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Wim Westfield

Nur Engel fliegen höher

Roman

 

 

 

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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ebook im be.bra verlag, 2016

 

© der Originalausgabe:

edition q im be.bra verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2008

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

post@bebraverlag.de

Lektorat: Spitze Feder, Berlin-Pankow

Umschlaggestaltung: Bauer & Möhring, Berlin unter Verwendung eines Fotos der plainpicture, Tanja Luther aus der Kollektion Rauschen

ISBN 978-3-8393-2124-9 (epub)

ISBN 978-3-86124-616-9 (print)

 

www.bebraverlag.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Abkürzungen

1

»Wohin führst du mich?« Julia bleibt stehen. »Es ist stockdunkel. Außerdem kriege ich nasse Füße. Der Schnee ist schon höher als meine Schuhe.«

»Ich zeige dir etwas, das du noch nie gesehen hast«, sagt Jonas. Er nimmt ihre Hand und zieht Julia weiter, zwischen gespenstisch in den Winterhimmel ragenden Eichen in die Ruine einer großen, alten Kirche hinein. Sie hat kein Dach und der frische Schnee fällt auf den Boden und die Reste des steinernen Altars.

Nirgendwo Licht. Ihre Augen gewöhnen sich langsam an das Dunkel.

»Wo sind wir?«

»In der Klosterruine Eldena. Caspar David Friedrich hat die Stimmung hier geliebt. Immer wieder hat er die Ruine in einsamen Winternächten gemalt.«

»Friedrich? Der Romantiker? Von dem so viel in der Hamburger Kunsthalle hängt?«

»Ich war noch nie in Hamburg. Und ich werde da wohl auch nie hinkommen. Aber hier in Greifswald hat er gelebt und gemalt. Magst du seine Bilder?«

Jonas wendet sich Julia zu, hält mit seiner Rechten weiter ihre Hand und rückt mit der Linken ihre fellumrahmte Kapuze zurecht, sodass kein Schnee mehr in ihr Gesicht fällt.

»So langsam kapiere ich, was man unter Romantik versteht«, sagt sie lächelnd. Julia wickelt ihren weißen Schal ab und legt ihn über seine vom Schnee klatschnassen Haare. Jonas versucht, sie zu küssen, doch Julia macht energisch einen Schritt zurück.

»Was bildest du dir ein? Hast du mich nur deswegen hierher gelockt?« Sie wird richtig wütend. »Bloß weil es in deinem Scheißland an der Transitstrecke keine Tankstelle gibt und du mir nachts auf einsamer Landstraße mit einem Kanister Sprit ausgeholfen hast, soll ich mich jetzt von dir küssen lassen?«

»Hier, dein Schal«, sagt Jonas nur, streift ihn vom Kopf und reicht ihn ihr.

Julia sieht sich um. Kein Mensch weit und breit. Dann blickt sie zum Himmel. Es hat aufgehört zu schneien. Zwischen Wolkenfetzen blitzen Mond und Sterne. Sie nimmt ihren Schal, hält ihn mit beiden Händen. Blitzschnell wirft sie ihn Jonas um den Nacken, zieht ihn zu sich heran und küsst ihn. Er fährt mit den Händen unter ihre Jacke und drückt sie an sich. Sie spüren die Wärme des anderen.

»Das war aber ein schneller Gesinnungswandel«, flüstert Jonas.

»Es gibt Augenblicke, in denen man nicht widerstehen kann.«

»Ich habe noch nie eine Bundi geküsst.«

»Was ist eine Bundi?«

»Eine Bundesdeutsche. Oder West-Berlinerin.«

»Ich bin weder das eine noch das andere.«

»Aber dein Auto hat doch ein West-Nummernschild.«

»Ich bin Amerikanerin.«

»Das kann nicht sein! Du sprichst akzentfrei Deutsch.«

»Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater war amerikanischer GI. Ich lebe in West-Berlin.«

»Und was treibst du nachts mutterseelenallein auf einer ostdeutschen Landstraße? Bist du eine Spionin?«

»Ja, ich bin eine Agentin in geheimer Mission.« Sie lacht. »Eigentlich fahre ich nur im Transit nach Schweden und wollte heute um Mitternacht die Fähre von Saßnitz nach Trelleborg nehmen.«

»Hast du nicht Angst, dass du Ärger kriegst, wenn du die Transitwege verlässt?«

»In Greifswald gibt es ein Interhotel. Wenn ich da ein paar Dollars lasse, darf ich für eine Nacht den Transit unterbrechen.« Zärtlich wickelt sie ihm wieder ihren Schal um den Kopf.

»Woher hast du diese exotisch schöne Haut?« Jonas streicht ihr übers Gesicht. »Das ist mir vorhin schon aufgefallen, als wir in deinem Auto saßen und uns die Straßenkarte angeguckt haben. Eigentlich hatte ich Augen nur für dich.«

»Mein Vater wurde in Kuba geboren und ist Viertelmulatte. In mir fließt ein Achtel karibisches Blut.«

»Aber deine Haare sind strohblond …«

»Die habe ich von meiner Mutter, sie stammt aus SchleswigHolstein. Der Rest ist Wasserstoffperoxid.«

»Als ich dich an der Straße stehen sah, dachte ich, du bist ein Weihnachtsengel.«

»Okay, dann bist du mein Prinz mit den schönen Augen. Als kleines Mädchen habe ich mir immer gewünscht, dass ich von einem Prinzen geraubt werde. Wohin entführst du mich jetzt?«

»Wir klettern auf die Ruine!«

»Da hinauf? In dieser Dunkelheit? Das schaffen wir nie!«

»Du musst mir vertrauen«, sagt Jonas, nimmt ihre Hand und führt sie zu einem hohen gotischen Kirchenfenster. Sie klettern auf die brusthohe Brüstung. Der Spitzbogen, in dem sie nun stehen, ist mindestens dreimal so hoch wie sie. Die Mauer ist gut über zwei Meter breit. Jonas leuchtet kurz mit einem Streichholz und findet in der rechten Seite der Fensterlaibung die schmale Öffnung. Sie hat die Form einer Schießscharte und ist gerade groß genug, dass ein Mensch sich hineinzwängen kann.

