischen liegen für die unterschiedlichen ärztlichen Berufsbereiche über tausend Leitlinien vor. Ärzte sehen in ihnen oft eine Einschränkung ihrer Therapiefreiheit, Elemente der Bürokratisierung und Gängelung. Als eine gewisse Beruhigung der Ärzteschaft kann aber das Argument dienen, dass der Begriff der Leitlinie ja juristisch nicht genau definiert ist. Der Gesetzgeber knüpft die Arzthaftung ausschließlich an die Außerachtlassung der »im Verkehr erforderlichen Sorgfalt«.9

Der beschriebene Sorgfaltsbegriff gilt zudem nicht für alle Facharztgruppen in gleicher Weise, vielmehr spiegelt er gruppenspezifische Besonderheiten innerhalb der Ärzteschaft wider: So schuldet ein Facharzt für Chirurgie seinem Patienten ein anderes Maß an Sorgfalt als ein Facharzt für Allgemeinmedizin. Denn dass ein Allgemeinarzt z. B. eine akute operationsbedürftige Blinddarmentzündung nicht erkennt, ist eher verständlich, als wenn sich dieser Patient mit den typischen Symptomen einer akuten Blinddarmentzündung (akute Appendizitis) bei einem Chirurgen vorstellt, und wenn dieser gedankenlos und ohne eingehende Untersuchungen die Diagnose einer akuten Blinddarmentzündung vorschnell verwirft. Man kann von einem Allgemeinmediziner schlechterdings nicht verlangen, dass ihm die Feinheiten dieser manchmal schwierigen Diagnose geläufig sind.

Das Gesetz verlangt auch nicht, dass der behandelnde Arzt die allerneuesten Therapieprinzipien anwendet oder über die neuesten Apparaturen verfügt. Die Sorgfaltsanforderungen orientieren sich auch an den Gegebenheiten vor Ort. So steht in Flächenländern oft nicht immer und rund um die Uhr ein Hubschrauber zur Verfügung, der einen schwerkranken Patienten in kürzester Zeit in das nächste Großklinikum transportieren könnte. Die Rechtsprechung fordert nur solche Voraussetzungen diagnostischer und therapeutischer Art, die im Einzelfall einen zwar nicht optimalen, aber dennoch ausreichenden medizinischen Standard erlauben.10

Auch unter ungünstigen wirtschaftlichen Bedingungen müssen aber Mindeststandards eingehalten werden, die sich an den Qualitätsanforderungen der modernen Medizin orientieren. Diese Mindeststandards dürfen nicht unterschritten werden. Das heißt, das Haftungsrecht nimmt prinzipiell keine Rücksicht auf örtliche Strukturmängel.

Ähnliche Voraussetzungen gelten auch für Ärzte, die sich noch in der Ausbildung befinden. Wenn ihnen ein schwerer Behandlungsfehler unterlaufen ist, können sie sich vor Gericht nicht damit herausreden, dass sie ja Berufsanfänger sind und dass deshalb Wissens- und Erfahrungslücken normal seien. Denn schuldhaft handelt der Arzt immer dann, wenn er eine Tätigkeit übernimmt, der er mangels Fachkunde nicht gewachsen ist. Der Arzt in Ausbildung hätte sich in einer solchen Situation z. B. einer sachkundigen Hilfe versichern müssen, d. h., entweder hätte er einen erfahrenen Kollegen hinzuziehen oder den Patienten in ein entsprechend ausgerüstetes Krankenhaus überweisen müssen.11

Viele Behandlungsfehler geschehen auch aus einer Überschätzung der eigenen Möglichkeiten und aus einem Mangel an Selbstkritik heraus.12 Überschätzung der eigenen Möglichkeiten, Fehleinschätzungen von Krankheiten haben manchmal damit zu tun, dass schlicht und einfach schlampig gearbeitet wird, ohne die geltenden Standards zu beachten – dies sind die Grundübel, die zu vermeidbaren Behandlungsfehlern führen können.

