Anton P. Tschechow

 

Eine schreckliche Nacht

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2014

 

ISBN/EAN: 9783958706132

 

Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.

 

www.nexx-verlag.de

 

 

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Eine schreckliche Nacht

Iwan Petrowitsch Panichidin erblasste, schraubte den Lampendocht hinunter und begann mit erregter Stimme:

»Dichte Finsternis hielt die Erde umfangen, als ich in der Weihnachtsnacht 1883 von meinem inzwischen verstorbenen Freund heimkehrte, bei dem wir eine spiritistische Sitzung abgehalten hatten. Alle Gassen, durch die ich ging, waren aus irgendeinem Grund nicht beleuchtet, und ich musste mich beinahe vorwärts tasten. Ich wohnte damals in Moskau, dicht neben der Kirche ›Mariä Himmelfahrt auf den Gräbern‹, im Haus des Beamten Trupow, also in einer der entlegensten Gegenden des Arbat-Stadtteils. Während ich heimging, bedrückten mich schwere Gedanken...

 

– Dein Leben geht seinem Ende entgegen ... Tue Buße ... –

 

So lautete der Satz, den mir bei der Sitzung Spinoza sagte, dessen Geist zu zitieren uns gelungen war. Ich bat ihn, die Worte zu wiederholen, und die Untertasse wiederholte sie nicht nur, sondern fügte noch hinzu: – Heute Nacht! – Ich glaube nicht an den Spiritismus, doch der Gedanke an den Tod, selbst jeder Hinweis auf ihn, versetze mich in Trauer. Der Tod, meine Herrschaften, ist unvermeidlich, er ist alltäglich, und doch ist der Gedanke an ihn der Natur des Menschen zuwider ... Aber damals, als mich die undurchdringliche, kalte Finsternis einhüllte, vor meinen Augen die Regentropfen wirbelten, und ich weit und breit keine lebendige Seele sah und keine Menschenstimme hörte, war meine Seele von einem ungewissen, unfassbaren Grauen erfüllt. Ich, der ich sonst frei von Vorurteilen bin, eilte vorwärts und fürchtete, zurückzublicken oder auf die Seite zu schauen. Es war mir, als müsste ich, wenn ich zurückblickte, unbedingt den Tod in Gestalt eines Gespenstes sehen.«

 

Panichidin seufzte kurz auf, trank einen Schluck Wasser und fuhr fort:

 

»Dieses ungewisse, doch Ihnen begreifbare Grauen verließ mich auch dann nicht, als ich den dritten Stock des Trupowschen Hauses erstiegen, die Tür geöffnet und mein Zimmer betreten hatte. In meiner bescheidenen Behausung war es finster. Der Wind heulte im Ofen und klopfte gegen die Luftklappe, als begehrte er Einlass ins warme Zimmer.

 

– Wenn Spinoza die Wahrheit gesprochen hat, – sagte ich mir lächelnd, – so werde ich heute Nacht, während der Wind so weint, sterben müssen. Es ist doch recht unheimlich! –

 

Ich entzündete ein Streichholz ... Ein wilder Windstoß lief über das Hausdach. Das leise Weinen wurde zu einem wütenden Gebrüll. Irgendwo unten klapperte ein Fensterladen, den der Wind schon halb von den Angeln gerissen hatte, und die Luftklappe meines Ofens winselte jämmerlich um Hilfe...

 

– Wie mag es wohl in einer solchen Nacht einem Obdachlosen zumute sein! – dachte ich mir.

 

Es war aber nicht die Zeit für ähnliche Betrachtungen. Als der Schwefel an meinem Zündholz mit einer bläulichen Flamme aufleuchtete und ich mich in meinem Zimmer umsah, bot sich meinen Augen ein unerwarteter und schrecklicher Anblick ... Wie schade, dass der Windstoß mein Zündholz nicht erreichte! Dann hätte ich vielleicht gar nichts erblickt und meine Haare stünden nicht zu Berge. Ich schrie auf, taumelte einen Schritt zurück und schloss, von Verzweiflung und Erstaunen erfüllt, die Augen...

 

In der Mitte meines Zimmers stand ein Sarg.