Die Öffnung führt ins Innere der Kirchenwand. Jonas tastet sich voran ins Dunkel, Julia an der Hand. Eng aneinandergepresst stehen sie in dem schmalen Geheimgang. Es ist absolut nichts zu sehen. Doch in der tausend Jahre alten Backsteinwand des Kirchenschiffs führt eine schmale, niedrige Wendeltreppe nach oben.

Jonas steigt voran. Julia hält sich an seinem Hosenbein fest und folgt ihm. Die Treppe scheint kein Ende zu nehmen und nach oben hin immer enger zu werden. Dann sehen sie über sich funkelnde Sterne. Sie wischen sich die Spinnweben aus dem Gesicht, klettern vorsichtig hinaus ins Freie und stehen in dreizehn Metern Höhe auf der frei in den Himmel ragenden Wand des Kirchenschiffs. Hier oben ist die Mauer immer noch mehr als einen Meter breit.

»Wenn wir hier runterpurzeln, sind wir beide mausetot«, sagt Julia und klammert sich an Jonas.

»Setz dich hin, dann fühlst du dich sicherer.« Jonas breitet seine Jacke hinter ihr auf dem Mauergesims aus. Ganz langsam, sich dabei an Jonas festhaltend, gleitet sie nach unten und nimmt im Schneidersitz vor ihm Platz. Mit den Händen stützt sie sich an den Kanten der gotischen Mauer ab.

»Das ist ja eine spannende Entführung«, sagt sie und lächelt ihn an.

»Ich hätte nie geglaubt, dass du mit mir hier hochkletterst.«

»Und wie viele Frauen hast du hier oben schon verführt?«

»Jeden Tag eine andere Amerikanerin.«

»Gib nicht so an. Vor wenigen Minuten hast du zum ersten Mal eine geküsst.«

»So fängt das immer an, und am Ende schubse ich sie von der Mauer.«

»Dann musst du ja viele Leichen im Keller haben.« Sie sieht vorsichtig nach unten. »Ich habe Angst.«

»Ich bin bei dir und passe auf.« Jonas kniet sich vor Julia, umfasst ihren Hals und küsst sie. Julia lässt sich auf die Mauer sinken, greift dabei Hilfe suchend ins Leere. Doch es gibt keinen Halt. Sie streckt sich rücklings aus und krallt sich mit einer Hand in den alten Backstein. Mit der anderen greift sie in Jonas’ Haar. Jonas findet den Reißverschluss ihrer Jeans.

»Nein! Nein! Bitte nicht«, fleht sie. »Wir küssen uns am Rande des Abgrunds. Ich will nicht, dass wir abstürzen.«

Doch er hat ihre Hose schon geöffnet und versucht, sie auszuziehen. Julia hebt leicht ihren Körper, damit er ihr die eng sitzende Jeans samt Slip abstreifen kann.

»Bitte nicht,« flüstert sie in sein Ohr. Sie spürt die winterliche Eiseskälte an ihrer nackten Haut, den schmelzenden Schnee auf ihren Oberschenkeln. Zugleich fühlt sie ein Kribbeln in ihrem Körper und schließt die Augen. Dann spürt sie, wie Jonas warm in sie eindringt. Sie rafft mit beiden Händen Schnee zusammen, wirft ihn wütend auf Jonas. Schließlich schiebt sie ihre frierenden Hände unter seinen Pullover. Sie winkelt ihre Beine an. Plötzlich fühlt sie sich gut und warm und beschützt. Sie presst ihren Mund auf seinen und genießt den Augenblick.

Eine kurze, heftige Wolke aus Schneegestöber fegt über sie hinweg.

Julia öffnet die Augen. »Sind wir schon im Himmel?«

»Ich bin noch nie so hoch geflogen.«

Julia strahlt ihn an und flüstert: »Nur Engel fliegen höher.«

2

»Guten Tag, Frau …«

»Christin. Christin ist mein Name«, antwortet die junge Frau und zeigt ihren Besucherausweis für die Akteneinsicht bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR.

Eine kleine, zierliche Frau, etwa fünfzig Jahre alt, im dunkelgrauen Kostüm, hat die Aufsicht im Lesesaal und mustert die Besucherin. Christin ist gut einen Kopf größer als sie, trägt eine Jeans mit horizontalen Rissen, dazu ein knappes Top in den Farben der US-Flagge, das von Spaghettiträgern gehalten wird und ein großzügiges Dekolleté freigibt. Im Bauchnabel glitzert ein Piercing.

»Bitte tragen Sie sich mit vollem Namen und Ihrer Anschrift in die Liste der Besucher ein.« Die Aufsicht führende Mitarbeiterin im Lesesaal trägt ein Namensschildchen mit der Aufschrift: Frau Tulpenmüller; Bereich Akteneinsicht.

Christin sieht sich verunsichert um und versucht, sich ein Bild von dem Raum zu machen. Der Lesesaal der BStU liegt in der oberen Etage eines Plattenbaues aus DDR-Zeiten und hat die Größe eines Klassenzimmers. In zwei Reihen stehen je acht Tische mit je zwei Stühlen hintereinander. Aus den Fenstern hat man einen weiten Blick über das Zentrum des ehemaligen Ostteils von Berlin. Fast zum Greifen nahe liegt der Fernsehturm.