Als klassisches Beispiel für manche Selbstüberschätzung des Operateurs könnte die Entfernung einer Gallenblase »ohne Bauchschnitt« (laparoskopische Cholezystektomie) angeführt werden: Bei unübersichtlichen anatomischen Verhältnissen dürfen nämlich die sensiblen Strukturen der Gallenwege nicht eher durchtrennt werden, bevor sie nicht sicher identifiziert sind. Bei Unsicherheiten hinsichtlich der manchmal vertrackten Anatomie der Gallenwege muss ein sorgfältig arbeitender Operateur entweder eine Röntgendarstellung der Gallengänge durchführen, um sich über die Anatomie zu orientieren, oder aber er muss rechtzeitig auf das herkömmliche Verfahren mit einem konventionellen Bauchschnitt umsteigen.

Ich war als Gutachter mit etlichen Fällen konfrontiert, in denen es zu schweren Verletzungen des Hauptgallengangs gekommen war, weil der Operateur auf laparoskopischem Wege weiteroperiert hatte und bei gänzlich unübersichtlichen Verhältnissen verspätet oder gar nicht auf das offene Verfahren umgestiegen war.

Das Hauptziel der operativen Entfernung der Gallenblase besteht nicht darin, zu operieren, ohne sichtbare Narben zu hinterlassen, sondern das Hauptziel besteht vielmehr darin, einen krank machenden Befund unter dem geringstmöglichen Risiko zu entfernen. Den absoluten Vorrang haben das Wohl des Patienten und dessen Sicherheit und nicht das Ego des Operateurs oder gar kosmetische Gesichtspunkte, die auf der Patientenseite immer wichtiger werden.

Welche Probleme sich in der gutachterlichen Bewertung derartiger Fälle auftun, werde ich später durch die Schilderung von Fällen aus der Praxis näher zu beleuchten versuchen.

Keine Operation ohne Risiko

Die Medizin ist sowohl Naturwissenschaft als auch Erfahrungswissenschaft, also keine exakte Wissenschaft, bei der Ursache und Wirkung, d. h. Therapie und Heilerfolg, in einer linearen Beziehung zu einander stehen. Krankheiten, Krankheitsbilder, Krankheitsverläufe sind ausgesprochen komplex, und das Bild von Krankheiten gestaltet sich von Patient zu Patient zum Teil ausgesprochen unterschiedlich. Zudem ist für den Heilungserfolg nicht der Arzt allein, sondern gleichermaßen auch der Patient verantwortlich. Das beste Wissen und Können des Arztes scheitert dort, wo es an Einsicht und Mitwirkungsbereitschaft (neudeutsch »Compliance«) fehlt: Bei einem 65-jährigen, langjährigen Diabetiker mit einem Körpergewicht von 130 Kilogramm, der wegen einer akuten Blinddarmentzündung operiert werden muss, fällt beispielsweise das Risiko eines gestörten postoperativen Heilverlaufs um ein Vielfaches höher aus als bei einem 30-jährigen sportlich gesunden Mann, der wegen der gleichen Erkrankung operiert werden muss. So sind die lebenswichtigen physiologischen Wundheilungsprozesse beim Diabetiker in der Regel verzögert, und in der Kombination mit einer Fettsucht sind Störungen im postoperativen Wundheilungsverlauf geradezu vorprogrammiert. Trotz sorgfältigster Technik und Vorgehensweise des Operateurs kommt es unter derartigen Voraussetzungen nach der Operation überproportional häufig zu Wundinfektionen und Abszessen bis hin zu lebensbedrohlichen Bauchfellentzündungen.

Für solche schweren Komplikationen wird dann der Arzt verantwortlich gemacht. Auf den vorsichtigen Verweis des Arztes auf die vom Patienten mitgebrachten Risiken in Gestalt des Diabetes mellitus und des Übergewichtes wird von Patientenseite oft mit Unverständnis und Entrüstung reagiert. Auch unter Zuhilfenahme der schonendsten modernen Operationstechniken, trotz größtmöglicher Sorgfalt sind aber bei solchen Risikopatienten komplikationsträchtige Verläufe nicht immer zu vermeiden.

Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Ein ausbleibender Heilungserfolg oder gar eine Verschlechterung des Zustandes eines Patienten sind nicht automatisch Beweis für einen Behandlungsfehler.

