Über das Buch

Der kanadische Kultroman über eines der schönsten und ungewöhnlichsten Paare der Literatur, das in einem alten VW-Bus von Québec bis nach San Francisco fährt, ist unvergesslich.

Der Zufall führt sie zusammen. Jack Waterman, ein schweigsamer Träumer in der Schreibkrise, auf der Suche nach seinem Bruder Théo. Und die Halb-Innu Pitsémine, rastlos und lesewütig, wegen ihrer langen, dünnen Beine auch die Große Heuschrecke genannt. Mit einer Nähe, die nur Fremde verbindet, tun sie sich zusammen. Sie sichten alte Karten und Bücher, suchen das traurigste Chanson der Welt, und durchqueren auf Théos Spur in Jacks altem VW-Bus den Kontinent, von Québec bis San Francisco. Mit seinem Kultroman über eines der ungewöhnlichsten Paare der Literatur ist der gefeierte kanadische Autor Jacques Poulin endlich auch hier zu entdecken. Eine Roadnovel voller Weite, erzählt mit feinem Witz und einer seltenen Wärme.

Jacques Poulin

Volkswagen Blues

Roman

Aus dem Französischen von Jan Schönherr

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Volkswagen Blues

1 JACQUES CARTIER

2 DIE LEGENDE VON »EL DORADO«

3 EIN ANRUF VON SAM PECKINPAH

4 DER IDEALE SCHRIFTSTELLER

5 TAUSEND INSELN

6 EINE DISKUSSION ÜBER ÉTIENNE BRÛLÉ

7 DAS GEHEIME LEBEN DES BULLIS

8 EIN LAUSCHIGES PLÄTZCHEN

9 DAS TRAURIGSTE LIED DER WELT

10 AL CAPONE, AUGUSTE RENOIR UND DER NOBELPREISTRÄGER

11 DER HUNGERFELS

12 DER ALTE MANN AM UFER DES MISSISSIPPI

13 EINE FLUT VON ERINNERUNGEN

14 DER KAPITÄN DER »NATCHEZ«

15 DER TAUCHERKOMPLEX

16 CHOP SUEY

17 DIE MITTE VON AMERIKA

18 DER OREGON TRAIL

19 GESTORBEN MIT IHREN TRÄUMEN

20 DIE FRAU DES BULLENREITERS

21 SHERIFF WATERMAN

22 DIE GATLING

23 DER CHAMPION

24 DIE WASSERSCHEIDE

25 EIN VAGABUND

26 DER CALIFORNIA TRAIL

27 DIE ALTEN FRANZÖSISCHEN CHANSONS

28 EINE EXPEDITION, UM SICH MIT JEMANDEM ZU UNTERHALTEN

29 DIE GESPENSTER VON SAN FRANCISCO

30 MISTER FERLINGHETTI

31 DAS MÄDCHEN IM SCHAUFENSTER

32 THÉO

33 DIE GROSSE HEUSCHRECKE

***

Nachweise

Volkswagen Blues

1

JACQUES CARTIER

Er erwachte vom Miauen einer Katze.

Er setzte sich in seinem Schlafsack auf und schob den Vorhang am Rückfenster des VW-Busses zur Seite: Ein großes, hageres Mädchen in weißem Nachthemd ging trotz Kälte barfuß übers Gras; eine kleine schwarze Katze lief ihr nach.

Leise klopfte er ans Fenster — die Katze blieb wie angewurzelt stehen, eine Pfote in der Luft, dann rannte sie weiter. Dem Mädchen hing das kohleschwarze Haar in einem langen Zopf über den Rücken.

Indem er den Hals etwas reckte, sah der Mann sie zu dem Teil des Campingplatzes gehen, der für Zelte reserviert war. Er kroch aus seinem Schlafsack, zog Jeans und — weil er so leicht fror — einen dicken Wollpullover an und öffnete sämtliche Vorhänge des alten Bullis. Die Sonne ging gerade auf, und Nebelbänke lagen über der Bucht von Gaspé.

Er ging in den Waschraum, um sich frisch zu machen und zu rasieren. Als er wiederkam, war bei den Zelten niemand mehr zu sehen; das Mädchen war verschwunden.

Er zog die Seitentür des Minibusses auf und stellte Gaskocher, Propangasflasche und Plastikgeschirr auf den Picknicktisch. Er presste Orangensaft aus, machte sich Cornflakes und Toast und kochte Wasser für Kaffee und Abwasch. Als der Kaffee fertig war, stand er unvermittelt auf und kramte aus dem Handschuhfach des VWs die alte Postkarte von seinem Bruder Théo. Er lehnte die Karte an das Marmeladenglas und trank in kleinen Schlucken seinen Kaffee.

Als er aufblickte, hatte der Nebel sich verflüchtigt, und die Bucht von Gaspé wurde von Sonnenlicht durchströmt. Er machte den Abwasch, räumte seine Sachen zurück in den Bus und klappte das Dach ein. Vor der Abfahrt überprüfte er wie immer drei Dinge: den Ölstand, das Eis im Kühlschrank und den Keilriemen des Lüfterrads. Alles in Ordnung. Ein prüfender Tritt gegen das linke Vorderrad, dann kletterte er hinters Steuer. An der Straße bog er links ab: Das Städtchen Gaspé lag etwa fünf Kilometer entfernt.

