Hans Grassegger

Phonetik / Phonologie

BWT
Basiswissen Therapie

Herausgeber: Jürgen Tesak †

in dieser Reihe erschienen:

Egon Kayser: Psychologie

Thomas Mathe: Medizinische Soziologie und Sozialmedizin

Anja Schubert: Dysarthrie

Gerald Schiller: Psychiatrie

Peter Dicks: Laryngektomie

Carola Habermann / Stefanie Moser: Pädagogik

Michael Klose / Christiane Kritzer / Silvia Pretzsch:

Aussprachestörungen bei Kindern. Sprachentwicklung – Diagnostik – Therapie

Hans Grassegger

Phonetik Phonologie

VORWORT DES HERAUSGEBERS

Die Reihe „Basiswissen Therapie (BWT)“ vermittelt grundlegendes Wissen für Ausbildung und Beruf in den Fachbereichen Logopädie und Ergotherapie sowie in den dazugehörigen Grundlagenwissenschaften (Medizin, Psychologie, Pädagogik, Linguistik, u.a.). Themen der Reihe sind also alle Bereiche der Ausbildung sowie des Berufsalltags.

Fragenkataloge (mit Zielantworten) sowie weiterführende Literaturangaben sollen die Verwendung der BWT-Bände im Unterricht erleichtern, aber auch eine Hilfe für das Selbststudium sein.

Die Autor(inn)en der Reihe sind nicht nur kompetente Fachleute, sondern haben auch reiche Erfahrung in der Ausbildung von Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen.

Mit dem Buch von Professor Grassegger liegt eine sachkundige Arbeit vor, die nicht nur in der Ausbildung von Sprachtherapeut(inn)en und Sprachwissenschaftler(innen), sondern auch für Berufstätige von Nutzen ist, wenn es um grundlegende Fragen der Phonetik und Phonologie geht.

Wir hoffen, dass Ihnen der vorliegende Band gefällt, und wünschen eine interessante Lektüre.

Prof. Dr. Jürgen Tesak †

(Vorwort zur 3. Auflage 2006)

VORWORT DES VERFASSERS ZUR 1. AUFLAGE

Das vorliegende Buch wendet sich an all jene, die in Ausbildung oder Beruf Kenntnisse aus dem Gegenstandsbereich der artikulatorischen Phonetik und der Phonologie benötigen. Dem Reihentitel entsprechend vermittelt es „Basiswissen“, welches sowohl im Selbststudium als auch in Lehrveranstaltungen erarbeitet werden kann. Überwiegend deutschsprachige Beispiele sollen die dargestellten Grundlagen auch ohne Fremdsprachenkenntnisse nachvollziehbar machen. Die nach jedem Kapitel angebotenen Übungsaufgaben mit Lösungen verstehen sich in zweifacher Hinsicht als Anregung: zum einen als Verständniskontrolle im Selbststudium, zum anderen als Modell für ähnliche Aufgabenstellungen in Lehrveranstaltungen. Hinweise auf weiterführende Literatur eröffnen den Zugang zu jenen phonetischen Teilbereichen und phonologischen Theorien, die in der vorliegenden Einführung unberücksichtigt bleiben mussten.

Zur Entstehung dieses Buches haben viele beigetragen, denen ich an dieser Stelle danken möchte. Das sind zunächst einmal die Studierenden meiner Phonetik-Lehrveranstaltungen am Institut für Sprachwissenschaft, am Universitätslehrgang „Deutsch als Fremdsprache“ und an der Akademie für den logopädischphoniatrisch-audiologischen Dienst. Ihre interessierten Fragen, aber auch ihr demonstratives Unverständnis für unklare oder allzu abstrakte Formulierungen haben die vorliegende Darstellung hoffentlich spürbar beeinflusst. Weiterhin gilt mein Dank jenen sechs Studentinnen der Schule für Logopädie in Kreischa/Sachsen, die eine erste Fassung des Manuskripts gelesen und mit inhaltlichen sowie stilistischen Korrekturvorschlägen versehen haben: Berenike Hartig, Nina Lüdemann, Lydia Neubert, Kathrin Roetsch, Katja Schmidt und Anja Weiss. Zahlreiche Verbesserungs- und Ergänzungsvorschläge verdanke ich auch dem Reihenherausgeber, Dr. Jürgen Tesak, der im Übrigen meine Arbeit an diesem Buch mit geduldig-hartnäckiger Konsequenz begleitet hat.