Der Heilverlauf ist nicht nur vom Arzt und seinem Wissen und Können abhängig, sondern wird von vielen Faktoren außerhalb des ärztlichen Machtbereiches beeinflusst, wie vom Alter des Patienten, möglichen Vorerkrankungen, dem Immunstatus und nicht zuletzt auch von der Psyche und sozialen Faktoren. Der menschliche Organismus stellt ein überaus komplexes und fein abgestimmtes Gebilde dar, das im Zusammenwirken seiner funktionellen Strukturen immer noch nicht hinreichend verstanden wird. Deshalb sind auch seine Reaktionen auf Operationen oder Medikamente nicht genau berechenbar und vorhersagbar.

Gesundheit ist eben nicht »machbar«. Die medizinische Wissenschaft basiert auf statistischen, auf Erfahrung begründeten Wahrscheinlichkeitsaussagen über Krankheitsverläufe – sie ermöglicht somit auch nur statistische Aussagen über Heilungschancen, Risiken und Komplikationen einer Therapie. Jeder ärztliche Eingriff ist deshalb prinzipiell mit dem mehr oder weniger großen Risiko eines Fehlschlages oder sogar einer Verschlechterung des Krankheitszustandes behaftet.13

Dieser Erkenntnis hat die Rechtsprechung in vielfältiger Weise Rechnung getragen: Der Patient trägt mit seiner Erkrankung typischerweise selbst die Ursache für das Risiko in sich, dass sich sein Gesundheitszustand nicht verbessert oder sogar noch verschlechtert.14

Kommt es im Rahmen einer ärztlichen Behandlung zu Komplikationen und verlangen Patient und/oder Angehörige eine Aufklärung der Ursachen, so muss durch einen Sachverständigen (Gutachter) festgestellt werden, ob dieser komplikationsträchtige Verlauf aus einem Behandlungsfehler oder aber aus den grundlegenden Gesundheitsrisiken des Patienten resultierte. Dieses Nebeneinander von Risiken, die einerseits von der Krankheit des Patienten ausgehen, andererseits aber auch durch die Tätigkeit des Arztes verursacht sein können, macht das typische Gepräge von Arzthaftungsfällen aus.15 Eine Komplikation, sogar mit Todesfolge, kann somit nicht automatisch als Beleg für einen Behandlungsfehler gelten.

Beispiel 1: Ein 57-jähriger Patient mit einem langjährigen Diabetes mellitus wird in der Klinik wegen einer Verschlusserkrankung der Beinschlagadern stationär aufgenommen. Man weiß, dass der Diabetes mellitus zu Einengungen und Verschlüssen der Körperarterien führen kann, so z. B. zu Einengungen der Halsschlagadern mit einem entsprechend erhöhten Schlaganfallrisiko.

Bei diesem Patienten hatte eine solche zunehmende Verschlusssymptomatik im Bereich der Beinschlagadern bestanden – er konnte nur noch kurze Strecken gehen und musste immer wieder wegen der zunehmenden Schmerzen in den Beinen stehen bleiben. Oft schauen solche Patienten aus einer gewissen Verlegenheit heraus in die Schaufenster der Ladenpassagen, was der Volksmund »Schaufensterkrankheit« nennt. Bei Verschlüssen der Beinschlagadern kann die Muskulatur nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden. Beim Gehen und unter Belastung steigt naturgemäß der Sauerstoffbedarf der Muskulatur weiter an, was zu heftigen Schmerzen führt, die die Patienten oft zwingen, stehen zu bleiben.

Bei unserem Patienten hatten schon in Ruhe Beinschmerzen bestanden, d. h., bereits im Ruhezustand war die Muskulatur der Beine nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt gewesen. Um die Durchblutung zu verbessern, wurde ihm in einer technisch schwierigen Operation eine Gefäßprothese eingesetzt. Der postoperative Verlauf war zunächst völlig unkompliziert gewesen – die Durchblutung der Beine hatte sich entscheidend gebessert, die Füße waren warm und gut durchblutet.

Durch den langjährigen Diabetes bestand jedoch eine Schwächung der Immunabwehr. Als Folge dieser geschwächten Immunabwehr entzündete sich die Operationswunde, und es kam trotz sofortiger Antibiotikatherapie unaufhaltsam zu einer schweren und lebensbedrohlichen Blutvergiftung, in deren Folge das Bein schließlich abgenommen werden musste. Von diesem Eingriff erholte sich der Patient nicht mehr und starb.

