Schulpsychologie

Das Subjekt zwischen

 

Persönlicher Identität,

Schule und

Gesellschaft

 

Ein Rückblick

von Jürgen Mietz

 

Herbst 2014

 

 

 

Impressum

Copyright: © 2015 Jürgen Mietz

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN: 978-3-7375-3482-6

 

Hinweis: Im e-book-Format können sich die Fußnoten am Ende der Sammlung befinden

 

Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Kleine Chronologie meiner Schulpsychologie 5

Die Rolle der Persönlichkeit in Unterricht, Erziehung und Schulentwicklung 12

1 Der individuumskeptische Charakter der Bildungsorganisation 12

2 Tendenz zu Individualisierung und Differenzierung 14

3 Individualität als Basis für Erneuerung und Produktivität - ein Modell der Persönlichkeitsentwicklung 15

4 Anwendung des Persönlichkeitsmodells auf Schule 20

5 Grenzen der Individualisierung in Schule 27

6 Schlussbemerkungen 30

Individuum, Lernen und Emotion 33

1 Emotionalität erkennen und verstehen – wichtige Bedingung im Lehr-Lern-Prozesses 34

2 Exkurs: Beziehungserfahrungen und subjektive Theorien 40

3 Lesen – Schreiben – Rechnen – das geht nicht ohne Emotion und Weltbezug 43

4 Schulpsychologische Arbeit mit dem Schüler und seiner Familie 45

5 Supervision 47

6 Kontexte eines Beratungsverständnisses 48

Supervision - eine kurze Beschreibung 51

Supervision als Aufgabe der Schulpsychologie 53

1 Supervision für Lehrer und Lehrerinnen 53

2 Anforderungen an Schulpsychologinnen und Schulpsychologen 53

3 Schulpsychologie passt sich neuen Anforderungen an 54

4 Noch einmal: Anforderungen und Kompetenzen 54

5 Supervision intensiver für die Menschen und für die Organisation nutzen 55

6 Strukturelle Voraussetzungen 55

7 Aufgaben des Landesverbandes 56

Supervisionserfahrungen 57

1 Angst vor Kontrollverlust – Lust auf Abenteuer 57

2 Generationen in einer Supervisionsgruppe 59

3 Komplexe Beratungsformen für komplexe Organisationen 61

4 Nachtrag: Bedarf und Interesse an Supervision 69

Schulpsychologie in den Regionalen
Schulberatungsstellen des Regierungsbezirks Düsseldorf 72

1 Schule in einem heterogenen Kräftefeld 73

2 Schulpsychologie - ein Unterstützungssystem für Schule 73

3 Qualitätsentwicklung der Schulpsychologie – Zugang zur Schulpsychologie 74

4 Arbeitsfelder der Schulpsychologie 74

5 Organisationsformen und personelle Ausstattung der Schulpsychologie 78

Gründung der AG Supervision 83

1 Gründungsecksteine der AG Supervision 83

2 Häufig wiederkehrende Themen in der in der Kollegiums- und Teamsupervision 84

3 Stimmigkeitsaspekte zwischen Anbietern und Nachfragern 87

4 Fazit und Perspektiven mit den Neuen 89

Supervision in der Schule: Ungenutztes Potenzial
in der Qualitäts- und Schulentwicklung 91

1 Supervision in der Schule: Nachkömmling, Waise, Seiteneinsteigerin - immer (noch) fremdelnd 91

2 Organisationsbewusste Subjekte - Voraussetzung für lernende Organisationen. Hilfsmittel: Supervision 91

3 Schulische Entwicklungsverständnisse im Umfeld von Supervision 93

4 Entwicklungsverständnisse: Regulation, Erneuerung, Neugeburt 95

5 Schulpsychologische Supervision als eigenes System, vernetzt mit seinem Umfeld 96

6 Perspektiven 98

Schulpsychologisches Arbeiten mit Schulen 100

1 Was erwartet mich? 100

2 Nachfrageanalyse als kontinuierlicher Verstehensprozess 100

3 Emotionen des Schulpsychologen / der Schulpsychologin als wichtiges Erkenntnismittel 102

4 Das gemeinsame Dritte 103

Beratung? Kein Problem! 105

Guter Unterricht mit Bertelsmann & Co. – oder:
Wie die Schule markttauglich gemacht werden soll 109

1 Das Versprechen 109

2 Der Charme eines schlüssig-funktionalen Konzepts 110

3 Schule auf dem Weg zur Markttauglichkeit 112

4 Methodische Mängel 114

5 Methodentraining 116

6 Notwendige Konkretisierungen 117

7 Systemtheoretische Überlegungen 117

Die Schule der Zukunft braucht das Subjekt 120

1 Einleitung 120

2 Das Subjekt als Störfaktor 122

3 Das Subjekt in staatlichen Strukturen - Doppeldeutigkeiten und Widersprüche 123

4 Intrapersonale Konflikte 126

5 Schul-Organisationsentwicklung als Kontrolle der Subjekte 127

6 Ambivalenz der der Entwicklungsversuche 127

7 Subjektorientierte Zugänge nutzen und stärken 128

8 Fazit 130

Schulpsychologie in gemeinsamer Verantwortung 131

1 Die Schulpsychologie in NRW seit den 80 er Jahren 132

2 Leitungs- und Organisationsverständnis 141

3 Schlussbemerkung 146

Das soziale Lernen kann das politische Lernen nicht ersetzen 148

Krisen - eine von vielen Aufgaben der Schulpsychologie
oder Verkrisung der Schulpsychologie? 152

