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Jason Starr

Dumm gelaufen

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Hans M. Herzog

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2003 bei Vintage Crime/Black Lizard,

New York, erschienenen Originalausgabe: ›Tough Luck‹

Copyright © 2003 by Jason Starr

Die deutsche Erstausgabe erschien

2012 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von Dennis O’Clair

Copyright © Dennis O’Clair/

Stone/Getty Images

 

 

Für Chynna Skye

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24291 1 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60195 4

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Als der stämmige, italienisch aussehende Typ im Nadelstreifenanzug Vincent’s Fish Market an der Ecke Flatbush Avenue und Avenue J betrat, legte Mickey Prada die Daily News beiseite, die er gerade las, und sagte: »Das Übliche, stimmt’s?«

»So isses, Kleiner«, sagte der massige Typ lächelnd.

Während Mickey ihn bediente – ein Pfund gekochte Shrimps und ein Döschen Cocktailsauce –, zog der Mann ein Blatt Papier heraus und hielt es Mickey vor die Nase.

»Ist das zu fassen?«, sagte er. »Ich muss heute zum Scheiß-Gericht.«

Auf dem Blatt stand eine Menge geschrieben, doch Mickey konnte nur in einer Ecke die Großbuchstaben OK in roter Schrift erkennen, ehe der Mann es wieder wegsteckte.

»Unfassbar, dass ich mit diesem Scheiß meine Zeit vergeuden muss«, fuhr der Typ kopfschüttelnd fort. »Aber ich komme ungeschoren davon. So wie immer.«

Mickey tippte den Betrag in die Kasse. Als er dem Mann das Wechselgeld auf seine fünfzig Dollar rausgegeben hatte, streckte der die Hand aus und sagte: »Ich bin übrigens Angelo. Angelo Santoro.«

[6] Mickey wischte sich an seiner schmutzigen weißen Schürze die Hand ab und schüttelte Angelos Pranke.

»Mickey. Mickey Prada.«

An diesem Abend war Mickey bei seinem Freund Chris und sah sich auf dem neuen Farbfernseher in Chris’ Zimmer das Eishockeyspiel zwischen den Islanders und den Flyers an. In einer Werbepause erzählte Mickey Chris von Angelo Santoro und dem Gerichtsdokument.

»Egal was du machst, leg dich mit diesem Typ nicht an«, sagte Chris.

»Wie meinst du das?«, fragte Mickey.

»OK, Blödmann. Du weißt doch, was OK bedeutet, oder?«

Mickey schüttelte den Kopf.

»Organisierte Kriminalität, Trottel. Dein Freund Angelo ist ein Mafioso.«

»Nun mach mal ’n Punkt«, sagte Mickey.

»Glaub mir«, sagte Chris. »Ich kenn mich da aus.«

Als Angelo ein paar Tage danach wieder in den Fischladen kam, sah Mickey ihn sich genauer an. Wie alt Angelo war, ließ sich schwer sagen, weil er pechschwarze, wahrscheinlich mit Brylcreem gefärbte Haare hatte, doch er sah aus wie vierzig, vielleicht ein paar Jahre älter. Und er hatte auf jeden Fall etwas Mafiamäßiges an sich. Was nicht nur an den nach hinten gegelten Haaren und den schicken Klamotten lag, sondern auch an seinem Auftreten, immer dieses halbe Lächeln, und dann sein Gang, der eher ein Stolzieren war.

Mickey behandelte Angelo freundlicher als sonst – er [7] lächelte, erkundigte sich nach seinem Befinden, packte noch ein paar Garnelen mehr in den Behälter. Auch Angelo war freundlich, redete über die Wahlen im nächsten Monat, prophezeite, dass Reagan Mondale fertigmachen würde.

An der Kasse, als Mickey den Betrag eintippte, sagte Angelo: »Du bist also Footballfan, Kleiner?«

»Stimmt«, sagte Mickey. »Woher wissen Sie das?«

»Hab dich neulich mit dem jungen Schwarzen reden hören, der hier arbeitet. Und glaubst du, dass die Jets es dieses Jahr schaffen?«

»Ich hoffe es«, sagte Mickey.

»Das wird schwer«, sagte Angelo, »so wie die Dolphins zurzeit spielen – sieben Siege, keine Niederlage. Aber der junge O’Brien macht ’n ziemlich guten Eindruck, und sie haben ’ne tolle Verteidigung. Ich hab übrigens Dauerkarten.«

»Echt?«, sagte Mickey.

»Ja, schon seit 68.«

»Haben Sie die Jets in dem Jahr gesehen, als sie den Super Bowl gewonnen haben?«

»Ich war bei jedem Spiel, auch beim Finale.«

»Sie waren dort

»Zwölfter Januar 1969. Orange Bowl, Miami, Florida. Fünfte Reihe, an der Vierzig-Yard-Linie.«

»Ach du Scheiße«, sagte Mickey.

»Du hättest an dem Tag Namath sehen sollen, Kleiner, seine Pässe zu Maynard und Sauer.« Angelo tat, als würfe er einen Football. »Echt traurig, dass ihn seine Knie im Stich gelassen haben, sonst wäre er heute noch [8] Quarterback. Hey, keine Ahnung, ob du Interesse hast, aber zu dem Spiel Jets gegen Giants im Dezember kann ich nicht gehen. Wenn du meine Karten willst, kannst du sie haben.«

»Ich weiß nicht«, sagte Mickey. »Ich würd echt gerne hin, aber ich kann’s mir wohl kaum leisten.«

»Leisten? Wer hat denn was von leisten können gesagt? Ich schenk dir die Tickets.« Angelo grinste.

