Klaus-Jürgen Wrede

Das Geheimnis
des Genter Altars

Prolog

Paris, März 1314, Judeninsel

Die zahlreichen Grauabstufungen des Himmels wurden durch die fast glatte Oberfläche des Wassers zu einem einzigen tiefgrauen Ton reflektiert. Wie eine ruhige Ader floss die Seine mit gleichbleibender Geschwindigkeit durch Paris – ein stetiger Strom der Zeit, unbeeindruckt vom pulsierenden Leben an ihren Ufern.

Ein fauliger Geruch lag über der Stadt, verursacht durch Abfälle, die sich in den Ufernischen und kleinen Buchten verfangen hatten – ein penetranter Gestank, den der Wind nicht fortzutragen vermochte.

Kaum ein Sonnenstrahl konnte sich durch die dichten Wolkengebilde kämpfen und ein diffus drückendes Licht ließ die Konturen der nah aneinander gedrängten Menschen zu einem großen Körper verschwimmen.

Unzählige hatten sich an den naheliegenden Ufern des Flusses postiert, im ständigen Kampf um die besten Plätze, damit sie das bevorstehende Spektakel hautnah miterleben konnten. Es war, als sei die ganze Stadt auf den Beinen: Gassenjungen, die sich geschickt durch die Menge schlängelten, Bettler in schmutziger und zerlumpter Kleidung, daneben Bürger, die mit ihrer gesamten Familie hergekommen waren. Frauen, die ihre Kinder in einem Tuch vor der Brust trugen, und Straßenverkäufer mit einem Korb voller Waren vor dem Bauch. Taschendiebe erhofften sich heute ein lukratives Geschäft, ebenso die zahlreichen Fährleute mit ihren schäbigen kleinen Booten, die nach Erhalt eines beträchtlichen Obolus Menschen auf die kleine und ohnehin schon völlig überfüllte Insel hinüberruderten.

Unzählige Juden hatten hier in den Feuern des Hasses bereits ihr Leben lassen müssen, so wurde sie irgendwann nur noch „Judeninsel“ genannt – ein versumpftes Fleckchen Land in einer Gruppe weiterer kleiner Inseln, umspült vom unablässigen Strom der Seine – direkt gegenüber dem Königspalast und dem königlichen Garten am Rande der Cité.

An diesem Tag hatte sich fast ganz Paris eingefunden, um eine außergewöhnliche Hinrichtung zu erleben. Ein riesiger Scheiterhaufen war in der Mitte der kleinen Insel aufgetürmt. Wachen standen überall an den Ufern, den Brücken und auf der Insel, gut bewaffnet und mit Harnisch, als befürchte man Unruhen bei dem bevorstehenden Spektakel. Eine ältere Frau fiel vom befestigten Ufer in die Seine – zum Gespött der Schaulustigen, die das verzweifelte Rudern ihrer Arme mit höhnischem Gelächter kommentierten. Offenbar konnte die Frau nicht schwimmen, denn sie befand sich mehr unter Wasser als darüber. Doch keiner der Umstehenden machte sich die Mühe, ihr zu Hilfe zu kommen. Die Seine trug sie ruhig mit sich fort, bis sie sich ein Stück weiter an einigen sich ihr entgegenstreckenden Armen festhalten konnte, welche sie zurück ans rettende Ufer zogen. Dort blieb sie erschöpft und hustend am Boden liegen und wurde schnell wieder von der sie umgebenden Menge verschluckt.

Ein dumpfer, bedrohlicher Klang – kaum mehr als eine Ahnung – war zunächst eher zu spüren als zu hören. Dieser gleichmäßige Rhythmus nahm stetig in seiner Eindringlichkeit zu, sodass allmählich Ruhe in das jahrmarktähnliche Treiben an der Seine einkehrte, bis endlich die gesamte Menge in schweigender Erwartung verharrte. Wie die drohenden Schritte einer näherkommenden, unsichtbaren und riesenhaften Kreatur erhoben sich jetzt dumpfe Trommelschläge, welche die Verurteilten auf ihrem letzten Weg begleiteten.

Das Boot kam vom entfernten Ufer nahe des Königspalastes. Im Bug stand ein Mönch und hielt ein großes hölzernes Kreuz in beiden Händen – wie ein Mahnmal des göttlichen Willens. Dahinter befanden sich Personen, die von weitem nicht eindeutig zu erkennen waren. Lediglich die beiden Menschen in den grauen Umhängen fielen nicht nur wegen ihrer Kleidung innerhalb der Gruppe auf. Sie strahlten etwas aus, das kaum fassbar war und sich auch über weite Distanz auf die Menge übertrug.

Langsam glitt das Boot mit dem kleinen Ensemble von Statuen in Richtung Judeninsel.

Die gesamte Menge schien versteinert und folgte nur mit den Augen der Bewegung des Bootes. Alles stand für einen Moment still, was der Szenerie eine gespenstische Note verlieh, die sich durch die stereotype Apathie der Trommelschläge noch intensivierte. Das Licht wurde immer schwächer, da die ohnehin schon hinter dicken Wolkenschleiern verborgene Sonne nun langsam unterging.

