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IN DIESER AUSGABE

Editorial

Geistesblitze

Blickfang

Ernährungsverhalten

Ein Tag voller Verlockungen

Ob die Farbe und Größe der Lieblingstasse oder die Reihenfolge bei der Lebensmittelzubereitung: Zahlreiche Faktoren beeinflussen unterschwellig, was wir essen und wie gut es uns schmeckt.

Von Nanette Ströbele-Benschop

Süße Rundungen

Unser Gehirn verbindet Geschmack und Form von Nahrungsmitteln miteinander. Solche crosssensorischen Assoziationen lassen sich sogar nutzen, um unsere gustatorische Wahrnehmung zu manipulieren.

Von Ophelia Deroy und Charles Spence

Mahlzeit!

Woher wissen wir, wann die nächste Mahlzeit fällig ist? Und was hält uns davon ab, uns ständig maßlos zu überfressen? Ein ausgeklügeltes System im Körper reguliert unser Hungerund Sättigungsgefühl.

Von Gilles Mithieux

Süchtig nach Zucker

Limonaden, Bonbons und Eis wirken ähnlich auf das Belohnungszentrum im Gehirn wie manche Rauschmittel. Psychologen und Hirnforscher streiten darüber, ob Zucker uns abhängig macht.

Von Irene Campagna

Interview

»Wir sind alle infiziert «

Können wir an multipler Sklerose erkranken, wenn wir Milch trinken oder Steaks essen? Der Medizinnobelpreisträger Harald zur Hausen spricht über einen beunruhigenden Verdacht.

Besser essen

Futter fürs Hirn

Die richtige Kost hält Gehirn und Psyche fit. Studien verraten, welche Nahrungsmittel unbedingt auf unserem Speiseplan stehen sollten.

Von Bret Stetka

Die Besser-Esser

Sich bewusst zu ernähren, ist nicht immer leicht. Doch ein paar Strategien helfen dabei, die guten Vorsätze einzuhalten.

Von Melanie Nees

Mehr Köpfchen durch Verzicht

Wer ab und an fastet, tut nicht nur seinem Körper, sondern auch seinem Gehirn einen Gefallen!

Von Ulrike Gebhardt

Diät der falschen Erinnerungen

Eine Rechtspsychologin erklärt, wie uns ausgerechnet die Gedächtnisforschung beim Abnehmen helfen kann.

Von Julia Shaw

Ein Training gegen Alzheimer

Mit gesunder Ernährung, mentalem Training und ausreichend Sport lässt sich dem geistigen Abbau womöglich vorbeugen.

Von Miia Kivipelto und Krister Håkansson

Essstörungen

Ist das noch gesund?

Menschen mit Orthorexie halten sich streng an selbst auferlegte Ernährungsregeln und essen nur (vermeintlich) gesunde Produkte. Handelt es sich um eine neue Form der Essstörung?

Von Katharina Schmitz

Das Hungern besiegen

Magersucht verändert das Gehirn und das Erbgut auf eine Art und Weise, die krankhaftes Ernährungsverhalten zusätzlich begünstigt. Mediziner wollen die Mechanismen dahinter verstehen – um Therapien zu entwickeln, mit denen sich der Teufelskreis leichter durchbrechen lässt.

Von Anneke Meyer

Adipositas

Zu viel ist nicht genug

Bei Übergewichtigen sieht das Gehirn anders aus. Das könnte erklären, warum es ihnen so schwerfällt, sich beim Essen zu beherrschen.

Von Annette Horstmann

Infografik

Pfund um Pfund

Immer mehr Menschen haben zu viel auf den Hüften. Wie kommt das?

Gute Frage

Macht Schlafmangel dick?

Wirkt sich ein Schlafdefizit auf unsere Figur aus? Der Verhaltensneurobiologe Manfred Hallschmid weiß die Antwort.

Schwere Sorgen

Zu viele Kilos lasten nicht nur auf der Waage, sondern auch auf der Seele. Denn zahlreiche Betroffene haben neben ihrem Gewicht ebenso mit Diskriminierung zu kämpfen.

Von Kathrin Burger

Bücher

Hirschhausens Hirnschmalz

Selbst schuld!