 

Das blaue Flämmchen brannte nur kurz, doch ich hatte Zeit, die Umrisse des Sarges zu unterscheiden ... Ich sah den rosa getönten, glitzernden Silberbrokat, mit dem der Sarg überzogen war, ich sah das goldene Kreuz auf dem Deckel. Es gibt Dinge, meine Herrschaften, die sich tief unserem Gedächtnis einprägen, selbst wenn wir sie nur einen kurzen Augenblick gesehen haben. So war es auch mit diesem Sarg. Ich sah ihn nur eine Sekunde lang, kann mich aber seiner in allen Einzelheiten erinnern. Der Sarg war für einen Menschen von mittlerem Wuchs bestimmt, der rosa Farbe nach zu schließen, wohl für ein junges Mädchen. Der kostbare Silberbrokat, die Füße und Griffe aus Bronze, – alles sprach dafür, dass es sich um eine vermögende Leiche handelte.

 

Ich stürzte wie wahnsinnig aus meinem Zimmer und rannte, ohne zu denken, ohne zu überlegen, nur von unbeschreiblicher Angst erfüllt, die Treppe hinunter. Im Korridor und auf der Treppe war es finster, ich trat immer auf die Schöße meines Pelzmantels, und es ist einfach erstaunlich, dass ich mir dabei nicht das Genick brach. Mein Herz klopfte furchtbar, mein Atem stockte ...«

 

Eine der Zuhörerinnen schraubte den Lampendocht wieder hinauf, rückte näher an den Erzählenden heran, und dieser fuhr fort:

 

»Ich würde mich nicht gewundert haben, wenn ich in meinem Zimmer eine Feuersbrunst, einen Dieb oder einen tollen Hund angetroffen hätte ... Auch nicht, wenn die Decke und der Fußboden eingestürzt und die Mauern umgefallen wären ... Dies alles ist natürlich und begreifbar. Wie konnte aber in mein Zimmer der Sarg geraten sein? Wo kam er her? Ein teurer, offenbar für eine junge Aristokratin bestimmter Sarg, – wie konnte er in das armselige Zimmer eines bescheidenen Beamten gekommen sein? Ist er leer, oder liegt in ihm eine Leiche? Wer ist diese so früh aus dem Leben geschiedene reiche Dame, die mir einen so seltsamen und schrecklichen Besuch abgestattet hat? Ein qualvolles Geheimnis!

 

– Wenn es kein Wunder ist, so ist es ein Verbrechen, – ging es mir blitzartig durch den Kopf.

 

Ich war ganz ratlos. Meine Tür war während meiner Abwesenheit abgeschlossen gewesen und der Schlüssel hatte sich an einer Stelle befunden, die nur meinen nächsten Freunden bekannt war. Der Sarg war doch nicht von meinen Freunden auf mein Zimmer gebracht worden! Man könnte annehmen, dass der Sargmacher den Sarg aus Versehen in mein Zimmer gebracht hatte. Er hätte sich im Stockwerk oder in der Tür irren und den Sarg in eine falsche Wohnung abliefern können. Wer weiß aber nicht, dass unsere Sargmacher niemals das Zimmer verlassen, ehe sie das Geld für ihre Arbeit oder wenigstens ein Trinkgeld bekommen haben?

 

– Die Geister haben mir den Tod prophezeit, – dachte ich mir: – Vielleicht haben sie mich auch gleich mit einem Sarg versorgt? –

 

Meine Herrschaften, ich glaubte niemals an den Spiritismus und glaube auch heute nicht an ihn, doch so ein Zufall kann selbst einen Philosophen in eine mystische Stimmung versetzen.

 

– Das ist aber so furchtbar dumm, und ich bin ängstlich wie ein Schuljunge, – sagte ich mir. – Es war nur eine optische Täuschung und sonst nichts! Auf dem Heimweg befand ich mich in einer so düsteren Stimmung, dass es gar kein Wunder ist, wenn meine kranken Nerven einen Sarg zu sehen vermeinten ... Natürlich, eine optische Täuschung! Was denn sonst? –

 

Der Regen peitschte mich ins Gesicht, und der Wind zerrte wütend an meinen Schößen und meiner Mütze ... Ich war ganz durchfroren und durchnässt. Ich musste doch irgendwo hingehen, doch wohin? Nach Hause zurückkehren, hieße doch, sich dem Risiko aussetzen, wieder den Sarg zu sehen; dieser Anblick ging aber über meine Kraft. Ohne eine lebende Seele in meiner Nähe zu haben, ohne eine Stimme zu hören, hätte ich, wenn ich mit dem Sarg, in dem vielleicht auch eine Leiche lag, allein geblieben wäre, verrückt werden können. Es war aber auch unmöglich, im Regen und in der Kälte auf der Straße zu bleiben.