1 Missverständliche Bezeichnungen 152

2 Benannte Schulpsychologinnen und Schulpsychologen 153

3 Kriseninterventionsteam 153

4 Einsatzbedingungen 154

5 Fürsorge für Schulpsychologinnen und Schulpsychologen 155

6 Emotionen beteiligter Schulpsychologinnen und Schulpsychologen 155

7 Politik und Staat – Gefahr der Konfliktverschiebung 156

8 Schulentwicklung als Teil von Krisenprävention stärken 157

9 Fazit: Krisenberatung - eine Aufgabe unter vielen 157

Schulreform braucht Bildungsbewegung 159

Wem gehört die Beratung? 168

1 Beratung - hohes Gut oder Allerweltsprodukt? 168

2 Stellenwert beraterischer Prinzipien in der Schul- und Behördenwelt 168

3 Beratung als Mittel gesellschaftlicher Gestaltung und individueller Lebensplanung 177

Wie gut sind gutgemeinte Fusionierungen? 184

1 Der Entwicklungsprozess der REBUS und Defizite seiner Rezeption 185

2 Noch einige Fragen zum Fusionierungsprozess 188

REBUS – Erfolgsmodell für alle oder Spezialfall? 190

1 REBUS – eine gelungene Antwort auf Unzulänglichkeiten? 191

2 Bemerkenswerte Schlussfolgerungen einer Evaluation 191

3 Die Lehrer- und Systemberatung aus dem Aufgabenkatalog streichen? 192

4 Was die Evaluation nicht bedachte: Bedeutung der Grundprinzipien der Beratung 194

Welche Zukunft hat die Schulpsychologie - hat sie eine? 195

1 Banalisierung der Beratung oder das Verschwinden des Subjekts 195

2 Arbeitswelt – Ideologie und Praxis der Ökonomisierung 199

3 Die Grundprinzipien der Beratung in der Postdemokratie 201

4 Konzepte einer Schulpsychologie (Huber) in Zeiten der Inklusion und Funktionalisierung der Schulpsychologie 203

5 Was ist zu tun? 203

Steuerung optimiert –Beratung und Subjekt tot? 206

1 Subjektorientierte Beratung als Modernisierungshindernis 208

2 Beratung als Umgang mit Grenzen 212

3 Beratung als Kontrolle und Steuerung 215

4 Die Reduktion der Realität um das Subjekt(ive) und um den Zusammenhang 219

5 Die zivilgesellschaftliche Dimension psychosozialer Beratung und ihrer Grundprinzipien 222

Subjektorientierte Beratung in der Krise – wie behördliche Steuerungsprozesse Grundlagen prozessorientierter Beratung gefährden 226

1 Beratung – Mittel der Steuerung oder der Subjektstärkung? 226

2 Beratung und Schutz der Intimsphäre 228

3 Die sachlich-betriebswirtschaftlich, unpersönlich gedachten Modernisierungsstrategien greifen zu kurz 228

4 Fazit 231

 

Vorwort: Kleine Chronologie meiner Schulpsychologie

»Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke.«

Susan Sontag

Über Schulpsychologie und Bildungspolitik zu schreiben, war für mich über eine Reihe von Jahren hinweg eine Möglichkeit, mit Widersprüchen und Resten des beruflichen Alltags ins Reine zu kommen. Vieles von dem, was ich mit Kolleginnen und Kollegen im kollegialen Austausch, bei Fortbildungen, Supervisionen oder bei Dienstbesprechungen erfuhr und lernte, wollte ich weiter durchdenken, problematisieren, richtigstellen.

Worum es – anfangs eher unterschwellig – ging, war so etwas, wie den Kern »meiner« Psychologie zu bestimmen. Was sollte sie beinhalten, wie sollte sie definiert und abgegrenzt sein, um sie darzustellen, handhabbar und nützlich zu machen? Ich entdeckte im Laufe der Beschäftigung mit dem, was meine (Schul-) Psychologie sein könnte, dass sowohl in der Psychologie als auch in der Schule, Wert und Würde des Individuums nicht auf den Begriff gebracht wurden. Zwar war von der Einzigartigkeit des Individuums viel die Rede, aber wie ließ sie sich fassen?

Es war meine Weiterbildung am damaligen Siegener Institut für Psychologie (Heute: Institut Johnson), die mir mit ihrem historisch-dialektischen Ansatz einen theoretischen und praktischen Einstieg in dieses Thema verschaffte. In der Auseinandersetzung mit diesem Ansatz wurde mir deutlich, dass die großen gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen eine Tendenz haben, sich das Individuum ihren Formierungsansprüchen zu unterwerfen; die viel beschworene Individualität samt Kreativität sind damit eingeschränkt. Dem Individuum zu seiner Subjektivität, zu einem Verstehen seiner konkreten Einzigartigkeit zu verhelfen und sie in den schulischen und familialen Prozess einzubringen, wurde mehr und mehr zu meiner Leitlinie. Worauf es mir nun ankam, war, ein »gesundes« Spannungsverhältnis zwischen Subjekt und Organisation/Institution herzustellen. Sie sind Pole, die einander brauchen, soll es Entwicklung geben. Und diese Pole müssen in ihrer eigenen Historie und aktuellen Dynamik verstanden werden.

Logische Folge war, dass ich mich mit den Eigentümlichkeiten, den offenen und heimlichen Aufträgen der Schule als System befasste, parallel zu den »Erkundungen des Subjekts«.

Die Schulpsychologinnen und Schulpsychologen in NRW befanden sich Ende der 70 er, sowie in den 80 er und 90 Jahren in einem Findungsprozess. Es gab Ende der 70 er, Anfang der 80 er Jahre relativ viele Neueinstellungen als Folge des (sich mehr und mehr verdünnenden) Bildungsgesamtplans. Aus dem »Nichts« hatten wir unsere schulpsychologischen Selbstverständnisse zu entwickeln.

Wie sehr hatte sich Schulpsychologie an Pädagogik, Schule und Aufsicht anzupassen, um nützlich zu sein, um überleben und gestalten zu können? Wie konnte sie in dieses sehr selbstbewusste Universum mit mehrhundertjähriger Tradition, ausgestattet mit staatlicher Macht (Schulpflicht), eigene Identität einbringen und Spuren hinterlassen?

Insbesondere der breit diskutierte und mit Helmut Heyse1 verbundene Paradigmenwechsel der Schulpsychologie stellte den einzelnen Schulpsychologen, die Berufsgruppe, wie auch Schulen und die Institution »Schulpsychologie« vor die Aufgabe kritischer und selbstkritischer Reflexion. So unterschiedlich die Varianten auch waren, so hatte es doch im Sinne des Paradigmenwechsels darauf hinauszulaufen, dass Schulpsychologie im Kind und Schüler nicht mehr den alleinigen Symptomträger, den es zu »heilen« galt, sah, sondern sich auch der Lehrkraft, ihrer Persönlichkeit, sowie den organisationellen Bedingungen, unter denen der schulische Prozess stattfand, zuwandte. So gerieten die Interaktionsdynamiken Schüler – Lehrer – Klasse in den Blick, mit den konkreten, besonderen Ausformungen, wie Menschen und ihre Kommunikations- und Organisierungsformen zu bilden im Stande sind.

In diesem Verständnis schulpsychologischer Arbeit überwanden Beratung und Schulpsychologie den Charakter einer quasi-therapeutischen Intervention, die sich am Kind zu zeigen hatte. Sie nahm zusätzlich zur Betrachtung des Kindes den Charakter von Reflexion, Aufklärung, von Teamberatung für die Professionellen im System an. Sie sollten das Kind und die eigenen Interaktionen mit ihm verstehen, ihre Selbstkenntnis erhöhen, wie auch die Wirkungen der Organisation auf das Kind und die eigene Person und Rolle erfassen. – Es gab vieles zu verstehen, zu präzisieren und zu erklären – für mich hieß das, meine Erfahrungen und Überlegungen schriftlich festzuhalten.