»Bitte tragen Sie sich hier ein«, wiederholt Frau Tulpenmüller. Christin nimmt den Kuli, beugt sich über den Tisch mit demBesucherbuch und schreibt ihren Namen hinein. Mit einem missbilligenden Blick registriert Frau Tulpenmüller, dass die Schlitze an ihrer Jeans dabei weit aufklaffen.

»In dieser Broschüre finden Sie ein Verzeichnis aller gängigen Abkürzungen, die die Stasi damals intern verwendete. Das werden Sie brauchen, wenn Sie die Akten einsehen. Bitte suchen Sie sich einen Platz aus.«

Christin sieht sich wieder um. Vorn im Raum sitzt ein junger Mann mit kurzem Haar und moderner runder Brille. Er blättert zügig durch Aktenordner und hackt auf einem Laptop herum. Könnte ein Journalist sein, denkt sie. Am Tisch rechts neben ihm hat sich eine einfach gekleidete Frau mit grauem Haar platziert. Auch sie blättert in Akten, macht sich auf einem Blatt Notizen und hält in der linken Hand ein Taschentuch, mit dem sie sich Tränen aus dem Gesicht wischt.

»Ich gehe ganz nach hinten«, sagt Christin. Sie wählt die helle Ecke vor den Fenstern und wirft einen Blick auf den Alexanderplatz. Frau Tulpenmüller schiebt zwei Wagen herein. Auf dem ersten liegen schwarze Aktenordner verschieden hoch gestapelt, auf dem zweiten stehen sie wie in einem Bücherregal nebeneinander.

»Ist das alles für mich?«, fragt Christin unsicher.

»In Ihrem Forschungsantrag haben Sie angegeben, dass Sie nach spektakulären Fluchtfällen mit selbst gebauten Flugapparaten aus den Jahren 1987 bis 1989 suchen. Wir haben insgesamt 13 Fälle gefunden.«

»Sind die Akten namentlich sortiert?«

»Nein. Sie werden beim Lesen feststellen, dass alle Klarnamen geschwärzt sind, ebenfalls die Adressen oder andere Hinweise, die die Identität der Betroffenen preisgeben könnten. Das verlangt das Stasi-Unterlagen-Gesetz. Lediglich den ersten Buchstaben des Vornamens haben wir stehen lassen. Dadurch könnenSie sich besser orientieren beziehungsweise die Personen einem bestimmten Sachverhalt zuordnen.«

»Und wenn ich doch die ganzen Namen wissen will?«

»Das ginge nur, wenn es Ihre eigene Akte wäre. Und auch dann nur mit gewissen Einschränkungen. Doch das dürfte bei Ihnen ausgeschlossen sein, denn ich schätze, dass Sie noch in den Windeln lagen, als die Mauer fiel.«

Christin streicht mit einer Hand vorsichtig über die Aktendeckel. Alle Ordner tragen die Aufschrift OPK, dann folgen römische und arabische Ziffern. Manchmal steht darunter auch eine Jahreszahl. Sie blättert im Abkürzungsverzeichnis und findet die Erklärung: Operative Personenkontrolle des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR.

»Sie haben Ihren Forschungsantrag damit begründet, dass Sie für den Leistungskurs Geschichte Ihres Gymnasiums eine Projektarbeit über spektakuläre Fluchtfälle schreiben wollen. Das stimmt doch, oder?«

Christin nickt.

»Suchen Sie allerdings nach Akten von konkreten Personen, die Sie vielleicht kennen oder mit denen Sie verwandt sind, dann dürften Sie die Unterlagen erst einsehen, wenn Sie ein schriftliches Einverständnis der betreffenden Personen vorlegen.«

»Nein, nein. Ich mache das fürs Gymnasium. Das HeinrichHeine-Gymnasium. Es wird meine Abschlussarbeit, so wie ich es im Antrag geschrieben habe. Leistungskurs Geschichte.«

»Dann ist die Anonymisierung korrekt. Hier auf diesem Wagen finden Sie die Akten zu zwölf Fluchtfällen. Jeder Stapel beinhaltet einen Fall beziehungsweise die Unterlagen zu einer Person. Auf dem anderen Wagen liegen 21 Ordner, die alle einen einzigen Fall beschreiben. Haben Sie noch Fragen?«

»Nein.«

»Sie können sich den ganzen Tag Zeit lassen. Um 18 Uhr schließen wir. Wenn Sie dann noch nicht durch sind, können Sie gern so oft wiederkommen, wie Sie es für nötig halten. Sie dürfen aus den Akten nichts entnehmen, und Sie dürfen sie weder beschriften noch irgendwie beschmutzen, einknicken oder andersartig markieren. Darum ist es auch nicht erlaubt, hier zu essen oder zu trinken. Kaffee und einen Imbiss erhalten Sie in der Kantine eine Etage tiefer.«

Während Frau Tulpenmüller wieder am Aufsichtstisch Platz nimmt, zieht sich Christin den Wagen heran, auf dem die zwölf Fälle gestapelt liegen. Nacheinander nimmt sie sich die Ordner vor, blättert darin, als suche sie etwas Bestimmtes, und legt sie wieder zurück. Eine Stunde blättert und liest sie so. Ihr Notizzettel bleibt leer.

Als sie wieder aufsieht, schreibt der vermeintliche Journalist noch immer auf seinem PC. Von der grauhaarigen Frau sieht Christin nur zuckenden den Rücken. Sie scheint noch immer zu weinen. Frau Tulpenmüller hat ihr einen Arm um die Schulter gelegt, als wolle sie ihr beistehen.

Christin zieht den zweiten Wagen mit den 21 Ordnern zu sich heran. Auch diese Aktendeckel tragen ein Schildchen mit dem Aufdruck »OPK«, darunter jeweils ein Monat und ein Jahr. Die erste Operative Personenkontrolle beginnt im Dezember 1988. Der letzte Ordner endet im September 1989. 21 Aktenordner für zehn Monate.