Dies ist ein Beispiel für schwere postoperative Komplikationen mit tödlichem Ausgang, für die die Ärzte nicht verantwortlich zu machen sind. Im Gegenteil: Die technisch schwierige (und kosten-)aufwendige Operation glückte und die Durchblutung des Beines war wieder hergestellt worden. Dennoch hatte sich, trotz rechtzeitiger Gabe von Antibiotika, das vorbestehende Risiko für eine erhöhte Infektionsanfälligkeit verwirklicht, ein patienteneigenes Risiko, das zu diesem katastrophalen Verlauf geführt hatte.

Oft ist es aus gutachterlicher Sicht schwierig, den Angehörigen das Schicksalhafte derartiger Verläufe zu erklären und plausibel darzulegen, denn viele Patienten sind durch eine erdrückende Flut von Medienberichten zu der Überzeugung gekommen, dass Gesundheit technisch machbar und jederzeit einklagbar ist. Aber es gibt keine harmlosen Krankheiten und schon gar keine harmlosen Operationen.

Selbst bei einer anscheinend so harmlosen Blinddarmentfernung (Appendektomie) kann es auch heute noch zu tödlichen Komplikationen kommen, für die der behandelnde Arzt nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Möglich sind z. B. trotz ordnungsgemäß durchgeführter Thromboseprophylaxe immer noch postoperative Thrombosen des tiefen Beinvenensystems mit tödlichen Lungenembolien.

Ich habe es erleben müssen, dass bei Patienten sehr seltene und bis dato unentdeckte Störungen des Blutgerinnungssystems bestanden, die vor Routineoperationen nicht zu erkennen gewesen waren. Solche maskierten und sich der Routinediagnostik entziehenden Vorerkrankungen können die Ursachen für schwere Komplikationen nach Operationen darstellen, die auch bei sorgfältigster ärztlicher Vorgehensweise nicht immer zu vermeiden sind.

Beispiel 2: Im Anschluss an eine komplizierte Darmoperation kam es zu einer Undichtigkeit der Nähte. Nach einer solchen Nahtinsuffizienz kann Darminhalt in die freie Bauchhöhle austreten und zu einer lebensbedrohlichen Bauchfellentzündung führen. Auch bei sorgfältigster Nahttechnik kommen solche Nahtinsuffizienzen immer wieder vor. Man weiß, dass bestimmte Vorerkrankungen und Verhaltensweisen zu Heilungsstörungen an solchen Nähten führen können. Dazu gehören z. B. das Rauchen, Erkrankungen des blutbildenden Systems oder ein mellitus Diabetes.

Beispiel 3: Gallensteine, die in der Gallenblase gebildet werden, können von der Gallenblase in den Hauptgallengang wandern und dort den Galleabfluss von der Leber in den Zwölffingerdarm behindern. Der Hauptgallengang mündet nämlich zusammen mit dem Ausführungsgang der Bauchspeicheldrüse in den Zwölffingerdarm.

Befinden sich also Steine in diesem Hauptgallengang, so versucht man auf endoskopischem Wege die Einmündungsstelle des Gallengangs in den Zwölffingerdarm zu identifizieren und die Steine mit speziellen Instrumenten aus dem Hauptgallengang zu bergen. Solche Manipulationen am Gangsystem können schwere Entzündungen der unmittelbar benachbarten Bauchspeicheldrüse zur Folge haben. In der Bauchspeicheldrüse werden aggressive Verdauungssäfte gebildet, die im Dünndarm die Nahrungsfette, Kohlenhydrate und Eiweiße aufspalten. Bei einer Entzündung der Bauchspeicheldrüse können diese Verdauungsfermente unkontrolliert in die Umgebung der Bauchspeicheldrüse gelangen und ein lebensbedrohliches Krankheitsbild hervorrufen.