 

Ich entschloss mich, zu meinem Freund Upokojew zu gehen, der sich, wie Sie wissen, später erschossen hat, und bei ihm zu übernachten. Er lebte in der Pension Tschereepow in der Totengasse.«

 

Panichidin wischte sich den kalten Schweiß vom Gesicht, seufzte schwer auf und fuhr fort:

 

»Ich traf meinen Freund nicht an. Nachdem ich angeklopft und mich überzeugt hatte, dass er nicht zu Hause war, fand ich auf dem Pfosten über der Tür den Schlüssel und trat ein. Ich warf meinen durchnässten Pelzmantel auf den Fußboden, fand im Finstern tastend das Sofa und setzte mich hin, um auszuruhen. Es war stockfinster ... Im Ventilator summte traurig der Wind. Im Ofen zirpte eintönig das Heimchen. Im Kreml fing man eben an, zur Weihnachtsmesse zu läuten. Ich beeilte mich, ein Zündholz anzustecken. Das Licht befreite mich jedoch nicht von der düsteren Stimmung, sondern im Gegenteil. Ein schreckliches, unsagbares Grauen bemächtigte sich meiner von Neuem ... Ich schrie auf, wankte und verließ halb bewusstlos das Zimmer...

 

Im Zimmer meines Freundes sah ich dasselbe wie bei mir: einen Sarg!

 

Der Sarg meines Freundes war beinahe doppelt so groß als der meinige, und der braune Stoff, mit dem er überzogen war, verlieh ihm einen besonders düsteren Charakter. Wie war er nur hergeraten? Dass es bloß eine optische Täuschung war, unterlag wohl keinem Zweifel ... Wie sollte auch in jedes Zimmer ein Sarg kommen? Es war offenbar eine rein nervöse Erscheinung, eine Halluzination. Wohin ich jetzt auch gehen wollte, überall würde ich wohl die schreckliche Behausung des Todes sehen. Folglich war ich dem Wahnsinn nahe und im Begriff, an einer ›Sargomanie‹ zu erkranken; die Ursache der Erkrankung war nicht schwer zu ergründen: Ich brauchte mich nur der spiritistischen Sitzung der Worte Spinozas zu erinnern...

 

– Ich werde verrückt! – sagte ich mir entsetzt und griff mich an den Kopf. – Mein Gott! Was soll ich machen?

 

Mein Kopf drohte zu zerspringen, meine Beine knickten ein ... Es goss in Strömen, der Wind ging mir durch Mark und Bein, und ich hatte weder Pelz noch Mütze. In das Zimmer Upokojews zurückkehren, um meine Sachen zu holen, ging über meine Kraft ... Das Grauen hielt mich in seinen kalten Armen fest. Die Haare standen mir zu Berge, kalter Schweiß rann mir in Strömen von der Stirn, obwohl ich auch fest daran glaubte, dass es nur eine Halluzination sei.«

 

»Was sollte ich machen?«, fuhr Panichidin fort. »Ich wurde allmählich verrückt und riskierte, mich auch noch zu erkälten. Zum Glück erinnerte ich mich, dass in der Nähe der Totengasse mein guter Freund Pogostow, ein junger Arzt, wohnte, der soeben sein Staatsexamen gemacht und in dieser Nacht der gleichen spiritistischen Sitzung beigewohnt hatte. Ich eilte zu ihm ... Damals war er noch nicht mit der reichen Kaufmannswitwe verheiratet und wohnte im vierten Stock des Hauses des Staatsrates Kladbischtschenskij.

 

Bei Pogostow stand meinen Nerven eine neue Tortur bevor. Während ich zum vierten Stock hinaufstieg, hörte ich einen furchtbaren Lärm. Oben rannte jemand herum, trampelte mit den Füßen und schlug die Türen zu.

