Maria Stepanova

Nach dem Gedächtnis

Roman

Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja

Suhrkamp Verlag

»Und was für einen Zweck haben schließlich Bücher«, sagte sich Alice, »in denen überhaupt keine Bilder und Unterhaltungen vorkommen?«

Lewis Carroll

Großmutter sagte: Wahrscheinlich kommt er jetzt einfach in das Alter. Trink ruhig, mit den Lebenden trink so viel du willst, aber nicht mit den Toten. Ich begriff nicht. Mit den Toten trinken, wie soll das gehen. Und ob das geht, sagte Großmutter. Die meisten Leute trinken sogar vor allem mit den Toten. Davon lass die Finger. Sonst trinkst du ein Glas, und hundert Jahre sind vorbei. Noch ein Glas – wieder hundert Jahre. Und noch eines – noch mal hundert. Wenn du dann aus dem Haus gehst, sind dreihundert Jahre einfach weg. Niemand erkennt dich mehr, es ist eine andere Zeit. Sie wollen mir Angst machen, dachte ich, weil ich ein Kind bin.

Viktor Sosnora

»Wie furchtbar«, sagten die Damen, »aber was ist daran so erstaunlich?«

Alexander Puschkin

Inhalt

Teil I

1
Fremde Tagebücher

2
Anfänge

3
Einige Fotos

4
Sex unter Toten

Zwischenkapitel • 1942 oder1943

5
Das Aleph und die Folgen

6
Love Interest

7
Facetten der Ungerechtigkeit

Zwischenkapitel • 1930

8
Defekte und Diversionen

Zwischenkapitel • 1934

9
Die Frage der Wahl

Teil II

1
Das Jiddl taucht unter

Zwischenkapitel • 1905-1915

2
Goldchain addiert, Woodman subtrahiert

3
Mandelstam verwirft, Sebald verwahrt

Zwischenkapitel • 1947 (?)

4
Einerseits, andererseits

5
Charlotte oder Der Ungehorsam

Zwischenkapitel •  1980, 1982, 1983, 1985

6
Jakobs Stimme, Esaus Bild

7
Ljodik oder Das Schweigen

8
Joseph oder Der Gehorsam

9
Was ich nicht weiß

Teil III

1
Seinem Schicksal entkommt man nicht

2
Ljonja aus dem Kinderzimmer

3
Jungen und Mädchen

4
Die Tochter des Fotografen

Dank

Teil I

1

Fremde Tagebücher

Meine Tante war gestorben, die Schwester meines Vaters, mit etwas über achtzig Jahren. Wir standen uns nicht nahe, und daran hing ein langer Schweif familiärer Missverständnisse und Kränkungen. Das Verhältnis meiner Eltern zu ihr war kompliziert gewesen, und eine eigene Geschichte zwischen ihr und mir hatte sich kaum entwickelt. Ab und zu telefonierten wir, noch seltener sahen wir uns, doch mit den Jahren, in denen sie immer öfter das Telefon abstellte (»Ich will niemanden hören!«), verschwand sie zusehends hinter einer selbstgebauten Kulisse, zwischen zahllosen Sachen und Sächelchen, mit denen ihre kleine Wohnung vollgestellt war.

Tante Galja träumte ihr Leben lang von Schönheit: von jener entscheidenden Renovierung, bei der die Möbel ein für alle Mal umgestellt, die Wände gestrichen, die Gardinen gewechselt würden. Irgendwann, vor Jahren, hatte sie mit einem Hausputz begonnen, der nach und nach von der ganzen Wohnung Besitz ergriff. Fortwährend wurde das Unterste zuoberst gekehrt; das Inventar musste gesichtet und systematisiert, über jede Tasse musste nachgedacht werden, Bücher und Papiere waren nicht mehr sie selbst, sondern nur noch Usurpatoren des Raums, die in Stapeln, Bergen, Barrikaden die Wohnung besetzten. Während die Gegenstände sich des einen der beiden Zimmer bemächtigten, zog Galja mit dem Allernötigsten ins andere. Doch auch dort setzte das Sortieren und Revidieren ein; die Wohnung hatte ihr Inneres nach außen gestülpt und konnte es nicht wieder aufnehmen. Es gab nichts Wichtiges und nichts Unwichtiges mehr, alles hatte irgendeine Bedeutung, besonders die über Jahrzehnte gesammelten vergilbten Zeitungsausschnitte, die, zu hohen Säulen gestapelt, Wände und Bett stützten. Für die Hausherrin war nur noch auf einem durchgesessenen kleinen Sofa Platz; dort, inmitten eines stürmischen Meers aus Ansichtskarten und Fernsehzeitschriften, saßen wir auch bei jenem Besuch, an den ich mich vor allem erinnere. Sie tischte mir irgendwelche Zucchini auf, drängte mir mit Macht die für Gäste reservierten kostbaren Pralinen auf, ich lehnte schnöde ab. Der zuoberst liegende Ausschnitt trug die Überschrift »Welche Ikone passt zu meinem Sternzeichen?« Am Rand war ordentlich der Name der Zeitung und das Datum der Veröffentlichung vermerkt, in makelloser Handschrift, blaue Tinte auf leblosem Papier.