Die endoskopische Steinentfernung aus dem Hauptgallengang, eine elegante und für die Patienten in der Regel wenig belastende Methode, kann also in einzelnen tragischen Fällen zu einem schweren Krankheitsbild mit unter Umständen tödlichem Ausgang führen, vor dem auch der erfahrenste Endoskopiker nicht gefeit ist.

Gesetzt den Fall, es handelte sich um einen Familienvater mit drei oder vier Kindern, mit einer laufenden Hypothek auf dem Eigenheim, der sich dem vermeintlich einfachen Routineeingriff einer endoskopischen Steinentfernung unterziehen musste und den das Schicksal einer schweren Bauchspeicheldrüsenentzündung getroffen hatte. Stellen wir uns seine fassungslosen Angehörigen vor, wenn dieser Mensch nach vier, acht, zwölf Wochen eines furchtbaren Überlebenskampfes auf der Intensivstation an den Folgen dieses Routineeingriffes stirbt und zu Grabe getragen wird – die Familie steht vor dem finanziellen Aus!

Wie will man den Angehörigen erklären, dass es sich bei dem Tod ihres Ehemannes und Vaters um einen »schicksalhaften Verlauf« gehandelt hatte, für den niemand etwas kann. Was bedeutet »Schicksal« in diesem Zusammenhang für diese zurückgebliebene Familie? Ich denke, der Begriff des Schicksals ist für die Ehefrau und die Kinder dieses Toten in diesem Zusammenhang nichtssagend, ja geradezu zynisch. Was vermag der Ehefrau des Toten mit ihren drei Kindern das Wort »Statistik« oder »Risiko« zu besagen, wenn sich zwar ein ausgesprochen seltenes, aber für sie furchtbar konkretes Risiko verwirklicht hat?

Angesichts solch katastrophaler Verläufe ist ein besonders einfühlsamer Umgang des Arztes mit dem Patienten bzw. den Angehörigen erforderlich. Der Arzt muss den Krankheitsverlauf in verständlicher Form schildern, so dass auch für einen Laien nachvollziehbar wird, wie es überhaupt zu dieser ungünstigen Entwicklung kommen konnte. Geschieht dies in einer ruhigen und angemessenen Weise, so können einfühlsame und aufklärende Gespräche dazu beitragen, dass auf Patientenseite gar nicht erst die Vermutung eines Behandlungsfehlers aufkommt.

Patienten in Beweisnot

Aus einem Behandlungszwischenfall oder Komplikationen darf also nicht ohne weiteres auf einen Behandlungsfehler geschlossen werden. Kommt es aber zu einem Verfahren, müssen Gutachter den Vorwurf klären.

Nehmen wir den oben bereits zitierten Fall, dass es nach einer Darmnaht zu einer Undichtigkeit der Nähte mit einer tödlichen Bauchfellentzündung gekommen war. Um zu entscheiden, ob möglicherweise ein Behandlungsfehler vorliegt, muss eine Reihe von Fragen beantwortet werden:

• Wie konnte es zu dieser Nahtinsuffizienz kommen? Waren technische Fehler des Chirurgen dafür verantwortlich? Waren es Materialfehler? War z. B. die maschinell erstellte Klammernaht schon primär undicht gewesen? Oder waren es vom Patienten mitgebrachte Risikofaktoren, die die Heilungsprozesse behinderten?

• Hätte der Arzt die Nahtundichtigkeit während des operativen Eingriffs erkennen müssen?

• Wurde die Komplikation nach der Operation rechtzeitig erkannt? Wurden entsprechende Hinweissymptome mit angemessener Sorgfalt beachtet und abgeklärt?

• Wurde vielleicht zu spät nachoperiert – hätten der nachfolgende Krankheitsverlauf, die belastende Intensivtherapie mit zahlreichen Folgeoperationen oder gar das Ableben des Patienten vermieden werden können, wenn frühzeitiger nachoperiert worden wäre?

• Der Patient hat die schweren Komplikationen zwar überlebt, aber er ist lebenslang behindert geblieben – hätte diese Behinderung vermieden werden können?