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EDITORIAL

Wo ein Wille ist …

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Daniela Zeibig
Redakteurin
zeibig@spektrum.de

Umfragen zufolge legen rund 90 Prozent der Deutschen Wert auf eine gesunde Ernährung. Statt zu Schokolade und Chips lieber zu Obst oder Nüssen zu greifen, ist allerdings nicht immer einfach. Vor allem, wenn die angefangene Tafel Schokolade gerade in Reichweite liegt oder es nach einem langen Arbeitstag manchmal einfach schneller geht, eine Tiefkühlpizza in den Ofen zu schieben, als eine frische Mahlzeit zuzubereiten. In der »Gehirn&Geist«-Redaktion werden die meisten von uns spätestens dann schwach, wenn der Blick beim Kaffeekochen in der Küche mal wieder auf den selbst gebackenen Kuchen eines Kollegen fällt, den dieser anlässlich seines Geburtstags dort platziert hat. Wie soll man da bloß widerstehen?

Ebendiese Frage beschäftigt nicht nur uns, sondern auch zahlreiche Wissenschaftler. Viele ihrer Erkenntnisse können uns ganz konkret dabei helfen, unseren Appetit auf Ungesundes besser zu zügeln – etwa, indem wir uns die vielen unterschwelligen Einflüsse vor Augen führen, die unser Ernährungsverhalten mitbestimmen (S. 10). Wussten Sie, dass schon die Farbe und die Größe unseres Geschirrs darüber entscheiden können, wie viel wir essen und wie gut es uns schmeckt? Oder in welcher Reihenfolge wir Jogurt und Müsli in eine Schale geben? Wie wir unsere Selbstkontrolle für solche Situationen stärken und uns gesund essen sogar zur Gewohnheit machen können, erklärt die Soziologin und Wissenschaftsjournalistin Melanie Nees ab S. 46.

Letztlich tun wir mit der richtigen Ernährung nicht nur unserem Körper im Allgemeinen einen Gefallen, sondern auch unserem Gehirn und unserer Psyche. Eine mediterrane Kost aus Früchten, Gemüse, Getreide und Fisch stärkt Studien zufolge unsere geistigen Fähigkeiten, lindert psychische Erkrankungen (S. 38) – und kann gemeinsam mit Sport und mentalem Training vielleicht sogar Alzheimer vorbeugen (S. 62). Und dafür lohnt es sich dann auch, den Kuchen der Kollegen ab und an mal in der Küche stehen zu lassen.

Viel Spaß beim Lesen wünscht Ihnen

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GEISTESBLITZE

Sozialverhalten

Ein Rezept für mehr Vertrauen

Wer das Gleiche wie wir auf den Teller bekommt, wirkt auf uns vertrauenswürdig. Darauf lässt eine Versuchsreihe von Kaitlin Woolley und Ayelet Fishbach von der University of Chicago schließen. Die Forscherinnen hatten ihre Probanden paarweise ins Labor gebeten und sie angewiesen, entweder gleiche oder unterschiedliche Süßigkeiten zu verspeisen – vorgeblich, um diese für ein Marktforschungsprojekt zu testen. Anschließend spielten die Teilnehmer ein Wirtschaftsspiel, bei dem es zu entscheiden galt, seinem Partner einen frei wählbaren Geldbetrag anzuvertrauen, der diesen anschließend investieren, verdoppeln und einen Teil davon zurückzahlen konnte. Hatte der Mitspieler zuvor von der gleichen Süßigkeit genascht, überließen die Teilnehmer ihm schließlich mehr Geld und fühlten sich ihm näher, wie eine anschließende Befragung offenbarte. Auch bei einer Verhandlung arbeiteten beide Parteien besser zusammen, wenn sie das gleiche Essen vorgesetzt bekamen.

Selbst Produktempfehlungen schenkten Probanden mehr Vertrauen, wenn der Werber die gleiche Nahrung konsumierte wie sie selbst. Das bewiesen Woolley und Fishbach in einem weiteren Experiment, bei dem sie ihren Versuchsteilnehmern Videos vorspielten, in denen jemand etwa ein Computerprogramm oder ein Reinigungsmittel anpries. Da es sich bei den Aufnahmen angeblich um Amateurfilme handelte, die in heimischer Umgebung gedreht wurden, schien es auch nicht weiter ungewöhnlich zu sein, dass der Protagonist – in Wirklichkeit ein Assistent der beiden Forscherinnen – nebenbei einen Schokoriegel aß. Hatten die Probanden die Süßigkeit vor Versuchsbeginn ebenfalls kosten dürfen, schätzten sie die Meinung des Rezensenten auch als zuverlässiger ein.