Christin greift einen aus der Mitte heraus, schlägt eine Seite auf und liest:

 

Ergänzung zum Zwischenbericht des leitenden Untersuchungsorgans HA IX sowie der eingesetzten Genossen der Beobachtung und Ermittlung der HA VIII über die kriminaltechnische Spurensicherung zum Zwecke der konspirativen Observierung feindlich-negativer Kontaktaufnahme bzw. illegaler geheimdienstlicher Agententätigkeit:

 

Tatort: Hotel Europa , Praha, Hauptstadt der CSSR, Wenzelsplatz 1, Zimmer 09.

Tatzeit: 11.04.89, 18.59 Uhr bis 12.04.89, 10.31 Uhr

 

Als Beweismittel im Rahmen der Spurensicherung wurde außerdem das Bettlaken (Farbe weiß), welches in o. g. Hotelzimmer im o. g. Zeitraum von den Verdächtigen benutzt wurde, sichergestellt. O. g. Bettlaken zeigt im mittleren Bereich diverse Flecken, die auf die Ausübung des Geschlechtsverkehrs zwischen beiden Verdächtigen hindeuten. Als operativ relevante Beweisstücke konnten auf dem Bettlaken vorhandene Schamhaare kriminaltechnisch sichergestellt werden.

Nach erster visueller Einschätzung der zuständigen Genossen der HA VIII stammen die dunkleren Schamhaare von der aus dem NSW angereisten Verdächtigen J., die helleren sind sehr wahrscheinlich dem Verdächtigen DDR-Bürger J. zuzuordnen. Hierbei ist von besonderer politisch-operativer Relevanz, daß die feindlich-negative männliche Person J. sich zu gegebener Zeit theoretisch nicht in der CSSR aufhalten konnte, da seit Dezember 1988 seitens der zuständigen Abteilung VI des MfS für den Verdächtigen J. eine totale Reisesperre in alle sozialistischen Länder besteht. Die operativ relevante Zuordnung der Schamhaarproben zu dem feindlich-negativen J. ist mit allen zur Verfügung stehenden kriminaltechnischen und konspirativen Mitteln und Methoden herauszuarbeiten.

Zusätzlich sind die Ergebnisse der fototechnischen Observierung des Hotelzimmers sowie die Abhörprotokolle der operativen akustischen Überwachung mittels Magnettonband hinzuzuziehen.

Sollte sich herausstellen, daß der Verdächtige J. trotz bestehender Reisesperre sich illegal in der befreundeten CSSR aufhielt, ist zu prüfen, ob:

a.) im Rahmen des großzügigen visafreien Reiseverkehrs zur CSSR seitens der zuständigen Genossen der Passkontrolleinheit an einer GÜST ein schwerwiegender Kontroll-Fehler begangen wurde oder

b.) der Verdächtige J. auf illegalem Wege die Staatsgrenze DDR-CSSR passiert hat und dadurch einen nach den Gesetzen der DDR juristisch relevanten Straftatbestand geschaffen hat.

 

Die von den operativ tätigen Genossen am Tatort sichergestellten Schamhaar-Proben sind dem Zentralen Medizinischen Dienst des MfS in Bad Saarow zur biochemischen Untersuchung und Erfassung der Daten weiterzuleiten. Abschließender Bericht ergeht an die zuständigen Genossen folgender Abteilungen …

 

Christin klappt den Ordner zu. Sie tastet unter dem Stuhl nach ihrer Umhängetasche, um sich eine Zigarette herauszuholen. Da fällt ihr ein, dass sie ihre Tasche beim Betreten der Behörde in ein Schließfach legen musste. Ihre Hände schweben mit leicht gespreizten Fingern über den vor ihr stehenden Akten, einer Pianistin ähnlich, die sich noch nicht entschieden hat, welches Stück sie spielen will. Christin greift nach dem ganz links stehenden Ordner »OPK-I/Dezember 1988«.

Die oberste Seite ist eine Art Deckblatt mit vielen verschiedenen Abkürzungen, aus denen sie nicht schlau wird. Die nächste Seite ist ein Inhaltsverzeichnis, die dritte besteht aus zwei vollkommen geschwärzten Textblöcken. Lediglich der Anfangsbuchstabe J. ist zu Beginn des oberen Blocks zu sehen. Am Anfang des unteren Blocks steht ebenfalls nur J., der Rest ist schwarz. Christin hält das Blatt gegen das Fenster, um im Gegenlicht eventuell etwas zu entziffern. Doch es handelt sich nur um eine Kopie des ursprünglich geschwärzten Blattes. Sie erkennt nichts.

Christin schlägt Blatt 4 auf und liest:

 

Kreisdienststelle Greifswald des Ministeriums für Staatssicherheit

 

Operativer Bericht über die illegale Verbindungsaufnahme der mit einem roten Pkw Golf mit Westberliner Kennzeichen im Transit reisenden USA-Bürgerin J. mit dem DDR-Bürger J., welcher bereits als feindlich-negative Person auffällig wurde, und die vorläufige Festnahme und Befragung des J. durch die MfS-Kreisdienststelle Greifswald.

 

Es poltert. Christin blickt auf. Der Journalist ist aufgestanden und hat seinen Stuhl nach hinten geschoben. Er klappt seinen Laptop zu, legt ihn in einen Aktenkoffer und geht. Die Frau vor ihr scheint immer noch zu weinen. Frau Tulpenmüller sitzt an ihrer Seite und spricht ihr leise Mut zu.

Christin schiebt den Wagen mit den zwölf Ordnerstapeln von sich. Den anderen Wagen zieht sie dicht zu sich heran, als seien diese Dokumente ihr Eigentum. Sie glaubt gefunden zu haben, was sie lange gesucht hat.

3

Julia und Jonas klettern von der Kirchenmauer und stapfen Arm in Arm in der Ruine durch den frischen Schnee.

