»Manche Leute behaupten, Kassel lebe nur alle paar Jahre für wenige Monate. Und sonst vergehe einfach irgendwie die Zeit. Das halte ich für Quatsch. Ist Leben etwa nur das, was im Äußeren passiert?« – Daniel M. Ritzelbeck
7. September
Xenia:
Gestern Abend hatte ich noch ein langes Telefonat mit Luise geführt. Sie hatte es ja so eilig, mit Fricko loszukommen. Als ob wir den armen Hund
gefoltert hätten. Jedenfalls war keine Zeit geblieben. Über die Ermittlungen zu Ritzelbecks Tod erzählte sie leider nichts, aber dafür wohl alles, was sie über die Sabotageakte herausgefunden hatte. Offensichtlich schloss sie einen
Zusammenhang nicht aus. Ich sollte weiterhin Augen und Ohren offen halten. Was
ich natürlich ohnehin tat. Wenn ich entscheidende Informationen zur Ergreifung des Mörders beitragen könnte, gäbe es ja vielleicht sogar einen Teil der Belohnung in Höhe von zehntausend Euro, die von einem Kunstliebhaber ausgesetzt worden war und
von der ich heute früh in der HNA gelesen hatte.
Von meiner Begegnung mit Lewinsky hatte ich Luise übrigens nichts berichtet. Der ist für sie ein rotes Tuch. Sie war froh, dass er einen Tag nicht da war.
Ich verstehe meine Schwester nicht immer. Sie ist eine verdammt gute Polizistin.
Sie kann Leute zusammenfalten, die es verdienen, aber bei Autoritäten und Arbeitskollegen klappt das nicht. Ich empfahl ihr, dem Kerl mal so
richtig die Meinung zu sagen, vielleicht würde das was nutzen. Sonst machte der doch, was er wollte.
Ich hatte Frühschicht. Auf zur Foruminarte. Grete begleitete mich. Ihr war aufgefallen, dass
die Ausstellung in gut zwei Wochen endete und sie, als Ureinwohnerin der
Fuldametropole, bisher nichts davon mitbekommen hatte. Grete stellte sich in
die Schlange am Kassenhäuschen. Sie hatte sich vorgenommen, außer dem Fridericianum die documenta-Halle und die neue Galerie zu besichtigen,
und deshalb extra ihre nachmittäglichen Geigenschüler auf Donnerstag vorverlegt. Ich hielt es für reichlich unrealistisch, so viele Gebäude abzuklappern, aber meine Freundin ist ja schon groß und kann selbst entscheiden.
Heute war ich in einem superlangweiligen Raum eingeteilt mit lauter
Retro-Kunstwerken. Warum wird eigentlich in fast jeder modernen
Kunstausstellung Minimal Art gezeigt? Obwohl die schon ziemlich alt ist? Da ich
nicht besonders auf die Bilder achten musste, ließ ich meine Blicke schweifen. Der Mensch, der die Sabotageakte unternahm, war das
ein Mann oder eine Frau? Mit Nadel und Faden zu hantieren, traute ich eher
einem weiblichen Wesen zu, wohingegen es wohl eher Männersache war, ein Plüschtier zu einem sehr platten Exemplar zu machen. Die Ketchup-Nummer erinnerte
mich an einen Kindergeburtstag.
Der Mann, der gerade sein Stativ aufbaute, kam mir definitiv bekannt vor. Er
lungerte ein wenig herum, wahrscheinlich in der Hoffnung, die geführte Gruppe, die den gesamten Raum einnahm, würde endlich verschwinden, und hatte Glück. »Wenn Sie nun hier hinübergehen zu der Arbeit von Mike Mc Mood. Minimal Art. Aus den 60er Jahren.« Die sah wenig spektakulär aus, mehr wie meine Wohnzimmerwand. Großflächig, einfarbig. Das junge Mädchen, das ihre hellbraunen Haare zurückstrich und sich soeben an die Besuchergruppe anschloss, hatte ich ebenfalls
schon gesehen. Jeder, der mehrmals hierherkam, war verdächtig. Aber es verschwand, ohne dass etwas passiert wäre.
Am Ende der Schicht traf ich Moritz, Cora und Farid im Gespräch. »Ich bin total erledigt. Für diesen Hungerlohn die dauernden Auseinandersetzungen mit den Knipsern«, stöhnte Cora.
»Heute war doch nichts los«, widersprach Moritz.