»Ist schon okay. Ich meine, Sie müssen das echt nicht machen.«

»Hey, beleidige mich nicht«, sagte Angelo, auf einmal ernst. »Ich sagte, ich schenke dir die Karten, und ich werde dir die Karten schenken. Ist das Mindeste, was ich für meinen Lieblingsfischverkäufer tun kann.«

»Okay«, sagte Mickey. »Wenn Sie wirklich wollen.«

Angelo lächelte wieder breit. »Das Spiel ist erst im Dezember – vorher sehe ich dich sicher noch oft. Ich bringe die Karten demnächst mal vorbei.«

»Danke«, sagte Mickey.

»Na dann, mach’s gut«, verabschiedete sich Angelo.

Am nächsten Montag filetierte Mickey nachmittags auf der Arbeitsfläche hinter den Verkaufstresen Flundern. Nachdem er die Schuppen abgekratzt hatte, machte er einen kurzen Schnitt unter der einen Vorderflosse, direkt hinter den Kiemen, dann einen längeren Schnitt bis hinunter zur Schwanzflosse. Das Gleiche wiederholte er auf der anderen Seite des Fisches, dann zog er die Karkasse heraus, schob die Filets beiseite und nahm sich den nächsten Fisch vor.

[9] Mickey zerlegte gerade eine Flunder, als Mrs. Ruiz den Laden betrat.

»Wie geht’s Ihnen heute, Mrs. Ruiz?«

»Sehr gut, Mickey.«

»Was darf ich Ihnen geben?«

»Haben Sie Muscheln?«

Mickey rollte seinen rechten Hemdsärmel hoch, spannte den Bizeps an und sagte: »Jawoll.«

Als Mrs. Ruiz das Geschäft wie üblich mit zwei Pfund Miesmuscheln und zwei Pfund Venusmuscheln für ihre Paella verlassen hatte, kam Charlie nach vorn, einen großen Ghettoblaster auf der Schulter.

»Mach den Scheiß aus«, sagte Mickey.

»Also echt«, sagte Charlie, »sogar Weiße mögen diese Musik.«

»Ich mein’s ernst«, sagte Mickey.

Charlie drehte leiser. »Stimmt ja – du bist Italiener. Du stehst auf diesen John-Travolta- und Bee-Gees-Scheiß. Am Wochenende machst du dich bestimmt schick wie Deney Terrio und drehst deine Donna-Summer-Mucke auf. Gib’s zu, das ist die Wahrheit. Leugnen ist zwecklos.«

Als Charlie anfing, mit der Musik mitzusingen, musste Mickey unwillkürlich grinsen. »And don’t ever come down… Freebase!«

Charlie sang weiter, während Mickey in die nächste Flunder schnitt.

»Mickey Prada, wie geht’s?«

Mickey drehte sich um, und da stand Angelo, in einem seiner Nadelstreifenanzüge, auf der anderen Seite des [10] Verkaufstresens. Angelo hatte sich etwa eine Woche nicht mehr in dem Fischgeschäft blicken lassen, und Mickey war erstaunt, dass er seinen Namen noch wusste.

»Wie geht’s denn so?«, sagte Mickey. »Hey, Angelo, das hier ist Charlie.«

Charlie und Angelo begrüßten einander, dann drehte Charlie die Musik leiser und ging einen anderen Kunden bedienen, der gerade den Laden betreten hatte.

»Du weißt, warum ich hier bin«, sagte Angelo zu Mickey.

»Kommt sofort.«

Während Mickey die gekochten Shrimps in einen Ein-Pfund-Behälter füllte, sagte Angelo: »Prada. Das ist nicht sizilianisch, oder?«

»Nö, mein Großvater kam aus dem Norden«, antwortete Mickey.

»Milano?«

»Da in der Gegend.«

»Eh, was soll’s?«, sagte Angelo. »Norden, Süden, du stammst nun mal aus der alten Heimat, nur das zählt. Verrat mir noch eins, Kleiner. Was willst du aus deinem Leben machen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine: Du arbeitest hier in einem Fischgeschäft. Gehst du auch zur Schule?«

»Ich mache ein Jahr Pause, dann gehe ich aufs Baruch College in Manhattan.«

»College?«, wiederholte Angelo, als hätte er das Wort noch nie gehört. »Was willst du da lernen?«

»Ich will Buchprüfer werden«, sagte Mickey.

[11] »Buchprüfer?«, sagte Angelo. »Du wirst doch nicht etwa Steuerfahnder fürs Finanzamt, oder?«

Mickey lachte. »Nö, ich will in der Privatwirtschaft arbeiten. Bei einer Firma wie Ernst & Young oder so.«

»Tja, das klingt doch gut«, sagte Angelo, »nehme ich an. Aber falls du mal was anderes suchst, kannst du mit mir reden, okay? Wenn du dich mit Zahlen auskennst, kann ich dich irgendwo unterbringen, wo du nicht schlecht verdienst. Kennst du dich mit Zahlen aus?«

»Sie meinen Lottozahlen und so?«, fragte Mickey.

Angelo nickte.

»Ein bisschen«, sagte Mickey. »Ich spiele zwar nicht selbst, aber –«

»Das ist in Ordnung«, sagte Angelo, »lass es besser bleiben. Wie stehen die Chancen, beim Lotto die richtigen Zahlen zu tippen, so was wie zigtausend zu eins? Es ist wahrscheinlicher, dass ich heute sterbe, als dass ich die richtige Zahl erwische. Ich spreche von der anderen Seite des Geschäfts. Wenn du von Mathe Ahnung hast, kennst du dich doch mit Wettquoten und so was aus, stimmt’s?«

»Danke. Aber ich werd wohl einfach weiter hier arbeiten… bis ich wieder mit dem Studium anfange.«

»Ey, deine Entscheidung«, sagte Angelo. »Du machst das, was du tun willst. Ich sag nur, du bist ein fähiger Kerl – du wirst es bestimmt mal weit bringen. Ich glaube auch nicht, dass du dafür studieren musst. Ich glaube, du könntest sofort loslegen, wenn du wolltest. Also, falls du’s dir anders überlegst, lass es mich wissen, okay?«

[12] »Mach ich«, sagte Mickey.