Ein etwas steilerer Anstieg zwang ihn, erst in den dritten, dann in den zweiten Gang zurückzuschalten, und als er oben ankam, sah er dort das große, dünne Mädchen an der Straße entlanggehen. Obwohl sie teilweise hinter einem riesigen, mit Stützrohren versehenen Rucksack verborgen war, erkannte er sie doch sofort an ihrem ausgesprochen schwarzen Haar und ihren nackten Füßen. Bewusst blieb er länger als nötig im zweiten Gang, und das Mädchen streckte, ohne sich umzudrehen, den linken Daumen nach dem Motorgrollen aus. Er fuhr an ihr vorbei, hielt neben der Straße und stellte den Warnblinker an.

Das Mädchen öffnete die Beifahrertür.

Ihr Gesicht war knochig und ihre Haut von dunklem Teint, die Augen waren ausgesprochen schwarz und ein wenig mandelförmig. Sie trug ein weißes Baumwollkleid.

»Guten Morgen!«, sagte sie.

»Ich fahre nach Gaspé«, sagte der Mann. »Ist zwar nicht weit, aber …«

Er bedeutete ihr einzusteigen.

Sie nahm den Rucksack ab und hievte ihn auf den Beifahrersitz. Die kleine schwarze Katze — ein kleiner schwarzer Kater, um genau zu sein — schlüpfte aus einer der Taschen, streckte sich und erklomm die Rückenlehne. Ganz schwarz war er, der Kater, hatte kurzes Fell und blaue Augen. Er machte sich auf, den Bus zu erkunden. Der Mann stellte den Rucksack zwischen die Vordersitze. Das Mädchen stieg ein, ließ die Tür aber geöffnet. Sie wartete, bis der Kater seine Erkundung abgeschlossen hatte und auf ihrem Schoß Platz nahm.

»Gut«, sagte das Mädchen und zog die Tür zu.

Ein Blick in den Rückspiegel, dann fuhr der Mann wieder an. Der VW war uralt und verrostet, aber der Motor lief bestens. Er war komplett überholt. Das Mädchen war jung. Der Mann stellte die Heizung so ein, dass ihre Füße etwas Warmluft abbekamen. Es war Anfang Mai.

»Haben Sie’s noch weit?«, fragte er.

»Schwer zu sagen«, antwortete sie. »Erst mal muss ich ins Museum von Gaspé. Ich kenne da jemanden und will Hallo sagen.«

»Ich will auch nach Gaspé, aber weiß noch nicht genau, wohin …«

Er machte eine große, vage Geste mit der Rechten.

»Ich suche meinen Bruder«, sagte er schließlich.

Seinen Bruder hatte er sehr lang nicht mehr gesehen; sicher fünfzehn, vielleicht zwanzig Jahre, so genau wusste er das nicht mehr. Zuletzt jedenfalls in Mont-Tremblant, bei einem Formel-1-Rennen. Dann war sein Bruder auf Reisen gegangen. Anfangs hatte er noch Postkarten geschickt. Offenbar war er ganz schön herumgekommen, denn die Karten stammten von den unterschiedlichsten Orten; eine kam aus Key West, eine andere von der James Bay. Dann, nach einigen Jahren, hatte er aufgehört zu schreiben. Nie wieder ein Lebenszeichen. Die letzte Postkarte war ausgesprochen sonderbar und in Gaspé aufgegeben worden.

»Schauen Sie mal, im Handschuhfach«, sagte der Mann.

Das Mädchen nahm die Postkarte heraus und inspizierte sie. Der Mann beobachtete sie aus dem Augenwinkel, um ihre Reaktion zu sehen. Die Karte zeigte eine typische Ansicht der Gaspésie-Halbinsel: ein Fischerdorf an einer kleinen Bucht. Der Text auf der Rückseite war unmöglich zu entziffern, mit Ausnahme der Unterschrift: Dein Bruder Théo.

»Eine alte Handschrift, ganz klar«, sagte das Mädchen.

»Glasklar«, sagte der Mann und hielt die Luft an.

»Alte Handschriften sind immer schwer zu lesen«, erklärte sie gelassen. »Ist Ihr Bruder vielleicht Historiker oder so was?«

»Er hat Geschichte studiert, aber nie in dem Bereich gearbeitet. Und auch sonst in keinem. Arbeiten war nie seine Sache. Seine Sache waren Reisen — und Autos. Er hatte immer nur Gelegenheitsjobs, und sobald er etwas Geld beisammen hatte, brach er wieder auf.«

Das Mädchen lächelte leise.

»Und äußerlich, wie war er da so?«

»Das genaue Gegenteil von mir: groß, eins neunzig, das Haar … so schwarz wie Ihres … und er zerbrach sich nicht unnötig den Kopf.«

»Und wieso suchen Sie ihn jetzt, wenn ich fragen darf? Ich meine, die Postkarte ist ja schon ziemlich alt …«

»Stimmt. Ich hatte sie in ein Buch gelegt und dann vergessen. Also, ich hatte vergessen, in welchem Buch sie war.«

Er dachte einen Moment nach.

»Natürlich ist das keine Antwort auf Ihre Frage.«

»Sie müssen ja nicht.«

»Klar …«

Der Mann fuhr langsam, im dritten Gang. Hin und wieder prüfte er im Rückspiegel, ob hinten einer ungeduldig wurde. Niemand war zu sehen. Trotzdem fuhr er schließlich rechts ran und stellte den Motor ab.