In der Mitte der 90 er Jahre wurde viel über die Notwendigkeit einer grundlegenden Modernisierung der Schule diskutiert. Unter anderem ging es auch darum, den tatsächlichen oder vermeintlichen Bürokratismus in öffentlichen Verwaltungen und Schulen abzubauen2. Modelle betrieblicher Organisationsentwicklung wurden an Schule herangetragen. Als Beweis der Fähigkeit zur sachgemäßen Anpassung war auch von Pädagogischer Organisationsentwicklung die Rede. Sogar Modelle mit einer stärkeren Demokratisierung der Schule waren in der Diskussion (Horst Hensel). Insgesamt ging die Reise aber in Richtung Rationalisierung und Ökonomisierung der Schule, unter Beibehaltung oder gar Verstärkung der Rede von Individualisierung, Partizipation etc.

Die Ausrichtung der Schule an Interessen der Ökonomie und der Unternehmer wurde mit den Ergebnissen der »Kommission für Zukunftsfragen«3 (Bayern-Sachsen-Kommission) untermauert. Spätestens von diesem Zeitpunkt an wuchsen Interesse und Einflussnahme der Wirtschaftsverbände an und auf Schule. Persönlichkeits- und Organisationsentwicklung wurden zwar weiterhin in der Rhetorik der Emanzipation und der Befreiung betrieben, der Rahmen dafür wurde jedoch durch die unternehmerischen Interessen gespannt4.

Noch einmal zurück zu »meiner« Psychologie. Es schien mir wichtig, als Psychologe im Arbeits- und Lebensbereich Schule mit einem handhabbaren Begriff der Persönlichkeit arbeiten zu können. Er sollte die Einzigartigkeit der Person und ihre Nutzung für den gesellschaftlichen und arbeitsmäßigen Prozess beschreiben können. Das schien mir mit dem Ansatz des heutigen »Institut(s) Johnson« möglich5. Mit der allgemeinen Arbeitsbeschreibung »Persönlichkeit im schulischen Prozess« war mir eine positive Abgrenzung vom medizinischen Paradigma und von mechanistischen psychologischen Ansätzen möglich, die den Klienten mehr oder weniger zum Objekt von Trainings machten. Die Einbeziehung von Erkenntnissen der Bindungsforschung erweiterten Möglichkeiten des Verstehens problematischen Verhaltens und der Intervention.

Es ging darum, mit den Kindern und ihren Bezugspersonen auf der Grundlage eines Verstehens der eigenen Geschichte, der daraus resultierenden »Programmatik« und der gegenwärtigen Situation zu den Persönlichkeiten passende Anforderungen zu finden. Diese nehmen vor dem Hintergrund persönlicher Geschichte eigene, subjektive Bedeutung an, die beachtet sein will. Einen wichtigen Beitrag zu solcher Verstehensleistung können die Professionellen im System Schule erbringen – wenn sie die dafür erforderliche psychologische Unterstützung bekommen. Dazu gehört, ein hohes Maß an Einsicht in die eigene Persönlichkeit und Berufsrolle zu bekommen, wie auch in die Welt des Kindes und in die Interaktionsdynamik, in der »ich« mich befinde. Im günstigen Fall wird das komplementiert durch ein Verstehen »meiner« Organisation, der ich angehöre. Auf dieser Grundlage können Lehren, Lernen, Erziehen persönlich und einzigartig sein.

Das kann meines Erachtens besonders gut mit dem Beratungsformat der Supervision gelingen. Hier war es vor allem die Mitarbeit in einer überregional zusammengesetzten Gruppe von Schulpsychologinnen und Schulpsychologen, die von Harald Pühl6 supervidiert wurde. Die langjährige Zusammenarbeit hatte qualifizierenden Charakter und schaffte mir die Grundlage eigener supervisorischer Arbeit mit Lehrkräften und anderen Professionellen der Schule. Von dieser Arbeit berichte ich unter anderem in zwei Aufsätzen, die hier aus urheberrechtlichen Gründen nicht wiedergegeben können.7

Meine Berufsjahre in NRW waren davon gekennzeichnet, Schulpsychologie als Unterstützungssystem für Schule mitzugestalten. In meinen Augen handelte es sich dabei um eine Einheit von Unterstützung für das Kind und von Personal-/Schulentwicklung. Die intensiven Debatten unter Kolleg/inn/en, wie auch der Austausch mit unterschiedlichen Ebenen der Schulaufsicht hatten dadurch in der Regel ein breites Themenspektrum. Es gab viele Ansätze für Projekte und Kooperationen. Selbstverständlich gab es auch da und dort auch Stagnation und Blockaden.

Nach meinem Wechsel 2009 als Schulpsychologe nach Hamburg stellte sich die Welt anders dar. Beratung und Beratungsverständnisse sind deutlich davon geprägt, dass sich die staatliche Schulbehörde auch gegenüber der Schulpsychologie und Beratung mit ihren Grundprinzipien der Beratung (immer beschworen, wenig verstanden und gesichert) als durchsteuernde Instanz sieht. Was als Leitlinie der Schulbehörde gilt, ist hier eng ausgelegt und lässt den Beratungsorganisationen wenig Raum für die Entwicklung einer Beratungskultur, die Glaubwürdigkeit und Substanz im Sinne eines entwickelten Beratungsverständnisses ausstrahlt.

Die unterschiedlichen Verständnisse der in den Hamburger schulischen Beratungsorganisationen vertretenen Professionen über Beratung sind nach diversen Fusionen nicht zu einer kohärenten Beratungsidentität und -kultur weiterentwickelt worden. Die Schulverwaltungslogik dominiert die Beratungslogik. Die Grenzen zwischen (relativ) unabhängiger Beratung und Schule sind löchrig, den Beratungsabteilungen sind schulrechtliche und »eingreifende« Aufgaben zugewiesen. Der schulische Raum für die Reflexion heikler, verunsichernder Facetten des Lehr-Lernprozesses und der Rolleneinnahme im Sinne vertiefenden Wissens und Könnens ist damit eingeschränkt. Wo doch eine glaubwürdige Abgrenzung zwischen Beratung und Schule Vertrauen (und Nutzen) schaffen könnte, geht das Hamburger Konzept in eine andere Richtung. Die ehemaligen Beratungs- und Unterstützungsstellen, in denen die Schulpsychologie aufgegangen war, sind nun unter ein organisatorisches Dach mit den Förderschulen gebracht worden.

In meinen jüngeren Aufsätzen setze ich mich mit den Folgen solcher Politik auseinander. Den Fokus meines Denkens bildete das Bemühen, erkennbar zu machen, dass Nachdenkräume für Subjektentwicklung bedroht sind und Humanität und Gestaltungspotenzial damit verloren gehen. Weniger konnte es darum gehen, konkrete Fragen der Subjekt- und Team-/Organisationsentwicklung zu bearbeiten. Gleichwohl wäre es vermutlich sinnvoll zu beschreiben, wie sich subjektbezogene Arbeit unter den Bedingungen von Rationalisierung und Hierarchisierung formt.