*

Wir trafen etwa eine Stunde nach dem Anruf der Pflegerin ein. Das Treppenhaus war von summendem Halbdunkel erfüllt: Auf den Stufen und dem Treppenabsatz standen und saßen fremde Leute, die irgendwie von dem Todesfall erfahren hatten und herbeigeeilt waren, um ihre Bestattungsdienstleistungen anzubieten, Hilfe beim Papierkram, Hinbringen-Abholen-Beglaubigen, wir kümmern uns. Wer hatte sie informiert, die Miliz, die Ärzte? Einer trat mit uns ins Zimmer und stand dort herum, noch in seiner Winterjacke.

Tante Galja war am Abend des 8. März gestorben, des sowjetischen Fests der Mimosen und Entenpostkarten, an einem der Tage also, an denen unsere Familie sich regelmäßig versammelte, an denen der breite Wohnzimmertisch ausgezogen wurde, das Sprudelwasser in die dunklen, rubinroten Gläser floss und die vier obligatorischen Salate serviert wurden: Karotten mit Nüssen, Rote Bete mit Knoblauch, Käsesalat und der große Gleichmacher »Olivier«. All das war schon dreißig Jahren her, es war zu Ende gewesen, lange bevor meine Eltern nach Deutschland emigrierten, Tante Galja wütend zurückblieb und die Zeitungen aufregende Dinge zu drucken begannen: Horoskope, Rezepte, die neuesten Naturheilmittel.

Sie wollte auf keinen Fall ins Krankenhaus. Im Krankenhaus waren ihre Eltern gestorben, meine Großeltern, und auch sie selbst hatte ihre Erfahrungen mit der staatlichen Medizin gemacht. Trotzdem schien es irgendwann unumgänglich, einen Krankenwagen zu rufen, und so wäre es auch gekommen, wären da nicht die Feiertage gewesen; man beschloss, bis zum nächsten Werktag zu warten – und das verschaffte Galja die Möglichkeit, sich auf die Seite zu drehen und im Schlaf zu sterben. Im Nebenzimmer, wo die Pflegerin wohnte, hingen schachbrettförmig über die ganze Wand verteilt die Fotos und Zeichnungen meines Vaters, neben der Tür ein Schwarz-Weiß-Bild aus den sechziger Jahren, aus meiner Lieblingsserie über eine Tierklinik: Das Foto zeigt ein Wartezimmer, in dem Schulter an Schulter Hund und Herrchen sitzen, ein grimmig dreinblickender, etwa vierzehnjähriger Junge und sein Boxer.

*

Die Wohnung wirkte perplex, geschrumpft, voller plötzlich entwerteter Dinge. In den Ecken des größeren Zimmers schwiegen dürre Fernsehergerippe. Der riesige neue Kühlschrank war vollgestopft mit eiskaltem Blumenkohl und eingefrorenem Brot (»Mischenka isst so gern Brot, kauf ruhig mehr«). In den Bücherschränken grüßten lauter alte Bekannte – Wer die Nachtigall stört, der Salinger-Band im schwarzen Umschlag mit dem Jungen darauf, die blauen Buchrücken der »Bibliothek der Dichter«, die graue Tschechow- und die grüne Dickens-Ausgabe. Auf einer Konsole vertraute Gestalten: zwei Hündchen, eines aus Holz und eines aus gelbem Plastik; ein geschnitzter Bär mit Wimpel. Alle saßen da wie vor dem Aufbruch zu einer Reise und schienen sich plötzlich überflüssig zu fühlen.