 

– Zu mir! – hörte ich ein herzzerreißendes Geschrei: – Zu mir! Hausmeister! –

 

Einen Augenblick später rannte mir von oben eine dunkle Gestalt im Pelzmantel und eingedrücktem Zylinder entgegen...

 

– Pogostow! – rief ich aus, als ich meinen Freund erkannte. – Sind Sie es? Was haben Sie denn? –

 

Pogostow blieb vor mir stehen und griff krampfhaft nach meiner Hand. Er war blass, keuchte schwer und zitterte. Seine Augen schweiften wie bei einem Irren umher, und seine Brust hob und senkte sich...

 

– Sind Sie es, Panichidin? – fragte er mit dumpfer Stimme. – Sind Sie es wirklich? Sie sind blass wie eine Leiche ... Vielleicht sind auch Sie eine Halluzination? ... Mein Gott ... Sie sind so schrecklich ... –

 

– Aber was haben Sie? Auch Sie sehen entsetzlich aus! –

 

– Ach, lassen Sie mich erst Atem holen ... Ich bin froh, dass ich Sie sehe, wenn Sie es wirklich sind und es keine optische Täuschung ist. Die verfluchte spiritistische Sitzung ... Sie hat meine Nerven so furchtbar erregt, dass ich, nach Hause zurückgekehrt, in meinem Zimmer ... was glauben Sie wohl? ... einen Sarg sah! –

 

Ich traute meinen Ohren nicht und bat ihn, seine Worte zu wiederholen.

 

– Einen Sarg, einen echten Sarg! – sagte der Arzt, indem er sich erschöpft auf eine der Stufen niederließ. – Ich bin kein Feigling, aber auch der Teufel selbst wird erschrecken, wenn er nach einer spiritistischen Sitzung im Finstern auf einen Sarg stößt! –

 

Stotternd erzählte ich ihm von den Särgen, die ich gesehen hatte...

 

Eine Minute lang glotzten wir einander mit weit aufgesperrten Augen und Mündern an. Dann fingen wir an, einander zu kneifen, um uns zu vergewissern, dass es keine Halluzination sei.

 

– Wir spüren beide den Schmerz, – sagte der Arzt – folglich schlafen wir nicht und sehen einander wirklich. Folglich sind die Särge, wie der Ihrige so auch der meine keine optischen Täuschungen, sondern etwas Greifbares. Was fangen wir jetzt an, lieber Freund? –

 

Nachdem wir eine geschlagene Stunde im kalten Treppenhaus gestanden und alle möglichen Hypothesen aufgestellt hatten, waren wir ganz erfroren und fassten den Entschluss, uns von der kleinmütigen Angst freizumachen, den Diener zu wecken und mit ihm in das Zimmer des Arztes zu gehen. So machten wir es auch. Wir traten ins Zimmer, zündeten eine Kerze an und erblickten tatsächlich einen mit weißem Silberbrokat überzogenen Sarg mit goldenen Fransen und Quasten. Der Diener schlug andächtig ein Kreuz.

 

– Jetzt wollen wir feststellen, – sagte der Arzt ganz bleich und am ganzen Leib zitternd, – ob dieser Sarg leer ist oder ... bewohnt ... –

 

Nach einem langen, wohl begreifbaren inneren Kampf beugte er sich und hob, vor Angst und Spannung die Zähne zusammenbeißend, den Sargdeckel. Wir blickten in den Sarg hinein und...

 

Der Sarg war leer...

 

Es lag keine Leiche darin, dafür fanden wir einen Brief folgenden Inhalts:

 