»Lass uns einmal um den Altar gehen«, sagt Julia, »dann sind wir symbolisch verheiratet, weil wir auf diesem heiligen Boden zusammen geschlafen haben.«

Eng umschlungen gehen sie dreimal um die Reste des steinernen Altars und dann zurück durch den Park von Eldena zu ihren Autos.

»Bist du im richtigen Leben verheiratet?«, fragt Julia.

»Du?«, fragt Jonas zurück.

Julia hält plötzlich inne und deutet mit dem Kopf nach vorn.

»Mein Gott, was haben die vor?« Im fahlen Licht einer schiefen Straßenlaterne stehen ihr roter Golf und dahinter Jonas’ alter Lada-Kombi. Davor und dahinter parken je ein weiß-grüner Wartburg der Volkspolizei und ein Stück entfernt ein ziviler, ockerfarbener Wartburg. Vier uniformierte Polizisten und zwei Männer in Zivil protokollieren und fotografieren.

»Ich glaube, deine Genossen inszenieren gerade einen Agentenfilm.«

»Das sind nicht meine Genossen. Ich ahne nichts Gutes … Was machen wir, wenn die uns nicht zusammen von hier weg lassen?«

»Hast du Angst? Was können die schon wollen? Wir sind freie Bürger eines freien Landes.«

»Du ja. Ich nicht.«

»Sollte irgendwas passieren, dann wimmelst du sie ab und kommst später zu mir ins Hotel.«

»Wie heißt dein Hotel?«

»Interhotel Boddenhus in Greifswald.«

»Ich finde dich, mein Engel.«

»Ich warte auf dich, mein Prinz.«

Sie lassen einander los und spazieren betont langsam auf ihre Autos zu.

»Guten Abend, Deutsche Volkspolizei. Sind das Ihre Fahrzeuge?«

»Der rote Golf gehört mir«, antwortet Julia.

»Würden Sie uns bitte Ihren Reisepass, Ihre Einreisegenehmigung und die Fahrzeugpapiere zeigen?«

Zwei Volkspolizisten gehen mit Julia zu ihrem Wagen. Derweil drängen zwei andere Vopos und zwei Männer in Zivil Jonas zur Seite.

»Gehört der Lada Ihnen?«

»Ja.«

»Personalausweis! Fahrzeugschlüssel! Und keine Mätzchen!«

»Was wollen Sie mit meinen Autoschlüsseln?«

»Ich sagte, keine Mätzchen! Fragen stellen wir, verstanden!« Jonas registriert noch aus den Augenwinkeln, wie die Polizisten Julia die Papiere zurückgeben, sich betont höflich verabschieden und sie auffordern, loszufahren. Sie wirft einen kurzen Blick zu ihm hinüber, setzt sich in ihren Golf, schlägt die Tür zu und fährt weg.

Kaum ist der Golf verschwunden, reißt einer der Zivilen Jonas den Autoschlüssel aus der Hand und wirft ihn einem Polizisten zu. Blitzartig packen zwei Männer Jonas an beiden Armen und drängen ihn in den ockerfarbenen Wartburg, in dem ein Fahrer sitzt. Jonas sieht noch, dass einer der Polizisten seinen Lada aufschließt und sich ans Steuer setzt.

Die beiden Männer zwängen sich zu Jonas auf die Rückbank des Autos, legen ihm Handschellen an und setzen ihm eine dunkle Schweißerbrille auf. Sekunden später fährt der Wagen los, so schnell und so scharf in den Kurven, dass Jonas bald nicht mehr weiß, in welche Richtung die Reise geht. Nach vielleicht einer halben Stunde fährt das Auto in eine Halle. Jonas hört, wie sich hinter ihnen blecherne Tore schließen.

»Aussteigen!«

Sie ziehen Jonas aus dem Auto und nehmen ihm die Schweißerbrille ab. Er befindet sich in einer Garage. Er dreht sich um und sieht, dass der Fahrer des Wartburg dabei ist, das vordere Nummernschild zu wechseln. Als er bemerkt, dass Jonas zu ihm herüber sieht, dreht er schnell beide Nummernschilder um und legt sie auf den Beton.

»Weitergehen!«

Die Männer in Zivil packen Jonas an den Armen und geleiten ihn über Treppen aus der Garage in ein Gebäude. Türen werden vor ihm auf- und hinter ihm abgeschlossen. Ein Gang, dann eine schwere Eisentür, die geöffnet wird. Die Männer öffnen die Handschellen. Ehe Jonas etwas sagen oder fragen kann, ist er in einer schmalen, hohen Zelle eingeschlossen. Sie ist ungefähr vier Schritt lang und knapp zwei Schritt breit. Von der etwa vier Meter hohen Decke leuchtet spärlich eine nackte Glühbirne. Das einzige Fenster, an der Stirnseite gegenüber der Zellentür, liegt unerreichbar in etwa drei Metern Höhe. Es ist kleiner als ein übliches Kellerfenster, von innen mit dicken Gitterstäben versehen und von außen nachträglich zugemauert; eine eiserne Klappe in der Größe eines Ziegelsteins ist die einzige Öffnung nach draußen. Diese Klappe, die Luft zum Atmen in das Verlies lässt, ist angekippt. Die eiserne Zugstange, mit der man sie auf und zu machen kann, wird an der Decke der Zelle entlang, unerreichbar hoch, über der Zellentür nach außen geführt. Selbst dieser kleine Luftschacht zur Freiheit darf nur von den Wächtern geöffnet werden.