Es kostet einige Mühe, angesichts einer Ruinierung von Fachlichkeit, die Fassung zu wahren und die Angriffe auf sie kenntlich zu machen. Was erstaunt, ist, mit welch – man möchte fast sagen – diktatorischer, politisch-bürokratischer Entschlossenheit und Hermetik gegenüber fachlichen Einwänden der staatliche Steuerungsanspruch umgesetzt wird. Dabei schleift er Standards bürgerlich-demokratischer Lebensführung und Selbstbestimmung, wie sie über Jahrzehnte entstanden sind: Selbstkenntnis und Kenntnis sozialer und psychologischer Zusammenhänge sollten Bürger und Bürgerin, wie auch Professionelle in die Lage versetzen, demokratisch und selbstbestimmt zu handeln. Professionell qualifizierte Beratung war gedacht als Mittel zur (Selbst-) Klärung und Stärkung der Verantwortungsfähigkeit. Damit war sie Teil eines Versuchs, Emanzipation und Partizipation zu stärken. Sie fachlich fundiert auch von staatlicher Seite als Öffentlichen Dienst für eigene Beschäftigte und Bürger bereitzuhalten, sagte etwas über das Selbstverständnis staatlich-öffentlicher Einrichtungen aus. Der betriebswirtschaftlich agierende Staat ist offensichtlich entschlossen, sich von diesem Verständnis zu verabschieden und »Verstehen« als Voraussetzung zivilisierten Umgangs zu delegitimieren. Ob er das absichtsvoll oder getrieben von »höheren« Mächten tut, ist offen. Von Bedeutung wird sein, ob die Beschäftigten und Bürger auf die Verkehrung der emanzipatorischen Kraft von Beratung reagieren und wissen, welchen Schatz sie zu hüten haben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorbemerkung

Der folgende Artikel ist der Versuch, die Erfahrungen aus meiner Weiterbildung und meiner Praxis im Arbeitsfeld Schule zusammenzubringen. Vielleicht wirkt das, was ich 1995 zu Papier brachte und schon einige Jahre praktischen Vorlauf gehabt hatte, in der Schreibweise angestrengt und künstlich. Das rührt wahrscheinlich nicht zuletzt daher, dass ich das »ganze Universum« zwischen Gesellschaftlichkeit und individueller Subjektivität erfassen wollte. Nun gut. Später entspannte ich mich wohl ein wenig, mit Hilfe von einigen Kolleginnen und Kollegen, mit Hilfe der Resonanz, die ich für meine Arbeitsansätze erfuhr. Der Ansatz war eine wichtige Plattform, von der aus ich meine Arbeit weiterentwickeln konnte.

 

Die Rolle der Persönlichkeit in Unterricht, Erziehung und Schulentwicklung

1995

Ist es überhaupt notwendig, Fragen der Persönlichkeit und des Individuums in der Schule zum Thema zu machen? Gesetze, Richtlinien, Lehrpläne, Curricula geben der Schule vor, Persönlichkeit zu bilden, auf das Leben vorzubereiten, Menschen- und Naturrechte zu achten, Demokratie und Frieden zu entwickeln. Die Zusammenhänge zwischen Demokratie, Bürgersinn, Persönlichkeit und Aufgaben der Schule scheinen zufriedenstellend hergestellt. Andererseits wird der Schule immer wieder Bürokratismus und Menschenferne vorgeworfen. Mit ihren beharrenden Momenten entferne sie sich von den Entwicklungsbedürfnissen der Wirtschaft und der Gesellschaft. Diesen Einschätzungen stimme ich im Wesentlichen zu. Schule leistet in zu geringem Maße Beiträge zur gesellschaftlichen und zu ihrer eigenen Entwicklung, weil sie in der Falle ihrer eigenen subjektskeptischen Tradition steckt und damit den Prozessen gesellschaftlicher Individualisierungs- (Vereinzelungs-) tendenzen ausgeliefert ist. Diese Lage kann überwunden werden, wenn die Rolle des Individuums neu definiert wird.

1 Der individuumskeptische Charakter der Bildungsorganisation

Schule ist diesen Individualisierungsbedürfnissen und -notwendigkeiten nicht gewachsen. Mit ihrer Organisationsform und ihrem Selbstverständnis entspricht sie entgegengesetzten Interessen: Sie entspringen dem Interesse bürgerlicher und bestimmter adliger Schichten des ausgehenden 18. Jahrhunderts an staatlicher Machtdurchsetzung gegen die die Willkür, Chaotik und "Provinzialität" feudaler Souveräne. So sehr das ein historischer Fortschritt für die Anerkennung des Individuums als allgemeines Prinzip war, so gehört(e) zum Vermächtnis der Aufklärung und der Moderne die Vorstellung der Planbarkeit technischer und menschlich-sozialer Prozesse. Gärtnerisch inspirierte Züchtungsvorstellungen spielten und spielen noch heute eine große Rolle in schulischen Selbstverständnissen.

Was sich in den Schriften der Aufklärung wie eine Hymne an das Individuum liest, ist oft nichts anderes als der Versuch, den Menschen, wie eine Maschine zu mechanisieren (oder wie eine Pflanze zu züchten) und verfügbar zu machen. Dieses auch der Schule zugrundeliegende Entwicklungsmodell kann dem Bedürfnis nach Individualisierung, wie auch der Notwendigkeit der Individualisierung nicht gerecht werden.

Verführerisch erscheinen Gesetze, Richtlinien, Lehrpläne. Es ist alles darin, was sich das Lehrer- und Demokratenherz wünscht: Mündigkeit, Achtung der Menschenwürde und der Natur, Persönlichkeitsentwicklung  und noch vieles mehr. Offenbar wird all das für planbar durch Dienstordnungen, Curricula, Methodik und Didaktik gehalten. Diese Konzeptionen sind Ausdruck des Vertrauens in Regelbarkeit durch übergeordnete Instanzen, wie auch Ausdruck des Mißtrauens in die sich einer Kontrolle entziehenden Individuen.

Die hehren Ziele ernsthaft erreichen zu wollen, erforderte ein Ernstnehmen des Subjekts, Anerkennung seiner Eigenwilligkeit und Absage an seine Planbarkeit. Tatsächlich haben wir es in der staatlichen Schulpädagogik (und in weiten Teilen der Gesellschaft!) mit einem anthropologischen Pessimismus und pädagogischen Optimismus zu tun - eine Spaltung, die zahlreiche Paradoxien erzeugt (Wie wird der schlechte Mensch durch Erziehung zu einem Guten?).