»Ich bin letzte Woche vierzig geworden, und …«

Er schüttelte den Kopf.

»Ach Quatsch, mit dem Alter hat das nichts zu tun … Es gibt eben Tage, da hat man das Gefühl, alles bricht zusammen … in und um einen«, sagte er, um Worte ringend. »Dann sucht man etwas, um sich festzuhalten … Mir fiel da eben mein Bruder ein. Früher war er mein bester Freund. Ich habe mich gefragt, wieso er sich nicht mehr meldet, und habe seine letzte Postkarte gesucht. Sie lag in einem Buch mit goldenem Einband, ein Buch namens The Golden Dream, von Walker Chapman. Kennen Sie das?«

»Nein«, sagte das Mädchen.

»In dem fand ich jedenfalls die Karte. Und weil sie in Gaspé aufgegeben wurde, wenn auch schon vor langer Zeit …«

»Verstehe.«

»Heute komme ich mir alt und lächerlich vor.«

Erneut betrachtete das Mädchen die Karte. Gedankenverloren kraulte sie den Kopf des Katers, der auf ihrem Schoß schlief.

»Sie heißen Jack?«, fragte sie mit Blick auf Namen und Adresse rechts vom Text.

»So nannte mein Bruder mich immer. Als wir klein waren, gaben wir uns englische Namen, weil wir fanden, die machten mehr her.«

»Mich nennen alle die Große Heuschrecke. Wohl wegen meiner viel zu langen Beine.«

Zur Verdeutlichung zog sie das Kleid bis zu den Schenkeln hoch. Ihre Beine waren wirklich ausgesprochen lang und dürr. Dann wandte sie sich wieder der Karte zu.

»Ich glaube, das letzte Wort ist croix, Kreuz«, sagte sie.

Sie reichte ihm die Karte.

»Könnte sein«, sagte er. »Oder doch eher voix

»Nein.«

»Wieso?«

»Es sind fünf Buchstaben.«

Er lachte, und sie sah ihn irritiert an.

»Entschuldigung«, sagte er, »die ganze Sache kommt mir nur plötzlich so vor, als wären wir zwei Strauchdiebe, die versuchen, eine alte Schatzkarte zu entschlüsseln.«

»Gar nicht so abwegig«, sagte sie mit unverändert ernster Miene. »Ihr Bruder hat sich doch wohl kaum die Mühe gemacht, einen alten Text auf eine Karte drucken zu lassen, ohne sich etwas dabei zu denken. Er wollte Ihnen damit doch bestimmt was sagen, meinen Sie nicht?«

Sie klang sehr überlegt, und es war schön, ihr beim Denken zuzuhören.

»Oder es ist einfach bloß ein Witz«, fügte sie hinzu.

»Schwer zu sagen«, erwiderte er. »Théo war nie wie alle anderen.«

Er ließ den Motor wieder an.

»An Ihrer Stelle«, sagte das Mädchen, »würde ich ins Museum gehen und den Text dem Konservator zeigen.«

Er blickte sie an. Immer noch wirkte sie ernst und nachdenklich, doch jetzt neigte sie den Kopf zur Seite, weil der kleine Kater ihr auf die Schulter geklettert war und sich in ihre Halsbeuge schmiegte.

*

»Da ist es«, sagte die Große Heuschrecke. »Hier links.«

Jack bog von der Straße ab und parkte den alten VW neben dem Museum. Das Gebäude war aus Holz und bestand aus mehreren, sternförmig angeordneten Flügeln. Etwas weiter entfernt erhoben sich auf einer Art Erdwall einige hinkelsteinähnliche, mit Inschriften versehene Skulpturen aus schwarzem Metall; außerdem stand da noch ein gut neun Meter hohes Granitkreuz.

Sie stiegen aus. Das Mädchen ließ den Kater im Bus, öffnete jedoch ein Fenster, damit er hinauskonnte, wenn er wollte.

»Wird er sich nicht verlaufen?«, fragte der Mann besorgt.

»Nein«, antwortete sie. »Er geht gern spazieren, aber nie sehr weit.«

In der Eingangshalle war eine alte Frau mit einem Mopp und einem Eimer Wasser zugange und wischte das Parkett. Das Mädchen ging auf sie zu und sprach leise mit ihr. Jack steuerte zwischen den seifigen Pfützen hindurch die Infotheke an, hinter der ein offenbar sehr in seine Lektüre vertiefter junger Mann saß.

»Entschuldigen Sie.«

»Hm?«, machte der junge Mann und blickte auf.

»Ich hätte gern eine Auskunft, wenn möglich.«

»Was für eine Auskunft denn?«

»Es geht hierum«, sagte Jack und zeigte ihm die Postkarte.

Der junge Mann betrachtete ein paar Augenblicke lang den Text, dann das Bild auf der Vorderseite und dann wieder den Text.

»Ich versteh kein Wort«, erklärte er.

»Natürlich nicht, aber …«

»Wenn Sie das schon wussten, wieso zeigen Sie mir dann die Karte?«, unterbrach der junge Mann ihn ungehalten.