In der Zelle gibt es nichts außer einem schmalen Brett, das wie eine Sitzbank in die linke hintere Ecke eingemauert ist. Jonas will sich setzen. Es geht nicht. Er steht auf und sieht sich das Brett an. Es ist vielleicht zwölf Zentimeter breit, dreißig Zentimeter lang und in einem Winkel von 45 Grad in die Ecke gemauert. Es sieht aus wie eine Bank und lädt zum Sitzen ein, doch jeder Versuch, sich darauf niederzulassen, scheitert. Wie man sich auch bemüht, sich in die Ecke zu setzen, man berührt immer nur die vordere Kante des Brettes und rutscht ab. Ist das eine Fehlplanung oder Absicht? Jonas lässt sich auf den kalten Betonboden fallen, dreht sich auf den Rücken und starrt die Glühbirne an.

Wo befindet er sich? Sicher ist es die Stasi, die ihn hier festhält. Hinter vorgehaltener Hand hat er oft mit Freunden über die Stasi geredet, über dieses Gespenst, das die eigenen Leute im eigenen Lande einschüchtert. Doch nur wenige wussten wirklich etwas. Jonas konnte nie einordnen, was Wahrheit, was Horrorgeschichte war.

Warum haben sie ihn festgenommen? Weil er mit einer Klassenfeindin gevögelt hat? Können die das überhaupt wissen? Oder ist Julia tatsächlich eine Spionin? Sicher lassen sie ihn schmoren, damit er weich wird … Doch er weiß ja nicht mal, was er verbrochen hat. Vögeln ist doch nicht verboten? Aber mit einer Spionin? Einer sehr schönen Spionin …

»Aufstehen! Mitkommen!«

Zwei Männer in Zivil haben die Tür aufgeschlossen und stehen breitbeinig vor ihm. Sie nehmen Jonas in die Mitte und führen ihn durch einen alten Gefängnistrakt; vor einer Gittertür erhält er den Befehl: »Gesicht zur Wand! Hände auf den Rücken!«

Die Tür wird aufgeschlossen. Sie bringen ihn in eine Zelle am äußeren Ende des Gefängnisses. Hinter einem Schreibtisch sitzt ein Mann in Polizeiuniform.

»Leeren Sie alle Taschen. Jacke, Hose und was Sie sonst noch mit sich führen.«

Jonas legt Geldbörse, Notizbuch und alles, was er bei sich trägt, auf den Schreibtisch.

»Machen Sie Ihre Haare hinter die Ohren.« Der Uniformierte hinter dem Schreibtisch steht auf und leuchtet mit einer Taschenlampe in seine Ohren.

»Hose runter! Beine breit! Bücken!«

Der Uniformierte leuchtet zuerst in Jonas’ Unterhose und dann in seinen After.

»Umdrehen! Vorhaut zurück!«

Der Uniformierte leuchtet seinen Penis und den Hodensack ab.

»Anziehen!«

Der Inhalt der Jacken- und Hosentaschen wird in eine Plastiktüte gestopft und mit einer Nummer versehen. Dann fordern die beiden Männer in Zivil Jonas auf, mitzukommen. Er wird eine Treppe hoch geführt. Wieder eine Gittertür. Wieder: »Gesicht zur Wand! Hände auf den Rücken!« Dann ein Bürotrakt. Über einer Zimmertür blinkt eine rote Lampe.

Jonas muss hinter einem leeren Tisch in der hinteren Zimmerecke Platz nehmen. Die Beine des Tisches sind aus dünnem, vierkantigem Stahl, die Tischplatte ist mit einer Holztapete beklebt. Gegenüber steht ein Tisch aus denselben Werkstoffen, nur hat er zwei Unterschränke und könnte als Schreibtisch bezeichnet werden. Darauf eine moderne elektrische Schreibmaschine der Marke Optima, daneben ein tschechisches Spulentonbandgerät der Marke Tesla. Die Schreibtischlampe hat einen schwarzen, halbkugelförmigen, drehbaren Reflektor aus Metall.

Hinter dem Schreibtisch sitzt ein Mann in Zivil, vielleicht 35 Jahre alt, mit kurzen, blonden Haaren, eine sportliche, gut aussehende Erscheinung. Hinter ihm an der Wand hängt ein Honecker-Bild von jener Art, wie man es aus Schulen und Verwaltungsräumen staatlicher Betriebe kennt. Die Tapeten an den Wänden sind bunt geblümt. Ein ähnliches Blumenmuster sieht man auf den Übergardinen, mit denen die beiden Fester zugezogen sind. Darunter lugt an mehreren Stellen eine ehemals weiße, vom Rauchen vergilbte Nylongardine hervor. Sonst gibt es im Raum nur noch einen Aktenschrank von ähnlich einfacher Bauart wie Tisch und Schreibtisch. Links neben dem Honecker-Bild hängt ein kleines, hässliches Regal, aus dünnen runden Stahlstäben geschweißt, darin drei schmale Brettchen aus Holzimitat. Auf dem unteren steht ein vertrocknetes Alpenveilchen, auf dem oberen eine faustgroße, mit Goldlack gestrichene Lenin-Büste, in der Mitte ein Buch mit grünem Schutzumschlag und weißer Rückenzeile: »Geschichte der SED«.

Der Mann hinter dem Schreibtisch schneidet mit einer Schere eine verschweißte Plastiktüte auf, nimmt mit einer Pinzette eine Art Staubtuch heraus und legt es vor Jonas auf den Tisch.

»Stecken Sie das in Ihre Hose!«

Jonas sieht den Mann unsicher an, nimmt das Tuch und schiebt es an einem Zipfel in die Tasche seiner Jeans.

»Nicht so. In die Unterwäsche. In den Genitalbereich.« Jonas wirkt noch unsicherer.

»Mein Gott, seien Sie nicht so schwer von Begriff. Runter den Lappen. Bis an den Sack!«

Jonas führt den Befehl aus.

Dann fädelt der Mann das Tonband von der einen Spule am Tonkopf vorbei zur anderen. Dabei blickt er Jonas scharf an.