Schließlich habe ich noch dem Schulz-Kirchner Verlag für sein Engagement bei der Publikation dieses Buches zu danken. Petra Jeck hat das komplizierte Lay-out mit bewundernswertem Geschick erstellt, ohne sich von phonetischen Transkriptionszeichen, phonologischen Regelformaten, grafischen Darstellungen oder eingerahmten Randglossen abschrecken zu lassen. Bei der umsichtigen und entgegenkommenden redaktionellen Betreuung durch die Verlagslektorin, Doris Zimmermann, war für mich die Arbeit auch am dritten Korrekturabzug noch ein Vergnügen.

Es bleibt zu wünschen, dass den Leserinnen und Lesern schon die erste Lektüre dieses Buches ebenso viel Vergnügen bereitet.

Graz, im April 2001

Hans Grassegger

1        EINLEITUNG

Phonetik und Phonologie untersuchen die lautlichen Phänomene der sprachlichen Kommunikation, d.h. sie analysieren, wie Lautsprache produziert, übertragen und wahrgenommen wird und nach welchen Prinzipien sie funktioniert. Phonetik und Phonologie haben also – wie schon der gemeinsame Wortbestandteil Phon- zeigt – denselben Untersuchungsgegenstand, nämlich die Lautgestalt der Sprache. Sie gehen aber an diesen Gegenstand von zwei grundlegend verschiedenen Gesichtspunkten heran:

Vgl. griech. phoné Stimme, Ton, Laut

Die Phonetik beschreibt die Entstehung, Übertragung und Wahrnehmung, also die materielle Seite der Sprachlaute, die Phonologie hingegen untersucht die Funktion und Eigenschaft von Sprachlauten als Elemente eines Sprachsystems, also die funktionelle Seite der Sprachlaute.

Mit dieser knappen Definition ist der Gegenstandsbereich des vorliegenden Buches freilich nur sehr allgemein umrissen. Ehe wir aber zur detaillierten Darstellung unseres Gegenstandes übergehen, wollen wir noch einige grundlegende Aspekte der sprachlichen Kommunikation erörtern.

1.1        Sprachliche Ebenen

Wenn Menschen sich miteinander verständigen wollen, bedienen sie sich der Sprache, entweder in mündlicher Form (gesprochene Sprache) oder in schriftlicher Form (geschriebene Sprache). Die gesprochene Sprache ist die primäre Form, sie geht der geschriebenen Sprache voraus: Wir lernen zuerst sprechen, dann erst schreiben. Auch in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit taucht die Schrift erst relativ spät auf, und es gibt heute noch viele Sprachgemeinschaften ohne Schrift.

(Hierarchische Struktur

Sprache ist ein hierarchisch strukturiertes Kommunikationssystem. Das heißt, dass kleinere Einheiten in unterschiedlichen Kombinationen zu einer Vielzahl von größeren Einheiten zusammengefügt werden können. Dieses Prinzip tritt zweifach in Erscheinung. Erstens können Wörter (Lexeme) und grammatische Formen (Morpheme), wie z.B. Flexionsendungen, zu verschiedensten Satzteilen (Syntagmen) und diese wiederum zu Sätzen mit immer neuen Bedeutungen kombiniert werden. Zweitens ergeben einzelne Sprachlaute (Phoneme) in unterschiedlichen Kombinationen verschiedenste sprachliche Zeichen11. Die Ökonomie der Sprache manifestiert sich also in der Möglichkeit, aus einer begrenzten Anzahl von Lauten (Phonemen) eine (zumindest theoretisch) unendliche Anzahl sprachlicher Zeichen (Lexeme, Morpheme) zu bilden, die in der sprachlichen Kommunikation zu unendlich vielen Äußerungen (Syntagmen, Sätze, Texte) kombiniert werden können.