»Das ist ein alter Text.«

»So what?«

Da traten die Große Heuschrecke und die Putzfrau an die Theke. Mit ruhiger Stimme versuchte der Mann, die Sache zu erklären:

»Ich wüsste gerne, wo er herkommt …«

»Ich bin kein Experte für alte Texte«, blaffte der junge Mann.

Achselzuckend reichte er die Postkarte zurück und widmete sich wieder seiner Lektüre, einem Superman-Heft.

Die Große Heuschrecke fragte:

»Wissen Sie vielleicht, ob der Konservator im Büro ist?«

»Der was?«, raunzte der junge Mann ohne aufzublicken.

»Der Museumsdirektor.«

»Der ist verreist.«

Die Putzfrau linste über Jacks Schulter. Sie war klein und mollig, und sowohl Hautfarbe als auch Gesichtszüge wiesen sie als Indianerin aus.

»Darf ich mal sehen?«, fragte sie.

Der Mann gab keine Antwort, also wischte sie die Hände an ihrer weißen Bluse ab und nahm die Karte einfach an sich.

»Sieht aus wie die Handschrift von Jacques Cartier«, erklärte sie.

Gebanntes Schweigen. Da niemand etwas sagte, legte die Frau die Karte auf die Theke und ging zurück zu ihrem Eimer, den sie mitten im Raum hatte stehenlassen.

»Die Handschrift von Jacques Cartier?«, fragte der Mann, der ihr langsam gefolgt war. »Wie kommen Sie darauf?«

»Ganz einfach«, sagte sie. »Ihr alter Text da ist genau derselbe wie der drüben im großen Saal, und das weiß ich genau, weil ich beim Saubermachen jeden Tag die beiden Tafeln abstaube.«

»Die beiden Tafeln? Es gibt zwei Texte?«

»Nein, nein. Es ist zweimal derselbe Text, bloß einmal in alter Schrift, wie auf Ihrer Karte, und einmal … in normaler.«

»Wären Sie so nett, uns das zu zeigen?«, bat er aufgeregt.

»Gern. Kommen Sie mit, aber passen Sie auf, wo Sie hintreten.«

Jack und das Mädchen folgten der Putzfrau in den großen Saal, entlang eines links und rechts von einer Kordel begrenzten Gangs, der sich zwischen den verschiedensten auf dem Boden ausgebreiteten, an die Wand gehängten oder in Glasvitrinen ausgestellten Exponaten hindurchschlängelte: Werkzeuge, Kleidung, Waffen, Transportfahrzeuge, Navigationsinstrumente, Karten und Wandtafeln, alles chronologisch angeordnet von den Anfängen Amerikas bis heute.

Ganz hinten im großen Saal blieb die Frau vor zwei riesigen Wandtafeln stehen. Instinktiv zog sie ein Tuch hervor und staubte sie ab.

»Hier«, sagte sie nur.

Der Text auf der linken Tafel war eindeutig derselbe wie auf der Postkarte. Sofort drehten der Mann und das Mädchen sich nach der Frau um, wollten sich bedanken, doch sie war nicht mehr da.

Auf der rechten Tafel stand zu lesen: »Auszug aus Jacques Cartiers Bericht von seiner ersten Reise«. Der in Druckschrift gehaltene Text darunter lautete wie folgt:

Am vierundzwanzigsten Tag des Monats ließen wir ein Kreuz mit einer Höhe von dreißig Fuß errichten, welches vor den Augen vieler von ihnen hergestellt wurde, und zwar an der Spitze der Hafeneinfahrt. Unter dem Querbalken brachten wir ein erhabenes Wappen mit drei Lilien an und darüber eine große Inschrift aus Holz, mit Großbuchstaben, worauf »VIVE LE ROY DE FRANCE« stand. Dieses Kreuz stellten wir vor ihnen an der genannten Spitze auf, und sie beobachteten, wie es gefertigt und errichtet wurde. Nachdem es aufgestellt war, knieten wir uns alle mit gefalteten Händen nieder und verehrten es vor ihren Augen. Dabei gaben wir ihnen, indem wir zum Himmel blickten und darauf zeigten, zu verstehen, dass von dort unsere Erlösung kommt. Mit großer Bewunderung gingen sie um das Kreuz herum und betrachteten es.

»Ein schöner Text, und ich freue mich, ihn gelesen zu haben«, sagte Jack, »aber ich bin mir nicht sicher, ob er uns viel weiterbringt …«

»Ach, das ist doch jedenfalls ein Fortschritt«, sagte die Große Heuschrecke. »Jetzt müssen wir nachdenken. Wollen wir draußen eine Runde spazieren gehen?«

Noch einmal lasen sie Cartiers Text, dann verließen sie langsam den großen Saal, wobei sie hier und da stehenblieben und einen Blick auf die verschiedenen Exponate warfen. Besondere Aufmerksamkeit schenkten sie einer sehr großen und schönen Landkarte von Nordamerika, auf der man das gewaltige Gebiet sah, das Mitte des 18. Jahrhunderts noch Frankreich gehört hatte, ein Gebiet, das sich von der Arktis bis zum Golf von Mexiko erstreckte und im Westen bis an die Rocky Mountains reichte: ein erstaunlicher und sehr bewegender Anblick.