»Das hast du vielleicht nur nicht mitgekriegt«, stichelte ich. »Irgendwelche Plüschlöwen?«
Alle schüttelten die Köpfe.
»Ist euch aufgefallen, dass es keine Zwischenfälle mehr gegeben hat, seit Ritzelbecks Tod bekannt geworden ist?«, sagte Farid.
Luise:
Krause hatte scheinbar auf mich gewartet, als Fricko und ich am Morgen
eintrafen. »Chefin, mit dem Günter Pollmeier, da ist was nicht ganz koscher.«
»Wer ist das?«
»Na, der Porschefahrer, nach dem Sie neulich gefragt haben. Da sind eben zwei
Typen gekommen. Ich habe sie festgehalten. Dachte, Sie wollten sie befragen.«
»Warum sollte ich?«
»Weil die was erzählen wollen über Günter Pollmeier und Ritzelbeck.«
Das war natürlich etwas anderes. Die Männer dünsteten schon auf dem Flur, wo sie herumsaßen, ihre persönliche Geruchskomposition, bestehend aus Männerschweiß und Restalkohol, aus.
»Tach, Chefin«, begrüßte mich der eine. Chefin! Hatten die mit Schulze und Krause einen Club
aufgemacht?
Ich bugsierte die beiden in einen Vernehmungsraum, bat Rubisch hinzu und eröffnete das Gespräch: »Mein Kollege sagte, dass Sie eine Aussage machen möchten über Günter Pollmeier und Herrn Ritzelbeck.«
»Genau. Das ist nämlich so. Wir spielen in unserer Stammkneipe immer mit Pollmeier Skat. Wir drei.
Ja, und da erzählt man sich auch so einiges. Und obwohl wir mit Günner schon fünf Jahre spielen, können wir jetzt einfach nicht die Klappe halten, ne, Manni?«
Manni nickte.
»Moment mal, wir fangen von vorne an. Ihre Namen, bitte.«
»Also ich bin der Dieter Kleinmann, und das da ist der Manfred Fredebusch.«
Fredebusch räusperte sich, aber dann schwieg er doch.
»Vor drei Wochen«, nahm Kleinmann den Faden wieder auf, »da hatte der Günner nen Unfall mit seinem Porsche. Ist ihm so’n Viehzeug gegengelaufen, war ne Menge kaputt. Er hat die Bullen gerufen, ich
mein’ natürlich die Polizei, und die haben kein Viehzeug gefunden.«
»Entschuldigung, dass ich Sie unterbreche, aber das ist uns bereits bekannt. Er
hat ja, wie Sie sicherlich wissen, Anzeige erstattet. Wenn Sie sich bitte auf
das Wesentliche konzentrieren würden.« Worauf wollten die bloß hinaus?
»Ja, also der Günner hatte sich gemerkt, dass der dunkle Mercedes aus Kassel war. Er kennt da so
’n Mäuschen von der Zulassungsstelle und die hat für ihn die passenden Autos rausgesucht, ihm den Namen und die Adresse der
Besitzer gegeben. Die hat er dann alle abgeklappert. Und als er zu der Adresse
einer Frau kommt, trifft er diesen Ritzelbeck dort an. Das war genau vor einer
Woche am Freitagnachmittag. Hat er uns abends beim Skat erzählt. Der Ritzelbeck war in der Garage zugange mit so ’m Waschbär. Inner Garage, da hat er das Viech ausgenommen und alles in die Biotonne …«
»Ich verstehe noch nicht so ganz, was das mit unseren Ermittlungen zu tun hat.«
»Na, der Günner war doch sauer, wegen dem Schaden am Auto. Ne, Manni? Und da hat er dauernd
gesagt, man müsse dem Typ eine Lehre verpassen. Dem Ritzelbeck. Und hat den beobachtet. Er
wollte, dass der seinen Schaden am Porsche übernimmt.«
»Und dann?«
»Ja, und jetzt ist unser Skatkumpel verschwunden, seit Tagen vermissen wir ihn.
Genau genommen, seitdem der Ritzelbeck ermordet worden ist. Als ob er
untergetaucht ist.« Er sah mich herausfordernd an. Ich ging nicht darauf ein.
»Manni, äh, Herr Fredebusch, haben Sie etwas zu ergänzen?«
»Ne, alles so, wie Dieter gesagt hat.«
»Gut, wenn Sie bitte hier unterschreiben würden.« Ich brachte es nicht fertig, mich bei ihnen für ihre Aussage zu bedanken. Rubisch gähnte.