Gutachter werden in einem Behandlungsfehlerverfahren zum einen vom Gericht beauftragt, häufig wenden sich aber auch Patienten und Angehörige direkt an einen Sachverständigen, um überhaupt die Chancen auf einen Prozesserfolg zu klären. Denn den Beweis, dass ein eingetretener Gesundheitsschaden auf einen Behandlungsfehler zurückzuführen ist, muss in unserem Rechtssystem der Patient erbringen: Der Patient trägt also die Beweislast dafür, nachzuweisen, dass der Behandlungsfehler ursächlich für den entstandenen Gesundheitsschaden verantwortlich ist. Darin besteht oft die am schwierigsten zu überwindende Hürde in Arzthaftungsverfahren.

Beispiel: Ein 55-jähriger, stark übergewichtiger Patient ist in langjähriger Behandlung bei seinem Hausarzt. In der Vergangenheit ist er mehrfach wegen eines Hämorrhoidalleidens behandelt worden. Seit vier Wochen hat er, wie früher auch schon des Öfteren, Blutabgänge im Stuhlgang festgestellt. In der letzten Zeit hatte er auch an Gewicht verloren. Fünf Jahre zuvor war eine Darmspiegelung durchgeführt worden – ohne auffälligen Befund.

Der Arzt verschreibt ihm seine gewohnten Hämorrhoidenzäpfchen. Diesmal wollen die Beschwerden aber nicht verschwinden. Der Patient kommt wiederholt zum Arzt, der ihm stets immer wieder Salben und Zäpfchen gegen die vermeintlichen Hämorrhoidenbeschwerden verschreibt, allerdings mit ausbleibendem Erfolg. Nach einem dreiviertel Jahr erfolgloser Behandlung sucht der Patient einen an deren Arzt auf. Dieser Arzt führt eine Darmspiegelung durch. Dabei wird ein fortgeschrittener Krebs im Mastdarmbereich festgestellt. Die weitergehende Diagnostik zeigt, dass der Krebs schon Metastasen gestreut hat – eine Heilung ist kaum mehr möglich. Dem behandelnden Hausarzt ist der Vorwurf eines Behandlungsfehlers bzw. eines Verstoßes gegen die Regeln der ärztlichen Kunst deshalb zu machen, weil er seinen Patienten über den Zeitraum von fast einem Jahr gedankenlos wegen »Hämorrhoiden« behandelt hatte, ohne zu bedenken, dass sich hinter dem klinischen Erscheinungsbild eines Hämorrhoidalleidens durchaus auch ein bösartiger Darmtumor verstecken kann.

Der Patient hatte sich zwar fünf Jahre zuvor einer Darmspiegelung unterzogen, andererseits hatte aber sogar eine familiäre Belastung für Dickdarmkarzinome vorgelegen, so dass angesichts der fortgesetzten Blutabgänge zwingend ein bösartiger Darmtumor anzunehmen war.

Im nachfolgenden Arzthaftungsverfahren war die Frage zu klären, ob eine Diagnoseverzögerung von neun bis zwölf Monaten bei einem bösartigen Darmtumor dafür verantwortlich sein konnte, dass sich der Tumor bei der verspäteten Diagnosestellung schon im Stadium der Metastasierung befunden hatte – in einem derart fortgeschrittenen Stadium also, in dem keine Heilung mehr möglich ist. Oder anders gefragt: Mit welcher Wahrscheinlichkeit hätten bei einer frühzeitigeren Diagnose möglicherweise noch keine Metastasen vorgelegen, und wäre der Tumor dann vielleicht heilbar gewesen?

Vor Gericht muss der Patient nach der Alles-oder-nichts-Regel den Beweis erbringen, dass die zu Behandlungsbeginn schon vorhandenen Metastasen und die dadurch verkürzte Lebenserwartung kausal auf die Diagnoseverzögerung des Arztes zurückzuführen sind.

Sein Anwalt wird darauf verweisen, dass Dickdarmkarzinome zu einem hohen Prozentsatz heilbar sind, wenn sie frühzeitig entdeckt werden. Der vom Gericht beauftragte Gutachter führt vielleicht dagegen folgende Argumente ins Feld: Die Mehrzahl der Dickdarmkarzinome zählt zu den langsam wachsenden Tumoren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann man deswegen davon ausgehen, dass auch bei einer frühzeitigeren Diagnose mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit ein Dreivierteljahr zuvor schon ein metastasiertes Tumorstadium vorgelegen hatte. Es läge zwar ein Behandlungsfehler des Arztes vor, dieser habe aber nicht zu einem messbaren Gesundheitsschaden geführt.