Woolley und Fishbach glauben, dass wir den Verzehr einer ähnlichen Mahlzeit instinktiv als Hinweis auf eine besonders vertraute Beziehung interpretieren – so wie bei Liebespaaren, die sich häufig das Essen teilen. Für andere zufällige Gemeinsamkeiten, wie etwa ein T-Shirt in der gleichen Farbe zu tragen, gelte das dagegen nicht.

J. Consum. Psychol. 27, S. 1–10, 2017

Übergewicht

Urteil der Eltern lastet auf der Waage

Halten Eltern ihre Kinder für übergewichtig, legen diese im Lauf ihres Lebens tatsächlich mehr zu, berichten Eric Robinson von der University of Liverpool und Angelina Sutin vom Florida State University College of Medicine. Sie werteten die Daten von mehr als 2800 australischen Familien aus. Im Zuge der Untersuchung erfassten Forscher Gewicht und Größe der Kinder, als diese zwischen vier und fünf Jahre alt waren. Außerdem befragten sie die Eltern, wie sie das Gewicht ihrer Kinder einschätzten.

Zehn Jahre später maßen und wogen die Wissenschaftler die Kinder erneut. Hatten die Eltern ihre Sprösslinge bereits früh als zu dick empfunden, brachten diese als Teenager mehr Kilos auf die Waage als die Kinder von Eltern, die ihren Nachwuchs für normal schwer hielten. Das galt für Jungen wie Mädchen und zeigte sich unabhängig von anderen Faktoren wie dem Einkommen und den Körpermaßen der Eltern. Auch das Startgewicht der Kinder zu Beginn der Studie spielte keine Rolle.

Robinson und Sutin vermuten, dass die Wahrnehmung der Eltern sich auch auf Körpergefühl und Verhalten des Nachwuchses auswirkt. Wie Befragungen unter den Teenagern belegen, nahmen die Jugendlichen ihren Körper selbst ebenfalls als problematischer wahr, wenn die Eltern sie für dick hielten, und sie gaben häufiger an, bereits Diätversuche unternommen zu haben. Ob die Eltern auf diese Weise wirklich dazu beitragen, dass ihre Kinder stärker zunehmen, lässt sich aus den Daten nicht ableiten. Es könnte aber sein, dass sie durch die damit verbundene Stigmatisierung ihren Kindern ungewollt schaden, meinen die Forscher.

Psychol. Sci. 28, S. 320–329, 2017

Kopfschmerz

Diät gegen Migräne

Eine Ernährungsumstellung kann möglicherweise helfen, Kopfschmerzattacken zu lindern. Das legt zumindest eine Studie von Cherubino di Lorenzovon der Universität Rom und seinen Kollegen nahe. 96 übergewichtige Frauen, die regelmäßig unter Migräne litten, unterzogen sich dafür zwei verschiedenen Däten: Die eine Hälfte der Frauen aß einen Monat lang fett- und proteinreich, aber kohlenhydratarm (»ketogene Diät«). Darauf folgte eine fünfmonatige Phase, während der sich dieselben Probandinnen gemischt, aber kalorienarm ernährten. Die übrigen Versuchspersonen erhielten hingegen von Anfang an über sechs Monate hinweg lediglich eine kalorienreduzierte Kost.

Zahl und Ausmaß der Migräneanfälle nahmen in beiden Gruppen ab. Bei den Frauen, die zunächst eine ketogene Diät machten, fiel der Rückgang jedoch stärker aus: Während die Probandinnen zuvor im Mittel fünf Tage im Monat unter Kopfschmerzattacken litten, war dies in dem Monat, in dem sie sich vor allem fett- und proteinreich ernährten, im Schnitt nur an weniger als einem Tag der Fall. Als sie nach dem ersten Monat zur normalen Diät wechselten, häuften sich die Attacken wieder; ihre Zahl blieb allerdings weiterhin unter dem Ausgangsniveau.