Mickey wog Angelos Shrimps ab, verschloss dann den Behälter. An der Kasse sagte Angelo: »Und, auf wen tippst du bei dem Spiel heute Abend?«

»Dem Spiel?«

»Football.«

»Ah ja, auf die Seahawks«, sagte Mickey.

»Die Seahawks?«, wiederholte Angelo. »Also echt, Dan Fouts hat den besten Wurfarm im Football. Die Chargers gewinnen heute Abend mit links.«

»Ich weiß nicht«, sagte Mickey. »Die Hawks haben die Chargers beim letzten Mal ziemlich fertiggemacht, und jetzt sind sie die Favoriten. Man muss auf die Hawks setzen.«

»Aha, du wettest also gern auf Football, stimmt’s?«, sagte Angelo lächelnd.

»Ich wette ab und zu mal ein paar Dollar bei einem Bookie. Ist nicht der Rede wert.«

»Du musst vorsichtig sein«, sagte Angelo. »Versteh mich nicht falsch – ich hab selbst nichts gegen ein wenig Action von Zeit zu Zeit, aber man sollte sich nicht zu tief reinziehen lassen. Ich kenne Typen, die beim Zocken ihre Familien verloren, alles verloren haben. Ich kannte mal einen, war ein alter Freund, der spielte gern Lotto. Ein paar Dollar Einsatz in der Woche, er dachte: Was soll da groß passieren? Ein Jahr später ist er pleite, Frau und Kinder sind weg, er hat gar nichts mehr.«

»Das passiert mir schon nicht«, sagte Mickey.

Angelo musterte Mickey ein paar Sekunden, sagte dann: »Du bist ein kluger Junge, weißt du das? Will bloß [13] sagen, du hast einen guten Kopf auf den Schultern. Tu mir einen Gefallen, mein Bookie ist diese Woche nicht in der Stadt. Kannst du heute Abend ein bisschen was für mich mitsetzen?«

Mickey zögerte: »Normalerweise gebe ich keine Wetten für andere Leute ab. Ist nicht böse gemeint, aber –«

»Aber in meinem Fall machst du eine Ausnahme, stimmt’s?« Angelo lächelte.

»Klar«, sagte Mickey. »Wüsste nicht, was dagegen spricht. Was soll’s denn sein?«

»Was sagtest du, wie war die Quote?«

»San Diego minus eins.«

»Was ist los, verschenken sie heute Abend Geld? Ich setze zehn Mal auf die Chargers.«

»Das sind fünfzig Dollar«, sagte Mickey.

»Das weiß ich«, sagte Angelo. »Das ist doch kein Problem, oder?«

»Nein, schätze nicht«, sagte Mickey. »Das heißt, normalerweise setze ich nicht so viel…«

»Wie gesagt, ich würde meinen eigenen Bookie anrufen, aber der macht diese Woche Urlaub – West Palm Beach. Du platzierst also die Wette für mich, ja? Mir zuliebe.«

Mickey zögerte, dachte daran, wie Chris ihm eingeschärft hatte, sich nicht mit der Mafia einzulassen, doch er wusste nicht recht, wie er hätte nein sagen können. Außerdem ließ er sich nicht wirklich auf etwas ein.

»Na klar«, sagte er. »Kein Problem.«

»Gut«, sagte Angelo.

»Die Sache ist aber die, ich weiß nicht, welche Quote [14] mein Bookie hat. Die Chargers könnten mehr als einen Punkt zurückliegen oder – «

»Das ist unwichtig«, sagte Angelo lächelnd. »Ich vertrau dir, Kleiner.«

Etwa eine Stunde vor dem Anstoß rief Mickey seinen Buchmacher an und gab Angelos Wette durch. Die Quote lag inzwischen bei anderthalb Punkten, doch das war egal, weil die Seahawks die Chargers mit 24 zu 0 niedermachten. Mickey gewann seine 25-Dollar-Wette, doch Angelo verlor 55 Piepen – 50 für die Wette und 5 für die Buchmacherkommission.

Als Angelo am nächsten Tag in den Laden kam, verlor er über Football kein Wort. Er alberte nur mit Mickey über das kalte Wetter in New York herum und sagte, dass er eines Tages nach Miami ziehen wolle.

Als er Angelos Einkauf in die Kasse tippte, fragte Mickey: »Und, haben Sie gestern Abend das Spiel gesehen?«, in der Hoffnung, dass Angelo mit den 55 Dollar rausrücken würde.

»Ja, hab ich gesehen. Pech gehabt, was, Kleiner?« Dann sagte Angelo: »Bis dann«, nahm seine Shrimps und verließ den Laden.

Am Mittwoch betrat Angelo gegen Mittag das Fischgeschäft, er trug einen schwarzen Pulli, eine schwarze Hose und glänzende schwarze Schuhe.