Ausgehend von dieser hierarchischen Strukturierung der Sprache sind die folgenden Ebenen der Sprachbeschreibung zu unterscheiden:

1. Syntaktische Ebene

2. Lexikalische Ebene

3. Morphologische Ebene

4. Phonologische Ebene

5. Phonetische Ebene

asemantische Einheiten

phonologisch:

Phonem

phonetisch:

Phon

Dabei beinhalten die syntaktische, die lexikalische und die morphologische Ebene so genannte semantische Einheiten, d.h. Einheiten, die eine Bedeutung tragen, während die phonologische und die phonetische Ebene aus asemantischen Einheiten bestehen.

Auf der phonologischen Ebene sind dies die Phoneme, die selbst keine Bedeutung haben, sondern vielmehr die bedeutungstragenden Einheiten der höheren Ebenen voneinander unterscheiden. Man spricht daher von der bedeutungsdifferenzierenden Funktion der Phoneme, z.B. dt. /o/ und /u/ in <Brot> vs. <Brut>, oder /t/ und /d/ in <Teich> vs. <Deich>.

Auf der phonetischen Ebene sind diese asemantischen Einheiten die Phone, das sind die konkreten Realisierungen der Laute beim Sprechen. Wenn etwa ein Sprecher dreimal das Wort [te:] <Tee> spricht, so liegen drei „verschiedene“ Realisierungen des anlautenden [t] vor, bei denen es sich um (drei) einmalige und unwiederbringliche Ergebnisse des jeweiligen Sprechvorgangs handelt. Trotz ihrer materiellen Verschiedenheit ordnet aber ein Hörer diese drei Realisierungen seiner Vorstellung vom Sprachlaut /t/ zu, sodass er drei Mal das „gleiche“ Wort, nämlich <Tee>, hört und nicht etwa <See> oder <Reh>.

Notationskonventionen

– orthografisch:

<kindisch>

– phonologisch:

/ıkindiʃ/

– phonetisch:

[ıkindiʃ]

Daraus wird ersichtlich, dass der Sprachlaut eine abstrakte Einheit ist. Als solche darf er aber weder mit den einmaligen, phonetischen Realisierungen im konkreten Sprechvorgang gleichgesetzt werden, noch mit den einzelnen Buchstaben der Orthographie. Wir wollen diesem Umstand bei der grafischen Wiedergabe (Transkription) von Lauten Rechnung tragen: Wenn wir konkrete Lautrealisierungen notieren, setzen wir die entsprechenden Symbole zwischen eckige Klammern; beziehen wir uns auf Laute in ihrer Eigenschaft als (bedeutungsdifferenzierende) Phoneme, so stehen die Symbole zwischen Schrägstrichen; und schließlich setzen wir die Buchstaben der geschriebenen Sprache zwischen spitze Klammern: z.B. orthografisch <Schoten> vs. <Schotten>; phonologisch /ʃo:ten/ vs. /ʃoten/; phonetisch [ıʃo:tәn] vs. [ıʃɔtәn] (s.u. 1.3 Phonetische und Phonologische Transkription).

1.2        Sprachliche Zeichen

Ein sprachliches Zeichen entsteht aus der Verbindung eines Inhalts mit einem Ausdruck.

Der Zeicheninhalt entspricht dabei der Bedeutung, mit deren Hilfe wir uns auf die außersprachliche Wirklichkeit beziehen. Der Zeichenausdruck entspricht der materiellen Gestalt, mit der der Inhalt „zum Ausdruck gebracht“ wird. Dieser materielle Ausdruck kann verschiedene Formen annehmen (wie z.B. Flaggensignale, Morsezeichen, Gebärden der Taubstummensprache u.Ä.). Wegen des Primats der gesprochenen Sprache konzentrieren wir uns hier jedoch auf den lautlichen Ausdruck (das Lautbild) und behalten im Auge, dass geschriebene Sprache (das Schriftbild) nur sekundär aus der gesprochenen Sprache abgeleitet ist.