»Jetzt dürfen Sie noch nichts sagen!« Als er die Aufnahmetaste gedrückt hat und beide Spulen sich drehen, nickt er zufrieden.

»So, jetzt kann’s losgehen.«

Er nimmt ein beschriebenes Blatt Papier auf und sagt: »Sie also sind Johannes Maler, Rufname Jonas, 29 Jahre alt, wohnhaft in Rostock, Journalist und Fotograf bei der sozialistischen Blockpresse, Mitglied der CDU. Stimmt das?«

»Ja.«

»Sie sind verheiratet, haben eine Tochter.«

»Wo bin ich hier? Warum halten Sie mich fest?«

»Sie sind hier beim Ministerium für Staatssicherheit, Kreisdienststelle Greifswald. Warum Sie hier sind, das müssen Sie sich zuerst selbst fragen.«

»Ich habe nichts verbrochen.«

»Überlegen Sie einmal genau, warum Sie die Aufmerksamkeit unserer Sicherheitsorgane auf sich gelenkt haben.«

»Ich bin unschuldig.«

»Woher kennen Sie Juliane McCandle, Staatsbürgerin der USA?«

»Ich habe sie heute am späten Nachmittag an der Fernverkehrsstraße von Berlin nach Greifswald kennengelernt. Sie winkte, weil sie keinen Sprit mehr hatte.«

»Bevor Sie sich weiter irgendwelche Märchen ausdenken, darf ich Sie daran erinnern, dass Sie in Verwahrung des Ministeriums für Staatssicherheit sind. Wir – und niemand anders! – entscheiden, wann Sie hier wieder rauskommen.« Demonstrativ knöpft der Offizier sein weißes Hemd auf, löst das Schulterholster unter seiner Achsel, legt es mit der Waffe auf den Schreibtisch und räkelt sich entspannt. »Ja, das liegt alles in unseren Händen.«

»Wir waren vielleicht eine Stunde spazieren. Im Park in Greifswald-Eldena. Das war alles.«

»Meinen Sie? Sie lernen sich angeblich zufällig kennen, und schon nach einer Stunde sieht man Sie umschlungen wie ein Liebespaar?«

»Ich habe nichts verbrochen.«

»Junger Mann, ich will ja gar nicht ins Spiel bringen, was Ihre Ehefrau oder Ihr Betriebsleiter zu dem Vorfall sagen würden. Ich möchte Ihnen jetzt einfach mal ein paar Titel aus unserem sozialistischen Strafgesetzbuch vorlesen: Beihilfe zum Verstoß gegen das Transitabkommen, illegale Kontaktaufnahme zu feindlichen Mächten, konspirative Treffen und Nachrichtenübermittlung, Agententätigkeit. Das dürfte in Ihrem Falle reichen, dass Sie Ihre achtjährige Tochter frühestens zu ihrer Jugendweihe wiedersehen.«

»Ich bin doch kein Spion!«

»Ich möchte von Ihnen wissen, was Sie mit der USA-Bürgerin getan und besprochen haben.«

»Wir waren in Greifswald-Eldena spazieren und haben über Caspar David Friedrich gesprochen.«

»Wer ist das?« Der Offizier notiert den Namen.

»Ein Romantiker.«

»Wollen Sie mich verarschen?«

»Ein Maler aus der Epoche der Romantik. Er hat die Ruine von Eldena gemalt.«

Der Stasi-Mann fängt an, mit seinem rechten Zeigefinger auf der Waffe in der Pistolentasche herumzutippen. Plötzlich stützt er sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch und erhebt sich.

»Junger Mann, ich empfehle Ihnen dringend, mit den Sicherheitsorganen der Deutschen Demokratischen Republik nicht Katz und Maus zu spielen. Ich fürchte, dass Sie die Ernsthaftigkeit der Lage, damit meine ich Ihre Person, nicht erkannt haben. Holen Sie das Tuch raus!«

»Wie bitte?«

»Na, das Tuch, mit dem Sie Ihre Eier wärmen.«

Jonas zieht das Tuch aus der Unterhose und legt es vor sich auf den Schreibtisch.

Der Offizier nimmt aus seiner Schreibtischschublade ein Einweckglas mit zwei Schnappverschlüssen. Mit der Pinzette legt er das Tuch hinein, verschließt das Glas und stellt es vor sich hin.

»Abführen!«

Sie bringen Jonas in den Gefängnistrakt zurück. Dort wird er in eine Zelle von ähnlicher Größe wie die erste geführt. Darin gibt es eine eiserne Pritsche sowie eine WC-Schüssel ohne Brille und Deckel. Er wird aufgefordert, stehen zu bleiben. Minuten später erscheinen zwei Wachmänner und eine junge Frau im Arztkittel.

»Haben Sie irgendwelche chronischen Erkrankungen oder andere gesundheitlichen Probleme?«

»Nein.«

»Sind Sie Diabetiker oder Dialyse-Patient?«

»Nein.«

»Brauchen Sie Medikamente, die Sie regelmäßig einnehmen müssen?«

»Nein.«

Daraufhin reicht ihm einer der Wachmänner einen großen Blechnapf voll Tee sowie einen Teller mit zwei Scheiben Schwarzbrot, bestrichen mit Margarine und belegt mit Wurst und Käse. Zwischen den Brotscheiben liegen, beinahe liebevoll drapiert, eine aufgeschnittene Gewürzgurke sowie eine halbierte Tomate.

»Lassen Sie es sich schmecken«, sagt der Wachmann unerwartet warm und höflich. »Danach dürfen Sie sich schlafen legen.«

4

Morgens kurz vor sechs wird Jonas in seiner Zelle geweckt und in denselben Verhörraum zu demselben Stasi-Mann geführt. Er muss am selben Schreibtisch Platz nehmen. Vor ihm liegen ein weißes Blatt Papier und ein Kugelschreiber.