Viel erziehungswissenschaftlicher und psychologischer Schweiß ist darauf verwendet worden, den Zwiespalt zwischen staatlichen Interessen an Macht und Ordnung einerseits - Schule ist dazu ein Mittel - und subjektiven (Lern-) Interessen der Individuen andererseits aufzulösen. Die Legitimierung des Schulwesens als im Interesse der Lernenden liegend ist dennoch nie gelungen.

Wie sollte die Schule auch ein Ort der Persönlichkeitsentwicklung, Bildung und Vervollkommnung sein, wenn ich "zur Not" mit Zwang dahin gebracht werden kann? Wie kann sich Humanität und Gerechtigkeit entwickeln bzw. welche Vorstellungen entwickeln sich davon in einem System, in dem Persönlichkeit und Beurteilung meiner Kompetenz sich in einer Notenskala von 1 bis 6, mit Zehntel-Noten "Genauigkeit" zusammenfassen lassen; ganz zu schweigen von den logisch-statistischen Irrationalitäten des Benotungssystems? Stattdessen entwickelt sich ein Wissen über den Doppelcharakter des Systems, über seine Unausweichlichkeit, über die Abhängigkeit von ihm und wie man sich auf es einrichtet.

Die für die frühe Industrieproduktion und Bürokratie entindividualisierten, austauschbaren Menschen sind nicht kreativ und übernehmen keine Verantwortung für das, was sie treiben und herstellen. Sie werden unproduktiv, krank, lerngestört etc. Das gilt für Wirtschaft und Schule. Zentralistische, mechanistische, undemokratische Formen des Entwickelns und Organisierens werden zu einem Destruktivitätsfaktor.

Heute rückt der Zeitpunkt näher, zu dem es immer wichtiger wird, die individuellen EntwicklungsPotenziale für den einzelnen Menschen und für die Gesellschaft zu nutzen. Also kommt es darauf an, Individualität in Schule nicht zurückzuweisen, sie als Störung aufzufassen, sondern sie in ihrer Eigenart verstehbar zu machen und sie in Schule zu integrieren. Dazu braucht man eine Theorie der Persönlichkeit.

2 Tendenz zu Individualisierung und Differenzierung

Ein wesentliches Kennzeichen der Gegenwart und absehbaren Zukunft sind Differenzierungsprozesse. Es gibt ein allgemeines Streben nach Individualität. Was einheitlich und festgelegt war, nimmt unterschiedlichste Formen an: Lebensstile, Lebensziele, Berufsperspektiven variieren in einem breiten Spektrum und lassen sich immer weniger an bestimmte Schichten, Traditionen, Zeiträume, Rollenfestlegungen anbinden. Dieses festzustellen heißt nicht, die Schattenseiten, Deformierungen und Merkwürdigkeiten, wie die Form des Konsumierens, dieser Entwicklung zu übersehen.

Sich selbst von anderen zu unterscheiden, auch über die Verbindung zu anderen (Bildung von Szenen) ist wichtiges Element individueller Selbstverständnisse und des Überlebens. Selbstverwirklichung ist ein zentrales Thema und eine dialektische Antwort auf Entindividualisierungsprozesse der Industriegesellschaften. Diese Bedürfnisse lassen sich nicht durch Moral oder Politik unterbinden. Die einseitige Verarbeitung dieser Entwicklung im Sinne einer Bedrohung kann selbst zu einer Gefahr werden; denn die Diskriminierung bestimmter Individualisierungs- und Identitätsbedürfnisse schaffen diese nicht aus der Welt. Abwehrhaltungen erschweren nur die Aussichten, die Prozesse der Individualisierung und Differenzierung zu gestalten. Dieses wiederum ist an persönliche "Qualifikationen" gebunden, die weiter unten erörtert werden sollen. 

Wenngleich widersprüchlich und nicht ungebrochen, so verstärken sich auch in den Bereichen der Betriebs- und Volkswirtschaft Tendenzen, die in der Individualisierung einen wesentlichen Schlüssel zu mehr Kreativität und Produktivität sehen. Der Mensch als Anhängsel der Maschine oder als ausführendes Organ einer höheren, unternehmerischen Weisheit hat zwar noch lange nicht ausgedient. Aber unter dem Eindruck wachsender Bedürfnisse nach mehr Individualität, Freiheit und Verantwortung muss dem Individuum mehr Rechnung getragen werden.

3 Individualität als Basis für Erneuerung und Produktivität - ein Modell der Persönlichkeitsentwicklung

3.1 Individualität braucht Geschichte und Generationenarbeit

Diese Theorie nimmt sich nicht eine Störung, einen Defekt oder eine Krankheit zum Ausgangspunkt, sondern die "normale" Persönlichkeit: Woraus ist sie gemacht und zusammengesetzt? Welche speziellen Deutungsmuster und Handlungsorientierungen sind ihr eigen? Was macht ihre einzigartige Qualität aus? Wie ist Persönlichkeit verstehbar zu machen?

Jeder Mensch - zumindest in unserer Kultur - baut auf den vielschichtigen Lebenserfahrungen von Vater und Mutter und den vorangehenden Generationen auf. (Auch im Falle der Adoption, Inpflegenahme, Heimerziehung spielen diese Kategorien für die Lebensgestaltung eine wesentliche Rolle). Jede nachfolgende Generation hat damit - im Prinzip - eine komplexere, reichhaltigere Lebenserfahrung zur Verfügung als die vorangehende.

In der Familiengeschichte sind Erfahrungen von Arbeiterexistenz, bäuerlicher, unternehmerischer Existenz, Arbeitsteilung usw. versammelt; Erfahrungen vom Umgang mit Krisen und Konjunkturen, von Migration, Neuaufbau usw. Immer haben einzelne Personen in konkreten, sozialgeschichtlichen Situationen und Herausforderungen mit ihrer Persönlichkeit Leben und Überleben organisiert und dabei auf Vorerfahrungen zurückgegriffen, sie damit weiterentwickelt und wiederum nachfolgenden Generationen zur Verfügung gestellt.

Selbstverständlich spielen dabei nicht nur die Erfahrungen und Handlungen eine Rolle, die unmittelbar der Existenzsicherung dienen, sondern auch solche kultureller Art (Arbeitsteilung von Mann und Frau, Geschlechterrolle, Religion, Kunst, Art der Geselligkeit, Freizeitgestaltung etc.). In diesen "versammelten Lebenserfahrungen", die sich in einer Person finden, sind die historisch-gesellschaftlichen Existenzbedingungen und die Besonderheiten des Lebens der Ursprungsfamilien enthalten (die subjektiven Aneignungsformen und die immer wieder "überarbeiteten" Ergebnisse der Auseinandersetzung mit der Umwelt).