Als ich einige Tage später daran ging, Galjas Papiere zu ordnen, fand sich zwischen Fotos und Grußpostkarten fast nichts Schriftliches. Stattdessen entdeckte ich stapelweise warme Unterhemden und Offiziersunterhosen sowie neue, hübsche Blazer und Röcke, die für einen besonderen, festlichen Anlass gedacht und deshalb nie getragen waren, sie rochen immer noch nach sowjetischem Konfektionsgeschäft. Es gab ein besticktes Männerhemd aus der Vorkriegszeit und geschnitzte Elfenbeinbroschen, zierlich und mädchenhaft – eine Rose, noch eine Rose, ein Kranich; sie hatten Galjas Mutter gehört, meiner Großmutter Dora, und waren seit vierzig Jahren nicht mehr getragen worden. Zwischen diesen Dingen bestand ein fragloser Zusammenhang, sie alle hatten nur im gemeinsamen Rahmen eines unabgeschlossenen Lebens Sinn und Bedeutung gehabt und zerfielen jetzt vor meinen Augen zu Staub. Die wichtigste Voraussetzung, damit man ein menschliches Gesicht als Gesicht erkennt, sei nicht die Gesamtheit der Züge, sondern das Oval, habe ich einmal gelesen. Das Oval ist unentbehrlich: Es begrenzt unsere Geschichte, verbindet sie zu einer fasslichen Einheit. Ein solches Oval kann das Leben selbst sein oder – post mortem – die verbindende Linie einer Erzählung von dem, was war. Der treu ergebene Inhalt dieser Wohnung sah sich plötzlich zu Abfall degradiert, er war mit einem Schlag entmenschlicht und hatte jede Erinnerung und Bedeutung verloren.

Während ich mich darüber beugte und das Nötige erledigte, staunend, wie wenig in diesem viellesenden Haushalt geschrieben worden war, tippte ich behutsam, zweifelnd die wenigen Worttasten an, die ich in meiner Erinnerung fand: einzelne Sätze aus der fernen oder nicht so fernen Vergangenheit, Geschichten von Barboskas Herrchen, Fragen, was der Knirps machte (mein größer werdender Sohn), Erzählungen von einer Querfeldein-Wanderung in den dreißiger Jahren – ein rasch verfliegendes, unwiederbringlich verlorenes sprachliches Gespinst. »Ich würde nie schick sagen, höchstens prächtig!«, hatte Galja mir einst streng erklärt, und was sie mir noch erzählte, habe ich großteils längst vergessen – von ihrem »Batja« – dem Vater –, von Freundinnen und Nachbarinnen, Nachrichten aus einem sehr einsamen Leben, das sich aus sich selbst speiste.

Aber ihre Wohnung war eben doch ein Ort des Schreibens gewesen, wie ich bald erfuhr. Unter den Sachen, von denen Tante Galja sich bis zum Schluss nicht trennte, nach denen sie immer wieder fragte und tastete, waren unzählige Notizkalender, eine tägliche Chronik, die sie über Jahre fortführte, »kein Tag ohne Zeile« – die Regel war ihr so selbstverständlich wie das Aufstehen und die Morgentoilette. Die Bände lagen noch immer in einer Holzkiste am Kopfende des Bettes: Sie füllten zwei große Taschen. Ich nahm sie mit nach Hause in die Banny-Gasse und fing sofort an zu lesen, auf der Suche nach einer Erzählung, einer Erklärung, einem Oval.

*

Wer gern Tagebücher und Notizhefte liest, weiß, dass sie sich in zwei Kategorien einteilen lassen. Es gibt die, deren Rede in gewisser Weise als offizieller Kommentar angelegt und darum im Kern schon öffentlich ist. Die Kladde ist hier – etwa im Fall des Tagebuchs von Marie Bashkirtseff – ein Versuchsgelände, auf dem das äußere Selbst getestet und trainiert wird, sie enthält einen endlosen, an eine unsichtbare, aber sympathisierende äußere Instanz gerichteten Monolog.

Interessanter finde ich die zweite Kategorie: das Tagebuch als Arbeitswerkzeug, gemacht für die Hand dieses einen Handwerkers – andere Leute können damit wenig anfangen. Der Ausdruck »Werkzeug« stammt von Susan Sontag, die diese Art Schreiben über Jahrzehnte praktiziert hat. Er scheint mir nur teilweise zutreffend. Sontags Notizbücher, und nicht nur ihre, sind zum einen so etwas wie Vorratsbeutel, in denen Ideen oder rasch skizzierte Szenen gesammelt werden, auf die man später zurückkommen will. Zum andern ist das Notieren eine Gewohnheit, ohne die ein bestimmter Typ Mensch nicht leben kann: Die Hefte bilden das Gerüst, das die Bindung an die Wirklichkeit, den Glauben an ihre Kontinuität stützt. Die Texte richten sich nur an einen einzigen, dafür umso interessierteren Leser: An welcher Stelle er das Heft auch aufschlägt, es bestätigt ihm, dass sein Leben eine Geschichte und Dauer hat und dass jeder beliebige Punkt der Vergangenheit in unmittelbarer Reichweite liegt.