Warum die ketogene Kost Migräneanfälle minderte, ist noch unklar. Prinzipiell sorgt sie dafür, dass der Körper effizienter mit seinen Ressourcen umgehen muss: Er wird durch die Ernährungsumstellung in eine Art leichten Hungermodus versetzt. Dadurch verringert sich etwa der oxidative Stress, der beispielsweise Zellen angreifen kann. Eine ketogene Ernährung hat allerdings auch Nachteile. Sie kann zumindest anfänglich müde machen und Übelkeit auslösen; außerdem verursacht sie einen typischen Mundgeruch.

Eur. J. Neurol. 22, S. 170–177, 2015

Naschen

Achtsam essen mindert spätere Lust auf Kekse

Kekse, Kuchen, Schokolade: Besonders am Nachmittag überfällt so manchen die Lust auf Süßes. Den Heißhungerattacken lässt sich jedoch vorbeugen, wie Lana Seguias und Katy Tapper von der University of London schildern: Wer sich beim Mittagessen mit allen Sinnen auf die Speisen konzentriert, kann süßem Gebäck am Nachmittag besser widerstehen.

Unter dem Vorwand, Geschmacksvorlieben zu untersuchen, servierten die Psychologinnen rund 50 Versuchspersonen zunächst ein Mittagsmahl: ein Vollkornkäsesandwich, Tomaten, Trauben, Cracker und kleine Kuchen. Zirka 800 Kilokalorien nahmen die Probanden auf diese Weise zu sich. Die eine Hälfte speiste in Stille, die andere Hälfte hörte dabei eine Audioaufnahme, die ihre Aufmerksamkeit auf sensorische Merkmale des Essens wie Aussehen, Konsistenz und Geruch lenkte. Zwei Stunden später sollten alle Probanden Fragen unter anderem dazu beantworten, was ihnen vom Mittagessen in Erinnerung geblieben war, und bekamen jeweils einen Teller mit Gebäck angeboten.

Bei jenen Probanden, deren Aufmerksamkeit man auf die sinnlichen Qualitäten des Essens gelenkt hatte, war die Lust auf Kekse deutlich gemindert. Sie nahmen rund 110 süße Kilokalorien zu sich, die übrigen im Schnitt ganze 200 Kilokalorien. Die Gruppen unterschieden sich nicht darin, wie gut sie sich an das Mittagessen erinnerten, etwa die Menge oder die Art der Speisen. Und es machte auch keinen Unterschied, ob es sich bei den Versuchspersonen um Frauen oder Männer handelte.

Mit allen Sinnen zu essen, hatte das spätere Bedürfnis nach einem Snack also nahezu halbiert. Das Experiment gibt aber keinen Aufschluss darüber, wie der Effekt genau zu Stande kommt. Außerdem kann man derzeit noch nicht erklären, warum sich das achtsame Essen nicht schon direkt während des Mittagessens auf die Menge der verspeisten Nahrung auswirkte.

Appetite 121, S. 93–100, 2018

Gedächtnis

Kognitive Einbußen durch zu viel Salz

Ein hoher Salzkonsum führt bei Mäusen zu kognitiven Defiziten, entdeckten Neurowissenschaftler um Costantino Iadecola vom Weill Cornell Medical College in New York. Im Rahmen eines Experiments setzte das Team dem Futter von Mäusen über einen längeren Zeitraum hinweg regelmäßig rund vier bis acht Prozent Kochsalz zu. Das entspricht etwa der 8- bis 16-fachen Salzmenge, die die Nager normalerweise zu sich nehmen – ein Wert, den auch menschliche Salzfans durchaus erreichen können, wie die Forscher schreiben.

Bereits vier Wochen nach Beginn der salzhaltigen Ernährung beobachteten Iadecola und seine Kollegen, dass das Gehirn der betroffenen Tiere weniger mit Blut versorgt wurde. Weitere acht Wochen später konnten die Nager schlechter als zuvor ihnen bekannte von unbekannten Gegenständen unterscheiden, zudem litt ihr Orientierungssinn. Mäuse, die Futter ohne künstlich erhöhten Salzgehalt erhalten hatten, zeigten dagegen keine Auffälligkeiten.