An der Insel angekommen, schien die Gruppe wieder lebendig zu werden: Die beiden grau gekleideten und gefesselten Männer wurden aus dem Boot gestoßen und grob weitergeschubst. Ihre Gesichtszüge waren nun detaillierter zu erkennen. Beide trugen Bärte, welche die Kinnpartie vollständig bedeckten. Sie strahlten trotz deutlich erkennbarer Spuren jahrelanger Entbehrung, der Folter und des Kerkers eine ungewöhnliche Gelassenheit und Ruhe aus.

Der Scheiterhaufen war in aller Eile am Nachmittag desselben Tages errichtet worden, aber die erfahrenen Henkersknechte verstanden ihr Handwerk und hatten den aus Holzscheiten aufgetürmten Haufen an einigen Stellen mit Stroh und Reisig versehen – ein wohldosiertes und sich nicht zu schnell verbreitendes Feuer sollte auf diese Weise die Qual der Verurteilten verlängern.

Beide Männer wurden von den Henkersknechten über eine kleine Treppe auf den Scheiterhaufen geführt, aus dem genau in der Mitte ein massiver Holzpfahl Richtung Himmel ragte. Nachdem man den Verurteilten die Fesseln gelöst und sie recht ruppig mit wenigen Handgriffen ihrer Umhänge entledigt hatte, standen sie fast nackt in langen weißen Büßerhemden am Holzpfahl. Ein Henker ergriff die vorbereiteten feuchten Stricke, schnürte sie den beiden Männern um die Hüften und zog sie dann mit der Brutalität eines Schlächters fest um Beine und Brust, sodass die Körper hart gegen den Pfahl gedrückt wurden. Ein anderer Knecht zog von hinten den Strick um ihre Hände, als einer der Verurteilen seine Stimme erhob – nicht laut, aber dennoch von unerschütterlicher Selbstsicherheit getragen und klar vernehmbar für alle Umstehenden:

„Ihr Herren, so lasst mich im Angesicht des Allmächtigen wenigstens meine Hände falten, auf dass ich Gott mein Gebet darbringen kann!“

Einen Moment lang zögerte der Henker unschlüssig und schaute hilfesuchend zum Inquisitor hinüber. Dann zog er die Hände des Verurteilten nach vorn und band sie gefaltet vor seiner Brust zusammen.

Und wieder erhob der Betende seine Stimme, diesmal energischer, von einer apodiktischen Gewissheit erfüllt:

„Nun ist für mich der Augenblick gekommen zu sterben. Aber Gott weiß, dass dies zu Unrecht geschieht. Und Gott weiß, wer dieses Unrecht zu verantworten hat! Er ist mein Zeuge. So wahr ich hier stehe, verfluche ich die, die uns vernichtet haben, die sich selbstgerecht zu Richtern aufspielen und in Gottes Namen den Tod über die Welt bringen. Denn sie werden bald vor dem Thron unseres höchsten Richters stehen!“

Die Stimmung hatte nun gespenstische Züge angenommen. Kaum jemand wagte zu reden, mancher kaum zu atmen. Die eigentümliche Stille wurde nur von den fernen Stimmen der Gaukler, Händler und Menschen um Notre Dame durchbrochen – fremdartige Geräusche aus einer weit entfernten, lebendigen Welt.

Der Wind hatte sich für einen Moment gelegt und der Himmel drückte schwer alles Leben zwischen sich und der Erde zu Boden, sodass kaum Luft zum Atmen blieb.

Am Fenster des Balkons im nahen Königspalast war eine Gestalt auszumachen. Nur ihre dunklen Umrisse konnte man von hier unten erkennen. Reglos und starr betrachtete sie aus der Ferne die gesamte Szene von oben, gleich einem Richter als Vollstrecker des göttlichen Willens.

Nachdem der Hauptmann ein Zeichen gegeben hatte, trat einer der Henkersknechte mit einer brennenden Fackel in der Hand an den gewaltigen Scheiterhaufen heran und entzündete ihn an zwei Stellen. Schnell fing das Stroh Feuer und bald danach das umliegende Reisig.

Der Wind trug den Rauch unbarmherzig in die Menge, sodass keiner der Verurteilten die Gnade eines schnellen Erstickungstodes oder einer vorzeitigen Bewusstlosigkeit erhoffen durfte. Kaum jemand wagte sich vorzustellen, welche Leiden die Hingerichteten nun durchmachten: das Gefühl, wenn die Haut langsam inmitten der Hitze zu kochen begann, obwohl die Flammen den Körper noch gar nicht erreicht hatten. Als brenne das Fleisch auf den Knochen bereits, während man wusste, dass das Schlimmste noch gar nicht begonnen hatte. Unvorstellbare Qualen zu erdulden und jede einzelne Sekunde wie eine Ewigkeit in der Hölle auszuhalten – in der Gewissheit, dass ihnen eine vorzeitige Erlösung versagt bleiben würde.