Die meisten dieser Indizien (die in Sontags Tagebüchern so reichlich vorhandenen Aufzählungen von Filmen und gelesenen Büchern, die Listen schöner Wörter, die wie Trockenpilze aufgereihten Resümees von Erlebtem) haben kein direktes Ergebnis, keine Folgen, sie entfalten sich nicht zu einem Buch, Aufsatz, Film, werden nicht Grundlage einer realen Arbeit. Sie sollen niemandem etwas erklären (höchstens der Autorin selbst, aber flüchtig, wie stenografiert, so dass sich manchmal schwer nachvollziehen lässt, was gemeint war). Das Notizheft ist einfach ein Eisschrank zur Aufbewahrung leicht verderblicher Erinnerungen, ein Ort, wo sich die Nachweise und Bestätigungen sammeln, oder um es mit Iwan Gontscharow zu sagen, die materiellen Zeichen immaterieller Beziehungen.

Das hat etwas vage Unangenehmes, allein schon wegen seiner Redundanz. Mir selbst, als Angehöriger derselben Spezies, kommen meine Arbeitsnotizen oft wie bloßer Ballast vor, von dem ich mich gern trennen würde, aber was bleibt dann von mir? Janet Malcolm beschreibt in ihrem Buch The Silent Woman ein Interieur, das entfernt an meine Notizhefte erinnert, und das ist ein wenig unheimlich. Es enthält ein Gemisch aus Zeitschriften und Büchern, vollen Aschenbechern, verstaubten peruanischen Souvenirs, schmutzigem Geschirr und leeren Pizzakartons, Dosen, Schachteln, Flaschenöffnern, Ausgaben von Who is Who, die für das exakte Wissen zuständig sind, und einigen anderen Gegenständen, die für gar nichts zuständig, weil längst zu nichts mehr zu gebrauchen sind. Für Malcolm ist diese Wohnung ein Borgessches Aleph, eine »monströse Allegorie der Wahrheit«, ein Sammelsurium wild wuchernder Fakten und Lesarten, fern von der reinlichen Ordnung der Geschichte.

*

Die Tagebücher meiner Tante Galja gehörten in keine der genannten Kategorien, und ihre grobmaschige Textur wurde immer rätselhafter, je länger ich darin las.

Als ich ein Kind war, fiel mir bei großen Kunstausstellungen immer eine bestimmte Sorte von Besuchern auf (meist waren es Frauen): Sie wanderten von Bild zu Bild, beugten sich zu den Informationstäfelchen und machten sich auf einem Zettel oder in einem Heft Notizen. Irgendwann wurde mir klar, dass sie einfach alle ausgestellten Arbeiten aufschrieben, also eine Art handschriftlichen Katalog anfertigten – fast so etwas wie eine körperlose Kopie des Gesehenen. Erst viel später begriff ich, dass die Aufzählung eine Illusion von Besitz erzeugte: Die Ausstellung würde vorübergehen und sich auflösen, auf dem Papier aber blieb die Ordnung der Bilder und Skulpturen erhalten, es ließ sie nicht vergehen.

Auf eine ähnliche Weise hielten Galjas Tagebücher die alltäglichen Geschehnisse fest – erstaunlich detailliert und zugleich erstaunlich verschwiegen. Sie dokumentierten ihre Aufsteh- und Schlafengehenszeiten, ihr Fernsehpensum, die Anzahl ihrer Telefonate und die Namen ihrer Gesprächspartner, was sie gegessen und was sie getan hatte. Ausgespart blieb dagegen der eigentliche Inhalt des Tages. »Gelesen«, hieß es zum Beispiel im Text, aber was sie gelesen hatte und was diese Lektüre für sie bedeutete, erwähnte Galja mit keinem Wort – und so war es mit allem, woraus ihr langes, vollständig aufgeschriebenes Leben bestand. Nichts gab einen Hinweis darauf, wie dieses Leben gewesen war – sie schrieb nichts über sich, nichts über andere, nichts als kleinteilige Einzelheiten, eine präzise Chronik des Zeitvergehens.

Ich dachte immer, irgendwo müsste dieses Leben sich doch wenigstens einmal zeigen, sich aussprechen – immerhin hatte es aus intensivem Lesen und folglich auch Denken bestanden, begleitet vom leisen Brodeln diverser Launen und Kränkungen, die meine Tante jeweils lange beschäftigten – etwas davon musste doch erhalten sein, sich irgendwo entladen haben, in irgendeiner wütenden Passage, in der Galja der Welt und uns ins Gesicht sagte, was sie von uns hielt.