»Schreiben Sie: Ich, Johannes Maler, dann die komplette Wohnanschrift, wandte mich am 23. Dezember 1988 um 23 Uhr 15 an die Organe des Ministeriums für Staatssicherheit, Kreisdienststelle Greifswald, zum Zwecke eine Aussage …«

Jonas lässt den Kuli fallen. »Das stimmt nicht. Sie haben mich festgenommen und in Handschellen hergebracht.«

»Junger Mann, wollen Sie das Weihnachtsfest bei Ihrer Familie verbringen oder in der Zelle?«

Jonas nimmt den Stift wieder in die Hand.

»… zum Zwecke einer Aussage. Punkt. Ich wurde höflich und korrekt behandelt. Punkt. Ich wurde belehrt, dass ich aus sicherheitspolitischen Gründen an niemanden, auch nicht mir nahestehende Verwandte oder Freunde, irgendwelche Informationen über meinen Aufenthalt beim MfS und die geführten Gespräche weiterleiten darf. Ich weiß, dass ein Verstoß gegen die Konspiration strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann. Punkt. Datum, Unterschrift.«

Der Offizier lässt sich das Blatt reichen. »Abführen!«

Jonas wird nicht wieder in seine Zelle, sondern gleich in die Asservatenkammer des Gefängnisses gebracht. Dort erhält er seine Jacke und alle persönlichen Dinge wie Geldbörse, Notizbuch und Autoschlüssel zurück. Ein Wachmann geleitet ihn zu einer eisernen Tür und schließt auf. Frische Morgenluft. Winter. Schnee. Noch ist es Nacht, doch die Morgenröte kriecht schon hinter den Häuserdächern hoch.

»Gähn Se«, sagt der Wachmann in breitem Sächsisch und schließt die Stahltür hinter Jonas ab.

Auf einem Parkplatz auf der anderen Straßenseite sieht er sein Auto.

Jonas setzt sich in seinen alten Lada und steckt den Zündschlüssel ins Schloss. Einen winzigen Moment lang denkt er darüber nach, unter der Motorhaube nachzusehen, ob da vielleicht eine Bombe eingebaut wurde. Doch dann startet er den Wagen, fährt durch die verwinkelte Greifswalder Altstadt und passiert vorsätzlich zwei enge Einbahnstraßen in falscher Richtung. Jedes Mal wartet er einen Moment und beobachtet, ob ihm ein Fahrzeug folgt. Als er sich sicher ist, dass ihm niemand auf den Fersen ist, fährt er zum Interhotel Boddenhus und parkt eine Straßenecke entfernt.

Es ist 6 Uhr 40. Julia, wenn sie denn hier übernachtet, wird noch schlafen. Er wagt nicht, an der Rezeption nach ihr zu fragen. Von außen äugt er in den Frühstücksraum, wo gerade aufgedeckt wird. Kein einziger Gast ist zu sehen. Auch ihr roter Golf ist nirgends zu entdecken. Oder gibt es für die Westautos eine Garage? Jonas geht eine halbe Stunde lang im Schnee auf und ab und beobachtet den Hoteleingang und den Frühstücksraum. Ihm wird kalt. Kurz nach sieben betritt er entschlossen das Hotel und steuert auf die Rezeption zu.

Ein älterer Herr in dunklem Anzug und mit weißen Haaren hält eine Karteikarte in der Hand und telefoniert. Eine junge Frau sortiert Schlüssel in Fächer.

»Guten Morgen«, sagt Jonas zu der Frau.

»Sie wünschen bitte?«, antwortet der ältere Herr schroff und hält mit einer Hand die Sprechmuschel des Telefons zu.

»Ich suche einen Gast aus den USA, sie heißt Julia und ist gestern Abend …«

»Wir geben keine Auskünfte über Gäste. Und schon gar nicht aus dem NSW. Verschwinden Sie!«

»Es ist eine Bekannte, sie erwartet mich.«

»Ich habe mich doch wohl deutlich genug ausgedrückt. Oder soll ich die Polizei rufen?«

Die junge Frau legt ihre Schlüssel beiseite und sagt: »Ich bringe Sie zur Tür.« Dabei nickt sie dem Alten zu. Sie geleitet Jonas durch die Drehtür bis auf die Straße. Dort packt sie ihn kurz und fest am Arm und flüstert: »Sie musste schon um sechs aus dem Haus. Du sollst zu einer Ruine kommen. Beeil dich.«

Jonas springt ins Auto und rast nach Eldena. Auf der alten Kopfsteinpflasterstraße vor dem Park entdeckt er eine frische Autospur im Schnee. Doch den roten Golf sieht er nicht. Er folgt der einzigen neuen Fußspur in Richtung Ruine und geht zu dem Fenster, von dem aus die geheime Treppe nach oben führt. War sie heute früh im Dunkeln allein dort oben? Das erste fahle Licht des neuen Tages zeigt die Spuren von gestern. Aber da ist auch eine ganz frische Spur. Sie muss vor kurzem hier gewesen sein.

Jonas klettert über die Treppe in der Wand auf die Mauer des Klosters. Oben sieht er noch die Abdrücke ihrer gemeinsamen Nacht im Schnee.

»J-u-l-i-aaa!«, schreit er in den Wintermorgen. Niemand antwortet.

Sein Blick fällt auf einen roten Backstein genau dort, wo sie gelegen haben. Der Stein war gestern nicht da. Er hebt ihn an und findet darunter eine Plastiktüte mit dem Aufdruck »Interhotel – Frühstückspaket für frühzeitig abreisende Gäste«.

Er öffnet die Tüte. Darin liegt ein Briefumschlag mit der Aufschrift »Für Jonas«. Er spürt sein Herz laut klopfen, als er das Kuvert öffnet.