Der Betende öffnete die Augen und schaute mit gefalteten Händen hinüber zu Notre Dame, die ihm in diesem Augenblick Trost zu spenden schien. Kein einziger Laut des Schmerzes kam über die Lippen der Männer. Alle Augenpaare waren auf das Feuer gerichtet, auf die Flammen, die nun langsam an den beiden Körpern zu nagen begannen und sich in den Augen aller Zuschauer spiegelten. Sie brannten sich nicht nur in das Fleisch der Verurteilten, sondern auch in die Seelen aller anwesenden Menschen ein.

Durch den Wind angefacht, schlug das Feuer schneller nach oben, als von den Henkersknechten erwartet. Die Körper standen plötzlich in Flammen, man sah nur noch die beiden Köpfe hinter einer gleißenden Feuerwand verschwommen flackernd durchscheinen. Ein beißender Geruch von verbranntem Fleisch erfüllte die Luft.

Alle atmeten sie diesen Geruch ein, nahmen ihn tief mit der Luft in sich auf, nach Sauerstoff ringend. Viele begannen zu husten, andere übergaben sich wegen des unentrinnbaren Gestanks.

Das Feuer hatte inzwischen seine größte Kraft erreicht. Der gesamte Holzstoß war nun ein einziges Flammenmeer, das den Rauch unaufhörlich in den Himmel trieb. Durch einzelne Windböen gelenkt, leckte das Feuer auch nach den Umstehenden, als wolle es sie ebenfalls verschlingen. Der Scheiterhaufen wuchs zu einer riesigen Feuersäule. Hellgelb verzehrten die Flammen alles in ihrem leuchtenden Kegel, vernichteten jegliche Materie – eine unbändige und unkontrollierbare Macht, um das Böse aus der Welt zu tilgen. Das Leben war längst aus den beiden Männern gewichen. Durch das wabernde Feuer sah man die Gestalt des Betenden schwarz inmitten der leuchtenden Flammen hindurchscheinen. Und plötzlich, als ob sein Geist noch einmal zur Mahnung in diese Welt zurückkehrte, richtete sich sein Körper gespenstisch ein letztes Mal am brennenden Pfahl auf. Schreie der Angst breiteten sich in der Menge aus. Viele bekreuzigten sich hastig und wichen zurück, um sich gegen das letzte Aufbäumen des Teufels und das durch das Feuer entfesselte Böse zu schützen.

Die Lohe wandelte sich von leuchtendem Gelb in ein warmes Orange und Rot und schien in ihrer Unbändigkeit gezähmt zu sein. Je weiter die Flammen herunterbrannten, desto deutlicher schälten sich die mittlerweile bizarr verzerrten, verbrannten Menschenkörper aus der flackernden Hitze. In tiefem Schwarz waren ihre verkohlten Umrisse kaum noch als menschlich erkennbar.

Die ineinander verschmolzene Menschenmasse an den Ufern verwandelte sich langsam zurück in einen lebendigen Organismus und löste sich in ihrer Gestalt allmählich auf.

Das vor sich hinbrennende Feuer wurde noch eine ganze Weile von bewaffneten Posten bewacht, damit sich niemand an ihm zu schaffen machte, bevor es ganz heruntergebrannt war. Starr und bewegungslos stand nur noch die Gestalt am Fenster des Königspalastes, wie gebannt – einer steinernen Statue gleich, die ihren toten Blick nicht von einer ganz bestimmten Stelle lösen konnte.

Als die Nacht hereinbrach, strichen dunkle Schatten über die Stelle, wo vorher noch die Flammen alles Leben verzehrt hatten. Halb gebückt bewegten sich Gestalten in Mönchskutten gespenstisch über den noch warmen Boden und suchten in der Asche umher. In unregelmäßigen Abständen nahmen sie etwas vom Boden auf und legten es vorsichtig in einen kleinen Beutel, den sie mit sich führten. Das ging eine ganze Weile so, bis Ruhe einkehrte und sich alle gemeinsam in der Asche aufrichteten, einen kleinen Kreis aus sieben Menschen bildend. Einem geheimnisvollen Ritual folgend nahm jeder von ihnen eine Handvoll Asche vom Boden auf und alle gleichzeitig warfen sie diese in die Luft.

Der Wind hatte sich ein wenig gelegt, aber er war noch stark genug, um die warme Asche mit sich zu nehmen und in die Stadt hinauszutragen.

Mit der aufkommenden Dunkelheit verzogen sich langsam auch die Wolkenschleier, die den Himmel tagsüber verhüllt hatten. Unzählige Sterne funkelten zwischen noch vereinzelt ziehenden Wolkenfeldern auf die Asche herab wie die Augen des Himmels und erinnerten daran, dass jedes Leben nur ein winziger Atemzug des Universums ist.