Ein Haftungsfall des beklagten Arztes läge nach dieser Argumentation nicht vor, und der Patient hätte den Prozess verloren.

Wann ein Behandlungsfehler zur Haftung des Arztes führt, ist somit recht unterschiedlich zu gewichten. Im vorliegenden Fall wäre die Untersuchung und Bewertung des biologischen Verhaltens des verspätet diagnostizierten Tumors von wesentlicher Bedeutung. Wachstumsgeschwindigkeit, Zellteilungsraten und Metastasierungsverhalten weisen nämlich erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Tumortypen auf. Innerhalb der Familie von Dickdarmkarzinomen wird z. B. deren biologisches Verhalten wesentlich mitbestimmt durch den Differenzierungsgrad der Tumorzellen. Der Pathologe, der das Tumorgewebe unter dem Mikroskop untersucht, beurteilt nicht nur die grobe Struktur der Tumorzellen sowie ihr Eindringungsverhalten in die Umgebung. Er begutachtet vor allem auch die Zellteilungsraten und den speziellen Differenzierungsgrad dieser Zellen. Es gilt als grobe Faustregel, dass eine Tumorzelle sich umso gefährlicher und bösartiger verhält, je geringer ihr Differenzierungsgrad ist.

Alle diese Überlegungen müssen in die gutachterliche Bewertung der vorwerfbaren Diagnoseverzögerung mit einfließen, und in grober Näherung kann man sagen, dass das juristische Kriterium der sogenannten »haftungsausfüllenden Kausalität« umso eher als erfüllt gelten kann, je länger der Zeitraum der Diagnoseverzögerung war.

Zu beachten sind für den Patienten, der eine Behandlungsfehlerklage erwägt, die ganz entscheidenden Unterschiede zwischen Straf- und Zivilrecht.

Strafrecht ist in erster Linie Staatsrecht. Es umfasst sämtliche Rechtsnormen, die den Inhalt und den Umfang der staatlichen Strafbefugnisse bestimmen. Es beschreibt, was eine Straftat ist, und legt die Rechtsfolgen fest. In einem Strafverfahren geht es stets darum, ob dem Angeklagten ein schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden kann und um die Festlegung der Strafe durch das Gericht.

Schadensersatzansprüche dagegen müssen vom Patienten immer vor einem Zivilgericht in einem privatrechtlichen Verfahren eingeklagt werden. Das Privatrecht regelt auf Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) die Rechtsbeziehungen der verschiedenen Rechtssubjekte in einem Staat untereinander, also auch die Rechtsbeziehung zwischen Arzt und Patient.

Gesetzt den Fall, der Patient wendet sich nach der Fehldiagnose seines Arztes an die zuständige Staatsanwaltschaft und erstattet Anzeige, diese leitet sogar ein Strafverfahren ein: Mit großer Wahrscheinlichkeit wird die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den beklagten Arzt einstellen. Denn im Strafrecht gelten weitaus strengere Maßstäbe als im Zivilrecht. Hier muss der Schaden, d. h. beispielsweise die Verkürzung der Lebenserwartung, »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« durch den Fehler des Arztes hervorgerufen worden sein. Angesichts der Unberechenbarkeit des menschlichen Körpers, der Komplexität von Krankheiten und des allenfalls statistisch ermittelbaren Verhaltens eines Tumors ist ein Schaden als Folge eines Behandlungsfehlers unter den im Strafrecht geltenden Regeln der strengen Beweisführung nur selten zweifelsfrei zu belegen. Denn grundsätzlich gilt im Strafrecht der Grundsatz: »Im Zweifel für den Angeklagten.«

Im Zivilrecht dagegen sind die Maßstäbe weniger streng – hier gilt die Ursächlichkeit schon dann als erfüllt, wenn die fehlerhafte ärztliche Behandlung den Schaden mit über fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit bzw. »mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit« herbeigeführt hat. Aber auch im Zivilrecht sind, wie wir schon gesehen haben, die Hürden für den Patienten sehr hoch.