3.2 Objektives und verfügbares Potenzial

Die in einer Person versammelten Lebenserfahrungen - ein Ergebnis von Generationenarbeit -, stellen ihr Potenzial dar, mit dem sie sich am gesellschaftlichen Prozeß beteiligen kann. Wir verwerten unsere Potenziale für die Lebensgewinnung im Rahmen bestimmter gesellschaftlicher Anforderungen. Ist von dem objektiv gegebenen Potenzial ein großer Teil verfügbar, erhöhen sich die Chancen für umfassende Verarbeitung und Mitgestaltung. Ist nur ein kleiner Teil verfügbar, gelingt nur eine reduzierte Verarbeitung und Mitgestaltung. Die Ursachen für geringe Verfügbarkeit sind vielfältig: Wechselseitige Entwertung väterlicher und mütterlicher Lebenserfahrungen (s. u.); Tod, Migration, gesellschaftliche Entwertungen, radikale Umstellungen der Lebenssicherung sind ebenfalls häufig Ursache für den Verlust von Lebenserfahrungen und damit von Entwicklungspotenzial.

3.3 Individualität als Einheit der Widersprüche aus väterlichen und mütterlichen Systemen

Aus den Vorgaben der unterschiedlichen väterlichen und mütterlichen Systeme muss das Kind seinen eigenen Weg finden, seine Persönlichkeit entwickeln.

 

Die Vorgenerationen sind im Kind enthalten und gleichzeitig repräsentiert das Kind damit neue Qualität. Im Kind entsteht Neues aus bis dahin unabhängigen Systemen. Aus der Verarbeitung der Unterschiedlichkeiten und Gegensätzlichkeiten entsteht die besondere Dynamik des Kindes, seine einmalige Persönlichkeit.

Es kann sie nutzen, wenn von den Eltern die Unterschiedlichkeiten zugelassen werden können, m.a.W.: das Kind "darf" und kann Ergebnis mütterlicher und väterlicher Geschichte sein.

Hindernisse für Entwicklung

Hindernisse für Entwicklung ergeben sich aus fehlenden Identifikationsmöglichkeiten, möglicherweise durch Tod, Flucht, Vertreibung, Auswanderung; oder durch gegenseitige Abwertung und Ablehnung der Eltern, die auf das Kind übertragen werden, die das Kind sich aneignet. Für das Kind heißt das, dass es etwas in sich hat - denn es definiert sich über beide Eltern -, was aus väterlicher oder mütterlicher Sicht wertlos, unbrauchbar, negativ ist. Damit hat es Schwierigkeiten, sich als wertvoll "ausgestattet" zu verstehen: Es ist unsicher, irritiert, wechselhaft usw.

Beispiel: Der Vater eines Kindes hält viel davon, seinen Sohn zu fordern und zu beanspruchen. So hat er es von seiner Mutter und seinem Vater kennengelernt. Die Anforderungen sind eingebunden in Vorstellungen über die Männerrolle und über die zukünftigen Aufgaben des Mannes als Ernährer einer Familie.

 

Die Mutter des Kindes hält einen solchen Stil für "zu hart". Sie hat erlebt, wie ihr jüngerer, kränklicher Bruder von der Mutter beschützend und schonend betreut wurde. Bei ihrem eigenen Kind hat es Probleme während der Schwangerschaft gegeben. Mit diesen unterschiedlichen "Programmen" treten die Eltern nun an ihr Kind heran. Für das Kind heißt das, dass es nicht weiß, wie es sich fühlen soll: Ist seine Handlungsfähigkeit eingeschränkt und ist es schonbedürftig oder ist es handlungsfähig und belastbar? Und: Orientiert es sich am Vater, erschrickt es die Mutter; orientiert es sich an der Mutter, ist der Vater unzufrieden.

Beispiel: Ein Schulleiter mag nicht leiten. Er versteht sich als Vermittler, kommt aber damit immer mehr unter Druck. Aus seiner Familiengeschichte ergibt sich, dass seine Mutter aus einer Kleinunternehmerfamilie stammt; sie ist mit dem entscheidungsfreudigen Vater identifiziert, ist auch das Denken in Kosten-Nutzen-Kategorien gewöhnt. Der Vater des Schulleiters war Arbeiter. Für den Arbeiter ist das Kosten-Nutzen-Denken des Unternehmers Abhängigkeit und Einkommenschmälerung, für den Unternehmer ist der Arbeiter ein Kostenfaktor. Das Kind, der spätere Schulleiter, war zwischen diesen beiden Philosophien der Gegnerschaft neutralisiert.

Warum, mag man fragen, tun sich Leute mit so gegensätzlichen Einstellungen zusammen? Bei weiterer Analyse stellt sich oft heraus, dass in jedem System die Negation schon selbst enthalten, sie ihr also nicht fremd ist. Im letztgenannten Beispiel hatten die väterlichen Großeltern ein kleines Geschäft, welches eingegangen war. In der Familie der Großeltern mütterlicherseits gab es abhängig Beschäftigte, die abwertend als "Proleten" betrachtet wurden.

Im Partner lässt sich die "interne" Negation nach außen verlagern und gleichzeitig "weiterbearbeiten", im Kind der nachfolgenden Generation verdichtet sie sich zu einer Entwicklungshemmung. Daraus entwickeln sich dann Persönlichkeiten, die bemüht sind, nichts Eigenes zu haben und sich über Ausgleich, Vermittlung und Harmonisierung definieren; sie können es evtl. nicht ertragen, wenn sich Identität und Unterschiedlichkeit in ihrer Person und in ihrer Umgebung zeigen. Für Institutionen, die auf Stabilität angelegt sind, und sich nicht mit ihrer Umgebung austauschen müssen oder sollen, erfüllen sie ihren Zweck.

Eine andere Erscheinung, die zum Entwicklungshindernis werden kann, sind Doppelungen, die im ungünstigen Fall Entweder-Oder-Konstellationen zur Folge haben. Sie bergen im günstigen Sowohl-Als-Auch-Fall zusätzliche Entwicklungsmöglichkeiten.

Wachsende Bedürfnisse nach Individualisierung, aber auch Tod, Trennungen, Scheidungen bringen es mit sich, dass Eltern sich mit neuen Partnern zusammentun. So sehr das manchen als gängig und selbstverständlich erscheinen mag, so wenig ist es vielen Individuen und der gesellschaftlichen Konvention möglich, Kinder sich mit zwei Personen in der Vater- oder Mutterposition identifizieren zu lassen. Implizit oder explizit ergeht die Aufforderung an das Kind, einen Teil seiner Existenz zu vergessen, ihn zu löschen.