Die Wissenschaftler entdeckten außerdem Hinweise darauf, dass besonders salzhaltige Kost die Anzahl spezieller T-Helferzellen im Dünndarm erhöht. Diese Immunzellen schütten den entzündungsfördernden Signalstoff Interleukin-17 aus, der sich daraufhin im Blutplasma anreichert und die Funktion der Endothelzellen stört, welche die Innenseite der Blutgefäße auskleiden und beispielsweise bei der Regulation des Blutdrucks eine wichtige Rolle spielen. Beim Menschen, so spekulieren die Forscher, könnte Salz womöglich ähnliche Auswirkungen haben. Auch die Endothelzellen, die sich im menschlichen Gehirn befinden, reagieren empfindlich auf Interleukin-17, wie weitere Experimente des Teams zeigten. Schon in der Vergangenheit konnten Studien eine sehr salzreiche Ernährung bei Menschen mit Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfällen in Verbindung bringen. Welche Langzeitfolgen zu viel Salz auf der Speisekarte hat, ist aber noch unklar. Nat. Neurosci. 21, S. 240–249, 2018

BLICKFANG

Tierische Gelüste

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MIT FRDL. GEN. VON LAURA LOSCHEK, MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR NEUROBIOLOGIE

In der Schwangerschaft verändert sich die Reaktion auf bestimmte Gerüche und Geschmäcker mitunter drastisch. Das ist nicht nur beim Menschen so. Forscher des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried haben am Beispiel von Drosophila melanogaster einen Mechanismus entdeckt, über den eine Befruchtung Sinneszellen verändert und so die Wahrnehmung wichtiger Nährstoffe beeinflusst. Sie konnten zeigen, dass Taufliegenweibchen nach der Paarung deutlich mehr so genannte Sex-Peptid-Rezeptoren an ihren Geschmacks- und Geruchsnervenzellen aufweisen. Die vorübergehende Vermehrung der Rezeptoren sorgt dafür, dass befruchtete Tiere buchstäblich auf bestimmte Stoffe, die Polyamine, »fliegen«. Diese Substanzen, die vor allem in überreifem Obst vorkommen, steigern die Wahrscheinlichkeit für gesunden Nachwuchs. Die Aufnahme oben zeigt zwei verschiedene Typen von Geschmacksneuronen auf dem Bein einer Taufliege – Insekten schmecken mit ihren Füßen. Pink leuchten jene Nervenzellen, die auf die Wahrnehmung von Polyaminen spezialisiert sind. Die türkisfarbenen Strukturen sind Bittergeschmacksneurone, die dafür sorgen, dass die Fliege Polyamine und andere Stoffe im richtigen Verhältnis aufnimmt.

Hussain, A. et al.: Neuropeptides Modulate Female Chemosensory Processing upon Mating in Drosophila. In: PLoS Biology 14, e1002455, 2016

ERNÄHRUNGSVERHALTEN

Ein Tag voller Verlockungen

UMWELTEINFLÜSSE Warum essen wir so oft, was wir eigentlich gar nicht wollen? Stimmung und Situation beeinflussen in hohem Maß, wie wir uns ernähren – und wie gut es uns schmeckt.

VON NANETTE STRÖBELE-BENSCHOP

UNSERE EXPERTIN

Nanette Ströbele-Benschop ist Professorin für molekulare und angewandte Ernährungspsychologie an der Universität Hohenheim.

Auf einen Blick: Warum wir essen, was wir essen

1 Eine Vielzahl an Faktoren beeinflusst unser Essverhalten, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. In Gesellschaft und unter Stress etwa neigen die meisten Menschen dazu, mehr zu konsumieren. Aber auch die Farbe und Größe des Geschirrs sowie die Reihenfolge der Zubereitung spielen eine Rolle.

2 Solche Umwelteinflüsse machen es mitunter schwer, gute Vorsätze einzuhalten. Das Wissen um diese Effekte kann jedoch jedem dabei helfen, die eigene Ernährung zu hinterfragen.

3 In manchen Fällen kann man sich die natürlichen Verhaltenstendenzen zu Nutze machen, um die Nahrungsaufnahme von Menschen mit Mangelerscheinungen und Untergewicht zu steigern.

E s ist 6.30 Uhr, und der Tag beginnt. Während ich die Snacks für den Kindergarten vorbereite, deckt mein Mann den Tisch. Eigentlich habe ich noch gar keinen Hunger – aber das gemeinsame Frühstück ist mir wichtig.