Doch es gab noch eine zweite, nicht minder beeindruckende Landkarte, die ein Nordamerika vor der Ankunft der Weißen zeigte; auf ihr waren die Namen von Indianerstämmen verzeichnet, Namen, die dem Mann bekannt waren: die Cree, die Montagnais, die Irokesen, die Sioux, die Cheyenne, die Comanche, die Apachen, aber auch eine große Zahl von Namen, die der Mann in seinem ganzen Leben noch nicht gehört hatte: die Chatacosta, die Suma, die Miluk, die Waco, die Karankawa, die Timucua, die Potano, die Yuchi, die Coahuitlecan, die Pascagoula, die Tillamook, die Maidu, die Unquachog, die Alsea, die Chawasha, die Susquehanna, die Calusa.

Das Mädchen blieb lange vor der zweiten Karte stehen. Ihre Augen glänzten feucht, und Jack begriff, dass er sie besser einen Augenblick allein ließ.

Er ging zurück in die Eingangshalle. Die Putzfrau wurde gerade mit dem Parkett fertig. Der Mann gab ihr die Hand und bedankte sich für ihre Hilfe.

»Falls Sie sich ein bisschen ausruhen wollen«, sagte sie, »setzen Sie sich doch in die Bibliothek. Da hat man seine Ruhe, und es gibt jede Menge Bücher über Jacques Cartier, wenn Sie das interessiert.«

»Nochmals danke, chère madame«, sagte er.

»Oh, so werde ich nicht oft genannt«, sagte sie strahlend.

»Ich gehe etwas frische Luft schnappen, und dann sehe ich mir die Bibliothek an.«

*

Die Große Heuschrecke hatte ihn mitsamt dem Kater eingeholt, und schweigend waren sie bis ans Ende der in die Bucht ragenden Landzunge gegangen.

»Stellen Sie sich vor, Sie wären Théo«, sagte sie.

Sie standen unter Birken, den Lieblingsbäumen des Mannes. Das Mädchen fuhr fort:

»Sie kommen also ins Museum, sehen sich in Ruhe alles an, und aus einem Grund, den Sie selbst noch nicht verstehen, kommt Ihnen die Idee, eine Postkarte mit dem Text von Jacques Cartier zu verschicken, den Sie gerade im großen Saal gelesen haben. Was tun Sie?«

»Ich kaufe eine Postkarte an der Information.«

»Okay. Und dann?«

»Dann gehe ich mit dem Text zu einem Drucker, damit er ihn mir auf die Karte druckt, aber da gibt es ein kleines Problem …«

»Sie können ihm wohl kaum die Wandtafel aus dem großen Saal mitbringen.«

»Wohl kaum, nein.«

»Also?«

Er zuckte die Achseln.

»Ist doch ganz einfach«, sagte sie. »Sie gehen in die Bibliothek.«

»Warum?«

»Um das Buch zu suchen, dem der Text entnommen wurde. Und wenn Sie es finden, machen Sie eine Kopie und bringen sie zum Drucker.«

»Klingt logisch«, sagte er.

Neugierig blickte er sie an.

»Ich verstehe nicht, wie Sie so klar denken können«, sagte er. »In meinem Kopf herrscht immer Nebel und alles ist verschwommen.«

Ein paar Minuten später betrat Jack die Bibliothek. Das Mädchen war in der Eingangshalle geblieben, um mit der Putzfrau zu sprechen, die gerade Feierabend machte. Die Bibliothek war klein, aber gut beleuchtet, und es gab einen großen Tisch, Polstersessel und eine Kartei mit Titeln und Autorennamen. Der Mann suchte mehrere Bücher über die Reisen Jacques Cartiers heraus und setzte sich damit an den Tisch. Durch die offene Tür sah er, wie das Mädchen und die Putzfrau sich umarmten und leise unterhielten. Das Mädchen war viel größer als die Frau, doch ihr Haar hatte exakt dieselbe Farbe.

Er blätterte ein paar der Bücher durch und war gerade auf Cartiers Text gestoßen, als die Große Heuschrecke sich wieder zu ihm gesellte. Er zeigte ihr den Text, in einem Buch von Joseph-Camille Pouliot mit dem Titel La Grande Aventure de Jacques Cartier, Seite 43, versehen mit folgender Anmerkung: »Faksimile aus dem handschriftlichen Bericht von Cartiers erster Reise, bezüglich der Errichtung eines Kreuzes in der Bucht von Gaspé am 24. Juli 1534.«

»Diesen Pouliot finde ich klasse!«, verkündete das Mädchen.

»Er war Richter«, sagte Jack.

»Na dann recht vielen Dank, Euer Ehren!«

Sie setzte sich dem Mann gegenüber an den Tisch und dachte nach. Dann stand sie plötzlich wieder auf.

»Ich hab eine Idee«, jauchzte sie.

»Schon wieder?«

»Wir machen ein kleines Experiment, mein lieber Watson.«

Sie nahm das Buch und führte Jack aus der Bibliothek. An der Infotheke trank der junge Mann gerade Kaffee und rauchte eine Zigarette.

Sie legte ihm das aufgeschlagene Buch vor die Nase.

»Ich hätte gern eine Kopie von diesem Faksimile.«

»Eine Kopie von was

»Von diesem Text hier.«

Sie zeigte mit dem Finger darauf. Stirnrunzelnd betrachtete der junge Mann die geschwungene, schnörkelige Handschrift Jacques Cartiers.