»Mickey Prada«, sagte er lächelnd. »Wie geht’s meinem Lieblingsfischverkäufer?«

Während Mickey ihn bediente, sprach Angelo darüber, [15] dass man irgendwann Reagans Bild auf den Dollarschein drucken müsse und dass die Stadt Bürgermeister Koch aus dem Amt jagen solle. Football erwähnte er mit keinem Wort, erst kurz bevor er ging sagte er: »Vergiss nicht, du kriegst von mir die Karten für das Jets – Giants-Spiel, Kleiner.«

Donnerstag kam Angelo nicht, doch am Freitag tauchte er zur üblichen Zeit auf. Nachdem er das Pfund Shrimps bestellt hatte, sagte er zu Mickey: »Ach ja, was ich noch fragen wollte, hast du die Quoten für die Spiele am Sonntag?«

»Ich hab noch nicht angerufen«, sagte Mickey und hoffte, dass Angelo nicht wieder wetten wollte.

»Nicht? Na, wenn du anrufst, setz für mich darauf.« Und Angelo schob einen gefalteten Zettel über den Tresen.

»Darüber wollte ich mit Ihnen reden«, sagte Mickey. »Ich muss meinen Bookie bezahlen, bevor ich für Sie neue Wetten abgeben kann.«

»Aber die Chargers haben verloren«, sagte Angelo.

»Ich weiß.«

»Was willst du damit sagen? Soll das heißen, du gibst mir keine Chance, das wieder auszugleichen?«

»Das liegt nicht an mir«, sagte Mickey.

»Hör zu. Ich kann jetzt echt keine Kopfschmerzen gebrauchen, klar?«, sagte Angelo. »Ich kümmere mich gerade um ein Problem mit so ’ner Landschaftsbaufirma. Die wildert in unserem Revier, und jetzt muss ich die Angelegenheit regeln. Du kannst dir also vorstellen, dass mir wichtigere Dinge durch den Kopf gehen als eine [16] beschissene Footballwette für fünfzig Dollar. Also sei einfach ein braver Junge und mach diese Wette für mich, bevor ich die Geduld mit dir verliere.«

Mickey sah sich den Zettel erst an, als Angelo weg war. Angelo hatte Wetten für vier verschiedene Spiele notiert. Zusammengenommen beliefen sich die neuen Wetten auf 138 Dollar.

Charlie, der am anderen Ende des Ladens gearbeitet hatte, kam zu Mickey und fragte: »Was war denn da los?«

»Nichts«, sagte Mickey und ging durch die Doppeltür nach hinten, um allein zu sein.

Mickey wusste nicht, was er machen sollte. Weder wollte er für Angelo weitere Wetten abgeben noch auf den Wettschulden sitzenbleiben. Wenn er die Wetten nicht platzierte und die Mannschaften gewannen, würde Angelo seinen Gewinn verlangen, und Mickey müsste ihn aus eigener Tasche bezahlen.

Am Ende beschloss Mickey, die Wetten abzuschließen. Es ging ja nur um 138 Dollar, und wahrscheinlich war Angelo kreditwürdig.

Am Sonntag drückte Mickey Angelos Teams die Daumen, doch es nützte nichts. Nur eine von Angelos Mannschaften gewann, und er hatte jetzt insgesamt 140 Dollar Schulden.

Montagnachmittag betrat Angelo den Laden, als Charlie Mittagspause machte und gerade keine anderen Kunden da waren. Er erzählte Mickey eine Geschichte über einen Freund von ihm, »auch einer von unseren Leuten«, erwähnte die Wetten aber nicht. Als Mickey seinen Einkauf kassierte, sagte Angelo: »Herrje, hätte [17] ich fast vergessen«, und griff in die Innentasche seines Jacketts, aus der Mickey den schwarzen Griff einer Waffe ragen sah. Hinter der Knarre zog Angelo einen zusammengefalteten Zettel hervor.

»Egal wie die Quoten sind«, sagte Angelo und reichte den Zettel Mickey. »Schließ die einfach für mich ab, okay, Kleiner?«

Angelo ging und zündete sich vor dem Laden eine Zigarette an, als seien Sorgen für ihn ein Fremdwort. Mickey sah sich den Zettel an:

20 MAL AUF FALCONS WENN ÜBER

20 MAL AUF FALCONS

20 MAL AUF ÜBER

»Scheiße«, sagte Mickey.

Die Gebühr des Bookies mit eingerechnet, beliefen sich die neuen Wetten auf 330 Dollar. Falls er verlor, wäre Angelo mit 470 Dollar in den Miesen.

Mickey konnte es sich zwar nicht leisten, so viel Geld vorzuschießen – er hatte nur etwa zweitausend Dollar auf der Bank, und die waren für seine Lebenshaltungskosten, wenn er im Herbst aufs College ging –, wusste aber, dass er die Wetten dennoch abschließen musste. Sollten die Wetten Erfolg haben, würde Angelo seinen Gewinn erwarten, und Mickey bliebe nichts anderes übrig, als ihn zu bezahlen.

Abends um acht rief Mickey Artie an, um die Quote für das Spiel zu erfahren. Er kannte Artie schon ewig – seit mindestens zehn Jahren. Als Mickey noch klein [18] war, hatte sein Vater ihn fast jeden Samstag mit auf die Rennbahn genommen. Artie war Stammgast auf dem Aqueduct Racetrack, hielt sich meist im Erdgeschoss unter der Anzeigetafel auf, in der Nähe des Bagelstands. Artie war nicht selbst Buchmacher; er arbeitete für einen Buchmacher, einen gewissen Nick, dem Mickey vielleicht ein-, zweimal begegnet war. Auf der Junior High und der Highschool vertickte Mickey für Artie in seinen Kursen Football-Wettscheine. Auf diesen Scheinen standen Profi- und Collegespiele mit Quoten, die deutlich das Haus bevorteilten. Artie zahlte Mickey zehn Prozent des Gewinns, was meist auf etwa fünfzig Dollar pro Woche hinauslief.