Ist es gezwungen, Vater 2 oder Vater 1 zu »löschen«, heißt das, einen Teil von sich zu negieren, negieren zu müssen. Auslöschung, Bekämpfung wird Teil des "Programms", Teil der versammelten Lebenserfahrung, die an die nächste Generation weitergegeben wird. Dieser Destruktivität, die auf aufklärerisch-naturwissenschaftlichen Konzepten der Einfachheit und Eineindeutigkeit beruht, ist nur beizukommen, wenn sich individuelle und gesellschaftliche Normen wandeln. Können Menschen mit einer solchen Doppelung oder mehreren Doppelungen in ihrer Familiengeschichte "multiple" Persönlichkeiten sein, stellt das für sie und die Gesellschaft Entwicklungspotenzial dar. Sie haben in sich das Strukturmodell, welches für Zukunftsgestaltung immer wichtiger wird. Mit Differenz offen und gestaltend umgehen zu können (statt Einfachheit und Eindeutigkeit mit Macht herzustellen) wird angesichts der Zunahme von unterschiedlichen Lebensentwürfen, des Zusammentreffens von Menschen aus unterschiedlichsten Gesellschaften und Regionen immer dringlicher.

3.4 Bewusstsein - Selbstbewusstsein

Bewusstsein ist in dieser Konzeption das Wissen um die eigene Geschichte und um die eigenen Widersprüche. Weiterhin gehört dazu eine Kenntnis über Funktionsweisen des Gesellschaftlichen und wie die Person sich mit dem Gesellschaftlichen austauscht, auf es einwirkt und sich darüber am Leben erhält.

Selbstbewusstsein ist das Wissen um die Strukturen und Inhalte der in Generationenarbeit gewachsenen Lebenserfahrungen, die "meine" Gestaltungsrundlage sind. Aus ihnen leitet sich das Wissen um das "eigene Besondere" gegenüber dem Allgemeinen ab. Dieses Selbstbewusstsein versteht sich also anders, als es gemeinhin üblich ist: Es entsteht nicht in erster Linie aus erfolgreichem Handeln, aus Lob und Anerkennung. Im Gegenteil: Es ist relativ unabhängig davon.

Es lohnte sich darüber nachzudenken, welche Funktion Lob und Anerkennung in Schule haben; weshalb Schüler Lob oft nicht "vertragen"; was mit Lob erreicht wird, wenn es "anschlägt". Und welche Möglichkeit Schule bietet, Bewusstsein und Selbstbewusstsein im hier skizzierten Sinne zu entwickeln.

3.5 Fazit

Um desintegrierenden Formen gesellschaftlicher, institutioneller und individueller Differenzierung Gestaltungspotenzial gegenüberzustellen, ist es erforderlich, Individualisierung voranzutreiben. Damit ist gemeint, die Individualität der Menschen in die Gestaltung von Schule und Gesellschaft einzubeziehen, sie dafür zu nutzen. Individualisierung heißt nicht Vereinzelung, Absonderung vom Gemeinwohl, Egoismus. Im Gegenteil: das individuelle Besondere steht immer in Bezug zum allgemein Menschlichen und Gesellschaftlichen, ist ohne diese nicht denkbar. Je tiefer eigene und fremde Individualität - zusammengesetzt aus unterschiedlichen Herkunftsfamilien, eigentlich Kulturen - verstanden wird, desto deutlicher werden die Bezüge zum Allgemeinen und Universellen, desto klarer wird der Zusammenhang der Wechselwirkung zwischen beiden. Dies zu erkennen und für die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung zu nutzen - dazu kann Psychologie im hier vorgetragenen Sinne wichtige Beiträge dazu leisten.

4 Anwendung des Persönlichkeitsmodells auf Schule

Eltern können ihren Kindern selbstverständlich behilflich sein, die Schule besser zu meistern, wenn sie zusätzliche Potenziale in ihrer Familiengeschichte entdecken und für das Kind verfügbar machen. Ein großer Teil schulpsychologischer Arbeit hat das zum Inhalt. Für Schule sowie für Lehrer und Lehrerinnen ergeben sich daraus jedoch keine neuen, zusätzlichen Entwicklungsperspektiven. Im Folgenden will ich mich deshalb auf Überlegungen und Aspekte beschränken, die sich auf erweiterte Handlungsmöglichkeiten für Lehrer und Lehrerinnen beziehen.

4.1 Aspekt: Lehrerinnen-Individualität und Umgang mit schwierigen Kindern

Kinder zu unterrichten und zu erziehen ist immer eine Herausforderung an das Selbstverständnis (an die versammelten Lebenserfahrungen, an das historisch überlieferte Programm) des Lehrers, der Lehrerin. Wenn es gelingt, die Persönlichkeit als wichtiges Arbeitsinstrument zu sehen, sind neue Zugänge möglich.

Beispiel: Eine Lehrerin hat Schwierigkeiten, Schülern, aber auch Eltern, orientierend, grenzsetzend gegenüberzutreten, sich »bemerkbar« zu machen. Sie lässt sich von ihren Vorhaben leicht ablenken. Die Kinder zu ermahnen, zeigt keinen dauerhaften Erfolg. Die Analyse der Familiengeschichte ergibt, dass es ein Tabu in der Familie der Mutter der jetzigen Lehrerin gab. Der früh verstorbene Großvater (als die Mutter der Lehrerin 10 Jahre alt war) ist immer ein "weißer Fleck" in der Identitätsbildung der jetzigen Lehrerin geblieben. Kam  das Gespräch auf ihn, wurde ausweichend reagiert. Die Befragung ergibt, dass nach den Geburtsjahren der jüngeren Halbgeschwister zu urteilen, die Beziehung der Großeltern durch Trennung beendet wurde und nicht durch Kriegsereignisse, wie man versucht hatte, der Mutter der Lehrerin weiszumachen. Die Mutter der Lehrerin hatte gelernt, einen Teil ihrer Existenz zu verleugnen und geheim zu halten - auch gegenüber der Tochter. Und diese lernte, nicht nachzufragen, sondern zu lavieren; brav zu sein, andere nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Dieses Modell der Beziehungsgestaltung hat sie auch in ihrem Beruf verwendet und damit Schwierigkeiten bekommen.

Die Lehrerin hatte nun zunächst eine Annahme über den Grund ihrer Unsicherheiten und damit einen Ansatzpunkt, sie zu überwinden. Sie befragte ihre Mutter nach deren Vater. Das bedeutete an sich schon eine bis dahin nicht mögliche Auseinandersetzung mit kritischen Themen, ein tendenzielles Aufgeben der Bravheit und Fügsamkeit. Darüber hinaus förderte sie Inhalte der Lebensweise des Großvaters zutage, die den weißen Fleck ihrer Geschichte auffüllten. Zunehmend - auch in Verbindung mit anderen Forschungsergebnissen - konnte sie sich als aktiv handelnde Frau begreifen, Grenzen setzen etc.