(Bilaterales Zeichen

Für die Funktion als sprachliches Zeichen sind Inhalt und Ausdruck untrennbar miteinander verbunden. Man spricht daher auch vom bilateralen Zeichen, dessen beide Seiten als Signifikat (Zeicheninhalt) und Signifikant (Zeichenausdruck) zusammengehören wie die beiden Seiten eines Blattes Papier.

Wir können zwar hier nicht näher auf die Theorie der sprachlichen Zeichen eingehen, doch scheinen wenigstens noch einige Bemerkungen über die Eigenschaften des lautlichen Ausdrucks angebracht.

Zunächst einmal ist zu betonen, dass eine Lautfolge allein, wie etwa /stronk/ im Deutschen, noch kein Zeichen ist, weil sie zwar eine mögliche Zeichenform darstellt, der aber kein Zeicheninhalt zugeordnet ist. Mit der Lautfolge /hund/ hingegen kann ich mich sowohl auf ein ganz konkretes Tier (z. B. auf das Haustier meines Gesprächspartners) als auch auf die gesamte Tiergattung der so genannten Caniden beziehen. Schon durch minimale Änderung der Lautform (z.B. /hand/) kann ich einen völlig verschiedenen Inhalt (eine andere sprachliche Bedeutung) evozieren. Diese Verschlüsselung (Kodierung) sprachlicher Bedeutung ist zweifellos die Hauptfunktion des lautlichen Ausdrucks (linguistischsemantische Funktion).

Funktionen des lautlichen Ausdrucks

semantische Funktion

indexikalische Funktion

expressive Funktion

regulative Funktion

Daneben werden aber bei jeder lautsprachlichen Äußerung noch weitere Informationen übermittelt. Aus der Stimmhöhe und -qualität können wir erkennen, wer mit uns spricht (indexikalische Funktion); das reicht von allgemeinen Hinweisen auf Alter und Geschlecht des Sprechers bis zum Wiedererkennen individueller, vertrauter Stimmen. Andere Besonderheiten der Aussprache lassen sogar Rückschlüsse auf den regionalen oder sozialen Hintergrund des Sprechers zu. Wieder andere lautsprachliche Elemente, wie etwa Sprechtempo, Lautstärke, Intonation usw., drücken Einstellungen und Emotionen (z.B. Zweifel, Ärger, Verwunderung) des Sprechers aus (expressive Funktion), und schließlich kann ein Sprecher mit denselben lautlichen Mitteln z.B. das Ende seiner Äußerung signalisieren bzw. seinem Gesprächspartner „das Wort übergeben“ (regulative Funktion).

Lautsprachliche Äußerungen transportieren also eine Vielzahl an kommunikativ relevanten Informationen, von denen die sprachliche Bedeutung von Wörtern und Sätzen lediglich eine, wenn auch – vom linguistischen Standpunkt aus betrachtet – die wichtigste, ist.

1.3        Phonetische und phonologische Transkription

Eine schriftliche Darstellung von Sprachlauten stellt uns vor das Problem, geeignete visuelle Symbole für die Wiedergabe lautlicher Einheiten zu finden. Die Alphabetschrift einer Sprache ist ein derartiger Versuch, Sprachlaute mit Hilfe von Buchstaben darzustellen. Allerdings zeigt schon ein ganz oberflächlicher Vergleich von Schreibung und Lautung z.B. deutscher Wörter, dass die Orthographie nur ein sehr unvollkommenes Mittel zur Wiedergabe lautlicher Erscheinungen ist: Einerseits werden für den gleichen Lautwert verschiedene Buchstaben bzw. Buchstabenkombinationen verwendet (z.B. für den Anlautkonsonanten in <schön> und <sprechen>), andererseits steht für verschiedene Laute der gleiche Buchstabe bzw. die gleiche Buchstabenkombination (z.B. in <still> und <ernst> oder in <nicht> und <hoch>). Wegen ihrer Ungenauigkeit und Inkonsequenz sind also traditionelle Orthographien für die phonetische Wiedergabe von Sprachlauten untauglich.