»Die Quote ist 12, 43«, teilte ihm Artie mit. »Steigt schon den ganzen Tag. Heute Abend wetten alle auf die Skins.«

Er sagte, dauernd riefen Leute an und er könne nicht lange reden, deshalb schloss Mickey sofort Angelos Wetten auf die Falcons ab.

»Wer ist dieser Angelo überhaupt?«, fragte Artie.

Mickey war es peinlich, Artie zu gestehen, dass er den Mann kaum kannte.

»Freund von mir.«

»Und er hat die Knete?«

»Klar«, sagte Mickey überzeugt.

»Angelo weiß, dass er bis Freitag bezahlen muss, falls er verliert.«

»Das weiß er.«

»Bist du dir da sicher?«

»Na sicher bin ich mir sicher.«

[19] An diesem Abend lief John Riggins hundert Yards mit dem Ball, und die Washington Redskins schlugen die Atlanta Falcons mit 27 zu 14. Angelo hatte alle seine Wetten verloren und schuldete Mickeys Buchmacher jetzt 470 Dollar.

Am nächsten Morgen war Mickey mies drauf. Als Mrs. Ruiz den Laden betrat und fragte: »Haben Sie Muscheln?«, hatte Mickey keine Lust auf das Spielchen und fuhr sie an: »Na klar haben wir Muscheln. Wie viel wollen Sie denn?« Den Rest des Tages war er mit den Gedanken nicht bei der Sache und verbockte ein paar Bestellungen – einer Kundin gab er Butt- statt Flunderfilets, einem Mann, der Königsmakrele verlangt hatte, gab er Butterfisch, und anstelle von Miesmuscheln füllte er Venusmuscheln in eine Tüte. Mickeys Chef Harry warnte ihn, er solle sich endlich am Riemen reißen, sonst werde er ihn »auf Dauerurlaub« schicken.

Harry Giordano war der eine Besitzer von Vincent’s Fish Market, der andere war sein Bruder Vincent, der in Florida wohnte. Harry hatte einen mächtigen Bierbauch, einen buschigen Schnauzbart und war einer der größten Deppen, die Mickey kannte. Mickey nahm an, dass Vincent das Startkapital für den Laden bereitgestellt hatte, da Harry nie und nimmer schlau genug war, um Geld für ein eigenes Geschäft zusammenzusparen. Außerdem hieß der Laden Vincent’s Fish Market, nicht Harry’s Fish Market, ja, nicht einmal Giordano’s Fish Market.

Als Mickey im Fischladen anfing, hätte er nicht gedacht, dass er länger als ein paar Wochen dort arbeiten [20] würde. Mickey war empfindlich, was die Größe seiner Nase betraf – wenn er sich in dem dreiteiligen Spiegel im Umkleideraum von Alexander’s betrachtete, staunte er manchmal, wie groß sie war –, und Harry riss ständig Witze darüber, am liebsten vor anderen Leuten. Eines Tages wollte ein Kunde etwas bestellen, und Mickey, der gerade mit jemand anderem sprach, hatte ihn nicht gehört. Darauf sagte Harry: »He, Pinocchio, bedien du den Mann.« Ein anderes Mal, in einer ähnlichen Situation, sagte Harry: »He, Bibo, nimm deinen Schnabel aus den Wolken, ja?« Das Schlimmste daran war, dass Mickey sich nicht wehren konnte, weil Harry sein Chef war. Nur zu gerne hätte Mickey Witze über Harrys fetten Bierbauch gerissen, wusste aber, dass Harry ihn dann gleich entlassen würde. Zwar hätte sich Mickey einen anderen Job suchen können, doch er verdiente in dem Fischgeschäft gutes Geld – 7.50 die Stunde –, und er hatte keinen langen Arbeitsweg, nur sechs Blocks. Deshalb ignorierte Mickey Harrys Beleidigungen jedes Mal einfach, und hoffte, dass Harry es irgendwann leid war, sich wie ein Arsch zu benehmen, und ihn in Ruhe ließ.

Harry hatte keine festen Arbeitszeiten. Gewöhnlich betrat er den Laden nur, um ihn auf- und wieder abzuschließen, doch manchmal blieb er auch den ganzen Tag.

Heute ging Harry gegen elf, und da kaum Kunden in den Laden kamen, lungerte Mickey die meiste Zeit nur herum, las die Daily News und quatschte mit Charlie.

Um eins ging Charlie Mittag essen. Gegen Viertel nach eins spazierte Angelo herein.

»Das Übliche«, sagte er zu Mickey, und dann: »Weißt [21] du was? Ich glaube, ich brauch mal ein bisschen Abwechslung. Wie sind die Bratfischbrötchen?«

»Ziemlich lecker«, sagte Mickey.

»Ja? Gib mir zwei«, sagte Angelo.

Während Mickey die Kabeljaufilets in der Pfanne briet, spürte er, wie sich an seinem Rücken der Schweiß sammelte. Ihm war egal, ob Angelo in der Mafia und bewaffnet war. Er wollte seine 470 Dollar haben.

»Wegen Ihren Wetten«, begann Mickey, als er die Brötchen in eine Papiertüte steckte. »Sie wissen, dass Sie jetzt mit 470 in der Kreide stehen.«

»Tatsächlich?«, sagte Angelo ungerührt. »Jetzt verstehe ich, warum du Buchprüfer werden willst – du kannst wirklich gut mit Zahlen umgehen.«

Angelo putzte sich mit einem Taschentuch die Nase, dann steckte er das Taschentuch wieder in die Jacketttasche seines Nadelstreifenanzugs.