4.2 Aspekt: Individualität und Kooperation Schule - Elternhaus

Aufgrund persönlicher Geschichte und auf Grundlage des Selbstverständnisses der Schule als Korrektiv zu "schlechten" Elternhäusern handeln Lehrer und Lehrerinnen, wie auch Schulleitungen häufig so, dass sie Familienidentität in Frage stellen. Eltern wehren sich dagegen, können schulische Anliegen nicht unterstützen, müssen sie gar abwehren. Sie spüren deutlicher als der Lehrer selbst, dass dieser das Kind vor seinen Eltern bewahren will oder etwas ganz Neues aus ihm machen will.

Beispiel: Patrick ist übergewichtig, aggressiv und unangepasst. Bei Zuwendung ist er ganz zugänglich. Die Lehrerin weiß, dass P.s Vater ein Stiefvater ist, der seinen eigenen jüngeren Sohn vorzieht. Von einem Hausbesuch weiß die Lehrerin ebenfalls, dass die Familie sich überwiegend von Pommes frites mit Mayonnaise zu ernähren scheint, dass die Wohnung unsauber ist. Der Junge tut der Lehrerin leid. Die Analyse ihrer Familiengeschichte, die unterschiedlichen Bedeutungen von Sauberkeit, Essen, Trinken, Fürsorge zeigen, dass die Familie des Schulkindes die Gegenbilder zu dem "Gutsein" der Lehrerinnenfamilie repräsentiert. Folge: Das "Schlechte" muss "bekämpft werden. Das Verstehen des eigenen Wertesystems, der spezifischen Moralität ermöglicht es ansatzweise, den Reflex, die in der eigenen Familie abgewerteten und zu bekämpfenden Lebensgewohnheiten auf die Familie des Schulkindes zu übertragen, zu bremsen.

Die Auseinandersetzung mit der (Lehrerinnen-) Familiengeschichte ermöglichte es der Lehrerin, die Verschiedenheit zu erfassen. Das wiederum hatte zur Folge, dass sie der Familie des Schulkindes mehr mit einer Haltung des Interesses gegenübertreten konnte, als mit der Haltung, korrigierend eingreifen zu sollen.

Lehrer und Lehrerinnen können dann in eine gute Zusammenarbeit mit Kindern und ihren Eltern kommen, wenn sie sich als Personen einbringen, die die das Besondere des Kindes und seiner Familie zu erfassen suchen, um es für die eigene Aufgabe evtl. nutzen zu können, um es mit schulischen Mitteln weiterzuentwickeln und nicht, um es auszulöschen.

4.3 Aspekt Individualität und Leitung

Eine besondere Beachtung für die Entwicklung der Schulen verdient die Leitungspersönlichkeit. So sehr von Schulentwicklung, Profil der Schule etc. die Rede ist, so wenig wird in der Praxis der Persönlichkeit des Leiters, der Leiterin Aufmerksamkeit geschenkt. Vielleicht ist das ein Hinweis darauf, wieweit wir tatsächlich noch von einer Individualisierung entfernt sind und wie sehr immer wieder aufs Neue die Lösung in verbesserter Funktionalität, Anpassung, Kommunikationstechnik gesucht wird. Dies alles hat sicherlich seinen Stellenwert - ohne Individualisierung wären die Reformen lediglich technokratisch, deren erneuernde Kraft bald erlahmt.

Eine Schule mit Profil benötigt eine Leiterin, einen Leiter mit Profil (und ebensolche Lehrer und Lehrerinnen). Da helfen keine Merkmalslisten der guten Schule. Um eine differenzierte, flexible Schule zu haben, muss die Leitung ebenso beschaffen sein. Sie muss Vielgestaltigkeit der Personen im Kollegium nicht nur dulden können; sie muss sie vielmehr auf der Grundlage eigener vielfältiger Identität zu einem neuen Ganzen integrieren können. Familiengeschichtlich bedeutet das, dass Erfahrungen mit Vielfältigkeit als Bereicherung (und nicht als Bedrohung) zur Verfügung stehen sollten.

Beispiel: In der Zusammenarbeit mit einem Leiter geht es darum, wie denn konkret der Anspruch zu erfüllen wäre, die Visionen des Schulleiters für die Gestaltung der Schule zu nutzen. Die familiengeschichtliche Erkundung dessen, was ihn als Person ausmacht, erbringt u. a., dass in der Familie sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Auswanderung, Flucht, Integration und Scheitern der Integration vorhanden sind. Aus hier nicht genauer zu beschreibenden Bedingungen wurden diese Erfahrungen von seinen Eltern gleichsam mit einem Tabu belegt - das Schweigen und Verdrängen diente ihnen offensichtlich dazu, ein Minimum an Lebenstüchtigkeit zu bewahren; sie hatten sich nach Vertreibung im Wesentlichen über Verlust definiert. Von dem Gedanken angetan, Schule persönlich zu gestalten, begann eine längere Forschungsarbeit des Leiters. Er befragte seine Eltern und er recherchierte die Lebensbedingungen in deren Heimat. Der Leiter überwand das Tabu, wurde zupackender. Aus dem nun freien Umgang mit der eigenen Geschichte und dem hautnah erlebten Drama von Auswanderung, Flucht, Integration erwuchs die Überlegung, dieses Thema zu einem Teil des Schulprofils zu machen. Die Familiengeschichte wurde zu einem Motor der Schulgestaltung.

Selbstbewusste Schulleiter und Schulleiterinnen, die möglichst wenig Negation in sich tragen, von ihrer Persönlichkeit her ein weites Spektrum unterschiedlicher Individualitäten integrieren können, sind eine gute Voraussetzung für die Entwicklung von Schulen mit Profil, von Schulen, die sich, gemäß den Besonderheiten des Kollegiums, der Schüler und Schülerinnen, des Stadtteils differenzieren können.

4.4 Aspekt Analyse des Umfelds

Ich habe bisher nicht erwähnt, dass für den Zugewinn an Handlungsmöglichkeiten des Individuums die Charakteristik der Beziehungsgestaltung und die Art der Einbindung in sein institutionelles Umfeld untersucht werden müssen. Erst dann ist eine bestmögliche "Platzierung" seiner Individualität möglich, wie auch die Klärung, ober deren Nutzung überhaupt möglich ist. Dazu können Fragen dienen, wie: Welche bildungspoltischen und pädagogischen Leitlinien bestehen, welche unterschiedlichen Richtungen gibt es, welche Geschichte hat die Schule, wie prägten Leiter/innen sie, wie viele Lehrer und Lehrerinnen haben unter der "alten" Leitung gearbeitet?

Gibt es "Markenzeichen" der Schule? Welche Bedeutung hat sie für den Stadtteil und die Stadt? Welche informellen Gruppierungen und Strukturen gibt es? Die Beantwortung dieser (und anderer) Fragen ermöglicht eine Einschätzung, wie individuelles Entwicklungspotenzial eingesetzt werden kann und wie begrenzt die Möglichkeiten sind.

4.5 Individualität, Berufsausübung, Berufswahl und Ausbildung