Aber nichts dergleichen. Einige wenige Bedeutungsnuancen und Schattierungen, Textfalten, in denen sich Emotionen versteckten – ein Hurra! am Rand, wenn mein Vater oder ich angerufen hatten, ein paar knappe, bittere Sätze zu den Geburts- und Todestagen ihrer Eltern – das war es im Wesentlichen. Als hätte der Hauptzweck jedes Eintrags, jedes jährlich gefüllten Bandes darin bestanden, ein verlässliches Zeugnis zu hinterlassen und ihr eigentliches, inneres Leben für sich zu behalten. Alles zu zeigen. Alles zu verbergen. Unbegrenzt zu archivieren.

Was an diesen Heften lag ihr so am Herzen? Warum wollte sie sie bis zum letzten Tag in ihrer Nähe haben, warum fürchtete sie, sie könnten verlorengehen? Vielleicht war der geschriebene Text – als Erzählung von Einsamkeit und vom unmerklichen Abgleiten ins Nichtsein – ja doch eine Art Anklageschrift: Die Welt und wir sollten das alles lesen und endlich begreifen, wie schlecht wir sie behandelt hatten.

Oder – seltsame Vorstellung – enthielten diese kargen Ereignisse für sie irgendein Substrat der Freude, und sie legte Wert darauf, dieses Substrat unsterblich zu machen, es in die Kategorie der Manuskripte zu überführen, die nicht brennen und die sprechen, ohne Zeugnis ablegen zu wollen? Wenn ja, dann war ihr das gelungen.

11. Oktober 2002

Wieder von hinten angefangen: 45. Eben die Wäsche eingeweicht, Handtücher, Nachthemden usw., alle hellen Sachen. Die Bettwäsche kommt noch. Davor den Balkon leergeräumt. Draußen sind es +3 Grad, am Ende erfriert noch das Gemüse! Den Kürbis habe ich geputzt und geschnitten, ich will ihn einfrieren. Alles geht so langsam! Habe beim Kabarett im Ersten Programm drangesessen, gut zwei Stunden. Vorher Tee mit Milch.

Von 16 bis 18 h geschlafen, ich musste mich einfach hinlegen. Davor ein Anruf von T. W. wegen des Telefons in der Wojkowskaja. Er hat schon um zwölf angerufen und wollte wissen, ob mein Fernseher funktioniert. Der Fernseher ging seit dem Morgen nicht, kein einziger Sender. Aufgestanden bin ich gegen 8, als Serjosha [der Untermieter; M. S.] im Bad war, dann allmählich fertiggemacht, um 9 aus dem Haus. Lange auf den 3er Bus gewartet, bis 9h45. Ich hätte besser den 171er nehmen sollen. Danach war es überall schon voll, alles hat lange gedauert. Uralskaja, Busbahnhof, Zeitungen. Immerhin habe ich einen Kürbis gekauft, den ersten dieses Jahr, und Karotten. Zu Hause war ich gegen 12. Ich wollte Columbo sehen. In der Nacht davor Blutdruck gemessen nach 1:45, eine Clofelin genommen, gewartet, bis der Blutdruck runtergeht, bevor ich die anderen Medikamente nehme. Zwanzig Minuten herumgebummelt, und am Ende habe ich doch nicht mehr gemessen; ins Bett um 3 Uhr.

8. Juli 2004

Von früh an ein schöner sonniger Tag, kein Tropfen Regen. Morgens Kaffee mit Kondensmilch, gegen 11 zur Altajskaja. Dort war es brechend voll, ich saß lange auf einer Bank am Teich, bis 13h, habe ins Grüne und in den Himmel geschaut, in die Wolken, und gesungen dabei, wie war mir wohl!

Auf den Spazierwegen waren Leute mit Hunden unterwegs, mit Kinderwagen, auf der Wiese scharenweise Sonnenanbeter in Badesachen, alle waren entspannt und vergnügt.

Danach bin ich ohne Warteschlange zur Kasse gegangen, habe Quark gekauft und mich langsam auf den Heimweg gemacht. Um die neue Schule herum haben sie so prächtig gepflanzt, hohe Kleeblumen und Heckenrosen – wunderschön! Auf der Straße spielten ein paar Jungen in einem kaputten Auto. Sie hatten eine Plastikflasche dabei, die bis oben hin mit Erbsenschoten gefüllt war. Man könnte sie essen, meinten sie.

11. Oktober 2005

Schlaflos, aber aufstehen wollte ich auch nicht, keine Lust, mich zu rühren, etwas zu tun … um 10:40 die Post geholt und wieder ins Bett. Danach kam bald Sweta. So ein schlaues Mädchen, sie weiß besser als ich, wie man einkauft! Tee getrunken und den Tag über im Bett geblieben. Bei Wl. Wass. für seine Post bedankt. … Nach 12 rief Bobrowa an. Sie ist seit Donnerstag hier …

Habe Morosko in der Nr. 79 angerufen, außerdem Ira aus dem ZSO, abends Jurtschuk. Wäsche gefaltet und nebenbei ferngesehen. Um 23:30 ins Bett.