Mickey lächelte, aber nur aus Nervosität. Die Aussicht, eventuell auf 470 Dollar Schulden sitzenzubleiben, fand er überhaupt nicht komisch.

»Jedenfalls«, sagte Mickey, »bin ich ziemlich knapp bei Kasse und hatte gehofft, heute, na ja, einen Teil des Geldes zu bekommen.«

»Du kriegst das Geld«, sagte Angelo. »Mach dir deswegen keinen Kopf. Wofür hältst du mich, für einen Dieb?«

Angelo sah Mickey finster an, dann nahm er die Tüte mit den Fischbrötchen und stolzierte zur Kasse. Es standen noch ein paar andere Leute an, doch Mickey ließ [22] sie stehen, kam hinter dem Tresen hervor und trat auf Angelo zu.

»Es tut mir leid, Angelo, wirklich, aber ich muss wissen, wann Sie mir das Geld bringen wollen. Nicht wegen mir, wegen meinem Bookie. Ich hab bei ihm ein Limit von 250 Dollar, und da liegen Sie schon weit drüber. Er hat gesagt, er muss sein Geld bis Freitag haben.«

»Muss?« Angelos Gesicht lief puterrot an. »Hast du gerade muss gesagt? Ich muss gar nichts außer sterben. Ist das klar?«

»Ja«, sagte Mickey.

»Ich hab gesagt, du kriegst das Geld, oder?«

»Wann?«

»Wenn ich es dir gebe«, sagte Angelo.

»Kein Problem«, sagte Mickey. »Mir ist das eh egal. Wie gesagt, ist nicht wegen mir, sondern wegen meinem Bookie. Für den sind Sie nur ein Name, wie jeder andere Name auch, und –«

»Sag deinem Bookie, wenn es um Angelo Santoros Wetten geht, stellt er selbst die Regeln auf und kein anderer. Bevor dein Bookie Geld sieht, will ich die Chance haben, meine Verluste auszugleichen. Donnerstagabend gehe ich zu dem Knicks-Spiel. Ich setze hundert Mal auf die Knicks.«

»Das sind noch mal 550 Dollar«, sagte Mickey.

»Das weiß ich selber, verdammt.«

»Ich kann für Sie nichts mehr setzen, unmöglich.«

»Unmöglich?«, sagte Angelo. »Du hast mich wohl nicht richtig verstanden, sonst würdest du nämlich nicht [23] ›unmöglich‹ zu mir sagen. Besser, du schließt diese Wette für mich ab, sonst kannst du dir die Gänseblümchen von unten ansehen.«

Donnerstagabend war Mickey nicht in der Stimmung, bowlen zu gehen, doch ihm blieb nichts anderes übrig. Mickey, Chris und zwei von dessen Freunden, Ralph und Filippo, spielten in der Bowlingbahn Gil Hodges Lanes in Canarsie in einer Amateurliga. Zu Beginn der Saison musste jeder fünfzig Dollar einzahlen, und wenn ihre Mannschaft Meister würde, würden sie zweihundert pro Nase gewinnen.

Als Mickey mit seinem Ball in der Bowlingbahn eintraf, hatte er schon seine Spielkleidung an, ein übergroßes T-Shirt mit dem Namen ihres Teams – ›The Studs‹, die Hengste – in Schreibschrift quer über der Brust. Der Mannschaftsname war Chris’ Idee gewesen, und Mickey kam sich jedes Mal wie ein Vollidiot vor, wenn er das T-Shirt trug.

Chris, Filippo und Ralph warteten schon an der Schuhausleihe auf Mickey. Chris und Filippo arbeiteten zusammen bei Waldbaum’s, dem Supermarkt an der Nostrand Avenue Ecke Kings Highway, entluden Waren und räumten sie in die Regale, und Chris und Filippo waren gute Freunde; aber Mickey war nur mit Chris befreundet.

Früher war Chris ein schüchterner, stiller Junge gewesen, der nie Schwierigkeiten machte, doch als er zehn war, haute sein Vater ab. Seine Mutter, die schon immer gern einen getrunken hatte, wurde zur Alkoholikerin, [24] und Chris geriet in der Schule in Schlägereien und wurde andauernd vom Unterricht suspendiert. Eines Abends, in den Sommerferien nach der sechsten Klasse, versuchten Chris und ein paar andere Kids einen Drugstore an der Avenue U auszurauben. Ein Junge zückte ein Messer und verletzte den Besitzer im Gesicht, woraufhin Chris zwei Jahre in den Jugendknast wanderte. Als er wieder rauskam, war er zwar immer noch klein, aber ein richtiges Muskelpaket und bald einer der beliebtesten Jungs in der Gegend. In der elften Klasse, als er den Job bei Waldbaum’s bekam, brach er die Schule ab.

Filippo war groß, etwa eins neunzig, und hatte denselben militärischen Bürstenhaarschnitt, seit er ein kleiner Junge war. Wenn er nicht gerade sein Studs-T-Shirt anhatte, lief er wie ein echter cugine herum, ein italo-amerikanischer Proll mit weißem Unterhemd und Goldkettchen. Filippo und Mickey waren noch nie miteinander ausgekommen. Im Kindergarten hatte Filippo Mickey immer gehänselt und andere Kids gegen ihn aufgehetzt. In der Grundschule hatte Filippo Mickey jedes Mal, wenn er ihm auf dem Flur begegnete, auf den Kopf geschlagen oder, so fest er konnte, auf den Arm geboxt, und ein paarmal hatte er ihn nach der Schule sogar verprügelt. Auf der Junior High zertrümmerte Filippo das Schloss von Mickeys Spind, einfach nur so, und eines Tages in der Sporthalle schlich er sich an Mickey ran und zog ihm seine Turnhose runter, und alle Mädchen lachten. Auch auf der Highschool schikanierte Filippo Mickey ständig, und Mickey war froh, als Filippo von der Schule ging, um mit Chris zusammen zu arbeiten.