»Komisch, kommt mir irgendwie bekannt vor …«

»Sie sind sehr scharfsichtig.«

»Danke«, sagte er. »Leider haben wir hier aber keinen Kopierer.«

»Ach nein?«

»Nein.«

»Und was macht man, wenn man etwas kopieren will?«

»Keine Ahnung«, sagte er.

Sie ließ sich nicht entmutigen.

»Sind Sie Student?«, fragte sie.

»Ja, wieso?«

»In Ihrem College gibt es doch sicher einen Kopierer, oder?«

»Natürlich.«

»Und was hindert mich daran, das Buch mitzunehmen und den Text dort zu kopieren?«

»Gar nichts«, sagte er.

Nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu:

»Sie können ein Buch ausleihen, wenn Sie Ihren Namen und Ihre Adresse im Gästebuch hinterlassen.«

Das Mädchen stutzte.

»Moment, wie war das?«, fragte sie leicht erregt. »In welchem Buch?«

»Im Gästebuch«, wiederholte der junge Mann.

Jack und das Mädchen sahen einander an.

Der junge Mann holte das Buch aus einer Schublade, schlug das aktuelle Datum auf und legte es ihr wortlos vor.

Sie trug Namen und Adresse an der Stelle ein, auf die er deutete.

»Und die alten Gästebücher, die aus den letzten Jahren, was machen Sie mit denen?«, fragte sie dann.

»Die heben wir auf«, sagte er. »Im Aktenschrank.«

»Natürlich, ein Museum ist ja schließlich dafür da, alte Sachen aufzuheben.«

Sie stützte die Ellbogen genau vor ihm auf die Theke und strahlte ihn an.

»Könnten wir da wohl mal einen Blick hineinwerfen? Wenn es keine Umstände macht?«

Er sah sie an, als wäre sie verrückt geworden.

2

DIE LEGENDE VON »EL DORADO«

Sie fuhren auf der Route 132.

Es war mitten am Nachmittag. Die Maisonne wärmte den VW auf. Der Kater hatte sich im Handschuhfach eingerollt und schlief. Die Straße führte entlang der Küste des Sankt-Lorenz-Golfs. Sie erklommen Kaps und sausten in Buchten hinab. Am Steuer wechselten sie sich ab, um es möglichst noch am selben Tag bis nach Québec zu schaffen, wo der Mann wohnte.

Mehrere Ortschaften hatten sie schon hinter sich gelassen: Cap-des-Rosiers, Rivière-aux-Renards, L’Anse-à-Valleau … Jack saß am Steuer. Er sprach nicht viel, denn die Landschaft war schön, doch innerhalb der Ortschaften konnte er nicht anders, als immer wieder seinem Erstaunen über die Adresse Luft zu machen, die Théo im Gästebuch hinterlassen hatte.

»Also, ich weiß nicht … St. Louis, Missouri!«

Und er fügte hinzu:

»Das ist ja nicht mal eine vollständige Adresse!«

Es wollte ihm nicht in den Kopf. St. Louis, Missouri. Also wirklich … Warum ausgerechnet St. Louis? Warum nicht New York? Warum nicht Miami, Vancouver oder gar Los Angeles? Er wusste ja nicht einmal genau, wo St. Louis überhaupt lag. Eigentlich wusste er gar nichts darüber, abgesehen von den Namen einiger Sportmannschaften: die St. Louis Cardinals im Baseball, die Blues im Eishockey …

Die Große Heuschrecke kramte im Fach hinter dem Fahrersitz. In der erstaunlichen Sammlung von Straßenkarten, die einer der Vorbesitzer des Busses dort zurückgelassen hatte, fand sie eine Karte der USA. Mit einem Filzstift zeichnete sie ein, was ihr als die naheliegendste Strecke von Gaspé nach St. Louis erschien.

»Schauen Sie mal. Erinnert Sie das auch an etwas?«

Sie faltete die Karte ein und legte sie dem Mann aufs Lenkrad, sodass er sehen konnte, wie die Strecke über Québec und Montréal erst dem Sankt-Lorenz-Strom folgte, sich dann durch die Großen Seen zwängte und schließlich entlang des Mississippi südwärts bis St. Louis führte.

»Doch, ja«, sagte er, »aber nur ganz vage.«

Er zögerte.

»Vielleicht an etwas aus den alten Schulbüchern über die Geschichte Kanadas?«, beharrte sie.

»Stimmt! An eine Abbildung über die ersten Entdeckungsreisen der Franzosen in Amerika. Meinen Sie die …?«

»Ja, genau.«

Sie erreichten L’Anse-Pleureuse.

Jack parkte den VW am Straßenrand, und sie stiegen aus, um sich die Beine zu vertreten und den Kater tun zu lassen, was er seit dem Vormittag nicht mehr getan hatte.

Sie spazierten am Ufer entlang. Das Gespräch kam bald auf Théo, und der Mann erzählte ein paar Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit in einem großen Holzhaus an einem Fluss, ganz in der Nähe der Grenze zu den USA; anschließend kam er auf diverse Heldentaten der Entdecker Neu-Frankreichs zu sprechen: Champlain, Étienne Brûlé, Jean Nicolet, Radisson, Louis Jolliet und Pater Marquette, Cavelier de La Salle, d’Iberville und La Vérendrye.

Mit einem Mal verhärtete sich die Miene des Mädchens, und sie wirkte traurig und verärgert. Sie kehrten zurück zum Bulli, und der Kater nahm wieder seinen Platz im Handschuhfach ein.