Hitze. Das Röckchen von Tonja angezogen. »Ein graues, farbloses Leben, das keiner braucht.« Tagsüber Tee, abends Kaffee. Und keinerlei Appetit!

Und doch gab es einen Eintrag, der anders war als die anderen, am 17. Juni 2005:

Morgens Anruf bei Sima. Dann das Fotoalbum hervorgeholt. Wie immer habe ich alle Bilder herausgeschüttelt und lange angesehen. Hunger hatte ich keinen, und über den Fotos war mir so schwer ums Herz – Tränen, Trauer um die verflossene Zeit, um alle, die nicht mehr da sind, um mein eigenes unnützes, oder, besser gesagt, vergebliches Leben, die Leere im Herzen … Ich wollte nicht mehr denken.

Also habe ich mich wieder ins Bett gelegt und, ich weiß selber nicht wie, den ganzen Tag geschlafen, bis zum Abend bin ich kaum einmal aufgestanden. Um 20 Uhr ein Glas Milch getrunken, die Vorhänge zugezogen, mich wieder hingelegt und weiter geschlafen, immer weiter heraus aus der Wirklichkeit. Schlafen ist die Rettung.

*

Monate, Jahre vergingen. Galjas Hefte lagen hier und dort herum, gerieten zwischen andere Papiere, die man nicht wegräumt, weil man sie ja sehr bald brauchen wird, und so altern sie wie der Rest des Hausrats unbemerkt. Ich erinnerte mich wieder an sie, als ich nach Potschinki kam.

Das abgelegene Provinzstädtchen Potschinki, gut zweihundert Kilometer von Nishni Nowgorod im Amtsbezirk Arsamas, genoss bei uns zu Hause einen zweifelhaften Ruhm: Es war der Ort, woher alle kamen und wohin niemand zurückwollte, seit siebzig oder mehr Jahren. Vladimir Nabokov beschreibt das Leben als kurzen Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels; die erste dieser Ewigkeiten – die, in der wir noch nicht existieren – scheint noch abgründiger als die zweite. Auch das stille Potschinki hatte sich über die Jahre in ein schwarzes Loch im Familiengedächtnis verwandelt.

Ich erinnerte mich vage an Erzählungen von einem runden Dutzend Geschwister – die Familie muss riesig gewesen sein –, an Fotos von Pferdekarren und Holzhäusern, und das alles war überlagert von den späteren phantastischen Abenteuern meiner Urgroßmutter Sarra Ginsburg, auch sie eine Tochter von Potschinki, die es geschafft hatte, nicht nur unter dem Zaren im Gefängnis zu sitzen, sondern auch in Paris zu leben, Medizin zu studieren und schließlich als Ärztin sowjetische Kinder zu behandeln, darunter meine Mutter und mich. Alles, was man von ihr erzählte, hatte einen Beigeschmack von Lorbeer und Legende. Nach ihren Wurzeln zu forschen kam niemandem in den Sinn.

Allerdings gab es einen Verwandten, Leonid aus Saratow, der eine Erkundungsfahrt nach Potschinki plante – so gründlich, als wäre es eine Expedition zum Nordpol – und der versuchte, auch die nähere und fernere Verwandtschaft (zur letzteren zählte ich) dafür zu begeistern. Er hatte seltsam durchsichtige Augen, und in ihm arbeitete ein nie versiegender Enthusiasmus, dessen wechselnde Anlässe er mit den Erwachsenen der Familie erörterte. In Moskau war er nur selten, und als er wieder einmal vorbeikam, um über seinen Plan zu sprechen, traf er meine Eltern nicht mehr an: Sie wohnten seit kurzem in Deutschland, die Familie vertrat ich. Bislang hatte mich diese Art sentimentale Reise zwar nie interessiert, doch jetzt war ich leicht zu gewinnen: Zum ersten Mal schien mir unser Stammsitz erreichbar, also real. Und je mehr mein Gegenüber auf den Strapazen der Reise und der weiten Entfernung herumritt, die das Ganze zu einer schwierigen, gründliche Vorbereitung, Planung und Umsicht erfordernden Unternehmung machten, desto klarer wurde mir, dass man schon irgendwie hinkommen würde. Unser Verwandter wollte mit der Familie nach Potschinki fahren, und darunter verstand er so etwas wie die Rückkehr der Stämme Israels, die zwangsläufig zahlreich waren; also bereitete er sich weiter vor, und vor zehn Jahren ist er gestorben. Potschinki blieb vorerst so unsichtbar wie die versunkene Stadt Kitesh.