– Lieber Pogostow! Du weißt doch, dass mein Schwiegervater vor dem Bankrott steht. Er steckt bis an den Hals in Schulden. Morgen oder übermorgen kommt der Gerichtsvollzieher, und das wird seine Familie, wie auch die meine endgültig ruinieren und auch unsere Ehre untergraben, die für mich doch am wertvollsten ist. Auf unserem gestrigen Familienrat beschlossen wir, alles, was einen Wert hat, zu verstecken. Da das ganze Vermögen meines Schwiegervaters in Särgen steckt (er ist, wie Du weißt, der beste Sarglieferant in unserer Stadt), so entschlossen wir uns, die besseren Särge auf die Seite zu tun. Ich wende mich an Dich mit der Bitte, mir den Freundschaftsdienst zu tun und mir zu helfen, unser Vermögen und unsere Ehre zu retten! In der Hoffnung, dass Du uns helfen willst, unser Vermögen zu erhalten, schicke ich Dir, lieber Freund, einen Sarg und bitte Dich, ihn bei Dir zu verwahren, bis ich ihn wieder abhole. Ohne Hilfe unserer Bekannten und Freunde müssen wir zugrunde gehen. Ich hoffe, dass Du mir die Bitte nicht abschlagen wirst, umso mehr als der Sarg bei Dir höchstens acht Tage bleiben soll. Jedem, den ich für unseren wahren Freund halte, schickte ich einen Sarg und baue auf seine Großmut und Güte.

In Liebe Dein Iwan Tscheljustin. –

 

Nach dieser Geschichte musste ich mich drei Monate lang von einem Nervenarzt behandeln lassen, doch unser Freund, der Schwiegersohn des Sargmachers, hat sein Vermögen und seine Ehre gerettet: Heute ist er Besitzer eines Beerdigungsinstituts und handelt mit Grabmälern und Grabsteinen. Seine Geschäfte gehen nicht besonders gut, und sooft ich jetzt abends heimkomme, fürchte ich immer, neben meinem Bett einen Grabstein aus weißem Marmor oder einen Katafalk vorzufinden.«

 

Der Redner

Eines schönen Morgens beerdigte man den Kollegienassessor Kirill Iwanowitsch Wawilonow, der an zwei Krankheiten, die in unserem Vaterland besonders verbreitet sind, gestorben war: an einer bösen Frau und am Alkoholismus. Als der Leichenzug sich von der Kirche zum Friedhof in Bewegung setzte, nahm einer der Kollegen des Verstorbenen, ein gewisser Poplawskij eine Droschke und fuhr zu seinem Freund Grigorij Petrowitsch Sapojkin, einem noch jungen, aber schon recht populären Herrn. Sapojkin hat, wie es vielen meiner Leser schon bekannt ist, die seltene Gabe, Hochzeits-, Jubiläums- und Grabreden aus dem Stegreif zu halten. Er kann in jedem Zustand reden: Wenn man ihn aus dem Schlaf weckt, auf den nüchternen Magen, besoffen und im Fieber. Seine Reden fließen ebenso gleichmäßig und reichlich dahin wie das Wasser aus einer Regentraufe; in seinem Vokabular gibt es viel mehr rührende Worte als in einem beliebigen Wirtshaus Kakerlaken. Er spricht immer geschraubt und so lang, dass man zuweilen, besonders bei Hochzeiten in Kaufmannsfamilien die Hilfe der Polizei anrufen muss, um ihn zum Schweigen zu bringen.

 

»Ich komme zu dir mit einer Bitte, Bruder!«, begann Poplawskij, als er ihn zu Hause angetroffen hatte. »Zieh dich augenblicklich an und komme mit mir. Einer von den Unsrigen ist gestorben, wir geben ihm eben das letzte Geleit, also muss man zum Abschied irgendein Blech zusammenreden ... Du bist unsere einzige Hoffnung. Wenn einer von den kleineren Beamten gestorben wäre, hätte ich dich nicht belästigt; es ist aber der Sekretär, sozusagen der Grundpfeiler der ganzen Kanzlei. So einen Kerl kann man doch wirklich nicht ohne eine Rede beerdigen.«

 

»Ach so, der Sekretär!«, versetzte Sapojkin gähnend. »Der Trunkenbold?«

 

»Ja, der Trunkenbold. Es wird Pfannkuchen geben und noch mancherlei ... die Droschke kriegst du bezahlt. Komm mit, Liebster! Du wirst am Grab etwas im Stile Ciceros vorquatschen, und der Dank wird nicht ausbleiben!«

 

Sapojkin ging darauf gerne ein. Er zerzauste sich das Haar, nahm einen melancholischen Gesichtsausdruck an und trat mit Poplawskij auf die Straße.