*

Die Große Heuschrecke wirkte, als hätte sie ihr ganzes Leben hinter dem Lenkrad eines VW-Busses zugebracht. Um Steigungen zu bewältigen, holte sie tüchtig Schwung, schaltete exakt in dem Moment zurück, in dem der Motor schlappzumachen drohte, gab oben angekommen Gas und begann die Abfahrt im vierten Gang, nahm Fahrt auf und bremste vor der nächsten Kurve stotternd ab, um die Drehzahl zu verringern, ehe sie in den dritten schaltete, um die Bremswirkung des Motors zu nutzen.

»Sie fahren gut«, sagte Jack. »Wer hat Ihnen das beigebracht?«

Griesgrämig blickte das Mädchen auf die Straße und schwieg. Nach einigen Minuten antwortete sie dann doch noch, sie habe es von ihrem Vater gelernt.

»Er war Lastwagenfahrer«, sagte sie. »Fuhr an die Nordküste und zur James Bay. Als ich klein war, durfte ich auf seinem Schoß sitzen und lenken. Einmal war er krank, und ich habe einen zehn Tonnen schweren Mack-Truck von Baie-Comeau bis Manicouagan gefahren. Anfangs behielt er mich noch im Auge und gab mir Ratschläge, dann hat er sich auf die Rückbank gelegt, in eine Decke gewickelt und ist eingeschlafen … Als er wieder aufwachte, waren wir bereits am fünften Damm des Manicouagan-Stausees!«

»Wie alt waren Sie damals?«

»Fünfzehn.«

Er pfiff. Sie lächelte kurz, dann verschloss sich ihre Miene wieder.

»Stimmt irgendwas nicht?«

»Das ist schwer zu erklären«, sagte sie. »Aber ich will es versuchen. Ich wurde in La Romaine geboren, an der Nordküste. Meine Mutter ist eine Montagnaise. Sie haben sie im Museum in Gaspé kennengelernt.«

»Und?«

»Na ja, wenn Sie so von den Entdeckern Amerikas erzählen … Ich habe nichts am Hut mit den Leuten, die hierherkamen, um Gold, Gewürze und einen Seeweg nach Indien zu suchen. Ich bin eine von denen, denen man Land und Lebensweise weggenommen hat. Und außerdem …«

Sie hielt inne, blickte zu einem Frachter, der den Fluss hinabfuhr.

»Außerdem kamen die Indianer ja wohl aus Asien nach Amerika, über die Beringstraße. Wir kamen von Westen, ihr von Osten. Uns trennen siebentausend Kilometer!«

Plötzlich lachte sie auf.

»Entschuldigung«, sagte sie. »Ich wollte mich nicht so aufplustern. Zudem bin ich gar keine richtige Indianerin. Mein Vater ist weiß.«

Das Mädchen lachte erneut, doch ihr Lachen klang hohl. Also verkündete der Mann:

»Ich erzähle Ihnen eine Geschichte.«

»Was denn für eine?«, fragte sie und wischte sich die Augen.

»Die Geschichte von Eldorado

Er räusperte sich zwei-, dreimal, dann fing er an.

»Auf den Hochebenen der Anden, in Südamerika, zweitausenddreihundert Meter über dem Meeresspiegel, in einer den Weißen unbekannten Region namens Cundinamarca, dem ›Land des Kondor‹, fand jedes Jahr eine feierliche Zeremonie statt. Der Häuptling eines Indianerstammes zog sich splitterfasernackt aus, rieb sich mit einer harzigen Substanz ein und wälzte sich in Goldstaub. Wenn er wieder aufstand, glänzte sein vergoldeter Leib in der Sonne, und so führte er seinen Stamm an einen von Bergen umringten See, die Lagune von Guatavita. Dort bestieg er einen Einbaum, der ihn in die Mitte des Sees brachte, und sprang ins Wasser. Alle aus dem Stamm, selbst die, die am Ufer geblieben waren, staunten über die glänzende Pracht des Körpers ihres Häuptlings, des vergoldeten Manns, el hombre dorado, wenn er seinen Hechtsprung ins klare Wasser des Sees vollführte. Voller Bewunderung erzählten sie davon, und mit der Zeit ging von einem Stamm zum anderen, von einer Region zur nächsten, immer weiter und weiter, das Gerücht, es gäbe irgendwo in Amerika ein sagenhaft reiches Land, das Königreich des Goldes, Eldorado. Das war’s. So ist die Legende von Eldorado entstanden.«

»Eine schöne Geschichte«, sagte das Mädchen.

»Danke«, sagte er. »Sie kannten sie nicht?«

»Nein.«

»Ich habe sie in The Golden Dream gelesen, dem Buch von Chapman.«

Und er konnte nicht umhin, ein wenig traurig zu ergänzen:

»Alles, was ich weiß, oder zumindest fast alles, weiß ich aus Büchern.«

3

EIN ANRUF VON SAM PECKINPAH

»Was machen Sie eigentlich, wenn Sie nicht nach Ihrem Bruder suchen?«, fragte die Große Heuschrecke.

»Ich bin Schriftsteller«, sagte der Mann. »Und Sie?«

»Mechanikerin«, sagte sie. »Ich habe eine Ausbildung zur Kfz-Mechanikerin gemacht.«

»Haben Sie ein Diplom?«

»Nein. Sie?«

»Ich auch nicht«, sagte er lächelnd.