Als Professorin für Ernährungspsychologie beschäftige ich mich fast jeden Tag mit der Frage, wie, wo, mit wem und warum wir was essen. Mich interessiert vor allem, welche Faktoren aus der Umwelt unser Essverhalten mitbestimmen. Ich weiß daher viel über die alltäglichen Einflüsse und sollte ihnen gegenüber entsprechend gut gewappnet sein.

Warum also sitze ich hier am Tisch und esse eine Scheibe Brot mit Marmelade, obwohl mein schlafender Magen eigentlich noch gar nichts möchte? Ich will meinen Kindern mit gutem Beispiel vorangehen, denn ich diene ihnen als soziales Modell: So bestärken Eltern, die regelmäßig Obst und Gemüse essen, ihre Kinder darin, das ebenfalls zu tun. Daraus entwickelt sich dann (hoffentlich) eine lebenslange Gewohnheit. Nun möchte ich meinen Kindern einerseits vermitteln, dass Frühstücken sinnvoll ist, denn es scheint verschiedenen Befunden zufolge die Leistungsfähigkeit zu verbessern. Andererseits finde ich gemeinsame Mahlzeiten wichtig. Denn sie sind so viel mehr als nur eine Nahrungsaufnahme, sondern auch ein Platz, um Werte zu vermitteln, um sich auszutauschen und soziale Beziehungen zu stärken. Speisen im Kreis der Familie sind statistisch betrachtet auch reicher an Obst und Gemüse, sie erhalten mehr Ballaststoffe, Kalzium und Eisen sowie weniger Fett, Cholesterin und Natrium als jene außerhalb der Familie, wie eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2001 verdeutlichte. Eine Kohortenstudie der Harvard University in Boston mit mehr als 14 000 Mädchen und Jungen konnte zudem zeigen, dass Kinder, die nie oder nur an manchen Tagen mit der Familie zu Abend aßen, häufiger übergewichtig waren als jene, die das immer oder an den meis ten Tagen taten. Und dieser Effekt war weder auf den sozioökonomischen Status der Eltern noch auf die körperliche Aktivität der Kinder zurückzuführen.

Während unsere Kinder im Wohnzimmer spielen, schaue ich noch einmal in den Kühlschrank. Ich suche ein Mittagessen für mich, denn ich gehe nicht gerne in eine Mensa oder Kantine. Meine Wahl fällt auf Müsli mit Jogurt und Obst. Aber wir haben keine kleinen Jogurtbecher, nur große. Eigentlich egal, oder? Falsch, denn je größer der Behälter, desto mehr werde ich wohl später in die Schüssel geben. Einerseits spielt das Behältnis des Jogurts eine Rolle, andererseits auch die Schale, aus der ich esse. Je größer sie ist, desto mehr werde ich mir blindlings zubereiten. Solche Gegebenheiten, die beeinflussen, wie viel wir konsumieren, sind in vielen wissenschaftlichen Übersichtsarbeiten beschrieben.

Was kommt fast täglich auf den Teller?

89 % Brot und Brötchen

85 % Obst oder Gemüse

83 % Milchprodukte

58 % Wurst

57 % Salat

51 % Fleisch

47 % Kartoffeln

6 % Fisch

Iss was, Deutschland.

TK-Studie zur Ernährung 2017

Dass die Größe des Gefäßes die Menge steuern kann, lässt sich leicht nachvollziehen. Aber wussten Sie, dass auch die Reihenfolge der Zubereitung wichtig ist? In diversen Experimenten konnten meine Arbeitsgruppe und ich zum Beispiel zeigen, dass eine Apfelsaftschorle weniger Apfelsaft enthält, wenn Probanden zuerst Mineralwasser statt Saft in das Glas schütten. Bei Müsli und Jogurt konnten wir denselben Effekt feststellen. Je nachdem, ob ich zuerst Müsli oder Jogurt in die Schüssel fülle, werde ich zum Mittagessen mehr oder weniger Kalorien zu mir nehmen.