Die Abkürzung IPA steht auch für International Phonetic Association. Das ist der englische Name jenes Vereins, der 1888 das Internationale Phonetische Alphabet entwickelt hat. Zunächst hauptsächlich für fremdsprachendidaktische Zwecke konzipiert, wurde dieses Transkriptionssystem seither mehrmals überarbeitet und liegt nun in der jüngsten Version von 2005 vor (vgl. S. 42, Anm. 1 und 2).

Die Phonetik verwendet daher eine besondere Notationstechnik, die so genannte phonetische Transkription (Lautschrift), in welcher die Beziehung zwischen Transkriptionszeichen und Laut eindeutig und reversibel (umkehrbar) ist, d.h. dass ein bestimmter Laut nur durch ein bestimmtes Symbol wiedergegeben wird, und ein Symbol immer nur einem bestimmten Laut entspricht. Von den zahlreichen Transkriptionssystemen, die im Laufe vor allem des letzten Jahrhunderts entwickelt wurden, ist heute das Internationale Phonetische Alphabet (IPA) am weitesten verbreitet und wird auch in diesem Buch verwendet.

Zur Kennzeichnung der phonetischen Transkription werden die Symbole der IPA zwischen eckige Klammern gesetzt (z.B. [nɪçt] <nicht>, [ho:x] <hoch>). Dabei unterscheidet man die enge Transkription, die möglichst detailgetreu die tatsächlichen Lautrealisierungen darzustellen versucht, und die breite Transkription, in der die phonetischen Details weniger genau notiert werden. Die breiteste Transkription, die lediglich die lautlich distinktiven (d.h. bedeutungsunterscheidenden) Einheiten einer Sprache (d.h. die Phoneme) wiedergibt, wird auch phonologische Transkription genannt. Zu ihrer Kennzeichnung werden die Transkriptionssymbole zwischen Schrägstriche gesetzt (z.B. /nixt/ <nicht>, /hox/ <hoch>). Wir werden in  Kapitel 4 noch näher darauf eingehen, warum eine phonologische Transkription nicht die genauere phonetische Realisierung der transkribierten Einheiten (vgl. /nixt/ und [nɪçt]) wiedergeben muss.

1.4        Kommunikationsmodell

Der Ablauf der lautsprachlichen Kommunikation lässt sich anhand eines Kommunikationsmodells beschreiben, dessen einfachste Form in Abb. 1-1 dargestellt ist.

Demnach sind an der lautsprachlichen Kommunikation mindestens zwei Personen beteiligt, die abwechselnd die Rolle des Sprechers (S) und des Hörers (H) einnehmen können. Der Sprecher, der dem Hörer eine Nachricht übermitteln will, muss diese Nachricht in einer sprachlichen Äußerung verschlüsseln (kodieren) und dem Hörer über ein geeignetes Medium (M) – die Schallschwingungen der Luft – übermitteln. Der Hörer wiederum muss aus der vom Sprecher realisierten Äußerung (d.h. aus diesen Schallschwingungen) die intendierte Nachricht entschlüsseln (dekodieren). Sprecher und Hörer bedienen sich dabei eines gemeinsamen Zeichensystems (Z), d.h. einer beiden bekannten Sprache.

In diesem einfachen Modell der lautsprachlichen Kommunikation lassen sich die Gegenstandsbereiche von Phonetik und Phonologie folgendermaßen zuordnen:

Die Phonologie, die sich mit dem system- und regelhaften Funktionieren von Sprachlauten beschäftigt (und daher manchmal auch funktionelle Phonetik genannt wird), arbeitet auf der ideellen Ebene des Zeichensystems.