Jetzt aber kam ich ihm allmählich näher. Ich weiß nicht, was mich antrieb und was ich dort zu entdecken hoffte, jedenfalls recherchierte ich vor der Reise im Internet, um quasi meinen Blick scharfzustellen. Der Ort schien tatsächlich in einer Art Jenseits zu liegen; ich fand ihn schließlich auf einer alten Karte des Landkreises Lukojanow weit hinter Arsamas, in der Nähe von Puschkins Gut Boldino, zwischen Dörfern mit sonderbaren Namen wie Utka oder Pogibelka. Mit dem Zug kam man nicht in diese Gegend, der nächste Bahnhof lag drei Stunden entfernt. Das Einfachste war wohl, mit einem Mietwagen aus Nishni zu fahren.

Wir brachen früh am Morgen auf, die rosa überglänzten Prospekte hatten sich vom Winter noch nicht erholt. Eine eigentümliche, von Erinnerungsresten gezeichnete Stadtlandschaft – halb Industriebauten, halb Holzhäuser mit Zäunen und Palisaden, die keinen Fingerbreit vor der neuen Welt zurückwichen – verschwand in Talsohlen und stieg wieder auf Fensterhöhe. Als wir die Landstraße erreichten, nahm das Auto Fahrt auf und beschleunigte auf ein aberwitziges Tempo; der Fahrer, Vater eines dreijährigen Jungen, hielt die Hände am Steuer und schwieg verächtlich. Die Straße hob und senkte sich in sparsamen Wellen, unter den Fichten lagen kleine Pferdedecken aus verwirrtem altem Schnee. Die Welt wurde mit jedem durchquerten Kilometer ärmer. In schwärzlichen Dörfern leuchteten porzellanweiße neue Kirchen, wie blanke Zahnkronen. Ich hatte einen Reiseführer dabei, der die Schönheit des längst auf der rechten Seite vorübergezogenen Arsamas pries, und ein zwanzig Jahre altes Büchlein über Potschinki. Darin war der Laden »des Juden Ginsburg« erwähnt, der mit Nähmaschinen gehandelt hatte, mehr nicht. Von der heldenhaften Sarra kein Wort.

Die Fahrt dauerte Stunden. Sie führte in eine düstere, eher umbrisch als toskanisch anmutende Hügellandschaft von dunkler Kupferfarbe, gleichmäßig wie Ein- und Ausatmen. Manchmal blinkte kurz ein Wasserspiegel auf. Vom Abzweig nach Boldino an gab es hier und da Puschkin-Denkmäler; die ländliche Geliebte des Dichters stammte der Überlieferung nach aus dem Dorf Lukojanow, nach dem auch der Landkreis benannt war. Hier und da stand ein Grüppchen Bäume auf der Koppel.

Potschinki war an einer Achse ausgerichtet, von der links und rechts ordentliche Querstraßen abzweigten. Am Ende der Hauptstraße stand eine hübsche klassizistische Kirche – laut Reiseführer war es die Christi-Geburt-Kirche, wo ein Priester namens Orfanow gepredigt hatte. Den Namen kannte ich: Als ich klein war, ließ eine Walja Orfanowa mir regelmäßig Grüße ausrichten, und einmal bat sie meine Mutter, mir in ihrem Namen ein Buch zu kaufen, damit Mascha mich nicht vergisst. Meine Mutter wählte aus dem Angebot im Antiquariat ein Bändchen von Fjodor Sologub aus. Unglücklicherweise war es Das Große Läuten, eine 1923 erschienene Sammlung von Revolutionsgedichten: Nach meinen damaligen Maßstäben waren Phrasen wie »Bin ein freier Proletarier, heißes Herz in meiner Brust« völlig indiskutabel, und die durchaus vorhandenen klanglichen Qualitäten dieser Verse wusste ich noch nicht zu schätzen.