[25] Ralph war älter, um die dreißig. Mickey wusste nicht viel über ihn, außer dass er wegen bewaffneten Raubüberfalls in Attica gesessen hatte und vor etwa zwei Jahren rausgekommen war. Er war ein massiger Kerl mit mehr Fett als Muskeln, und auf Rücken und Schultern wuchsen ihm schwarze Haarbüschel, die auch aus dem Halsausschnitt seines Studs-T-Shirts quollen. Seine Unterlippe hing immer runter, so dass man seine Zungenspitze und die schiefen unteren Zähne sah, und beim Atmen machte er hinten im Hals eine Art Gurgelgeräusch. Ralph war mit Filippo befreundet, und seit Chris angefangen hatte, mit Filippo abzuhängen, hing er auch mit Ralph ab. Ralph hatte noch nie ein Wort zu Mickey gesagt, und Mickey hatte ihn überhaupt nur selten reden hören, zu Filippo und Chris. Mickeys Ansicht nach war Ralph ernsthaft gestört, doch wenn er Chris darauf ansprach, sagte der immer nur: »Nö, Ralph ist einfach so.«

Mickeys Schnitt beim Bowling war 145, doch beim ersten Spiel dachte er an seine Probleme mit Angelo und war so abgelenkt, dass er nur 97 schaffte. Danach sagte Filippo zu ihm: »Ey, Mickey Maus, was ist los, steckt ein Pimmel in deinem Arsch?«

In den ersten beiden Durchgängen holte Mickey keinen einzigen Punkt, und im dritten Frame warf er zweimal in die Rinne. Als der zweite Ball aus der Bahn rutschte, brüllte Filippo: »Das reicht! Ich will diese Schwuchtel nicht mehr im Team haben! Er spielt einfach scheiße!«

Bei seinen nächsten beiden Versuchen warf Mickey [26] zwei Strikes und schloss das Spiel mit respektablen 134 Punkten ab. Vor dem nächsten Spiel ging er aufs Klo.

»Alles in Ordnung bei dir, Kumpel?«, fragte Chris, der hinter ihm das Klo betrat.

»Prima«, sagte Mickey.

»Bestimmt? Weiß auch nicht, du wirkst ziemlich neben der Spur. Was ist los, macht dein Alter wieder Zicken?«

»Nee, das ist es nicht.« Mickey hatte eigentlich keine Lust, über sein Problem mit Angelo zu reden, aber dann dachte er, es wäre vielleicht gut, sich ein wenig Rat zu holen.

Und so erzählte Mickey Chris von den Wetten, die er für Angelo abgeschlossen hatte, und von seinen Verlusten. Als Mickey verstummte, sagte Chris, der gerade vor dem Spiegel stand und versuchte, sich einen Pickel auf der Stirn auszudrücken: »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst bei dem Typ vorsichtig sein?«

»Darum geht’s nicht«, sagte Mickey. »Es geht darum, dass er viel Geld verloren hat und ich keine Ahnung hab, was ich machen soll.«

»Schwierig«, sagte Chris. »Na ja, einerseits schuldet dir der Typ das Geld. Andererseits kannst du dich nicht mit der Mafia anlegen. Du wirst wohl zahlen müssen.«

»Aber ich hab das Geld nicht.«

»Was soll das heißen? Ich dachte, du hättest was beiseitegelegt.«

»Vergiss es, das Geld spare ich fürs College, seit ich neun bin, verdammt noch mal. Das gebe ich jetzt nicht weg, nicht für diesen Scheiß.«

[27] »Dann musst du drauf hoffen, dass Angelo blecht«, sagte Chris. »Wie sieht meine Frisur aus?«

Als Chris und Mickey die Toilette verließen, kamen sie an zwei Mädchen vorbei, die in die Gegenrichtung gingen. Sie hatten enge Jeans und Tube Tops an und toupierte Lockenmähnen. Von dem schweren Geruch ihrer Parfums wurde Mickey schlecht.

»O Gott, hast du die Möpse von der Kleineren gesehen?«, sagte Chris. »Unglaubliches Paar.«

»Und wenn er nicht zahlt?«, fragte Mickey.

»Was? Gefällt sie dir nicht?« Chris sah dem Mädchen nach.

»Ich kann nicht so viel Geld rausrücken«, sagte Mickey.

»Weißt du, was ich tun würde? Ich würde mich mit Artie zusammensetzen und ihm die Lage erklären. Du kennst den doch schon ewig, stimmt’s? Vielleicht kannst du ’ne Art Ratenzahlung vereinbaren… Mann, ich muss heute Nacht echt eine flachlegen.«

Noch ein Mädchen kam vorbei, und Chris drehte sich um und stierte auf ihren Arsch.

»Hallo, Lucy«, sagte er. Als das Mädchen weiterging, fuhr er fort: »Karen… Lisa… Amy… Barbara… Helen…«

Schließlich drehte das Mädchen sich um und zeigte ihm den Stinkefinger.

»Du heißt Helen, ich hab’s gewusst«, rief Chris. »Heirate mich, Helen. Na komm, ich will ein Kind von dir!«

Chris lachte, die Zunge hing ihm aus dem Mund.

[28] »Tu mir einen Gefallen«, sagte Mickey, »erzähl das nicht den anderen.«

»Was?«

»Das mit Angelo.«

»Warum nicht?«, fragte Chris.