Trotz aller Erschöpfung genossen sie die Ankunft in Québec. In Lévis waren sie an Bord der Fähre gegangen. Auf die Reling auf dem Oberdeck gestützt, betrachteten sie die langsam näher kommenden Lichter des Château Frontenac und der Terrasse Dufferin. Jack hatte sich eine Wolldecke über die Schultern gehängt. Das Mädchen, wie immer barfuß, sagte, ihr sei nicht kalt. Als sie dicht genug am anderen Ufer waren, zeigte er ihr das Haus, in dem sich seine Wohnung befand. Es stand gleich links vom Château.

»Das zweite Haus«, sagte er. »Sehen Sie?«

»Nein«, sagte das Mädchen. »Ich sehe nur eine große, dunkle Fläche.«

»Das ist der Parc-des-Gouverneurs. Ein Stück links davon steht ein Haus, in dem Licht brennt …«

»Ja.«

»Das ist das amerikanische Konsulat. Dann kommt ein Haus mit Licht im obersten Stockwerk.«

Das Mädchen rückte näher und legte ihm den Kopf auf die Schulter, um besser den Lichtpunkt sehen zu können, auf den er zeigte.

»Ah, ja, jetzt!«

Und sie fragte:

»Heißt das, es ist jemand dort?«

»Nein, ich lasse nur immer das Licht an, weil …«

Er machte eine unbestimmte Geste.

»Aber es ist keiner da«, sagte er.

Die Fähre machte sich zum Anlegen bereit. Sie stiegen wieder in den Bus, und als die Rampe heruntergelassen wurde, rollten sie von Bord und quälten den alten Bulli den Berg hinauf. Sie fuhren um den Place d’Armes und dann durch die Torbögen des Châteaus, bis sie einen Parkplatz am Ende der Rue Terrasse-Dufferin fanden, nicht weit entfernt von dem Haus, in dem der Mann wohnte. Beladen mit dem Nötigsten sowie dem kleinen Kater stiegen sie die vier Stiegen hinauf, so leise sie konnten, denn es war halb fünf in der Früh.

Die Wohnung bestand aus nur drei Räumen: einem Wohnzimmer, einer kleinen Küche und einem Schlafzimmer, aber das spitzbogige Wohnzimmerfenster war mit einem Fensterbrett ausgestattet, auf dem spielend zwei Personen Platz fanden, und bot einen weiten Blick über den Fluss und dessen Südufer bis hin zur Brücke an der Île d’Orléans.

»Leider habe ich kein Katzenklo«, sagte der Mann.

»Macht nichts«, sagte das Mädchen, das sich aufs Fensterbrett gesetzt hatte. »Eine Nacht kommen wir auch mal mit Zeitungspapier aus.«

»Wollen Sie gleich schlafen gehen?«

»Nein.«

»Ich nehme das Sofa.«

Sie gab keine Antwort. Ihr Blick schweifte nach draußen und verlor sich in der Nacht. Er trat näher.

»Ich mache heiße Schokolade. Möchten Sie eine Tasse?«

»Oh, gern«, sagte sie.

»Müde?«

»Es geht. Ich warte noch den Sonnenaufgang ab, dann schlafe ich ein bisschen.«

In der Küche machte er Milch warm und goss etwas davon in eine Untertasse, für den Kater, der sich an seinen Beinen rieb. Als die beiden Tassen heiße Schokolade fertig waren, trug er sie ins Wohnzimmer; er stellte eine neben das Mädchen und setzte sich mit angezogenen Beinen auf die andere Seite des Fensterbretts, ihr gegenüber.

»Lecker«, sagte sie, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte.

»Danke.«

»Erzählen Sie mir mehr von Théo«, bat sie.

Kaum dass er anfing, von Théo zu sprechen, trug eine Flut von Erinnerungen ihn zurück in das große Holzhaus am Fluss, unweit der Grenze zu den USA.

Zuerst beschrieb er das Haus, ein imposantes, rechteckiges Gebäude mit zwei Stockwerken, drei Kellerräumen, einem Speicher und zwei Schuppen; auf der Südseite im ersten Stock befand sich ein großer Wintergarten, wo man sich von der Sonne wärmen lassen konnte, während man las, tagträumte oder Geheimnisse austauschte.

»Das Haus«, erklärte er, »lag eigentlich nicht direkt am Fluss, sondern etwa einen Kilometer davon entfernt, und die aufregendste Weise, im Winter an den Fluss zu kommen, war, auf dem Schlitten über den vereisten Bach zu rutschen, der gleich neben dem Haus vorbei zu ihm führte. Der Bach hatte keinen Namen und verlief unter der Erde: unter unserem Garten, der Garage unseres Nachbarn, einer Brachfläche, einem Tennisplatz und der Hauptstraße, und es war ein nervenzerfetzendes Abenteuer, bäuchlings auf dem Schlitten zu liegen, in dem dunklen, eisigen Tunnel, wo man rasch Fahrt aufnahm und, wenn man nur minimal von der von Théo eingerichteten Spur abwich, immer Gefahr lief, sich den Kopf an einem Felsen aufzuschlagen oder in einen der Strudel des namenlosen Baches gezogen zu werden.