Auf dem leeren Hauptplatz, von dem man möglichst schnell irgendwohin abbiegen wollte, wo es etwas zu sehen und anzufassen gab, erwartete uns die Heimatforscherin Maria Fufajewa. Es war Sonntag, aber für uns wurde die Bibliothek aufgeschlossen, das örtliche Kulturzentrum, wo gerade eine Ausstellung lief: eine Sammlung von Aquarellen, die die Häuser und Straßen von Potschinki vor hundert Jahren zeigten. Sie kamen von einer deutschen Familie, die seit dem späten 19. Jahrhundert hier gewohnt hatte, und deren Namen, fiel mir jetzt ein, ich auch schon als Kind gehört hatte: Getling. Die Bilder waren bunt und anheimelnd; in diesem fröhlichen kleinen Haus mit den Malven und anheimelnd dem Apothekenschild zum Beispiel hatte Augusta Getling, die Schwester des Malers, meine junge Urgroßmutter aufs Gymnasium vorbereitet. Das Haus stand immer noch, hatte aber seine Vortreppe verloren und eine Betonverkleidung bekommen; die Blumen und die geschnitzten Fensterrahmen waren verschwunden. Wo Anfang des Jahrhunderts meine Sarra mit ihrer Familie gelebt hatte, wo ihr weitläufiger Hof stand und ihr Pferdekarren, wusste keiner.

Und dabei blieb es, mehr war nicht zu holen, wie in den Tagebüchern meiner Tante Galja, die mich mit Wetterberichten und Aufzählungen von Lebensmitteln und Fernsehsendungen abspeisten. Was dahinterstand, flimmernd und summend, hatte keine Eile, sich zu offenbaren, vielleicht hatte es das auch gar nicht vor. Wir wurden mit Tee bewirtet, wir wurden spazieren geführt. Meine Blicke tasteten den Boden ab, als hoffte ich, eine Münze zu finden.

Das heutige Dorf verdeckte nicht die Umrisse der Stadt, die einst den größten Pferdemarkt des Bezirks, wenn nicht des ganzen Gouvernements beherbergt hatte. Wir gingen quer über den früheren Marktplatz; der weite Raum war inzwischen mit Bäumen bewachsen, irgendwo in der Mitte stand das obligatorische bleigraue Lenindenkmal, aber der Ort war sichtlich keine Menschen mehr gewöhnt – und zu groß, um eine neue Bestimmung zu finden. Rundherum standen Spielzeughäuser wie auf den Bildern der Ausstellung, manche trugen die Spuren eines schnellen, gewaltsamen Umbaus. Und noch eine Leerstelle bekam ich gezeigt: das Asphaltquadrat, das den Laden von Sarras älterem Bruder Solomon Ginsburg ersetzte. Wir standen eine Weile da und fotografierten uns – eine Gruppe aufgeplusterter Frauen in Mänteln und Mützen. Es war windig. Am Rand der Grünfläche, neben der Fahrbahn, stand ein weiteres, silbrig glänzendes Denkmal: der mächtige Hengst Korporal, der der Region zwanzig Jahre lang als Beschäler gedient hatte.

Jenseits der Brücke über die Rudnja lag in einiger Entfernung der Betrieb, der die Stadt einst beherrscht hatte – das zu Puschkins Zeiten erbaute Gestüt des Reitenden Leibgarde-Regiments. Pferde hatte man hier auch früher schon gezüchtet, »Argamas- und Nogaier Hengste, Nogaier Rösser, Wallache und Stuten, Herdentiere und russische Fohlen«, aber Katharina II. machte daraus eine Produktion im industriellen Maßstab, und das ausgedehnte Gestüt mit den klassischen Konturen und dem rissigen weißen Anstrich, mit dem abgesackten, eingestürzten zentralen Türmchen und dem Eingangsportal, das sich auf der anderen Seite des Gevierts symmetrisch spiegelte, war als Bollwerk der Zivilisation gedacht, als Insel des wohlgeordneten Petersburgertums. Endgültig hinfällig geworden war es erst vor kurzem, in den neunziger Jahren. Jetzt war es von Ackerland umgeben, das der lange Winter kahlgeleckt hatte. In den offenen Ställen gingen die letzten Pferde umher: rötlich, schwer, mit hellem, bäurischem Schopf. Sie hoben die Köpfe und drückten die Nüstern in unsere ausgestreckten Hände. Der Himmel war blendend hell geworden, die Wolken bildeten eine fliegende Kette, unter der abgeblätterten Farbe kam der rosig-hautfarbene Untergrund zum Vorschein.

Auf dem Rückweg wurde mir auf halber Strecke plötzlich klar, dass ich an das Wichtigste gar nicht gedacht hatte: Es musste hier doch einen Friedhof geben, einen jüdischen oder auch nicht, auf dem all die Meinen lagen. Der Fahrer fuhr stur hundertzwanzig, Ortsnamen blitzten auf, Surowatika, Peschelan. Ich rief Maria Fufajewa an: Einen Friedhof gab es schon lange nicht mehr, wie es auch keine Juden mehr gab in Potschinki. Oder doch, einen gab es noch, und sie wusste auch, wie er hieß. Sein Nachname war Gurewitsch: wie der meiner Mutter.