In der Soko-Runde fragte ich, was die anderen inzwischen herausbekommen hatten.
»Frau Professor Wohlgemuth ist ein Ritzelbeck-Fan«, berichtete Tina, »sie hält ihn für einen Ausnahmekünstler. Als solcher habe er natürlich auch Neider. Erik Lens zum Beispiel. Die zwei hätten dauernd konkurriert. Beflügelt dadurch, dass beide dieselbe Frau mochten. Sie hat uns nicht verraten, wer
das war. Ich hatte den Eindruck, sie war selbst in Ritzelbeck verknallt.«
»Tolle Zeugin«, merkte Rubisch an.
»Was ist denn an der Sache mit Günner dran?«, fragte Huber.
»Ich finde es komisch, dass die Skatrunde ihren Kumpel verpfeift. Wahrscheinlich
haben sie von der ausgesetzten Belohnung gelesen. Wir müssen auf jeden Fall nach Günner suchen. Die Fahndung ist schon raus. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann,
dass jemand einen umbringt wegen eines Schadens am Auto, den zudem vermutlich
die Versicherung früher oder später bezahlen wird.«
»Sag das nicht«, wandte Lewinsky ein, der wieder genesen und seltsam fügsam erschien, » für manche Leute ist das Auto eine heilige Kuh.«
Xenia:
Als ich im La Paloma eintraf, hatte Milan diesen extrem dynamischen Blick, wie
so oft seitdem er mit dem Erbe seines Vaters das Haus gekauft hatte und ungestört dem seit Längerem fälligen Sanierungsbedarf nachgehen konnte. Er konnte nach Herzenslust im gesamten
Gebäude schalten und walten, weil der Vorbesitzer, ein Spekulant aus Frankfurt, alle
Mieter vergrault hatte. Als Erstes hatte er einen Dachgarten mit Spezialzaun
rundherum angelegt, in dem nun seine dreifarbige Katzendiva Esmaralda
residierte. Auf die muss man besonders aufpassen. Vielleicht liegt es an dem
etwas sperrigen Namen, dass sie so schlecht hört. Aber wir probierten es auch mit Smaralda, Ralda und Esma, und die Resultate
waren nicht viel besser. Ich habe mal in einem Ratgeber gelesen, dass Katzen
auf Namen mit »i« gut reagieren. Sehe ich doch an meinem Kasimir. Der ist übrigens Esmaraldas Bruder. Und beide sind Kinder von Pünktchens Maunzi und Metzger Maiers Ahlewurscht.
Im Außenbereich vor dem Lokal, also auf dem Königsplatz, hatte Milan einen Biergarten eröffnet. Lief auch gut, entsprach aber noch nicht ganz seinen Vorstellungen. »Abends möchten die Menschen Stimmung, keine Leuchtreklame, sie wollen abschalten und
langsam in eine Traumwelt eintauchen.« Die wollte er in dem Innenhof errichten. Er liebte die unverputzten Wände dort, in deren Nischen im Frühsommer Mauersegler brüteten. Jetzt waren die längst in den sonnigeren Süden abgehauen. – Und er hatte eine Holzkonstruktion mit Laubeneffekt errichten und sie mit
diversen geeigneten Pflanzen beranken lassen, so dass sich die Gäste beschützt und behaglich fühlen könnten. Leider fehlten immer noch die gemütlichen Tische und Stühle aus Robinie, die Milan aus ökologischen Gründen denen aus Teak und Bankirai vorzog.
Die großen Gewächse und die geschmackvolle Bestuhlung waren natürlich nicht ganz billig. Ich glaube, ich erwähnte schon, dass Milan ein nennenswertes Erbe von seinem Vater erhalten hatte,
das solche Extras ermöglichte. Mit dem Rest davon hatten er und seine Mutter Johanna eine Stiftung
gegründet, die Geld für verschiedene soziale Projekte zur Verfügung stellte. Aber Milans Priorität galt seinem Restaurant.