Die Phonetik behandelt die vom Sprecher, Medium und Hörer gebildete, materielle Ebene.

Die gegenseitige Bedingtheit von Phonologie und Phonetik ist durch den Zusammenhang zwischen Lautbild (Lautvorstellung; z.B. /hund/) und Lautsubstanz (Lautäußerung; [hʊnt]) gegeben, wie er in Abb. 1-1 durch den doppelt gerichteten Pfeil angedeutet ist.

Abb. 1-1: Kommunikationsmodell

Abb. 1-2: Phonetische Kommunikationskette

Während die eingehendere Erörterung von Aufgaben und Leistungen der Phonologie einem späteren Kapitel (s.u. Kap. 4) vorbehalten bleiben soll, wollen wir hier Gegenstand und Teilgebiete der Phonetik anhand der in Abb. 1-2 skizzierten phonetischen Kommunikationskette darstellen.

Die phonetische Kommunikationskette reicht von der Hirnrinde des Sprechers über seinen Sprechapparat, von dort weiter über die Schallübertragung im Medium Luft bis zum Hörorgan und der Hirnrinde des Hörers.

Alle Vorgänge entlang dieser Kette bilden den in drei klassische Teilgebiete gegliederten Gegenstandsbereich der allgemeinen Phonetik, welche zur Abgrenzung von der funktionellen Phonetik (= Phonologie) gelegentlich auch als Substanzphonetik bezeichnet wird:

die artikulatorische Phonetik beschreibt die biomechanischen Prozesse der Sprachproduktion;

die akustische Phonetik behandelt die Struktur und die Übertragung des Sprachschalls;

die auditive Phonetik beschäftigt sich mit der Aufnahme und Verarbeitung des Sprachschalls durch den Hörer.

Die grundsätzliche Möglichkeit der Gliederung des Kommunikationsaktes in einzelne Teilbereiche soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er eigentlich eine untrennbare Einheit bildet. Dies folgt nicht zuletzt daraus, dass bei jedem Sprechakt der Sprecher immer auch gleichzeitig Hörer und der Hörer immer auch (potenzieller) Sprecher ist. Daher sind entgegen der modellhaft einfachen Darstellung die bei der lautsprachlichen Kommunikation tatsächlich ablaufenden Vorgänge weit vielschichtiger und stehen in einer komplexen Wechselwirkung.

Als kleinste Analyseeinheit und Beschreibungskategorie der Phonetik gelten die Laute (Phone). Sprechen ist allerdings nicht eine bloße Aneinanderreihung von Lauten, wie uns vielleicht unsere Alphabetschrift irrigerweise annehmen lässt. Vielmehr erzeugen wir beim Sprechen einen Lautstrom, der aus den kontinuierlichen Bewegungsabläufen unserer Artikulationswerkzeuge resultiert. Dabei gehen die Artikulationsbewegungen für die einzelnen Laute ineinander über und führen zu überlappenden Realisationen im Lautstrom (Koartikulation).

lat. coarticulare – zusammen aussprechen

Dennoch können wir diesen Lautstrom auditiv analysieren und in kleinere, minimale Einheiten zerlegen (segmentieren), wie sie etwa bei der bewusst langsamen Artikulation eines Wortes entstehen. Ferner können wir dasselbe Wort wiederholen und dabei zu einer zwar nicht identischen (völlig gleichen), aber wenigstens äquivalenten (gleichwertigen) Reproduktion der minimalen Einheiten gelangen.

Diese reproduzierbaren minimalen Einheiten (Phone) lassen sich einerseits nach ihren Artikulationsmerkmalen klassifizieren und beschreiben, andererseits symbolisch (d.h. mittels Transkriptionszeichen) darstellen, wie die auf artikulatorischen Kriterien beruhende Systematik des Internationalen Phonetischen Alphabets zeigt (vgl. 2.4).