 

»Ich kenne euren Sekretär,« sagte er, in die Droschke steigend. »Ein Spitzbube und eine Bestie war er, Gott hab' ihn selig, wie man nicht so bald einen zweiten findet.«

 

»Grischa, auf einen Toten schimpft man doch nicht!«

 

»Ja, gewiss, aut mortuis nihil bene, aber er war doch ein Gauner.«

 

Die beiden Freunde holten den Leichenzug ein und gesellten sich zur Prozession. Diese bewegte sich so langsam, dass Poplawskij und Sapojkin unterwegs Zeit hatten, dreimal in Wirtshäuser einzukehren und für das Seelenheil des Verstorbenen je ein Glas Schnaps zu trinken.

 

Auf dem Friedhof wurde eine Messe gelesen. Die Schwiegermutter, die Witwe und die Schwägerin vergossen der Sitte gemäß viele Tränen. Als der Sarg ins Grab versenkt wurde, schrie die Witwe sogar auf: »Lasst mich zu ihm!« Sie folgte ihm aber doch nicht ins Grab, wahrscheinlich, weil sie sich der Pension erinnerte. Als alles still geworden war, trat Sapojkin vor, ließ seine Blicke im Kreis schweifen und begann: »Soll ich meinen Augen und Ohren trauen? Ist nicht dieser Sarg, sind nicht diese verweinten Gesichter, diese Seufzer und Klagerufe nur ein schrecklicher Traum? Doch ach, es ist kein Traum, und unsere Augen täuschen uns nicht! Der, den wir vor Kurzem so rüstig, so jugendlich und so frisch gesehen haben, der vor unseren Augen, der emsigen Biene gleich, den Honig in den Bienenstock der staatlichen Ordnung trug, der, welcher ... dieser selbe ist nun Staub geworden, eine körperliche Fata Morgana. Der unerbittliche Tod hat ihn mit seiner erstarrenden Hand zu einer Zeit berührt, wo er, trotz seines gebeugten Alters, noch voller blühender Kräfte und strahlender Hoffnungen war. Dieser unersetzliche Verlust! Wer kann seine Stelle ausfüllen? Gute Beamte haben wir genug, doch Prokofij Ossipytsch war der einzige. Er war bis in die Tiefe seiner Seele seiner ehrlichen Pflicht ergeben, er schonte seine Kräfte nicht, er durchwachte manche Nacht und war uneigennützig und unbestechlich ... Wie verachtete er diejenigen, die sich bemühten, ihn zum Schaden der Allgemeinheit zu bestechen, die es versuchten, ihn durch die Anerbietung der verlockenden irdischen Güter zu verführen, seiner Pflicht untreu zu werden! Ja, wir alle sahen es, wie Prokofij Ossipytsch sein kleines Gehalt unter seinen ärmeren Kollegen verteilte, und wir hörten eben die Klagen der Witwen und Waisen, die von seinen Gaben lebten. Seinen Pflichten und den guten Werken ergeben, kannte er keine Lebensfreuden und entsagte selbst dem Glück des Familienlebens: Es ist Ihnen allen bekannt, dass er bis ans Ende seiner Tage Junggeselle blieb! Und wer wird ihn uns als Kollegen ersetzen? Ich sehe sein bartloses, herzinniges Gesicht mit dem gutmütigen Lächeln wie lebendig vor mir und höre seine sanfte, zärtliche, freundschaftliche Stimme. Friede deiner Asche, Prokofij Ossipytsch! Ruhe sanft, du edler Held der Pflicht!«

 

Sapojkin redete weiter, doch die Zuhörer begannen zu tuscheln. Die Rede gefiel allen sehr gut, weckte auch einige Tränen, erschien aber in mancher Beziehung etwas sonderbar. Erstens war es unverständlich, warum der Redner den Verstorbenen Prokofij Ossipytsch nannte, während er in Wirklichkeit Kirill Iwanowitsch hieß. Zweitens war es allen bekannt, dass der Verstorbene sein Leben lang mit seiner legitimen Gattin gekämpft hatte und folglich nicht als Junggeselle angesehen werden durfte; drittens hatte er einen üppigen roten Vollbart, und es war unverständlich, warum der Redner von seiner Bartlosigkeit sprach. Die Zuhörer staunten, wechselten Blicke und zuckten die Achseln.