»Die Möbel für den Biergarten im Innenhof sind endlich angekommen, ist alles schon
eingerichtet«, verkündete er nach einer kurzen Begrüßung und einem flüchtigen Küsschen. Milan war es nicht gelungen, einen weiteren verlässlichen Mitarbeiter einzustellen, den er jetzt noch mehr brauchen würde. Es war also klar, worauf es hinauslief. Auch wenn Milan in dem Hinterhof
nicht annähernd so viele Tische unterbringen konnte, wie er gewollt hätte, ich lief mir die Sohlen ab und servierte, was das Zeug hielt, sogar drei
Teller auf einmal, weil es einfach sonst nicht zu schaffen war. Hatte kaum
Zeit, mich mit Milans Patenonkel zu unterhalten, der regelmäßig zum Essen kommt. Für meinen Freund ist Norbert Bayer eine Art Ersatzpapi. Er hat ein weitaus größeres Herz als Milans unter merkwürdigen Umständen verstorbener Erzeuger. Das darf ich natürlich nicht laut sagen. Milan ist in dieser Hinsicht etwas empfindlich.
Norbert ist ein lebenskluger, grauhaariger Senior mit Charme und Esprit,
Psychologe seines Zeichens. Ich plaudere gern mit ihm. »Wenn ich jünger wäre und keine Knieprobleme hätte, würde ich heute einspringen«, sagte er, als ich ihm die Gemüselasagne servierte.
»Es ist wirklich der Teufel los«, bestätigte ich. »Hast du gleich noch Patienten?«
»Erst am Montag wieder.«
»Sag das bloß nicht Milan. Der ist derzeit gnadenlos.«
Norbert grinste. »Bekommt das eurer Beziehung?«
»Frag lieber nicht!«
Enzo war auch gestresst. Zwischendurch kriegte er sich mit Paolo in die Wolle.
Zum Großteil wurde ihre Auseinandersetzung auf Italienisch geführt. Sehr musikalisch, Enzos Bassbariton und Paolos hohe Tenorstimme. Auf meine
Bitte erläuterte Enzo in Deutsch, dass Paolo jemandem am heiligen Sonntag auf einem
Wanderparkplatz eine Delle ins Auto gefahren habe. Statt zu warten, habe er
lediglich einen Zettel unter den Scheibenwischer des gegnerischen Wagens
geklemmt mit Adresse und Telefonnummer. Das sei Fahrerflucht. Wir seien schließlich nicht in Sizilien. Dummerweise hatte Paolo Enzos Fiat benutzt. Klar, dass
der sich jetzt aufregte. Paolo argumentierte, bisher habe sich doch niemand
gemeldet, und das sei doch alles schon fünf Tage her. Enzo solle nicht solch ein Theater machen. Der konterte, eventuell
habe der Wind das Papier verweht, der Regen die Schrift verwaschen. Aber meist
gebe es ja irgendeinen Zeugen, und bald stehe bestimmt die Polizei vor seiner Tür. Ich hielt das für Quatsch. Vielleicht war die Macke verschwindend klein und der Unfallgegner
weder Autofetischist noch raffgierig, versuchte ich, Enzo zu beschwichtigen,
und ging wieder meinem Kellnerinnenjob nach.
Ziemlich spät abends lag ich mit Milan im Bett in seiner Dachwohnung. Es gibt dort ein
riesiges, schräges Fenster, das die Sterne hereinlässt. Wir hatten es gekippt, den Kasseler Nachthimmel über uns. Innenstadtfrischluft flutete herein, vermengt mit entfernten Autogeräuschen, vereinzelten leisen Sprachfetzen von Nachtschwärmern. Smaralda hatte sich zu unseren Füßen zusammengerollt. (Kasimir wusste ich von Grete und Pünktchen wohl versorgt.)
»Milan, ich weiß, du wünschst dir, dass ich mich sehr für das Restaurant engagiere. Ich tu, was ich kann. Mehr geht nicht. Ich will
damit sagen, das La Paloma ist dein Lebenstraum. Ich finde es gut, aber ich
habe auch eigene Pläne. Den Krimi, zum Beispiel. Ich stürze mich nicht mit dem gleichen Herzblut in die Gastronomie wie du. Kannst du
das verstehen?«
Eine Weile war es still. Ich lag in Milans Arm, und wir lauschten den nächtlichen Geräuschen.
»Ich meine, dass es eine optimale Partnerschaft ist, wenn beide Ideale teilen, an
einem Strang ziehen. Die Kraft wird dann verdoppelt.«
»Das kann ich nicht. Mein Lebensziel ist es nicht, ein möglichst gut gefülltes Restaurant zu führen. Ich will noch andere Dinge erforschen. Und ich bin gern mit dir zusammen.
Ich liebe dich.«
»Xenia, ich liebe dich auch.«
Warum nur hörte ich ein Aber heraus?