Neben den Phonen als segmentale Beschreibungskategorien gibt es noch weitere phonetische Eigenschaften des Sprachschalls, die über den Einzellaut hinausgehen. Dazu gehören Erscheinungen wie etwa Akzent und Intonation, die als suprasegmentale (d.h. über die einzelnen Segmente hinausgehende) Merkmale bezeichnet werden und sich über sprachliche Äußerungen unterschiedlicher Länge (Domänen) erstrecken. Die kleinste suprasegmentale Komponente ist die Silbe, die sowohl artikulatorisch als auch akustisch und auditiv eine elementare phonetische Einheit darstellt (vgl. 3.2).

In den folgenden Kapiteln wollen wir zunächst die Voraussetzungen und Vorgänge der Produktion von Sprachlauten sowie deren symbolphonetische Klassifikation (Kap. 2: Artikulatorische Phonetik) darstellen, dann die über den Einzellaut hinausgehenden Eigenschaften des Sprachschalls (Kap. 3: Suprasegmentalia) erörtern und schließlich auf das system- und regelhafte Funktionieren von Sprachlauten (Kap. 4: Phonologie) eingehen.

 

Literaturhinweise  Kapitel 1

Als gut lesbare Einführungen in das Phänomen „Sprache“ und in den Gegenstand „Sprachwissenschaft“ bieten sich Linke/Nussbaumer/Portmann (2004) und Pörings/Schmitz (2003) an. Selbstverständlich gehen diese Einführungen weit über den Gegenstandsbereich des vorliegenden Bandes hinaus, doch wird gerade dadurch auch die Besonderheit des phonetisch-phonologischen Aspekts innerhalb einer umfassenden Betrachtung von sprachlicher Kommunikation verdeutlicht. Vor allem wegen der Übungen mit Lösungsangaben eignet sich auch Pelz (1996) zum Einstieg in die Grundprobleme der Sprachwissenschaft. Eher zum entspannten Schmökern als zum konsequenten Durcharbeiten empfiehlt sich „Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache“ von Crystal (1993), in welcher die Komplexität der menschlichen Sprache mit zahlreichen Übersichtstabellen und Abbildungen illustriert wird. Zum Nachschlagen (nicht nur phonetisch-phonologischer Fachausdrücke) ist auf das „Metzler Lexikon der Sprache“ von Glück (2010) zu verweisen, das einen Überblick über die Terminologie der gesamten Sprachwissenschaft bietet. Und schließlich darf – besonders als Zugangshilfe zur englischsprachigen Fachliteratur – das „Dictionary of Phonetics and Phonology“ von Trask (1996) nicht unerwähnt bleiben.

Übungsaufgaben  Kapitel 1

Ü-1

a)

Welche Ebenen der Sprachbeschreibung gibt es?

 

b)

Welche Bedeutung hat die Endsilbe <-er> in den Wörtern <schöner>, <Arbeiter>, <Eier>?

Ü-2

a)

Versuchen Sie, möglichst viele Wörter zu finden, indem Sie im Wort <Hand> jeweils nur einen Buchstaben austauschen.

 

b)

Aus wie vielen Lauten (nicht Buchstaben!) bestehen jeweils die Sätze: <Das Hemd ist schön.>; <Die Flasche ist leer.>; <Der Lehrer spricht.>. Gibt es Laute, die in allen drei Sätzen vorkommen?

Ü-3

a)

Versuchen Sie, möglichst viele Wörter zu finden, indem Sie im Wort [ro:t] <rot> jeweils nur einen Laut austauschen.

 

b)

Wofür steht die Abkürzung IPA?

Ü-4

a)

In welche drei Teilbereiche lässt sich die phonetische Kommunikationskette gliedern?

 

b)

Warum können zwei Sprecher mit verschiedener Muttersprache (und ohne Fremdsprachenkenntnisse) einander zwar hören, aber sich lautsprachlich nicht miteinander verständigen?

1Vgl. z.B. die Wörter Regen, Nager, Garne, ragen, garen, gerne aus den Lauten /a, e, g, n, r/.