 

»Prokofij Ossipytsch!«, fuhr der Redner fort, begeistert auf das Grab blickend. »Dein Gesicht war unschön, sogar hässlich, du warst mürrisch und unfreundlich, doch wir wussten alle, dass in dieser sichtbaren Hülle ein ehrliches Freundesherz schlug!«

 

Die Zuhörer merkten nun, dass auch mit dem Redner etwas Sonderbares vorging. Er starrte auf einen Punkt, rückte unruhig hin und her und zuckte auch selbst die Achseln. Plötzlich verstummte er, riss erstaunt den Mund auf und wandte sich zu Poplawskij um.

 

»Hör einmal, er lebt doch!«, sagte er entsetzt.

 

»Wer lebt?«

 

»Prokofij Ossipytsch! Da steht er ja neben dem Grabdenkmal!«

 

»Er ist ja auch gar nicht gestorben! Gestorben ist Kirill Iwanowitsch!«

 

»Du hast mir doch selbst gesagt, euer Sekretär sei gestorben!«

 

»Kirill Iwanowitsch war auch unser Sekretär. Du hast es verwechselt! Prokofij Ossipytsch war allerdings bei uns einmal Sekretär, aber man hat ihn schon vor zwei Jahren als Amtsvorstand in die zweite Abteilung versetzt.«

 

»Da soll sich der Teufel auskennen!«

 

»Warum bist du aber mitten drin stecken geblieben? Fahre fort, es passt ja nicht!«

 

Sapojkin wandte sich zum Grabe und setzte mit früherer Begeisterung die unterbrochene Rede fort. An einem Grabdenkmal stand tatsächlich Prokofij Ossipytsch, ein alter Beamter mit glatt rasiertem Gesicht. Er blickte den Redner an und machte ein unzufriedenes Gesicht. »Was ist dir nur eingefallen!«, lachten die Beamten, als sie mit Sapojkin vom Friedhof heimgingen. »Einen lebendigen Menschen wolltest du beerdigen!«

 

»Es ist nicht schön, junger Mann!«, brummte Prokofij Ossipytsch. »Ihre Rede taugt vielleicht für einen Toten, doch in Bezug auf einen Lebenden klingt sie wie Hohn! Erlauben Sie einmal, was haben Sie gesagt? Uneigennützig, unbestechlich! Von einem lebenden Menschen kann man doch so was nur zum Spott sagen. Auch hat Sie niemand gebeten, sich so über mein Gesicht zu verbreiten. Gut, ich bin unschön und hässlich, aber warum soll man mein Gesicht so der Öffentlichkeit zeigen? Das ist doch kränkend.«

 

Die Nacht vor der Verhandlung

Es wird ein Unglück geben, Herr!«, sagte der Postillon, sich zu mir wendend und mit der Peitsche auf einen Hasen zeigend, der uns über den Weg lief.

 

Ich wusste auch ohne den Hasen, dass meine Lage eine verzweifelte war. Ich fuhr nach S., um mich vor dem Kreisgericht wegen Bigamie zu verantworten. Das Wetter war entsetzlich. Als ich spät in der Nacht die Poststation erreichte, sah ich wie ein Mensch aus, den man mit Schnee beworfen, mit Wasser begossen und obendrein auch durchgeprügelt hatte: so furchtbar war ich durchfroren, durchnässt und vom eintönigen Rütteln betäubt. Auf der Station empfing mich der Stationsaufseher, ein langer Kerl in blaugestreifter Unterhose, kahl, verschlafen und mit einem Schnurrbart, der ihm aus den Nasenlöchern zu wachsen schien, sodass er wohl nichts riechen konnte.

 

Aber es gab da, offen gestanden, was zu riechen. Als der Aufseher, brummend, schnaubend und sich den Hals juckend, die Tür zu den Stationszimmern aufmachte und mir schweigend mit dem Ellbogen meine Ruhestätte zeigte, umfing mich sofort ein durchdringender Geruch von etwas Saurem, von Siegellack und zerdrückten Wanzen, sodass ich beinahe erstickte. Das Blechlämpchen, das auf dem Tisch stand und die ungestrichenen Holzwände beleuchtete, qualmte wie ein Kienspan.

 

»Einen Gestank haben Sie hier, Signore!«, sagte ich, als ich eintrat und meinen Koffer auf den Tisch stellte.

 

Der Aufseher schnupperte die Luft und schüttelte misstrauisch den Kopf.