Doch über Kalorien sollte ich mir heute keine Gedanken machen müssen, denn mein Müsli ist schließlich ein »Fitnessmüsli«. So steht es jedenfalls auf der Packung. Ist Fitnessmüsli gesünder? Und enthält es weniger Kalorien? Vielleicht, aber Tatsachen sind eher nebensächlich, denn wir glauben automatisch, dass da, wo »fit« draufsteht, auch »fit« drin ist – und essen dann gern entsprechend mehr. Wissenschaftler um den Sportökonomen Jörg Königstorfer von der Technischen Universität München ließen 135 Studierende einen Fragebogen ausfüllen, während sie Studentenfutter naschen konnten. Probanden, bei denen die Tüte mit »Fitness Studentenfutter« beschriftet war, konsumierten mehr als jene, denen nur gewöhnliches »Studentenfutter« angeboten wurde. Gemeinsam mit dem Marketingprofessor Hans Baumgartner von der Pennsylvania State University konnte Königstorfer 2016 zudem zeigen, dass sich abnehmwillige Probanden nach dem Genuss von Fitnessprodukten weniger bewegen. Möglicherweise betrachten sie den Konsum solcher Lebensmittel als Ersatz für körperliche Aktivität.

Im Institut angekommen, wache ich so langsam auf. Dabei hilft mir die erste Tasse Kaffee des Tages. Ein Blick ins Regal zeigt mir, dass ich heute noch drei Tassen zur Auswahl habe: eine blaue, eine orange und eine braune. Ich erwähne dies, weil schon ein Buch von 1979 ein Experiment beschreibt, welches darauf hindeutet, dass uns der Kaffee je nach Farbe des Gefäßes mehr oder weniger gut schmeckt und wir ihn als verschieden heiß empfinden. Neuere Studien bestätigten den Effekt. Betina Piqueras-Fiszman, die inzwischen an der niederländischen Universität Wageningen forscht, und Charles Spence von der University of Oxford – zwei der bekanntesten Wissenschaftler auf diesem Gebiet – untersuchten vor einigen Jahren, inwiefern die Farbe des Gefäßes die Geschmackswahrnehmung heißer Schokolade beeinflusst. Am besten schnitt Schokolade aus orangen Bechern ab. Die Arbeitsgruppe konnte auch zeigen, dass Popcorn aus verschiedenfarbigen Schüsseln unterschiedlich schmeckt. Ich finde solche Phänomene faszinierend. Und entscheide mich für die orange Tasse. Absolut lecker, der Kaffee!

Aus den Augen, aus dem Sinn

Auf dem Tisch meiner Sekretärin steht heute ein Schälchen mit Erdnüssen im Schokomantel. Sie sind von einem Seminar übrig geblieben. Aus mir unerfindlichen Gründen hole ich mir jedes Mal, wenn ich daran vorbeigehe, ein paar davon. Warum? Weil sie griffbereit sind? So schön bunt aussehen? Oder weil ich wegen eines Abgabetermins für einen Forschungsantrag unter Zeitdruck stehe? Wenn man sich die wissenschaftlichen Befunde zu diesem Thema anschaut, kann man alle drei Fragen mit Ja beantworten. Brian Wansink an der Cornell University in Ithaca und seine Kollegen verdeutlichten anhand vieler Experimente, dass eine leichte Erreichbarkeit ebenso wie die Vielfalt an Lebensmitteln den Konsum erhöhen können. Die US-amerikanischen Forscher stellten einer Gruppe von Personen eine Woche lang 30 Schokopralinen auf den Schreibtisch, die diese essen durften. Bei den übrigen Teilnehmern lagerten die Leckereien entweder in einer Schreibtischschublade oder auf einem rund zwei Meter entfernten Bücherregal. Die Schale wurde täglich aufgefüllt, und jeder Proband durchlief alle drei Bedingungen. Das Ergebnis: Befanden sich die Süßigkeiten auf dem Tisch, naschten die Probanden am meisten. Am seltensten kamen sie in Versuchung, wenn die Pralinen auf dem Regal standen. Dieselbe Arbeitsgruppe entdeckte auch, dass Menschen mehr Schokolinsen essen, je größer die Farbauswahl ist.

Wie häufig kochen Sie selbst?

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GEHIRN&GEIST

Deutschland, wie es isst.
Der BMEL-Ernährungsreport 2018

6 % der Frauen und 16 % der Männer trinken täglich Softdrinks

42 % der Männer naschen vor dem Fernseher, bei den Frauen sind es 33 %

Deutschland, wie es isst.

Der BMEL-Ernährungsreport 2016