»Weil ich es einfach nicht will.«

»Von mir aus«, sagte Chris.

Im dritten Spiel machte Mickey 89 Punkte, das schwächste Resultat seiner Mannschaft. Falls die Studs in der nächsten Woche nicht gewannen, hatten sie keine Chance mehr, die Meisterschaft zu holen.

Als Mickey seine Bowlingschuhe am Tresen abgab, hörte er Filippo zu Chris sagen: »Ich will diese Scheißschwuchtel nicht mehr im Team haben.«

»Er wird wieder besser«, erwiderte Chris.

»Er spielt verdammt scheiße«, sagte Filippo. »Meine Großmutter im Rollstuhl kann besser bowlen als die Lusche.«

Ralph sah Mickey an, als wolle er ihn am liebsten umbringen, sein linkes Auge war zusammengekniffen und die Unterlippe hing so tief runter wie noch nie.

»Mach dir wegen denen keinen Kopf«, flüsterte Chris Mickey zu. »Das sind bloß Spastis.« Dann sagte Chris laut: »Hey, willste heute Abend noch mit uns um die Häuser ziehen? Wir gehen in ein paar Oben-ohne-Schuppen nach Manhattan, und dann fahren wir die West Side ab und suchen uns Nutten. Na los, wenn du bei den Hengsten dabei sein willst, musst du dich wie einer benehmen.«

»Nein danke«, sagte Mickey.

[29] »Reine Zeitverschwendung«, sagte Filippo zu Chris. »Hab ich dir doch schon Millionen Mal gesagt, der Typ ist ein beschissener Arschtorpedo. Wenn der eine nackte Frau sehen würde, wüsste er nicht, was er mit ihr machen soll. Stimmt’s oder hab ich recht, Mick?«

»Amüsier dich gut«, sagte Mickey zu Chris und ging.

Später, als er in seinem ramponierten 76er Pinto durch die Ralph Avenue fuhr, schaltete Mickey im Radio einen Nachrichtensender ein. Der Sportmoderator sagte, die Chicago Bulls und ihr neuer Guard Michael Jordan hätten die Knicks 121 zu 106 geschlagen, was hieß, dass Angelo Mickeys Buchmacher jetzt 1020 Dollar schuldete.

Mickey schlug mit der Faust aufs Armaturenbrett und trat das Gaspedal durch.

[30] 2

Als Mickey seine Wohnung betrat, brannte kein Licht, und sein Vater war nicht zu Hause. Was, dachte Mickey, hoffentlich nicht bedeutete, dass sein alter Herr wieder durch die Straßen irrte.

Vor ein paar Monaten war Sal Prada abends nicht nach Hause gekommen, und Mickey musste die Polizei rufen. Die fand Sal dann endlich am nächsten Morgen schlafend auf einer Parkbank in Bay Ridge, der Gegend, wo er aufgewachsen war. Es war furchtbar demütigend, als der Streifenwagen vorfuhr, alle Nachbarn standen in T-Shirts und Morgenmänteln draußen, um zu sehen, was da los war.

Mickey und sein Vater teilten sich eine kleine, schmale Wohnung im ersten Stock eines Zweifamilienhauses an der Albany Avenue. Die Wohnung hatte zwei Zimmer – Mickeys lag an einem Ende des Flurs und das seines Vaters am anderen. Dazwischen befanden sich eine winzige Küche und ein Bad, das kaum groß genug für Toilette, Waschbecken und eine Duschkabine war. Mickey konnte es nicht erwarten, endlich auszuziehen. Er hatte gehofft, noch in diesem Jahr, wenn er mit dem Studium anfing, eine eigene Bleibe zu finden, hatte aber alle seine [31] Pläne auf Eis gelegt, als sein Vater letzten Juli eines Abends am Esstisch zusammenbrach. Zuerst dachte Mickey, das habe etwas mit seiner Alzheimererkrankung zu tun, die sich im Laufe der letzten Jahre verschlimmert hatte, aber wie sich herausstellte, hatte Sal einen leichten Schlaganfall erlitten. Sal hatte weder Ersparnisse noch eine Rente – er bekam nur seine monatlichen Sozialhilfeschecks, was nicht viel war, weil er sein Leben lang meist schwarz gearbeitet hatte. Die Ärzte im Krankenhaus empfahlen, Sal in ein Pflegeheim zu geben oder ihn wenigstens zu Hause von einer Pflegekraft betreuen zu lassen, doch Sal weigerte sich. Obwohl Sal nie ein guter Vater gewesen war, wollte Mickey nicht, dass er in einem Heim dahinvegetierte, deshalb verschob er sein Studium und begann, Vollzeit in dem Fischgeschäft zu arbeiten. So könnte er wenigstens die Miete und die Rechnungen bezahlen, hatte Mickey sich überlegt, mehr hatte sein Vater auch nie für ihn getan. Er wollte kein Studentendarlehen aufnehmen und sich verschulden und hoffte, im nächsten Jahr genug Geld zusammengespart zu haben, um seine Ausgaben bestreiten zu können, wenn er tagsüber studierte und nur abends und an den Wochenenden arbeitete.

Nachdem Mickey die Reste einer Salami-Anchovis-Pizza aus dem Kühlschrank geholt und verdrückt hatte, ging er in sein Zimmer und schloss die Tür ab. In seinem Zimmer standen noch dieselben Möbel wie zu Kindertagen – eine Kommode, ein Nachttisch, ein federndes Einzelbett in der Ecke und ein Schwarzweißfernseher mit einer kaputten Bildröhre, auf dem alles [32]